591 Psychopathologie Psychopathologie und Verlaufsforschung R. Bottlender1, 2 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums Lüdenscheid; 2Ruhr Universität Bochum Schlüsselwörter Keywords Psychopathologie, Verlaufsstudien, Ätiopathogenese, Systemtheorie Psychopathology, course and outcome studies, etiopathogenesis, systems theory Zusammenfassung Summary Psychopathologie und Verlaufsforschung sind traditionell eng miteinander verbunden. Historisch bestand ein zentrales Ziel der Verlaufsforschung in der Validierung der auf der klinisch-psychopathologischen Querschnittssymptomatik basierenden, kategorialen Klassifikationen von bestimmten Patientenpopulationen. Die Ätiopathogenese der so gefundenen Zustands-Verlaufs-Einheiten sollte biologisch entschlüsselt werden. Jedoch fanden sich weder einheitliche Verlaufstypen noch konnte die Ätiopathogenese der meisten psychiatrischen Erkrankungen aufgeklärt werden. Auch die durch operationalisierte Diagnosemanuale erhöhte Reliabilität psychiatrischer Diagnosen änderte an diesem Umstand nichts. Die mit der globalen Einführung operationalisierter Diagnosemanuale einhergehende Dekonstruktion psychiatrischer und psychopathologischer Schulen hinterließ ein Theoriendefizit, welches, solange die biologische Ursachenaufklärung psychischer Erkrankungen in greifbarer Nähe schien, hinnehmbar war, nun aber überwunden werden muss. Funktionale und theoretische Psychopathologie oder die Entwicklungspsychopathologie bieten vielversprechende Ansätze, die durch integrative Forschungsansätze weiterentwickelt werden müssen. Die konzeptuellen Rahmenbedingungen hierfür können z. B. aus der Systemtheorie oder der Theorie zu komplexen adaptiven Systemen abgeleitet werden. Psychopathology, course and outcome studies are traditionally closely connected with each other. From an historical perspective a major purpose of course and outcome studies can be seen in the validation of nosological concepts based on descriptive psychopathology. In a second step, etiopathogenesis of those nosological concepts were to be deciphered. Unfortunately however, so far neither the nosological concepts have been validated nor has the etiopathogenesis been explained. This situation has not been changed by an improved reliability of operationalized diagnoses either. The global introduction of operationalized diagnostic systems led to a deconstruction of psychiatric and psychopathological schools and traditions and left psychiatry with a theoretical deficit which was tenable as long as there was hope for an early uncovering of the biological causes of mental illnesses. However, in the current situation this theoretical deficit needs to be overcome. In that respect, functional and theoretical psychopathology as well as developmental psychopathology are promising new approaches which should be further developed by an integration of other disciplines. The conceptual framework for this scientific venture can be derived from systems theory or theory of complex adaptive systems. Korrespondenzadresse Priv. Doz. Dr. Ronald Bottlender Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Märkische Kliniken GmbH, Klinikum Lüdenscheid Paulmannshöher Str. 14, 58515 Lüdenscheid Tel. 02351/463560, Fax 02351/463559 [email protected] Pychopathology, course and outcome studies Nervenheilkunde 2014; 33: 591–598 eingegangen am: 20. April 2014, angenommen am: 5. Mai 2014 Psychopathologie ist die Lehre von den krankhaften Erscheinungen psychischer Funktionen. In einer stark durch biologische Paradigmen beeinflussten Medizin im Allgemeinen und Psychiatrie im Speziellen wurde die oft als ungenau und subjektiv charakterisierte Psychopathologie immer wieder kritisiert und von manchen Autoren sogar für tot erklärt (1). Nichtsdestotrotz stellt die Psychopathologie nach wie vor die Grundlage der psychiatrischen Diagnostik und Nosologie dar. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Aufkommen der standardisierten Diagnosesysteme (1980: DSM-III, 1990: ICD-10 Kapitel F) und damit die weltweite Vereinheitlichung psychiatrischen Diagnostizierens die Bedeutung der Psychopathologie als wesentliche Grundlage psychiatrischen Diagnostizierens einerseits zwar unterstrich, andererseits aber zu einer Verarmung der Vielfalt an psychopathologischen Traditionen und psychiatrischen Schulen führte. Im Zeitalter der globalen operationalisierten psychiatrischen Diagnostik wird Psychopathologie im Wesentlichen als deskriptive Psychopathologie verstanden, die sich auf das reine Erfassen von für die Diagnosestellung relevanten Symptomkriterien beschränkt. Um die im Kontext der operationalisierten Diagnosesysteme stattgefundene Einengung der Psychopathologie auf die deskriptive Psychopathologie