Experimente zu Neutrinos - Fabian Schmitz 1/3 EXPERIMENTE ZU NEUTRINOS 1. Geschichte der Neutrinos Bis zum Jahr 1930 war der Betazerfall physikalisch unverstanden. Betrachtete man beispielsweise den Zerfall eines freien Neutrons, so fand man zwei Zerfallsprodukte, ein Proton und ein Elektron 2. Das Standard-Sonnen-Modell Zur Beschreibung der Prozesse in der Sonne wurde im Laufe des 20. Jh. ein Modell entwickelt, welches unter anderem auch den Neutrinofluss der Sonne vorhersagt, der ausschließlich aus νe besteht. n → p+ e- (νe) Obwohl bei einem Zweikörperzerfall die Energien und Impulse der Zerfallsprodukte fest sind, zeigten die Experimente keinen Peak sondern ein kontinuierliches Spektrum. Zur Lösung dieses Problems postulierte Wolfgang Pauli die Existenz eines dritten beteiligten Teilchens. Dieses Teilchen musste aufgrund der Spinstatistik und der Ladungserhaltung ein elektrisch neutrales Fermion sein. Der indirekte Nachweis dieses zunächst hypothetischen Teilchens gelang 1956 in einem Experiment von F. Reines und C. Cowan. Dabei erzeugten Elektron-Antineutrinos im inversen Betazerfall νe p+ → e+ n Positronen und Neutronen, die in Szintillationszählern ein charakteristisches Signal aufwiesen. Im Jahre 1962 wurde das Myon-Neutrino entdeckt. Als 1977 das Tauon nachgewiesen wurde, erwartete man ein entsprechendes TauonNeutrino, dessen Existenz jedoch erst im Jahre 2000 am Fermilab bestätigt werden konnte. Die Anzahl von 3 Neutrino-Generationen wurde am LEP mithilfe der Zerfallsbreite des Z0 bestimmt. Neutrinos sind nach dem Standardmodell masselose 1, ungeladene Fermionen, sodass sie ausschließlich an der schwachen Wechselwirkung teilnehmen. Die Helizität ist aufgrund der Masselosigkeit streng festgelegt: Neutrinos sind linkshändig und Antineutrinos sind rechtshändig. Falls die Neutrinos doch eine Masse hätten, wären auch die anderen Helizitäten in geringem Maße vertreten. Aufgrund der CP-Verletzung tragen nur die linkshändigen Neutrinos und die rechtshändigen Antineutrinos eine schwache Ladung. Experimentell ist eine gewisse Neutrinomasse nicht auszuschließen. Man kann nur Obergrenzen bestimmen. 1 Dieser Neutrinofluss wurde 1968 in einem radiochemischen Experiment in Homestake, South Dakota, gemessen. Dazu wurde 1500m unter der Erdoberfläche in einer alten Mine ein Tank mit 615t Chlor-Etylon (C2Cl4) aufgestellt. Dadurch dass die Sonnen-Neutrinos in einem inversen Betazerfall Chlor in Argon umwandeln, konnte man nach ausreichender Wartezeit von etwa 2 Monaten die Argon-Atome zählen und somit den Neutrinofluss messen. Diese Prozedur war sehr aufwendig. Insbesondere waren die Wirkungsquerschnitte so gering, dass man nur etwa 10 Ereignisse pro Woche erwartete. Hier wird deutlich, dass eine gute Abschirmung gegen Untergrundereignisse zwingend erforderlich war. Der gemessene Neutrinofluss entsprach bloß einem Drittel des erwarteten Flusses. Der Leiter des Experiments Raymond Davis Jr. wurde heftig kritisiert, doch niemand fand einen Fehler in seinen Messungen, die in 108 Messreihen über 24 Jahre stets einen zu geringen Neutrinofluss zeigten. Es wurden weitere Messungen unternommen: radiochemische Experimente wie GALLEX und SAGE, aber auch Echtzeit-Experimente wie Kamiokande, die einem komplett anderen Messprinzip folgten. Sie bestätigten jedoch das Ergebnis von Homestake. Hieraus folgt sofort, dass sie sich genau wie Photonen mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Betreuer: Dr. Marius Groll - Seminar zum Fortgeschrittenen-Praktikum - Kern- und Teilchenphysik 12.01.2009 Experimente zu Neutrinos - Fabian Schmitz 3. Neutrino-Oszillationen Schon im Jahre 1967 stellte Bruno Pontecorvo das Konzept der Neutrino-Oszillationen vor, mit dem ein Defizit im Neutrinofluss zu erklären wäre. Die Idee ähnelt der Mischung der Quarkfamilien, die durch die CKM-Matrix V beschrieben wird. Die Mischung resultiert daraus, dass die Massen- und die Wechselwirkungs-Zustände