Religion im Wandel

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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Teil 1 Theoretische Ansätze zur Bedeutung von Religion im Kontext
von Migration aus interdisziplinärer Sicht
Tariq Modood
Befindet sich der Säkularismus in Westeuropa in der Krise?
. . . . . . .
21
Martin Baumann
Religion als Ressource und Konfliktpotential in Europa. Analytische
Perspektiven auf Immigration, Gemeinschaft und Gesellschaft . . . . . .
49
Alexander-Kenneth Nagel
Religion, Migration, Institutionalisierung – Begehung einer
Theoriebaustelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Karsten Lehmann
Complex Processes of Integration and Segregation. The Local Role of
Christian Communities in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Veit Bader
Migration, Religion and Secularization . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Teil 2 Transformation durch Migration in europäischen
Religionsgemeinschaften. Herausforderungen und Perspektiven
Wolfram Reiss
Auswirkungen der religiösen Pluralität auf staatliche Institutionen und
die Anstaltsseelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
6
Inhalt
Martin Jäggle
Herausforderung der religiösen Pluralität für die Schule . . . . . . . . . . 183
Michael Bünker
Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Evangelische Erfahrungen der
Migration und Diaspora als Aufgabe der Kirchen . . . . . . . . . . . . . 205
Regina Polak
Migration und Katholizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Arnd Bünker
Migration und die Diversifizierung in christlichen Gemeinden . . . . . . 293
Agostino Marchetto
Dialogue in Migration and Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
Oksana Ivankova-Stetsyuk / Hryhoriy Seleshchuk
Deepening the Dialogue with Society and State. Institutionalization of
migration work of the Ukrainian Greek-Catholic Church . . . . . . . . . 333
Radu Preda
Von der Wende verweht. Die orthodoxen Gemeinden Westeuropas nach
1989 aus sozialtheologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
Ednan Aslan
Der Wandel der islamischen Theologie im Westen . . . . . . . . . . . . . 375
Alfred Bodenheimer
Jüdische Migration nach, in und aus Europa . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
Tariq Modood
Befindet sich der Säkularismus in Westeuropa in der Krise?1
1.
Einführung
Der politische Säkularismus in Westeuropa ist durch drei unvorhergesehene
Faktoren ins Wanken geraten: 1) die Einwanderung und Niederlassung einer
großen Anzahl muslimischer MigrantInnen; 2) eine sensiblere Einstellung gegenüber Multikulturalität, die multikulturelle Differenz respektiert; 3) das Erscheinen eines moderaten Säkularismus, der historische Kompromisse zwischen Staat und Kirche respektive Religionsgemeinschaften weiterhin bestehen
lässt und diesen zumindest teilweise eine öffentlich-rechtliche Anerkennung
und staatliche Unterstützung einräumt. Der radikale Säkularismus und der
Laizismus scheinen unter Druck zu stehen, aber die dominante Variante des
Säkularismus befindet sich keinesfalls in einer Krise und bietet sich sogar als
Ressource an – in einer angemessenen multikulturellen Form – um der neuen
religiösen Pluralität in Europa Rechnung zu tragen. Die sogenannte „Krise des
Säkularismus“ ist daher eine Herausforderung für den Multikulturalismus.
Unter Säkularismus, genauer unter politischem Säkularismus, verstehe ich
institutionelle Vereinbarungen, die religiöse Autorität und religiöse Begründungen von politischer Autorität und politischen Begründungen unterscheiden.
Politische Autorität ruht demnach nicht auf religiöser Autorität und wird auch
nicht von dieser dominiert. Die Unterstützung dieser institutionellen Trennung
kann durchaus auch durch eine Religion oder religiöse Autorität erfolgen, wird
mit Sicherheit auch von vielen religiösen Menschen befürwortet und kann auch
religiös begründet werden.2 Auf Grundlage dieser sehr breiten Definition von
1 Vgl. Modood, Tariq. 2012. „2011 Paul Hanly Furfey Lecture: Is There a Crisis of Secularism in
Western Europe?” In: Sociology of Religion 73 (2), 130 – 149. Der folgende Beitrag ist die vom
Verfasser autorisierte deutsche Erstübersetzung. Übersetzung von Martin Stechauner (Wien),
mit Unterstützung durch Kommentare von Jan Dobbernack (Bristol) beim Erstentwurf der
Übersetzung.
2 „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!” (vgl. Mt 22,21) ist
offensichtlich eine politische Auffassung biblischen Ursprungs.