sowie die Abwendung vom psychodynamischen Denken und psychopathologischen Verstehen in der Mainstream-Psychiatrie verstehen zu können, ist es hilfreich diese Entwicklungen vor ihrem historischen Hintergrund zu betrachten. Bis in die 1970er- und 1980er-Jahre war das psychoanalytische Krankheitsmodell das im amerikanischen Sprachraum vorherrschende psychiatrische Krankheitsmodell. Mit dem Erscheinen des DSM-III mit seinem atheoretischen Ansatz sollte ganz bewusst ein Kontrapunkt zum © Schattauer 2014 Nervenheilkunde 9/2014 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-11-01 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 592 R. Bottlender: Verlaufsforschung psychoanalytischen Krankheitsmodell und gegen ein oft als übertrieben und wenig reliables, psychodynamisches Denken gesetzt werden. Der Wissenschaftspositivismus und naturwissenschaftliche Forschungsoptimismus, der die Einführung der standardisierten psychiatrischen Diagnosesysteme begleitete und förderte, führte aber auch dazu, dass Psychopathologie immer mehr nur noch als Mittel zum Zweck betrachtet wurde. Tatsächlich dachte man, es sei nur eine Frage der Zeit bis mithilfe einer möglichst reliablen Diagnostik, die „wahren“, nämlich die biologischen Ursachen der klinisch definierten Störungsbilder aufgeklärt werden würden. Diese Hoffnung hat sich bislang allerdings nicht erfüllt und so muss selbst nach jahrzehntelanger Forschung auf dem Gebiet der biologischen Psychiatrie (z. B. Genetik, Bildgebung) weiterhin festgestellt werden, dass die deskriptive Psychopathologie, einmal abgesehen von der organischen Ausschlussdiagnostik, nach wie vor die wesentliche, und im Prinzip einzige Grundlage psychiatrischer Diagnostik darstellt. Im Stellenwert der Beschreibung der klinischen Symptomatik unterscheidet sich die Psychiatrie grundlegend von anderen medizinischen Disziplinen. In der Psychiatrie gilt nach wie vor, dass die meisten psychiatrischen Krankheitsbilder ohne typische psychopathologische Symptomatik nicht diagnostiziert werden können. Fast möchte man sagen, dass psychische Krankheiten ohne entsprechende Psychopathologie überhaupt nicht existieren. Die Psychopathologie stellt somit also weiterhin das einzige konstituierende Element psychischer Erkrankungen dar. Im Unterschied hierzu können in der somatischen Medizin z. B. ein Bronchialkarzinom, eine Chorea Huntington oder zahllose andere somatische Erkrankungen mittels laborchemischer, bildgebender oder genetischer Untersuchungen sogar oft schon vor Einsetzen der typischen klinischen Symptomatik festgestellt und diagnostiziert werden. Das bedeutet, dass somatische Erkrankungen auch ohne entsprechende Klinik existieren können. Bei psychischen Erkrankungen ist dies fundamental anders. Immer wieder hört man beispielsweise von somatischen Zufallsbefunden wie einem bei einer Routineuntersuchung diagnosti- zierten Tumor, der bei dem betroffenen Patienten keinerlei klinische Beschwerden verursachte. Aber von einer ohne jede klinische Symptomatik nebenbefundlich, zufällig diagnostizierten Schizophrenie oder Zwangserkrankung hat wohl noch niemand gehört. Ein für die psychiatrische Diagnostik erschwerender Umstand ist darin zu sehen, dass die psychopathologische Querschnittssymptomatik in der Regel nicht pathognomonisch, beziehungsweise nicht spezifisch für bestimmte psychiatrische Krankheiten ist (2, 3). Aus diesem Grunde wurden in der psychiatrischen Nosologie oder Klassifikation traditionellerweise psychopathologische Querschnittssymptomatik und Krankheitsverlauf und Ausgang miteinander verknüpft. Emil Kraepelin und seine Zeitgenossen betrachteten psychische Erkrankungen in diesem Zusammenhang als Zustands-Verlaufs-Einheiten. Ähnlich dem Krankheitsmodell für Infektionskrankheiten, die im 19. Jahrhundert nach und nach aufgeklärt wurden, wurde auch für psychische Erkrankungen angenommen, dass es klar voneinander abgrenzbare Krankheitsentitäten gebe, bei denen eine bestimmte Ursache jeweils ein charakteristisches klinisches Erscheinungsbild sowie einen typischen Verlauf und Ausgang mit sich bringen sollte. Unter anderem vor dem Hintergrund dieser Annahmen gewannen Studien zum Verlauf und Ausgang psychischer Erkrankungen eine zentrale Bedeutung in der Validierung psychiatrischer Krankheitskonzepte und der psychiatrischen Forschung überhaupt. Im Folgenden sollen einige ausgewählte Aspekte der psychiatrischen Verlaufsforschung und der Psychopathologie sowie deren Zusammenspiel näher beleuchtet werden. Hierbei wird auch die historische Perspektive berücksichtigt. Der sich im nachfolgenden Text immer wieder findende Gebrauch des Begriffs „Erkrankung“ soll übrigens keine Verleugnung der Problematik und der schwierigen Definition insbesondere des speziellen Krankheitsbegriffs in der Psychiatrie darstellen, sondern ist lediglich Ausdruck einer sprachlichen Konvention und einer gewissen Abneigung des Autors gegenüber dem heute weithin üblichen Störungsbegriff. Arten von Verlaufsstudien Verlaufsstudien lassen sich prinzipiell nach ihrer Verlaufsdauer (kurz und mittelfristige Verläufe sowie Langzeitverläufe) und danach, ob ein prospektives oder retrospektives Studiendesign gewählt wurde, einteilen. Darüber hinaus kann man naturalistische Verlaufsstudien (unbehandelte Krankheitsverläufe) von Verlaufsstudien unter mehr oder weniger standardisierten Studienbzw. Behandlungsbedingungen unterscheiden. