Starparade Vom Hirn zum Gestirn. Im Bündner Dörfchen Lü steht das HIMMLISCHE OBSERVATORIUM von Vaclav und Jitka Ourednik. Das Professoren-Ehepaar erforschte früher Hirnerkrankungen, heute greift es mit seinem Astrovillage nach den Sternen. Futuristisch Astronom Vaclav Ourednik sitzt in einem seiner drei Mini-Observatorien und beobachtet den Sternenhimmel über Lü GR. 54 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 55 Die Stube voller astronomischer Gerät e. Für Sternstunden 56 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE Ausrüstung Alles ist parat. Die Stern-Studenten werden mit diesen Teleskopen und Fotoapparaten auf kosmische Jagd gehen. SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 57 1 Sonne Von Vaclav und Jitka Ourednik mit der Filter-Technik namens H-alpha fotografiert. Besonders gut zu sehen sind die Sonnen-Eruptionen. 2 Pferdekopf-Nebel B 33 Im Sternbild Orion sieht man dieses Gebilde aus Gas und Staub, das in seiner Silhouette einem Pferdekopf ähnelt. Von der Erde ist dieser Nebel 1500 Lichtjahre entfernt und erscheint ein Viertel so gross wie der Erdmond. 3 Mondfinsternis Das Ereignis über dem Val Müstair GR (über den Gipfeln von Piz Dora und Piz Daint) wurde am 28. September 2015 vom Ehepaar O ­ urednik fotografiert. 4 Sterngucker Das AstroEhepaar Ourednik (Vaclav, 56, und Jitka, 61) steht in einer seiner vier Mini-Sternwarten mit ­abnehmbarer Kuppel. 1 2 3 58 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 4 Der Himmel über Lü. Sternenkino der kosmischen Art Lü Der Ort hat 55 Einwohner und gehört seit der Fusion von 2009 mit den übrigen Dörfern der Talschaft zur Gemeinde Val Müstair. Mit 1935 m ü. M. war Lü einst die dritthöchstgelegene politische Gemeinde der Schweiz. Himmelwärts Die AstroGäste lernen in den Kursen, wie man Himmelsobjekte be­obachtet und fotografiert. Erhellend Vaclav Ourednik (l.) erklärt «Studenten» (einem Paar aus dem Baselbiet) die Sonne. Nachtarbeit Ourednik (l.) hilft dem Basler Gast beim Einrichten des ­Fotoapparates. TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS KURT REICHENBACH D Feucht-fröhlich Jitka Ourednik bei der Büroarbeit. Rauhaardackel Oliver leistet ihr dabei intensiv Gesellschaft. Tiefer Blick ins All Vaclav Ourednik mit seinem Meade-14-Zoll-ACF. Teleskope dieser Art samt Zubehör kosten 30 000 bis 100 000 Franken. er Name des Dorfes klingt entschieden zu hell. Lü soll vom lateinischen Wort lux stammen, was Licht bedeutet. Ausgerechnet. Dabei gibt es schweizweit keinen anderen Ort, wo die Nacht dunkler und die Finsternis schwärzer ist. Was Lü einen einzigartigen Sternenhimmel und darum internationalen Astronomie-Tourismus beschert. Dank seiner Düsterheit steht das Dorf im Scheinwerferlicht. Lü hat 55 Einwohner, eine Kirche, das höchstgelegene EinPlatz-Internetcafé der Schweiz. Und zehn Strassenlampen. Es geht gegen Mitternacht zu. Die Hauptgasse Via Maistra liegt schummrig da, vereist und verwaist. Die mit Kratz-Sgraffito verzierten Bündner Steinhäuser wirken um diese Zeit kalt und abweisend, und selbst in der sonst festlich erleuchteten Usteria al Tschierv, im «Hirschen» (berühmt für Spaghetti Mamma Lü), brennt kein Licht mehr. Die Einheimischen schlafen längst – die Besucher sind hellwach. Am Dorfrand spielt sich Wunderliches ab. Frauen und Männer mit wattierten Jacken, Stirnlampen und unbündnerischen Dialekten stellen Stative auf, montieren Teleskope und Fotoapparate, linsen durch Okulare und Sucher und hauchen weisse Atemwolken und Wörter wie Strudelgalaxie, Kugelsternhaufen und Seelennebel in die Nacht hinaus. Und dann stehen da noch, auf einer nahen Alpwiese im Schnee, drei weisse, grosse Kuppeln, Iglu-Ufos aus Leichtmetall, fremd, rätselhaft, futuristisch. Wie nicht von dieser Welt. Im dunkelsten Ort der Schweiz ist das Ausserirdische tatsächlich ganz nah. «Wir fotografieren Galaxien, die Hunderte Millionen Lichtjahre entfernt sind», sagt