22
Tariq Modood
politischem Säkularismus lässt sich jedoch keine notwendige und absolute
Trennung von Religion und Politik einfordern – oder gar eine feindliche Haltung
des Staates gegenüber Religion. Doch auch derart radikale Ansichten zählen zu
den Spielarten des politischen Säkularismus. Viele institutionelle Arrangements, politische Anschauungen und Ideologien, egal ob demokratisch oder
undemokratisch, liberal oder autoritär, Religion gegenüber grundsätzlich positiv oder negativ eingestellt, stimmen mit dieser minimalen Definition von
Säkularismus überein: das Nicht-Dominiert-Werden politischer Autorität durch
religiöse Autorität.
Dieser Gedanke scheint mir zentral für die Moderne und stellt eine der dominantesten Ideen des 20. Jahrhunderts dar. Ich will damit nicht sagen, dass alle
Menschen in modernen Gesellschaften mit dieser Anschauung übereinstimmen.
Wie alle politischen Ideen kommt auch diese nicht unter allen realen Bedingungen zum Tragen und außerdem sind niemals alle Menschen in einem konkreten Sachverhalt einer Meinung. Trotzdem ist der politische Säkularismus,
ähnlich wie Demokratie, eine hegemoniale Idee, die von den meisten Menschen
aktiv wie passiv unterstützt wird und gegen die nur wenige Einwände vorbringen.
Immer mehr WissenschaftlerInnen sind sich einig, dass in säkularen Gesellschaften in jüngster Zeit höchst bedeutsame, möglicherweise sogar epochale
Umwälzungen stattfinden. In etablierten, modernen Gesellschaften wird Kritik
an dieser als selbstverständlich geltenden Idee laut und in aufstrebenden, modernen Gesellschaften scheint man nicht mehr einfach jenen Weg einschlagen zu
wollen, der zum historischen Aufstieg des politischen Säkularismus im Westen
geführt hat. Im Zentrum meines Interesses steht vor allem Westeuropa. Jürgen
Habermas, der sich besonders auf Westeuropa bezieht, hat bekanntermaßen
darauf hingewiesen, dass wir gegenwärtig Zeugen des Übergangs von einer
säkularen zu einer „post-säkularen“ Gesellschaft sind. In dieser müssen die
„säkularen Bürger“ den „religiösen Bürgern“ den lange vorenthaltenen Respekt
zollen; auch religiösen Menschen sollte es erlaubt sein – ja, man sollte sie sogar
dazu ermutigen – Aspekte der modernen Gesellschaft zu kritisieren und auf der
Basis ihrer religiösen Ansichten Lösungen für die anstehenden Schwierigkeiten
zu finden.3 Anstatt Religion als ein subrationales Phänomen oder ausschließlich
als Privatsache zu betrachten, soll Religion wieder als legitime Basis für öffentliches Engagement und politisches Handeln dienen dürfen. Manche Wissenschaftler sind einen Schritt weiter gegangen und sprechen von einer globalen
Krise. Selbst durchaus besonnene unter ihnen sprechen heute von „einer gegenwärtigen Krise des Säkularismus“4 und davon, dass „sich heutzutage poli3 Vgl. Habermas 2006.
4 Scherer 2010, 4.
Befindet sich der Säkularismus in Westeuropa in der Krise?
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tische Säkularismen in nahezu jedem Teil der Welt in der Krise befinden“5.
Oliver Roy schreibt in seiner Analyse über Frankreich von „der Krise des säkularen Staates“6 und Rajeev Bhargava7 von der „Krise des säkularen Staates in
Europa“8.