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum von Verlaufsstudien ist in der Zusammensetzung und Selektion der Studienpopulation zu sehen (z. B. epidemiologische Studien, erst- versus mehrfach erkrankte Patienten). Auf diesbezüglich bestehende Schwierigkeiten mit der Repräsentativität von Studienpopulationen wird später bei der Erläuterung methodischer Probleme von Verlaufsstudien eingegangen. Beim retrospektiven Studiendesign liegt zum Studienbeginn bereits das Ende eines bestimmten Krankheitsverlaufs vor. So würde man in einer retrospektiven Verlaufsstudie z. B. alle Patienten einer psychiatrischen Klinik mit einer Krankheitsdauer von mindestens 15 Jahren untersuchen. Dieser Ansatz ist zwar sehr zeitökonomisch, da einem das Abwarten langer Verlaufszeiten erspart bleibt, hat aber auch einige offensichtliche methodische Nachteile. Ein wesentlicher Nachteil dieser Vorgehensweise ist in dem Selektionsbias zu sehen. Untersucht man rückblickend den Langzeitverlauf von heutigen Patienten einer Klinik, engt man seine Studienpopulation auf Patienten mit chronisch oder rezidivierend verlaufenden Erkrankungen ein und lässt jene Patienten außen vor, die zwar auch vor 15 Jahren erstmals erkrankt waren, danach aber gesund geblieben sind. Bei diesem Studiendesign findet sich insofern eine Überrepräsentation von eher ungünstigen Krankheitsverläufen. Andere Nachteile des retrospektiven Studiendesigns liegen in der Varianz der zur Verlaufsbeschreibung verfügbaren Informationen und Daten. Hier kann man sich zwar mit Arztbriefen, anderen Behandlungsdaten sowie Befragungen von Patienten und deren Bezugspersonen zum bisherigen Krankheitsverlauf behelfen. Diese Informationen und Daten sind in ihrer Art und Nervenheilkunde 9/2014 © Schattauer 2014 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-11-01 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. R. Bottlender: Verlaufsforschung Qualität jedoch sehr heterogen, nicht standardisiert und z. B. für differenzierte psychopathologische Charakterisierungen und Analysen nicht geeignet. Diese Nachteile können teilweise durch ein Catch-up quasi prospektives Studiendesign vermieden werden. Ähnlich wie beim rein retrospektiven Studienansatz liegt bei diesem Ansatz das Ende der interessierenden Verlaufsperiode bereits vor. Der Selektionsbias nur jene Patienten mit rezidivierenden oder chronifizierten Krankheitsverläufen in die Studie aufzunehmen wird beim Catch-up-Studiendesign dadurch vermieden, dass z. B. alle vor 15 Jahren in einem bestimmten Setting behandelten ersterkrankten Patienten mit einer bestimmten Diagnose identifiziert, kontaktiert und nachuntersucht werden. Dieses Vorgehen gewährleistet, dass jene Patienten in die Verlaufsuntersuchung eingeschlossen werden, die z. B. nur einmal hospitalisiert oder behandelt wurden und danach nie wieder. Wenn z. B. die Klinik, in dem diese Patienten erstmalig behandelt wurden, dann auch noch über vereinheitlichte, standardisierte klinische Aufnahmeund Charakterisierungsprozesse und ein gutes Qualitätsmanagement verfügt, besitzt man eine klinisch und psychopathologisch gut charakterisierte Kohorte von ersterkrankten Patienten, die 15 Jahre später mit einem vergleichbaren klinischen Instrumentarium und anderen Methoden nachuntersucht werden kann. Bei diesem Design sind die Patienten an wenigstens drei Untersuchungszeitpunkten (Aufnahme und Entlassung der Ersterkrankung) und zum 15-Jahres-Nachuntersuchungszeitpunkt psychopathologisch und allgemein klinisch gut charakterisiert. Ergänzende Informationen z. B. zu Hospitalisierungen, unerwünschten Ereignissen können mit den bekannten Einschränkungen durch retrospektive Erhebungen und Befragungen von Patienten und Angehörigen sowie die Einholung vorhandener Behandlungsdaten erhalten werden. Ein solches quasi prospektives Verlaufsstudiendesign wurde z. B. in der Münchner 15 Jahres Katamnese und auch vielen anderen Langzeitverlaufsstudien eingesetzt (4, 5). Den Goldstandard stellt bei Verlaufsstudien naturgemäß der tatsächlich oder voll prospektive Studienansatz dar. Bei