das Ehepaar Ourednik. Prof. Dr. Vaclav Ourednik, 56. Prof. Dr. Jitka Ourednik, 61. Beide sind Naturwissenschafter, Forscher, Professoren (allerdings für eine ganz andere Disziplin als die Astronomie; doch dazu später). Das Ehepaar betreibt in Lü eine Sternwarte: das Alpine Astrovillage Lü-Stailas. Ihr privates Zentrum für Astrofotografie. Hier greifen Profis und Laien nach den Sternen. Satellitenaufnahmen der nächtlichen Schweiz zeigen, wie stark das Land von künstlichen Lichtquellen aufgehellt wird. Man spricht von Lichtverschmutzung. Die Folge (nebst dem störenden Einfluss auf Flora und Fauna): Für ein Drittel der Bevölkerung ist die Milchstrasse von blossem Auge nicht mehr sichtbar. In der Schweiz gibt es nur noch wenige Dunkel-Oasen, diese befinden sich im unbewohnten Hochgebirge. Ausser … im östlichsten Zipfel des Landes, unweit der Grenzen zu Italien und Österreich, im Bündner Val Müstair, auf einer Sonnenterrasse, 1935 Meter über Meer, in aller Abgeschiedenheit, in aller Einsamkeit, in aller Dunkelheit. In Lü. Das Astro-Ehepaar Ourednik sagt: «Am Zürcher Nachthimmel sieht man wegen der Lichtverschmutzung nur noch 500 Sterne, hier bei uns 5000.» Lü bietet ganz grosses Himmelskino. Wo früher das alte Schulhaus war, steht heute das Astrovillage. Ein Gebäude im Engadiner Stil mit saturngelber Fassade, zwei Vortragssälen und fünf Wohnungen für die Astro-Gäste. Das Ein- Sternendorf Das Alpine Astrovillage Lü-Stailas. Infos: www.­ alpineastro­ village.net gangstor ist mit einem stilisierten Teleskop verziert, und im Haus drin sind die Toiletten für Mann und Frau geschlechtskosmisch korrekt mit Jupiter und Venus beschriftet. Auf dem Vorplatz steht noch eines dieser weisskuppigen Iglu-Ufos: Es sind Mini-Observatorien. Vaclav hievt das Dach zur Seite, ein Fernrohr kommt zum Vorschein. Oder mit Ouredniks Worten: «Ein Meade-14-Zoll-ACF, ein korrigiertes Schmidt-Cassegrain auf einer Losmandy-TitanMontierung. Das Teleskop ist zudem mit einem Borg-89EDRefraktor bestückt.» Wir werden in dieser Nacht noch öfter verständnislos nicken, demütigst schweigen und einfach nur staunen. Es ist Leermond, wolkenlos, eine ideale Nacht. Jitka und Vaclav betreuen heute drei Stundenten, wie sie ihre Astro-Gäste nennen: ein Ehepaar aus dem Raum Basel und ein Herr mit Schnauz, alle schon etwas älter, alle begeistert von Natur und Fotografie. Sie sind für ein paar Tage hierhergekommen, um mehr über das Fotografieren von Sternen und DeepSky-Objekten wie Sternhaufen, Nebel und Galaxien zu lernen. Über Lü, über den Gipfeln des Piz Daint, Piz Dora, Piz Turettas zeigt sich mittlerweile der Star des Ortes – der Sternenhimmel. Abertausende Lichtlein funkeln Lichtjahre entfernt; wie Diamantstaub auf einem riesigen, schwarzen Samtvorhang glimmts und glänzts über uns. So erhellend kann Dunkelheit sein. «Im Kosmos existieren Hunderte Milliarden Galaxien, und jede hat Hunderte von Milliarden Sterne», erklärt Vaclav seinen Studenten. Mit einem Laserpointer zielt er ins Himmelszelt hi­naus, markiert mit dem neongrünen Strahl Sternbilder, die u SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 63 Rätselhafte Kuppeln. In den u Milchstrasse, lässt den Laser über die Venus huschen, den Grossen Wagen, den Polarstern. Wie Ourednik da so steht, lehrt und lasert … sieht er aus wie eine Mischung aus dem Herr Lehrer anno dazumal mit dem Rohrstock an der Wandtafel und einem StarWars-Kinostar mit Lichtschwert. Nach der Lasershow folgt die praktische Arbeit – und eine lange, kalte Nacht. Fotoapparate werden auf dem Sky-Tracker montiert, einer motorisierten Nachführeinheit, die sich im gleichen Tempo wie die Erdrotation bewegt (allerdings in Gegenrichtung) und so verhindert, dass die Sterne bei Langzeitbelichtung zu Strichen werden. Die Ouredniks löschen die drei Strassenlampen vor dem Haus (die Gemeinde hat ihnen Schlüssel und Sondererlaubnis überreicht), im Haus werden Lichter ausgeknipst