Selbstverständlich gibt es mittlerweile eine einflussreiche, vor allem soziologisch geprägte These über die weltweite „Desäkularisierung“ und die Entwicklung moderner Ökonomien und Institutionen, ohne dabei einen Rückgang
von religiöser Überzeugung und Praxis festzustellen, beziehungsweise sogar
einen Umkehrtrend vorangegangener Verfallsprozesse.9 Mein Interesse beschränkt sich auf das Phänomen der öffentlichen Religion und auf die Art und
Weise, wie sich Religion aus ihrer politischen Marginalisierung befreit. Überall
auf der Welt protestieren religiöse Gruppen gegen ihre offensichtliche Degradierung und Marginalisierung im öffentlichen Raum. Viele fühlen sich tatsächlich oder potentiell an den Rand gedrängt, sowohl in kultureller als auch in
politischer Hinsicht, und befürchten den Platz im öffentlichen Raum zu verlieren, der religiösen Gruppen rechtmäßig, wenigstens teilweise, zustehen sollte.10 Dieser Zustand führt nicht selten zu Protesten und zu einer mitunter zornigen Politik der Selbstbehauptung. Während sich die Protestierenden in den
meisten Teilen der Welt um die Wiederherstellung einer realen – oder wohl eher
imaginierten – Vergangenheit bemühen und versuchen ein „Goldenes Zeitalter“
wiederherzustellen, wie es vor ihrer Marginalisierung vorgeherrscht haben soll,
sind derartige Initiativen in Westeuropa nicht zu beobachten.11 Während in
vielen Regionen der Welt das Gefühl vorherrscht, dass eine religiöse Mehrheit
marginalisiert wurde oder wird, thematisiert in Westeuropa nur eine Minorität
ihre Marginalisierung. So kämpfen religiöse Agitatoren in den USA, in der islamischen Welt und in Indien um den Stellenwert und ein Re-Empowerment der
religiösen Bevölkerungsmehrheit, um das Land nach den Vorstellungen dieser
Mehrheit zu gestalten. Im Gegensatz dazu geht es in Europa vor allem um den
Status und die gesellschaftliche Anerkennung religiöser Minderheiten, die auf
das Recht pochen, jene Länder mitzugestalten, in denen sie Aufnahme gefunden
haben. Insofern stellt auch die dominierende Religion in Europa, das Christentum, eine neue Art der politischen Selbstbehauptung zur Schau. Dies ge5 Jak¦lic 2010, 3.
6 Roy 2007.
7 Bhargava glaubt jedoch nicht, dass sich diese Krise allein auf Europa beschränkt; vgl. auch:
Zucca 2009.
8 Bhargava 2010; 2011.
9 Berger 1999.
10 Jurgensmeyer 1994; Marty / Appleby 1994.
11 In der These Peter Bergers über die Desäkularisierung stellt „Europa westlich des ehemaligen
eisernen Vorhangs“ eine absolute Ausnahme dar; vgl. Berger 1999, 9.
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Tariq Modood
schieht jedoch in erster Linie als Reaktion auf die Präsenz neuer religiöser Minoritäten und deren politischer Bestrebungen sowie im Kontext der Erosion
christlichen Glaubens und der Kirchenmitgliedschaft. Zwar reagiert die Mehrheit der Bevölkerung durchaus mit Wohlwollen auf multikulturelle und multireligiöse Entwicklungen, doch ist innerhalb der Gesellschaft auch eine verstärkt
säkularistische und dem Christentum gegenüber ablehnende Haltung spürbar.
Die Mehrheitsgesellschaft beschäftigt sich eher mit der Rolle von Minoritäten.
Der wahrgenommene Druck seitens des Säkularismus spielt hingegen kaum eine
bis gar keine Rolle. Nicht das Wiedererstarken von Religion stellt also eine
Herausforderung dar, sondern das Aufkommen eines ethno-religiösen Multikulturalismus. In der Tat ist die Antwort seitens der Mehrheitsgesellschaft,
insbesondere in Frankreich, als Säkularismus oder Neo-Säkularismus zu verstehen, und nicht als „Postsäkularismus“.
2.
Die Integration muslimischer MigrantInnen in Westeuropa
In Westeuropa ist keine Entschleunigung der Säkularisierung in Bezug auf institutionalisierte Religion, Kirchgang und traditionell-christlichen Glauben
sowie traditionell-christliche Praxis feststellbar. In Großbritannien fiel so zum
Beispiel die regelmäßige Teilnahme an Gottesdiensten bei der weißen Bevölkerung stetig von 20 % (1983) auf 15 % (2008). Dieser Trend zeichnete sich bei
jüngeren Personengruppen noch deutlicher ab.12 Dies bedeutet nicht, dass Religion im Begriff ist zu verschwinden oder bereits verschwunden ist, doch für
viele ist Religion mittlerweile eine Art von „Glauben ohne Zugehörigkeit“13
(„belief without belonging“), Spiritualität14 oder „implizite Religion“15 („implicit religion“). Glaubten Mitte des 20. Jahrhunderts beispielsweise noch 40 %
der Bevölkerung an Gott, waren es am Ende des Jahrhunderts nur noch 30 %.