diesem Design wird die interessierende Studienpopulation prospektiv zusammengestellt und untersucht und dann über die Zeit hinweg systematisch und mit einem standardisierten Instrumentarium zu verschiedenen Follow-up-Zeitpunkten nachuntersucht und charakterisiert. In modernen prospektiven Verlaufsstudien werden neben Instrumenten zur klinisch-psychopathologischen Charakterisierung von Patienten üblicherweise auch Instrumente zur Erfassung qualitativer Aspekte, sozialer Dimensionen sowie Methoden zur Untersuchung biologischer Faktoren eingesetzt (Mehrebenenansatz). Das konkrete Design der Verlaufsstudie, die Zusammensetzung der Studienpopulation, Verlaufsdauer (kurz-, mittel-, langfristiger Verlauf), eingesetztes Untersuchungsinstrumentarium wird wesentlich durch die mit der Studie verbundenen Ziele bestimmt. Ziele von Verlaufsstudien Verlaufsstudien können recht unterschiedliche Ziele verfolgen. Häufige Ziele von Verlaufsstudien sind z. B.Validierung von nosologischen Konzepten, Vergleich des Verlaufs und Ausgangs verschiedener Erkrankungen, Suche nach Prädiktoren oder aber die Analyse von Kurz-, Mittel- und Langzeiteffekten von Therapien. Verlaufsstudien zur Validierung von Krankheitskonzepten Historisch bestand ein zentrales Ziel von Verlaufsstudien in der Validierung der auf der klinisch-psychopathologischen Querschnittssymptomatik basierenden, kategorialen Klassifikationen von bestimmten Patientenpopulationen. Eine Grundannahme bei dieser Vorgehensweise war, dass Patienten mit einem ähnlichen klinischen, psychopathologischen Phänotyp auch einen ähnlichen Krankheitsverlauf und Ausgang einnehmen würden. Darüber hinaus wurde mit dieser Grundannahme die Hypothese verknüpft, dass den psychopathologisch und klinisch ähnlichen ZustandsVerlaufs-Einheiten vergleichbare ätiologische Ursachen zugrunde liegen müssten. Aufgrund dieser Vorstellungen gelangte Kraepelin zu seiner bis in die heutige Zeit nachwirkenden dichotomen Klassifikation von prognostisch günstig verlaufenden affektiven Erkrankungen auf der einen Seite und prognostisch ungünstig verlaufenden schizophrenen Erkrankungen auf der anderen Seite, wobei aber auch Kraepelin später schon einräumte, dass viele Patienten von dieser idealtypischen Einteilung abwichen und die Verläufe innerhalb der jeweiligen Erkrankungen heterogener waren als vermutet. Diese Heterogenität der Krankheitsverläufe wurde in der Zeit nach Kraepelin vielfach bestätigt und heute weiß man, dass beispielsweise chronische Verlaufsformen bei der Schizophrenie nur eine von vielen möglichen Verlaufsvarianten darstellen und der Verlauf der Schizophrenie insgesamt sehr heterogen ist (6–8). Andererseits weiß man auch, dass z. B. bei affektiven Erkrankungen chronische Verlaufsformen mit erheblicher sozialer Behinderung viel häufiger sind als dies Kraepelin angenommen hatte (9). Da in der Psychiatrie aber weiterhin an dem Konzept natürlicher, distinkter Krankheitseinheiten festgehalten wurde und man annahm, dass die gefundene Heterogenität der Verläufe und Ausgänge nicht Ausdruck einer Schwäche des Krankheitskonzepts ist, sondern eher auf methodische Schwächen der Verlaufsstudien zurückzuführen war, wurden Design und Methodik der Verlaufsstudien nach und nach verfeinert und elaborierter, sodass konfundierende, verlaufsbeeinflussende Faktoren in den Studien besser kontrolliert werden konnten. Aber auch mit diesen methodisch verbesserten Studiendesigns wurden weiterhin sehr heterogene Krankheitsverläufe gefunden. Zudem fand sich beispielsweise in Genetikstudien aber auch in Studien zu anderen biologischen Parametern eine Überlappung von bipolaren und schizophrenen Erkrankungen (10, 11). Angesichts dieser und anderer Befunde musste in Betracht gezogen werden, dass die ursprüngliche Annahme, nosologische Konzepte, die im Wesentlichen auf der Beschreibung psychopathologischer Merkmale und bestimmter Verlaufscharakteristika basieren, könnten homogene und klar voneinander abgrenzbare Krankheitsentitäten abbilden, möglicherweise zu kurz gegriffen war. Solange die psychiatrische Di- © Schattauer 2014 Nervenheilkunde 9/2014 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-11-01 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 593 594 R. Bottlender: Verlaufsforschung Krankheitskonzepte selbst verbirgt. Die auf Symptomkriterien basierenden Krankheitskonzepte beschreiben insofern wahrkeine scheinlich nicht einzelne, klar voneinander Einschränkungen abgrenzbare Erkrankungen, sondern eher mehrere Krankheiten, die zwar eine ähnliMehrere Episoden, che phänomenologische Ausprägung, aber keine eben unterschiedliche Ätiologien aufweiEinschränkungen sen (12, 13). Die zuvor skizzierten Entwicklungen führten dazu, dass die Idee kategorialer Krankheitskonzepte in den letzMehrere Episoden, ten zwanzig Jahren zunehmend in Frage gleichbleibende gestellt wurde und Alternativen z. B. diEinschränkungen mensionale Krankheitskonzepte mehr in den Fokus des Interesses rückten. Auch die Suche nach Indikatoren beziehungsweise Mehrere Episoden, Prädiktoren für bestimmte Krankheitsverzunehmende läufe gewann vor dem Hintergrund der geEinschränkungen nannten Entwicklungen an Bedeutung. Beide Konsequenzen stärkten im PrinAbb. 