und Vorhänge vor die Fenster gezogen. Die kleinste Lichtquelle kann die Fotoarbeit einer ganzen Nacht zerstören. Der Astro-Gast aus dem Raum Basel schiesst von einem Sterngebilde in eineinhalb Stunden 180 Fotos, welche am Morgen danach dann per Computer zu einem einzigen Bild zusammenmontiert werden. Der Mann mit dem Schnauz wird sein Foto gar sieben Stunden lang belichten. Wer sich aufs Universum einlässt, sollte etwas mehr Zeit mitbringen. In ihrem Büro, sagt Jitka Ourednik, hänge ein Foto, das 40 Stunden lang belichtet wurde. Die Ouredniks stiessen schon immer gern in fremde Welten vor. 30 Jahre lang beschäftigten sie sich beruflich mit dem Zentralnervensystem des Menschen, suchten Therapien für Hirn- und Rückenmarkserkrankungen, speziell Parkinson. Vaclav und Jitka Ourednik waren Hirnforscher. 64 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE Iglu-Ufos stecken kleine Sternwarten Zukunft Vom Astro­ village (hier das Gartentor) profitiert auch das Val Müstair. In Zeiten von Klimawandel und Schneemangel hat das Tal dank Nachthimmel und Astrodorf ein nachhaltiges Zusatzangebot für die Touristen. Beide stammen aus der Tschechoslowakei. Nach dem Prager Frühling flüchtet Vaclav 1968 mit seinen Eltern in die Schweiz, nach Bern (er spricht drum Bärndütsch). Später studiert er Molekular- und Neurobiologie. Heute sagt er: «Wäre ich damals besser in Mathematik gewesen, hätte ich Astronomie studiert.» 1988 lernt er in Lausanne die Hirnforscherin Jitka aus Prag kennen, die für drei Wochen am Institut weilt. Nur drei Wochen – in denen nebst Fachgesprächen auch noch Zeit bleibt für Konzertbesuche. Und einen Heiratsantrag. Das Ehepaar Ourednik arbeitet erst in der Schweiz, später in Kanada sowie in den USA an der Harvard Universität Boston, dann als Professoren an der Iowa State University. In all der Zeit pflegen die beiden ihr grosses Hobby: die Astronomie. Es sei verblüffend, sagt Jitka, wie ähnlich sich Hirn und Gestirn seien. An einem Kongress in Florida zeigen sie Hirnforschern ein Foto, das die Kollegen für Präparate aus dem Kleinhirn halten, «in Wirklichkeit waren es ausgetrocknete Flussbette auf dem Planeten Mars». Nach zwölf Jahren kehrt das Paar in die Schweiz zurück, verwirklicht sich seinen Traum vom eigenen Astrofotografie-Zentrum und wechselt «vom Mikro- in den Makrokosmos». Im Dezember 2009 feiert das Alpine Astrovillage Lü-Stailas seine Eröffnung. Es ist Morgen geworden. Die Sternennacht vorbei, Finger, Nasenspitzen und Fotoapparate wieder temperiert. Ourednik bearbeitet mit seinen Studenten am Notebook die Fotos der letzten Nacht. Die Ergebnisse sind spektakulär: unwirkliche Welten in allen Gasformen und Farben. Draussen scheint die Sonne. Auch die will man nutzen. Vaclav richtet ein Teleskop für Sonnenbetrachtung ein (er sagt: ein 4-Zoll-Takahashi-Refraktor mit einem Coronado-90-mm-H-alpha-Filtersystem auf einer Losmandy-GM8-Montierung). Händereibend lädt er seine Gäste ein, durchs Okular zu linsen: «Bitte schön, jetzt dürft ihr geniessen.» Ums Astrovillage herum weiden Schafe und Alpakas, zwei Kühe auf dem Bauernhof nebenan möögen um die Wette, eine Katze schleicht um die Fernrohrstative herum. «Wir sind Naturmenschen», sagt Jitka, «in Lü zu wohnen, ist pure Lebensqualität.» Manchmal, sagt Vaclav, richte er das Teleskop auf die Felshänge und beobachte Steinböcke. Auch die 55 Einwohner von Lü haben sich mittlerweile an die ausserkantonalen (also faktisch ausserirdischen) Sterngucker gewöhnt. Und sehen durchaus auch Nutzen für sich. Letzthin wurden die Ouredniks spasshalber von Einheimischen gefragt, ob sie die grossen weissen Kuppeln mieten könnten. Als Hochsitz für die Jagd. Fremd Nachts wirken die innen rot beleuchteten Mini-Observatorien ausserirdisch. Im Hintergrund die Strasse zum Ofenpass. Dem Himmel näher Lü liegt auf einer Sonnenterrasse, 1935 Meter über Meer. Nebst der Astronomie geniessen Ouredniks die Natur.