verschiedene Basen bilden. Die Massenzustände d, s und b sind Linearkombinationen der Eigenzustände d‘, s‘ und b‘ der schwachen Wechselwirkung und umgekehrt. Bei Neutrinos ist dies genauso: Die Zustände νe, νμ und ντ sind die Eigenzustände der schwachen Wechselwirkung, welche Linearkombinationen der Massen-Eigenzustände ν1, ν2 und ν3 sind. Der Zusammenhang ist über die MNS-Matrix2 U gegeben. Wenn nun in der Sonne ein Neutrino να entsteht, so muss man es auf der Flugstrecke L zur Erde als Linearkombination der MassenEigenzustände beschreiben, weil nur diese mit dem Zeitentwicklungsoperator kommutieren. Nach einiger Rechnung findet man eine Formel, die das να-Neutrino nach der Flugstrecke L als Linearkombination der WechselwirkungsEigenzustände beschreibt. Die Wahrscheinlichkeit P, dass das να nach der Flugstrecke L zu einem νβ geworden ist, ist gegeben durch das Betragsquadrat: P(να → νβ) = |〈 νβ | να(L) 〉|2 Im Falle zweier Eigenzustände hat die Matrix U nur einen Parameter, den Mischungswinkel θ. Dann ergibt sich für die Wahrscheinlichkeit P(να → νβ) = sin2(2θ) sin2(1.27 Δ(m2) L/E) Entscheidend ist also das Verhältnis aus Flugstrecke L und Energie E. Um sich eine solche Oszillation besser vorstellen zu können, sei an dieser Stelle auf ein von Adam Para (Fermilab) entwickeltes Java-Applet3 verwiesen. 2/3 4. Messungen am Sudbury Neutrino Observatory (SNO) Das Ziel von SNO war der Nachweis von Neutrino-Oszillationen bei solaren Neutrinos. Der Detektor befindet sich 2000m unter der Erde in einer Mine in Ontario, Kanada. Für die von 1999 bis 2006 erfolgten Messungen wurde trotz der Kosten eine enorme Menge schweres Wasser (D2O) verwendet, da es für die Nachweisreaktionen besonders geeignet war. Das Besondere an SNO ist die Fähigkeit, drei verschiedene Prozesse getrennt zu messen. Erstens gibt es den geladenen Strom, bei dem ein Elektron-Neutrino einen inversen Betazerfall induziert, sodass ein hochenergetisches Elektron frei wird, das durch Cherenkov-Licht detektiert wird. Zweitens gibt es den neutralen Strom, bei dem ein beliebiges Neutrino ein Deuteron auseinander sprengt. Das frei werdende Neutron wird von einem Chlor-Atom eingefangen, welches dann charakteristische Röntgenstrahlung emittiert. Der dritte Prozess ist die Elektronenstreuung über ein Z0, welche ebenfalls für alle Neutrinogenerationen möglich ist. Jedoch kann das νe zusätzlich über ein W- an ein Elektron koppeln. Dadurch ergibt sich für die anderen beiden Neutrinogenerationen eine Unterdrückung ε=15,4%. Insgesamt erhält man folgende drei Gleichungen: ΦCC = Φ(νe) ΦNC = Φ(νe) + Φ(νμτ) ΦES = Φ(νe) + ε Φ(νμτ) Mithilfe dieser Gleichungen und den Messdaten von 2001 konnten zwei wesentliche Dinge geschlossen werden. Messdaten SNO (2001): Φ(νe) = 1,76 ± 0,10 Φ(νμτ) = 3,41 ± 0,65 Φtotal = 5,17 ± 0,66 Φtotal,SSM = 5,05 Erstens stimmt der Gesamtfluss der Neutrinos mit der Vorhersage des Standard-Sonnen-Modells überein. Zweitens ist der Fluss Φ(νμτ) so weit von Null entfernt, dass man ihn nicht als Messfehler auffassen kann. Hieraus folgt, dass die νμ und ντ ursprünglich νe waren und auf ihrem Weg zu νe oszilliert sind. Damit waren Neutrino-Oszillationen experimentell bestätigt. 2 MNS-Matrix benannt nach Maki, Nakagawa und Sakata. 3 Applet zu finden unter: http://home.fnal.gov/~para/Superposition1.html Betreuer: Dr. Marius Groll - Seminar zum Fortgeschrittenen-Praktikum - Kern- und Teilchenphysik 12.01.2009 Experimente zu Neutrinos - Fabian Schmitz 5. Direkte Massenbestimmung (KATRIN) Da bei den Neutrino-Oszillationen die Differenz der Massenquadrate Δ(m2) eingeht, müssen Neutrinos eine Masse besitzen, deren Bestimmung sich jedoch enorm schwierig gestaltet. Eine Möglichkeit nutzt die Tatsache aus, dass sich das Energiespektrum der Elektronen unter Berücksichtigung einer Neutrinomasse verändert. Wären Neutrinos masselos, so könnte das Elektron maximal die Energie E0 erhalten, wenn nämlich