kult&kultur – theologisch Wenn wir fragen, welche Werte in einer Kultur als „zentral“ gelten oder als „peripher“ erachtet werden, verwenden wir räumliche Metaphern für unanschauliche Gehalte. Wir denken Kulturen als virtuelle Räume mit „Zentrum“ und „Peripherie“ und bedienen uns unreflektiert mythischer Denkformen, die in antiken Stadtkulturen sehr konkrete Ausdrucksformen finden konnten – bis dahin, dass sich an Stadtplänen antiker Kulturen mit ihren vielfältigen Semiotisierungen der Landschaft durch Erzählungen, Riten, Denkmäler und andere Monumente förmlich ablesen lässt, was einer Kultur als „zentral“ geachtet oder als bedrohlich erschien und abgeschoben wurde. Eine solche Versinnlichung und Verräumlichung unanschaulicher Gehalte in einer antiken Kulturlandschaft war – um ein besonders gut dokumentiertes Beispiel zu nennen – in Jerusalem gegeben, und es lohnt sich, die Erinnerungslandschaft dieser Stadt einmal kultursemiotisch zu lesen und auf das verräumlichte Wertesystem ihrer Gesellschaft hin zu befragen. Prof. Dr. Klaus Bieberstein Alttestamentliche Wissenschaften Jüdische, christliche und muslimische Bewohnerinnen und Bewohner Jerusalems verbanden über Jahrhunderte ihre Erwartung eines kommenden Jüngsten Gerichts mit den Tälern und Hügeln in der engsten Umgebung ihrer Stadt. Damit lokalisierten sie Optionen ausstehenden Heils nicht nur auf der Achse der Zeit, sondern vergegenwärtigten sie auch im Raum, im topographischen Horizont der täglichen Erfahrung, wodurch dieser in einem Spiegeleffekt zu einer kollektiven Erinnerungslandschaft des noch Ausstehenden wurde. Im Zentrum: der Garten des Paradieses 28 | uni.vers | 06.2004 Das Zentrum der biblischen Stadt war der Tempel. Wann er errichtet wurde, entzieht sich unserer Kenntnis. Zwar führen ihn biblische Schriften auf König Salomo (gest. um 926 v. Chr.) zurück (1 Kön 5,15- zerstörten, unter persischer Herr8,66). Doch genießt ihr Zeugnis nur schaft 520-515 v. Chr. wieder wenig Vertrauen. Denn einerseits aufgebauten, von König Herodes wird von König David erzählt, dass dem Großen 11-9 v. Chr. grundleer schon vor Salomos Geburt im gend erneuerten und von Titus 70 Tempel gebetet habe (2 Sam 12,20; n. Chr. erneut zerstörten Baues ist 22,7). Andererseits wird die weitläu- unter jener Plattform begraben, die fige Tempel- und Palastanlage als aus seit 691 n. Chr. den islamischen Quaderwerk errichtet beschrieben (1 Felsendom trägt, was archäologische Kön 5,31; 6,36; 7,9-12). Quader- Grabungen bislang verhindert hat. werk kam in Juda aber erst im späten 9. oder – wahrscheinlicher – im 8. Jh. Dennoch sind wir aus literariauf. Was bleibt, ist demnach nur das schen Quellen (1 Kön 6-7) über rührige Bestreben der biblischen die Architektur des sogenannten Texte, die zweifellos prächtige Tem- „Salomonischen“ Tempels gut unterpel- und Palastanlage ihrer Zeit im richtet: Die Fassade geostet, der späten 7. Jh. v. Chr. auf den schon aufgehenden Sonne zugewandt, gliedamals sagenhaften König Salomo derte sich der Langbau von 10,5 m zurückzuführen. Wann sie tatsäch- Breite in eine offene Vorhalle von lich errichtet wurde, ist den Texten 5,25 m Tiefe und eine Haupthalle also nicht mehr entnehmbar, und von 31,5 m Tiefe, an deren hintearchäologische Befunde stehen nicht rem Ende ein hölzener Schrein von zur Verfügung. Denn die Relikte des 10,5 m Tiefe errichtet war. Während 587 v. Chr. von den babylonischen Schreine anderer Tempel Ägyptens