JOURNAL-CLUB Neuronale Signaltransduktion und Genexpression in Homburg Unterdrücker und Reißverschlüsse Homburg – eine Stadt im kleinen Saarland. Hier steht die Uniklinik des finanzschwachen Bundeslandes, das trotz Geldnot bewusst in die Naturwissenschaften investiert. Gerald Thiel und seine Gruppe am Institut für Medizinische Biochemie und Molekularbiologie wissen das zu schätzen: „Wir kommen trotz begrenzter finanzieller Mittel gut mit“, sagt der Spezialist für neuronale Differenzierungsmechanismen. Momentan geht Thiels Arbeitsgruppe ihrer Arbeit noch unter offenen Versorgungsleitungen nach. Klonieren und Sequenzieren neben der Sanierung der Mauern. In einem Jahr soll hier äußerlich alles „picobello“ sein. Zurzeit beeindruckt das Institut jedoch eher mit seinen „inneren“ Werten. Trotz Baustelle ist die Stimmung in der Arbeitsgruppe gut. „Je nach Zusammensetzung veröffentlichen wir acht bis zehn Artikel im Jahr“, sagt Thiel. Wie entstehen Nervenzellen? Aktuell arbeiten zwei Postdocs, drei Doktoranden und zwei Diplomanden an Themen rund um die Genese neuronaler Zellen. Durch eine TA und zwei Praktikanten verstärkt, erforschen sie die Regulation der Genexpression und Signaltransduktions-Kaskaden im menschlichen Nervensystem. „Die Studenten finden diese Kombination zwischen Genetik und Zellbiologie sehr interessant“, sagt Thiel. Und so erforschen sie nicht nur die Mechanismen der Transkription, sondern auch deren Auswirkungen direkt im Zellsystem. Thiels Hauptinteresse gilt dabei der Frage, welche genetischen Grundlagen bestimmen, wie embryonale Zellen zu 36 Nervenzellen differenzieren, und nicht zu einer beliebigen anderen Körperzelle. Bereits während seiner Postdoc-Zeit in New York bei Medizin-Nobelpreisträger Paul Greengard begann Thiel die Regulation des Synapsin I-Gens zu untersuchen. Synapsin I ist ein Protein synaptischer Vesikel und somit typisch für Nervenzellen. Thiel und Co. hofften, an diesem Beispiel einen grundlegenden Mechanismus für die Regulierung neuronaler Gene zu finden. Nur in Neuronen ausgeschaltet Thiel entdeckte, dass die Produktion von Synapsin I nicht – wie man vermuten könnte – in den Nervenzellen extra angestoßen wird. Stattdessen stoppt der Repressor REST die Transkription des Synapsin I-Gens in nicht-neuronalen Zellen. Die Natur schaltet folglich in allen Nicht-Nervenzellen die nervenspezifischen Gene aus. „Das ist schon verrückt“, kommentiert Thiel. „Sonst hat man in der Regel positiv wirkende Transkriptionsfaktoren, aber hier haben wir einen Repressor gefunden.“ REST wird also in allen nicht-neuronalen Zellen synthetisiert. Doch er reguliert nicht allein die Expression des Synapsin I-Gens, sondern auch die Synthese von Synaptophysin, Cholin-Acetyltansferase oder verschiedener Glutamatrezeptoren. REST bindet dazu mit seiner DNA-Bindungsdomäne an die regulatorischen Regionen dieser neurospezifischen Gene. Über zwei Repressordomänen an seinen beiden Enden bindet er die Korepressoren Sin3A und CoRest. Diese wiederum rekrutieren Histon-Deacetylasen (HDAC), welche die DNA-Struktur verdichten. Transkriptionsaktivatoren und RNA-Polymerase II haben in dem resultierenden „Gordischen DNA-Knoten“ keine Chance mehr, spezifisch zu binden. Jenseits der Kernhülle Anders die Nervenzellen: Sie stellen die Expression von REST im Laufe ihrer Entwicklung immer weiter ein. In der adulten Nervenzelle können die Hombur- Gerald Thiel (r.) und sein Team ger dann kaum REST-mRNA nachweisen, die für synaptische Vesikel notwendigen Gene werden folglich ungehindert exprimiert. Erhöht man jedoch experimentell die Konzentration von REST, wird die Expression dieser neuronalen Gene wieder eingedämmt. Die Homburger untersuchen zurzeit die funktionelle Rolle von REST während der neuronalen Differenzierung in embryonalen und neuronalen Stammzellen. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf der Analyse von epigenetischen Modifikationen, die sie mit der Chromatin-Immunpräzipitations-Technik untersuchen. Die Biochemiker bleiben jedoch nicht in ihrem Zellkern-Kämmerlein. Auch vor der äußeren Zellmembran schrecken sie nicht zurück, wo sie die Transkriptionsregulierung durch extrazelluläre SignalMoleküle wie beispielsweise Neurotransmitter oder Hormone studieren. Ihr Fokus liegt dabei auf der biologischen Rolle von Leuzin-Zipper-Transkriptionsfaktoren. Leucin-Zipper deswegen, weil sich zwei ihrer Ketten über Leucin-Enden wie ein Reißverschluss zu einer Doppelkette verbinden. Die „offenen“ Enden sind basisch und können in aktiviertem Zustand an die DNA binden. Zelltod in Sternzellen Insbesondere interessieren sich die Homburger dabei für CREB und CREBverwandte Leuzin-Zipper-Proteine. Als Testgen und Angriffspunkt für die Transkriptionsfaktoren wählten die Homburger unter anderem das Gen für Secretogranin II. Dieses saure