das Neutrino keine kinetische Energie hätte. Unter Berücksichtigung einer Neutrino-Ruheenergie mνc2 würde diese Endpunkt-Energie nur noch E0-mνc2 betragen. Um also die Masse zu bestimmen, muss man untersuchen, wo die Endpunkt-Energie liegt. Wie bei allen Neutrino-Experimenten gibt es nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Hier liegt das Problem darin, dass die Anzahl der Elektronen am oberen Ende des Spektrums sehr gering ist und leicht durch den Untergrund überlagert werden kann. Untersucht wird der Betazerfall von Tritium, da dieser Zerfall eine relativ geringe Lebensdauer von 12,3 Jahren und unter allen Betazerfällen eine der niedrigsten Endpunkt-Energien aufweist. Die Elektronen aus diesem Zerfall fliegen durch zwei MAC-E-Filter, sodass nur die besonders energiereichen Elektronen den Detektor erreichen. Die MAC-E-Filter4 ermöglichen mit ihrer hohen Energieauflösung überhaupt erst eine solch genaue Messung. Ein MAC-E-Filter hat ein inhomogenes magnetisches Feld, das an den Enden maximal und in der Mitte minimal ist. Weiterhin gibt es ein elektrisches Potential e⋅U0, welches nur die Elektronen mit einer longitudinalen kinetischen Energie El>e⋅U0 passieren lässt. Das bedeutet aber, dass energiereiche Elektronen, die einen gewissen Energieanteil Et in transversaler Richtung haben, nicht zum Detektor gelangen. Hierzu dient das inhomogene Magnetfeld, welches alle Elektronen auf eine schraubenförmige Bahn um die magnetischen Feldlinien zwingt. Da sich das Magnetfeld während einer Periode nur wenig ändert (daher adiabatische Kollimation), ist das magnetische Moment μ=Et/B in guter Näherung konstant. 3/3 Aus μ = Et,a/Bmax = Et,e/Bmin folgt, dass die transversale Energie in der Mitte des Detektors Et,e um das Verhältnis Bmin/Bmax kleiner ist als Et,a. Das inhomogene, magnetische Feld kollimiert also die Elektronen, d.h. es transferiert die transversale kinetische Energie in longitudinale. Die Ungenauigkeit besteht in der maximalen transversalen Energie, die nicht in den longitudinalen Anteil überführt werden kann5 : ΔE = Et,e,max = E0⋅Bmin/Bmax = 4,8 eV bzw. ΔE/E = 2,5⋅ 10-4. Die Energieauflösung ist begrenzt durch die Bedingung der adiabatischen Änderung des Magnetfeldes. Für höhere Genauigkeit bräuchte man also noch größere MAC-E-Filter. Es gibt noch keine Daten von KATRIN, aber man erhofft sich eine Verkleinerung der bisherigen Obergrenze von m(νe) ≤ 2,2 eV/c2 (Mainz) um einen Faktor 10. Die Massen von νμ und ντ müssen auf andere Arten bestimmt werden. Beim νμ bedient man sich des Pionzerfalls, wobei die Obergrenze bei m(νμ) ≤ 170 keV/c2 liegt. Für das ντ muss man zunächst ein Tauon erzeugen, wodurch die Massenbestimmung aufgrund der hohen Energien besonders schwierig ist. Die bisherige Obergrenze ist m(ντ) ≤ 15,5 MeV/c2. Die Ergebnisse schließen gleich schwere oder sogar masselose Neutrinos nicht aus. Die relativ hohen Obergrenzen für νμ und ντ folgen lediglich aus der begrenzten Energieauflösung bei den hohen Energien, bei denen die Teilchen untersucht werden müssen. 6. Zusammenfassung Es gibt zu jedem der drei bekannten Leptonen e, μ und τ je ein zugehöriges Neutrino. Zwar nimmt das Standardmodell masselose Neutrinos an, aber aufgrund der beobachteten Neutrino-Oszillationen sind massebehaftete Neutrinos ein experimenteller Fakt. Die Bestimmung der Masse gestaltet sich äußerst schwierig. Für das νe kann die experimentelle Obergrenze in den kommenden Jahren vermutlich auf m(νe) ≤ 0,2 eV/c2 eingeschränkt werden. Hiermit stößt die Massenbestimmung mit dem Betaspektrum jedoch an seine Grenzen. Für noch bessere Obergrenzen müssen neue Experimente überlegt werden. 4 MAC-E-Filter = Magnetic Adiabatic Collimation combined with an Electrostatic Filter 5 E0 = 18.574 eV; Magnetfeld im zweiten MAC-E-Filter: Bmin =560μT und Bmax = 2,2 T Betreuer: Dr. Marius Groll - Seminar zum Fortgeschrittenen-Praktikum - Kern- und Teilchenphysik 12.01.2009