Truppen König Nebukadnezzars II. und Vorderasiens das Kultbild der Im Zentrum das Leben – den Tod in der Peripherie Jerusalem kultursemiotisch gelesen von Klaus Bieberstein Gottheit bargen, standen im Aller- bewachte Palmetten – Stilisierungen heiligsten des Jerusalemer Tempels des Lebensbaumes – zeigten: eine über der Bundeslade, einem ausge- Inszenierung des Paradiesgartens. dienten Kriegspalladium, nur zwei Diese Fruchtbarkeitssymbolik Keruben (Sphingen): Mischgestalten der Tempeldekoration wurde vor mit Löwenkörper, Menschengesicht dem Gebäude neben dem Brandund Flügeln, deren einander zuge- opferaltar – an dem im symboliwandte Flügel horizontal angeordnet schen Handeln des Kultes Mahlgewaren, um in Anlehnung an syrische meinschaft mit Gott gehalten wurde Sphingenthrone einen Thron für die – von zehn bronzenen Kesselwagen unsichtbare Gottheit zu bilden. von mindestens 2,5 m Höhe und Aus kulturwissenschaftlicher einem monumentalen BronzebeSicht interessanter als die Geschichte cken in Form eines Lotoskelches von und Architektur des Baues ist die 5,25 m Durchmesser aufgenommen, Ikonographie seiner Ausstattung, das auf zwölf vermutlich knienden über die wir dank literarischer Rindern errichtet war. Dabei können Beschreibungen ebenfalls außeror- angesichts ihrer Größe weder die dentlich gut unterrichtet sind – was Kesselwagen noch das Bronzebecken uns entscheidende Rückschlüsse auf praktischen Zwecken gedient haben, die Theologie des Baues gewährt. So sondern sind, den Seen ägyptischer berichten zeitgenössische Quellen, und den Kultbecken vorderasiatidass die Wände der Haupthalle mit scher Tempel vergleichbar, als RepräHolztäfelungen verkleidet waren, die sentationen des lebensspendenden neben Blüten- und Rankenwerk vor kosmischen Süßwasserozeans zu allem von Keruben flankierte und interpretieren, der auch dem lite- rarischen Motiv einer vom Tempel ausgehenden Quelle zugrunde lag (Ps 46,5; 65,10). In der Peripherie: der Tod Während der Tempel mit seiner Paradiessymbolik die zentralen Werte lebensspendender Fruchtbarkeit repräsentierte, waren die lebensfeindlichen Elemente der topographischen Peripherie zugeordnet. Nahe dem Tempel lag der Palast, um beide herum die Stadt, und an deren Rand fanden sich gewerbliche Viertel mit Töpfereien und übelriechenden Gerbereien. Jenseits der als Limen geltenden Stadtmauer erstreckten sich die Nekropolen, die den Übergang vom Kulturraum der Stadt zum lebensfeindlichen Umland markieren, jenseits derer sich die Steppe als Bereich der Antiordnung auftat, der von Nomaden, rechtlosen Personen, Feinden, wil- uni.vers | 06.2004 | 29 kult&kultur – theologisch Jerusalem 720 – 587 v. Chr.: im Zentrum der 800 Tempel, im Westen, wo 750 700 die Sonne untergeht, das Hinnomtal mit seinen Gräberfeldern und der Kultstätte 780 des Unterweltgottes Moloch, und jenseits des Tales die Ebene der Refa’im, der Totengeister 770 750 740 700 700 650 650 Jerusalem 691 – 870 n. Chr.: im Zentrum der Felsendom, im Osten das 700 virtuelle Szenario des Jüngsten Gerichts h S h 780 S a G ö 770 750 740 700 700 650 650 30 | uni.vers | 06.2004 750 800 den Tieren und Dämonen besiedelt Tempelberg ein in sich konsistentes war und dessen Horizont durch das virtuelles Monumentalgemälde des Bergland oder das Meer als Verkörpe- „Jüngsten Gerichts“ entwickelt, das rung des Chaos begrenzt wurde. auch in frühchristlichen PilgerbeEine Hochebene westlich der richten bezeugt ist und