1 Verlaufstypen der Schizophrenie nach (17). zip den Stellenwert der Psychopathologie, obgleich es in dem nach wie vor positivistischen Forschungsparadigma der Mainagnostik und Klassifikation primär auf kungen, cum grano salis aber für alle psy- stream-Psychiatrie überspitzt formuliert phänomenologischer Basis erfolgt, müssen chischen Erkrankungen. implizit immer auch um die Abschaffung Verlaufstypologien, wie sie in der VerganVon anderen Autoren wird die Hypo- der Psychopathologie ging. Für die Psygenheit immer wieder vorgeschlagen wur- these vertreten, dass sich hinter der Ver- chiatrie wäre, wenn sich psychische Erden (▶Abb. 1, 2), als arbiträr betrachtet laufsheterogenität die Unschärfe der psy- krankungen nicht so trickreich ihrer biolowerden. Dies gilt für schizophrene Erkran- chopathologischen Beschreibungen und gischen Entschlüsselung entziehen würden, ähnliches zu befürchten wie für die somatische Medizin, wo die klinische Untersuchungskunst weitgehend durch eine appaBeginn Verlaufs- Ausgang Häufigkeit Burghölzli Vermont rative Diagnostik abgelöst wurde. typ (%) Studie 2 Studie 1 Verkannt wird bei dieser Vorgehensweise allerdings, dass die scheinbar objektive Gesundung/ akut episodisch 30-40 Beschreibung des Patienten z. B. durch Laleicht 25,4 7 25-35 borbefunde, Genetik und Bildgebung eben nur Teilaspekte darstellen und wesentliche mäßig/schwer chronisch einfach andere Aspekte wie psychologische oder 24,1 10-20 4 psychosoziale Faktoren, die für die Krankheitsentwicklung und den Krankheitsvermäßig/schwer akut episodisch lauf ebenso wichtig sind, dabei unberück11,9 5 4 sichtigt bleiben. Der alte Streit über die Bedeutung von genetischen versus umgeeinfach Gesundung/ chronisch bungsbedingten Faktoren verkennt, dass leicht 10,1 5-10 12 Erkrankungen ein Resultat komplexer dynamischer Interaktionen dieser drei Diepisodisch chronisch mäßig/schwer mensionen sind. Auf diese ZusammenhänAbbildung 2: Verlaufstypen der Schizophrenie im Vergleich mitgeBefunden 9,6 nach Ciompi 38 hat Engel bereits in den siebziger Jahren der Burghölzli-Studie und der Vermont-Studie hingewiesen und in diesem Zusammenhang das biopsychosoziale Krankheitsmoakut einfach mäßig/schwer 8,3 5-15 del für die Medizin vorgeschlagen (14, 15). 3 1 Obwohl in der Medizin mittlerweile Abb.chronisch 2 Verlaufstypen der Schizophrenie nach Ciompi im Vergleich mit Befunden der Burghölzli-Studie weithin anerkannt wird, dass Krankheiepisodisch mäßig/schwer (18) und der Vermont-Studie (19) ten durch eine Vielfalt von Faktoren be5,3 27 Einzelepisode, Nervenheilkunde 9/2014 einfach akut Gesundung/ leicht © Schattauer 2014 5,3 5 5 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-11-01 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. R. Bottlender: Verlaufsforschung dingt und beeinflusst sind, ist in der Medizin wie auch in der Psychiatrie das medizinische Krankheitsmodell nach wie vor vorherrschend. Der WHO-Bericht „Mental Health – New Understanding, New Hope“ (16) stellt in diesem Zusammenhang fest, dass sich die Trennung der biologischen von psychischen und sozialen Faktoren im Hinblick auf Entstehung, Behandlung und Prävention von Erkrankungen als bedeutsames Hindernis für ein korrektes Verständnis von Erkrankungen erwiesen habe. Dies ist ein klares Plädoyer für ein biopsychosoziales Krankheitsmodel. Verlaufsstudien zur Analyse prognostischer Variablen/Prädiktoren Zur Analyse von Prädiktoren eignen sich insbesondere prospektive Verlaufsstudien, bei denen die Studienpopulation zu Beginn ihrer Erkrankung umfassend und möglichst auf unterschiedlichen Ebenen charakterisiert wurde. Ergebnisse dieser Art der Verlaufsforschung haben in den letzten 10 bis 15 Jahren z. B. auf dem Gebiet der Forschung und Versorgung schizophrener Erkrankungen entscheidende neue Impulse setzen können. Doch bevor auf diese Be- Tab. 2 Tab. 1 Häufig genannte Einflussfaktoren auf den Verlauf der Schizophrenie. Faktoren, die auf einen besseren Verlauf der Schizophrenie hinweisen Faktoren, die auf einen schlechteren Verlauf der Schizophrenie hinweisen Frauen Männer akuter Beginn schleichender Beginn kurze Dauer der ersten Episode lange Dauer der ersten Episode höheres Alter bei Beginn der Krankheit jüngeres Alter bei Beginn der Krankheit gute