Protein findet man in Granula von Nervenzellen. Die Homburger Biochemiker fanden heraus, dass die Zelle dieses Gen über eine durch Bindung extrazellulärer Liganden ausgelöste cAMP-Signalkaskade regulieren kann. Durch Aktivierung der Kaskade wird CREB schließlich phosphoryliert und dadurch aktiviert. Es bindet an das Gen für Secretogranin II und startet dessen Transkription. So beeinflusst die cAMPKonzentration in den Zellen nicht nur schnelle Stoffwechselvorgänge, sondern 09/2005 JOURNAL-CLUB auch langfristige Veränderungen des genetischen Expressionsmusters. „Ohne CREB ist kein Leben möglich – es spielt für Lernen und Gedächtnis eine große Rolle“, sagt Thiel. Auf diesem Gebiet sei der Heidelberger Günther Schütz führend, unterstreicht er. Die Homburger Crew dagegen experimentiert mit konstitutiv-aktiven Mutanten von CREB und anderen Leuzin-Zipper-Proteinen, deren genetische Information sie mit rekombinanten Lentiviren in die Zelle schleusen. Auf diese Weise testen die Homburger direkt, welche Gene diese Transkriptionsfaktoren regulieren. In einem weiteren Projekt befasst sich Thiels Arbeitsgruppe mit Astrozyten, den sternförmigen Stützzellen um die Nervenzellen. Dieses bearbeiten sie innerhalb eines DFG-Sonderforschungsbereichs (SFB), der die Interaktion zellulärer Signalmoleküle zum Thema hat. Die Homburger wollen wissen, welche funktionelle Bedeutung das Gen Egr1 (Early Growth Response) einerseits in Nervenzellen und andererseits in Astrozyten hat. Grundsätzlich kommt Egr-1 – ein Zinkfinger-Transkriptionsfaktor – in den unterschiedlichsten Zellen vor, beispielsweise in Leber- und Immunzellen. Die Biochemiker haben nun Hinweise gefunden, dass Egr-1 zudem Teil einer Signalkaskade für die Proliferation von Astrozyten ist. Andererseits scheint das Genprodukt in Nervenzellen mit dem Zelltod zusammen zu hängen. Das ist grundsätzlich nichts Ungewöhnliches, denn ein Transkriptionsfaktor kann in unterschiedlichen Zellen verschiedene Auswirkungen haben. In Bezug auf neuronale Zellen können diese Erkenntnisse jedoch durchaus wichtig für medizinische Behandlungen gegen Nervenkrankheiten sein. Kraftakt fürs Praktikum Thiel steht selbst noch oft im Labor, um stabile Zelllinien zu herzustellen. Auch die Produktion von rekombinanten Retro- und Lentiviren ist größtenteils „Chefsache“. In seiner Arbeitsgruppe finden hauptsächlich Biochemiker und 09/2005 JOURNAL-CLUB Molekularbiologen zusammen, obwohl sie auf dem medizinischen Campus der saarländischen Universität arbeitet. „Ich suche gerne Diplomanden, die an einer Doktorarbeit interessiert sind“, sagt Thiel. „Aber sie sollten innerhalb eines drei- bis vierwöchigen Forschungspraktikums zeigen, was sie drauf haben.“ Ihm sei es wichtig, dass die Neuen auch sozial in die Gruppe passen. Denn hier stellt jeder mal für das Team die Medien her und ist manchmal mit dem Spüldienst dran. „Es ist wichtig, dass die Chemie untereinander stimmt, denn nur als Team kann eine kleine Arbeitsgruppe erfolgreich sein“, betont Thiel. Und Spaß soll die Arbeit ja auch noch machen. Auch Kontakte zu Medizinern sind Thiel sehr wichtig. Jedes Sommersemester findet das Biochemie-Praktikum für Medizinstudenten statt. In einem Versuch analysieren die Studierenden die Genregulation durch Steroidhormone. Kurzfristig müssen dann die Forschungsinteressen in Thiels Arbeitsgruppe schweigen und über 500 Petrischalen mit transfizierten 293-Zellen hergestellt werden, die den Glukokortikoid-Rezeptor überexprimieren. „Das ist ein Kraftakt, der mit einem typischen saarländischen Grillfest besiegelt werden muss“, sagt Thiel. Dann gibts Schwenker für die Arbeitsgruppe – dort, wo zurzeit eine Baustelle das Gebäude ziert. Saarländisch serviert Typisch saarländisch geht es auch in den wöchentlichen Team-Vorträgen zu. Da wird ein Vortrag schon mal mit Saarbrücker Dialekt serviert, und die Marlies wird versächlicht zu „et Maarlies“. Doch den Wahl-Homburger schockt das nur noch wenig, denn er hat sich nach sieben Jahren im Institut daran gewöhnt. Neben seiner intensiven Forschung teilt er sich gemeinsam mit seiner Frau die Betreuung ihrer beiden drei- beziehungsweise sechsjährigen Töchter. „Da meine Frau zurzeit studiert und ich hier auch recht flexibel arbeiten kann, klappt die Betreuung sehr gut“, sagt der Familienvater. Darüber hinaus arbeitet er an einem Fachbuch über Transkriptionsfaktoren im Nervensystem mit, das dieses Jahr herauskommen soll. Trotz der vielen Beschäftigungen hat Thiel mit seiner Arbeitsgruppe noch einiges vor. Denn die Medizinische Fakultät ist auch als „Kompetenzzentrum Molekulare Medizin“ der Universität des Saarlandes tätig. Thiel will in Zukunft intensiver mit den Klinikern der Fakultät zusammen arbeiten – beispielsweise bei der Analyse von Tiermodellen für neurologische Erkrankungen. KATHARINA HIEN 37 37