in frühislaStadt, der untergehenden Sonne mischen Beschreibungen Jerusalems zugeordnet, wurde als „Ebene der seine reichste Entfaltung fand. Refa’im“, als „Ebene der Totengeister“ bezeichnet; im Hinnomtal Frühislamischen Quellen zufolge zwischen der Stadt und der genann- sollten sich die auferstandenen Toten ten Hochebene entstand seit dem am Tag des Jüngsten Gerichts auf späten 8. Jh. v. Chr. die bedeu- der Höhe des Ölbergs versammeln tendste Nekropole, und im Talgrund und eine Brücke, flach und scharf selbst wurde ein nur noch schwer wie ein Schwert, von der Höhe des rekonstruierbarer Kult für Moloch, Ölbergs über die Schlucht des Kideine Unterweltsgottheit, vollzogen. rontales zum ehemaligen TempelOffenbar wurde das westliche Vor- platz führen. Während die Ungläufeld der Stadt massiv mit dem Tod bigen von der Brücke in das unter konnotiert. ihr liegende Tal der Hölle stürzen, Dagegen war der Ölberg im werden die Gläubigen unversehrt Osten der Stadt, der aufgehenden den Paradiesgarten des ehemaligen Sonne zugewandt, mit positiven Tempelplatzes erreichen, auf dem Vorstellungen verbunden. Als die unter Kalif ‘Abd al-Malik 691 n. Stadt nach ihrer Zerstörung durch Chr. Salomos Tempel in Form des Nebukadnezzar II. im Jahre 587 v. Felsendomes wiedererrichtet wurde, Chr. in Trümmern lag, entwarf der dessen goldene Kuppel seither das Prophet Ezechiel in seiner kontra- Wahrzeichen Jerusalems bildet: Der faktischen Vision ein neues Jerusa- Ort der Schöpfung ist auch der Ort lem, eine ideale, quadratische Stadt, der Vollendung. in die die Herrlichkeit Gottes, von Osten kommend, wieder Einzug Zeichenlandschaft halten und im Allerheiligsten des von hoher Symbolik Tempels eine Quelle entspringen sollte, die das Kidrontal östlich der So entstand in Jerusalem in Stadt in einen Garten und schließ- einem sich über zwei Jahrtausende lich sogar die Salzlake des Toten erstreckenden Prozess eine ZeichenMeeres in eine Paradieslandschaft landschaft von hoher Symbolik, eine verwandeln werde (Ez 40-47; Joel Zeichenlandschaft zur Verräumli4; Sach 14). chung an sich unanschaulicher Werte Erst als der Heereszug Alexan- im topographischen Horizont einer ders des Großen 332 v. Chr. und Stadt: der Tempel als Inszenierung die Diadochenkriege nach seinem des Paradiesgartens im Zentrum, Tod 323 v. Chr. die stabile Ordnung den Gräberfeldern an der Peripherie des Vorderen Orients erschütterten und jenseits des Horizontes die als und in Auseinandersetzung mit bedrohlich empfundene, ungeorddieser Gefährdung der Ordnung die nete Welt der Wüste – ein Weltbild, Erwartung eines „Jüngsten Gerichts“ das auch in heutigen Reden vom entstand, wurde die negative, chto- gehegten „Zentrum unserer Gesellnische Konnotierung des Hinnom- schaft“ und den Bedrohungen durch tales westlich der Stadt auf das Kid- die „Anderen“ in sublimer Form rontal östlich der Stadt übertragen weiterlebt und meist unreflektiert und zwischen dem Ölberg und dem wiederkehrt. Kammern Boas Schrein Haupthalle Vorhalle Jachin Kammern Schrein Haupthalle (Keruben, Lade) (Leuchter, Schaubrottisch, Räucheraltar) Vorhalle Oben: Grundriß Unten: Querschnitt Die Jerusalem-Forschungen am Lehrstuhl für Alttestamentliche Wissenschaften wurden mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung aufgebaut und werden derzeit von der Kommission für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs der Universität Bamberg gefördert. uni.vers | 06.2004 | 31