prämorbide Anpassung auf den Gebieten der sozialen Beziehungen und der Beschäftigung; unauffällige prämorbide psychiatrische Vorgeschichte schlechte prämorbide Anpassung; schlechte prämorbide Schul- und Arbeitsanamnese Substanzmissbrauch und andere prämorbide psychische Krankheiten negative Familienanamnese für Schizophrenien positive Familienanamnese für Schizophrenien Vorherrschen von positiven und Fehlen von negativen Symptomen stark ausgeprägte negative Symptome Fehlen von Kritik, Feindseligkeit oder Überengagement in der Heim- und Familienatmosphäre exzessive Kritik, Feindseligkeit und Überengagement in der Heim- und Familienatmosphäre unauffällige Gehirnmorphologie und Fehlen neurologischer Auffälligkeiten Abnormitäten des Gehirns und Vorhandensein von leichten neurologischen Auffälligkeiten funde näher eingegangen wird, sollen einige prinzipielle Aspekte und Schwierigkeiten der Prädiktionsforschung erläutert werden. Eine Frage, die sich ganz am Anfang der Suche nach Prädiktoren stellt, ist, was denn eigentlich zu prädizieren sei? In diesem Zusammenhang werden dann üblicherweise die Begriffe „Outcome“ oder „Ausgang“ genannt. Diese Begriffe sind aber insofern irreführend, weil sie suggerieren, dass psychiatrische Erkrankungen auch tatsächlich klar zu definierende Endpunkte aufweisen. Dies ist aber in der Regel nicht der Fall. Heute ist allgemein anerkannt, dass das „Outcome“ psychiatrischer Erkrankungen Instrumente zur Erfassung der Symptomatik in Frühphasen schizophrener Erkrankungen. Instrument Kurzbeschreibung Literatur BSABS/ SPI–A: „Bonner Skala für dieBeurteilung von Basissymptomen“/ „Schizophrenia Prediction Instrument – Adult Version“ Die BSABS ist ein Instrument zur Erfassung des präpsychotischen Prodroms oder eines Vorpostensyndroms. Die SPI–A basiert auf der BSABS. Basissymptome werden hier in sechs Symptomgruppen und einer heterogenen Restkategorie angeordnet. 36, 37 IRAOS und ERIraos: „Interview for the Retrospective Assessment of the Onset of Schizophrenia“ und „Early Recognition Inventory” Neben einer Sektion zur sozialen Entwicklung und zur Behandlungsgeschichte enthält das IRAOS einen Teil zur Erfassung des Symptombeginns und Verlaufs für 128 Symptome einer beginnenden Psychose. Das ERIraos – „Early Recognition Inventory basierend auf IRAOS“ – wurde für das Kompetenznetz Schizophrenie entwickelt. Ca. 70% der IRAOS-Anzeichen wurden für das ERIraos übernommen. Hinzu kamen attenuiert psychotische Symptome (gemäß Schizotypiekriterien) und Basissymptome. 38, 39 Chapman-Skalen Mehrere Skalen zu Erfassung des Konstrukts „Psychoseneigung“ (psychosis proneness): „Perceptual Aberration Scale“ (35 Items), „Magical Ideation Scale“ (30 Items), „Impulsive Nonconformity Scale“ (51 Items) und „Social Anhedonia Scale“ (40 Items). 40 CAARMS: „Comprehensive Assessment of At-Risk Mental States“ Die CAARMS dient der Erfassung unterschwelliger psychotischer Symptome in Gruppen mit 41 hohem Psychoserisiko. Es handelt sich um ein semistrukturiertes Interview aus acht Subskalen. SIPS und SOPS: „Structured Interview for Prodromal Symptoms“ Das SIPS dient der Erfassung von Prodromalsymptomen, welche hinsichtlich ihres Schwere42 grades mittels der „Scale Of Prodromal Symptoms“ (SOPS) kodiert werden. Die Schweregraddefinitionen reichen bei den positiven Symptomen von den mildesten Formen bis zur manifesten Psychose. © Schattauer 2014 Nervenheilkunde 9/2014 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-11-01 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 595 596 R. Bottlender: Verlaufsforschung Prodromalphase Alter 24,2 Zeitdauer Psychotische Vorphase 29,0 5,0 Jahre 30,1 30,3 1,1 Jahre positive Symptome negative und unspezifische Symptome Ersthospitalisierung erstes positives Symptom erstes Anzeichen einer psychischen Störung (unspezifisches / negatives Symptom) Maximum der Positivsymptomatik modifiziert nach Häfner, 2000 Abb. 3 Psychopathologische Symptomatik in der Frühphase schizophrener Erkrankungen (modif. nach 51) keine statische Größe darstellt, sondern als adaptativer Prozess zu verstehen ist, der sich auf vielen, unterschiedlichen, sich wechselseitig beeinflussenden Ebenen abspielt. Dies verdeutlicht die Limitierungen der psychiatrischen Prädiktorforschung. Auch muss bei der Prädiktoranalyse berücksichtigt werden, dass das Outcome keine eindimensionale Größe ist, und die Bedeutung eines Prädiktors auch von der jeweils betrachteten Outcomedimension abhängt. Weiter kompliziert wird diese Problematik dadurch, dass die Ergebnisse von Prädiktoranalysen nicht nur von der betrachteten Outcomedimension abhängen, sondern auch von der zur Erfassung der bei der jeweils betrachteten Outcomedimesion eingesetzten Methodik wie auch von der Auswahl