Dagegen blieb der Glaube an ein übernatürliches Wesen („spirit“) oder an eine
Lebensquelle („life source“) unverändert bei 35 – 40 %. Der Glaube an eine Seele,
der in den 1980ern noch bei weniger als 60 % lag, ist bis heute sogar um 5 – 10 %
gestiegen.16 Alle diese Veränderungen sind mit dem politischen Säkularismus,
wenn nicht sogar mit dem Szientismus oder der rationalistischen Philosophie
vereinbar. Gleichwie: Ob nun der Rückgang der traditionellen Religion zu einer
Zunahme von Religionslosigkeit oder neuen Formen von Religiosität und Spiritualität führt: Diese Entwicklungen stellen in keinem Fall eine Herausforde12
13
14
15
16
Vgl. Voas / Crockett 2005; BRIN 2011; Kaufmann / Goujon / Skirbekk 2012.
Davie 1994.
Heelas / Woodhead 2005.
Bailey 1997.
Vgl. BRIN 2011.
Befindet sich der Säkularismus in Westeuropa in der Krise?
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rung für den politischen Säkularismus dar. Nicht-traditionelle Formen des
Christentums oder post-christliche Religionen in Westeuropa suchen zumeist
keinen Kontakt zu politischen Institutionen oder der Regierung eines Landes
und versuchen erst gar nicht, diese zu reformieren. Sie streben weder nach
staatlicher Anerkennung und politischer Einbindung noch nach politischer
Macht.17
Nach Jahrzehnten der Einwanderung teilen die urbanen Gesellschaften Europas heute die ethnische Diversität, die lange Zeit charakteristisch für die USA
war, mit diesen.18 Gegenwärtig sind etwa 20 – 35 % der EinwohnerInnen der
großen urbanen Zentren Nordwesteuropas, vornehmlich in den Hauptstädten,
nicht-weißer ethnischer Herkunft (d. h. Menschen außereuropäischer, inkl.
türkischer Herkunft). Auch ohne weitere Einwanderungswellen werden diese
Bevölkerungsschichten, die statistisch gesehen jünger sind und sich durch eine
höhere Geburtenrate auszeichnen, in Zukunft weiter wachsen, zumindest für die
Dauer von ein oder zwei Generationen, bevor dieses Wachstum schließlich
stagnieren wird. In manchen Städten wird der Anteil der Bevölkerung nichteuropäischer Herkunft binnen weniger Jahrzehnte, oder sogar noch früher, 50 %
oder mehr betragen. In einigen urbanen Zentren Südeuropas zeichnet sich ein
ähnlicher Trend ab. Dennoch besteht ein gravierender Unterschied zwischen
Westeuropa und den USA: im Gegensatz zu den USA sind die meisten außereuropäischen MigrantInnen in europäischen Ländern MuslimInnen.19 Mit
schätzungsweise 12 bis 17 Millionen MuslimInnen, die heute in Westeuropa
leben, macht die muslimische Bevölkerung, gemessen an der Gesamtbevölkerung, nur etwa 3 – 5 % innerhalb der ehemaligen EU-15 aus. Diese verteilen sich
relativ gleichmäßig auf die größeren Staaten.20 In den Großstädten ist der Anteil
an MuslimInnen jedoch um ein Vielfaches höher und, im Vergleich zur übrigen
Bevölkerung, stark im Steigen.21 Die Ausschreitungen in den banlieues von Paris
und in anderen Teilen Frankreichs, die Affäre um die Mohammed-Karikaturen
in Dänemark und andere Konflikte, die mit der Verletzung religiöser Befindlichkeiten und der Meinungsfreiheit einhergehen, sowie die sich ausweitenden
17 In manchen Fällen versucht der Staat zwar gewisse soziale Verantwortungen an Dritte
weiterzugeben, doch geschieht dies meist nicht vor dem Hintergrund eines Umdenkens in
Bezug auf die Säkularisierung oder auf das Christentum, sondern aus wirtschaftlichen oder
anderen Überlegungen heraus (z. B. Kürzung von Staatsausgaben).
18 Zwar ist das Vorhandensein einer afroamerikanischen Minderheit in den USA kein Resultat
von Migration, sondern eine Folgeerscheinung der Sklaverei, doch ist die urbane Gentrifizierung durchaus mit Phänomenen wie Binnenmigration und der Ankunft weiterer Migrationsgruppen erklärbar.
19 Eine Ausnahme stellt das Vereinigte Königreich dar ; hier bekennt sich nur etwa ein Drittel
aller nicht-weißen MigrantInnen bzw. Angehörigen einer ethnischen Minderheit zum Islam.
20 Vgl. Peach 2007; Pew Forum 2010.
21 Vgl. Lutz / Skirbekk / Testa 2007.
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