der potenziell prädiktiven Merkmalsbereiche und deren Erfassungsmethodik beeinflusst werden (20). Für die Schizophrenie wurden in vielen Studien eine Reihe von prognostisch bedeutsamen Prädiktoren immer wieder bestätigt (▶Tab. 1, 2). Einige dieser Prädiktoren sind jedoch eher als Indikatoren denn als Prädiktoren des Verlaufs zu verstehen. So ist beispielsweise ein bereits bei Erstbehandlung festzustellender chronischer Verlauf mit ausgeprägter Negativsymptomatik naturgemäß prädiktiv für einen weiteren eher ungünstigen Verlauf und Ausgang der Erkrankung. Da hier im Prinzip lediglich festgestellt wird, dass „Chronizität“ weitere „Chronizität“ nach sich ziehen wird, sollte man bei Prädiktoren dieser Art eher von Verlaufsindikatoren sprechen. In Studien mit ersterkrankten schizophrenen Patienten hat die Prädiktorforschung in den letzten 10 bis 15 Jahren zu Ergebnissen geführt, die zu einem fundamentalen Umdenken im Bereich der Versorgungsprinzipien schizophrener Patienten geführt haben. Diese Befunde unterstrichen die Bedeutung der Frühphasen schizophrener Erkrankungen für die Aussichten auf die erreichbaren therapeutischen Erfolge, aber auch für den weiteren Krankheitsverlauf. In ▶Abbildung 3 ist die Frühphase schizophrener Erkrankungen schematisch dargestellt. Eine Vielzahl von Studien fand, dass zahlreiche ersterkrankte schizophrene Patienten trotz ausgeprägter Symptomatik Monate oder gar Jahre undiagnostiziert und unbehandelt bleiben und die Dauer dieser unbehandelten psychotischen Symptomatik (DUP = Duration of Untreated Psychosis) das Ansprechen auf die Therapie als auch den weiteren Krankheitsverlauf ungünstig beeinflusst (22–25). Das bemerkenswerte an den Befunden zur DUP ist, dass die ungünstigen Effekte der DUP im kurz-, mittel- und langfristi- 4 gen Verlauf bestätigt wurden und für ganz unterschiedliche Outcomedimensionen wie beispielsweise die Psychopathologie (26, 27), das globale Funktionsniveau (28, 29), die Lebensqualität (30, 31) oder das kognitive Funktionsniveau (32, 33) und viele andere Outcomedimensionen nachgewiesen werden konnten. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass die ungünstigen Effekte der DUP in Studien mit ganz unter- schiedlichen Designs und Methoden gefunden wurden und es kaum publizierte Gegenbefunde gibt (34). Die klinische Relevanz der Befunde zur DUP ist darin zu sehen, dass die DUP im Unterschied zu den meisten anderen für den Verlauf der Schizophrenie prognostisch bedeutsamen Faktoren prinzipiell beeinflussbar ist und über eine Verkürzung der DUP (beispielsweise durch spezielle Früherkennungsund Frühinterventionsstrategien) eine Verbesserung des schizophrenen Krankheitsverlaufs erreicht werden könnte. Angestoßen durch diese Aussicht und die Einheitlichkeit und Konvergenz der Befunde zur Bedeutung der Frühphasen schizophrener Erkrankungen für deren weiteren Krankheitsverlauf wurden in den letzten 10 bis 15 Jahren weltweit Früherkennungs- und Frühinterventionsprogramme für schizophrene Erkrankungen initiiert. Dies führte auch zu Früherkennungsprogrammen für andere psychische Erkrankungen und bereitete insgesamt den Boden für die Idee einer präventiven Psychiatrie. Die Psychopathologie hat durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Frühphasen psychischer Erkrankungen vielfältige neue Impulse erhalten. Beispielsweise erhielten Konzepte, die schon seit längerem bekannt waren, eine erneute und intensivere Aufmerksamkeit. Hier sind das Schizotaxie-Schizotypie-Modell von Meehl mit den attenuierten psychotischen Symptomen (35) wie auch das Hubersche Basissymptomkonzept und dessen Weiterentwicklungen durch Klosterkötter zu nennen (36). Auch wurden zahlreiche neue psychopathologische Instrumente zur Erfassung der Frühsymptomatik entwickelt, in denen stark auch auf das subjektive Erleben der Patienten Bezug genommen wird (▶Tab. 2). Entwicklungspsychopathologie Im Zusammenhang mit den Weiterentwicklungen der Psychopathologie im Bereich der präventiven Psychiatrie muss auch das neue Gebiet der Entwicklungspsychopathologie (Developmental Psychopathology) erwähnt werden (43, 44). Im Gegensatz zur Entwicklungspsychologie beschäftigt sich die Entwicklungspsychopathologie mit der Entstehung und dem Nervenheilkunde 9/2014 © Schattauer 2014 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-11-01 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. R. Bottlender: Verlaufsforschung Verlauf psychischer Abweichungen und Störungen im Vergleich zur normalen Entwicklung. Wesentlich ist dabei, die biopsychosozialen Mechanismen einer Entwicklungsabweichung zu klären und Risiko- Fazit und Schlussfolgerungen In diesem Beitrag sollte das Verhältnis von Psychopathologie und Verlaufsforschung anhand einiger ausgewählter Bereiche näher beleuchtet werden. Historisch betrachtet sind beide Themengebiete eng miteinander verknüpft. Traditionellerweise diente die Verlaufsforschung der Validierung psychopathologischer Konzepte zur Klassifizierung psychischer Erkrankungen. Das Forschungsparadigma, dem man hierbei folgte, war, dass anhand der klinisch-psychopathologischen Beschreibung und bestimmter Verlaufskriterien voneinander abgrenzbare psychische Erkrankungen (Zustands-Verlaufs-Einheiten) identifiziert werden sollten, um so auch deren (organische) Ursachen, Ätiopathogenese, aufzuklären. Nach über einem Jahrhundert intensiver, auch biologischer Forschungsbemühungen, muss jedoch festgestellt werden, dass dieser Ansatz nicht übermäßig erfolgreich war. Dies zeigt sich daran, dass es keine validen Außenkriterien für die meisten psychiatrischen Diagnosen gibt, sodass die Klassifizierung und diagnostische Einteilung von Patienten weiterhin im Wesentlichen auf der klinischpsychopathologischen Charakterisierung beruht. Auch die Einführung der auf Symptomund Zeitkriterien (Psychopathologie und Verlauf!) beruhenden operationalisierten Diagnosesysteme hat an dieser Situation nichts Prinzipielles geändert. Die operationalisierten Diagnosesysteme (DSM III/IV/5 und ICD-10) führten zwar zu reliableren aber nicht unbedingt zu valideren Klassifikationen psychischer Erkrankungen, zumindest, wenn man Validität an der Einheitlichkeit des Verlaufs oder der Konsistenz der biologischen Befunde oder anderen Außenkriterien festmacht. Der ursprünglich mit der Einführung einheitlicher, internationaler, operationalisierter, psychiatrischer Diagnosesysteme verbundene Forschungsoptimismus hat im Hinblick auf die psychiatrische Klassifikation und Atiopathogenese kaum Früchte getragen. Mit sinkendem Optimismus bezüglich des und Schutzfaktoren im Entwicklungsprozess zu identifizieren sowie frühzeitig Prädiktoren für abweichende Verhaltensweisen und Prozesse zu erkennen. Anders ausgedrückt versucht die Entwicklungspsyvorherrschenden Forschungsparadigmas wächst die Unzufriedenheit mit dem nach der Dekonstruktion einer Vielfalt psychiatrischer Schulen und Krankheitslehren sowie psychopathologischer Traditionen hinterlassenen Theoriendefizit in der Psychiatrie. Sowohl die deskriptive Psychopathologie wie auch die zwei international angewandten, operationalisierten psychiatrischen Diagnosesysteme sind vom Ansatz her explizit atheoretisch. Dieses Theoriendefizit bezüglich der Grundlagen des psychiatrischen Fachgebietes muss überwunden werden (45). Gleichzeitig müssen Fehlentwicklungen der Vergangenheit vermieden werden. Aus der Verlaufsforschung und insbesondere aus den Früherkennungsstudien sind diesbezüglich wertvolle Impulse für Weiterentwicklungen hervorgegangen. Vielversprechende Ansätze zur Überwindung des konstatierten Theoriendefizits können z. B. in der Functional Psychopathology und auch der theoretischen Psychopathologie (46, 47) gesehen werden. Letztere versteht sich als eine philosophische Metatheorie psychiatrischer und psychopathologischer Konzepte. Die Entwicklungspsychopathologie (Developmental Psychopathology) ist eine in der Entwicklungspsychologie neue Fachrichtung, die das Ziel verfolgt, die zeitliche Entwicklung abweichenden Verhaltens innerhalb seines biopsychosozialen Bedingungsgefüges mittels hermeneutischer Methoden zu verstehen. Die meisten dieser Entwicklungen haben ihren Platz in der Mainstream-Psychiatrie jedoch noch nicht gefunden. Um auf diesen Gebieten weitere und überzeugende Weiterentwicklungen zu erreichen, muss das multidisziplinäre neben einander verschiedener Forschungsansätze und Fachdisziplinen überwunden und in einem integrativen Forschungsansatz zusammengeführt werden. Die konzeptuellen Rahmenbedingungen für einen solchen integrativen Ansatz könnten beispielsweise aus der Systemtheorie, der Theorie zu komplexen adaptiven Systemen oder auch der Evolutionären Theorie abgeleitet werden (48–50). chopathologie ein ganzheitliches, also biopsychosoziales Verständnis für abweichendes Verhalten unter Berücksichtigung der zeitlichen Entwicklung zu erlangen. Man könnte sagen, dass dies eine Art psychopathologischer Verlaufsforschung auf individueller Ebene darstellt. Literatur 1. Andreasen NC. DSM and the death of phenomenology in America: an example of unintended consequences. Schizophrenia Bulletin 2007; 33(1): 108–112. 2. Nordgaard J, Arnfred, SM, Handest P, Parnas J. The diagnostic status of first-rank symptoms. Schizophrenia Bulletin 2008; 34(1): 137–54. 3. van Os J. Are psychiatric diagnoses of psychosis scientific and useful? The case of schizophrenia. Journal of Mental Health 2010; 19(4): 305–17. 4. 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