Kognitive Dimensionen ästhetischer Erfahrung Eine Untersuchung im Ausgang von Kants "Kritik der Urteilskraft" von Astrid Wagner Astrid Wagner, geb. 1967, 2007 Promotion im Fach Philosophie, 1995-2000 Wissenschaftliche Koordinatorin am Frankreich-Zentrum der TU Berlin, seit 2000 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Te 1. Auflage Kognitive Dimensionen ästhetischer Erfahrung – Wagner schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Thematische Gliederung: Erkenntnistheorie Parerga 2008 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 937262 79 6 Inhaltsverzeichnis: Kognitive Dimensionen ästhetischer Erfahrung – Wagner Einleitung »Das Urteil über das Schöne entspringt nicht aus der Auslegung, sondern bringt sie hervor und erkennt nicht die Vernunft zum Richter, sondern zum Dolmetscher vor die, welche die Sinnensprache nicht genug verstehen. Wir erkennen viel vor allem formalen Schlüssen, und die Vernunft setzt, was wir im Sentiment dachten, nur auseinander.« (Kant, Reflexionen, AA XV, Abtlg. III, Nachlass 748, etwa 1772) Die Ästhetik, lange Zeit eher ein Stiefkind der Philosophie, erfuhr in den letzten Jahren einen enormen Popularitätszuwachs. Nicht nur stieg die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen und Forschungsprojekte in diesem Bereich, auch finden die Veröffentlichungen zu ästhetischen Themen vermehrt ihren Weg in die Regale der Buchhandlungen, Bibliotheken und, wie die öffentliche Diskussion in Medien, Kultur- und Bildungseinrichtungen zeigt, offenbar auch zu den Lesern. Wie lässt sich dieses neu erwachte breite Interesse an Ästhetik, speziell auch an philosophischer Ästhetik erklären? Die Antwort auf diese Frage ist, selbst wenn man soziologische und psychologische Erklärungsmuster außer Acht lässt, komplex. Die philosophische Ästhetik umfasst einen außergewöhnlich breiten Gegenstandsbereich und weist eine Vielzahl unterschiedlicher Ausprägungsformen auf. Sie ist Kunsttheorie, Theorie des Schönen und Erhabenen, Analyse der Wahrnehmung, Lehre der sinnlichen Erkenntnis, Lehre der Gestaltbildung, Produktions- oder Rezeptionsästhetik, Zeichen- und Symboltheorie, Philosophie der Anschauungsformen etc. Gegenstand der grundlegendsten Form von Ästhetik ist der gesamte Bereich der ›Aisthesis‹, das heißt der Wahrnehmung, des Gefühls und der Vorstellung. Ästhetische Fragestellungen sind aus einer Vielzahl disziplinärer Perspektiven zu betrachten oder auf engste mit deren Themenfeldern verbunden. Die Ästhetik sprengt gewissermaßen jede Disziplinen-Systematik. Sie beschäftigt sich mit erkenntnistheoretischen und epistemologischen Fragen, steht aber traditionell zugleich in 8 Einleitung enger Beziehung zu Problemen der praktischen Philosophie und Ethik. Auf den unterschiedlichsten philosophischen und philosophienahen Gebieten wurden Beiträge zur Ästhetik ausgearbeitet. Hierzu zählen, um eine Auswahl zu nennen, Sprachphilosophie, Transzendentalphilosophie, Gestalttheorie und Gestaltpsychologie, Phänomenologie und Hermeneutik, allgemeine Symboltheorie, Semiotik, Pragmatismus, Ontologie und Metaphysik, Anthropologie, Medientheorie, Soziologie, Psychoanalyse, Ideologiekritik und Evolutionstheorie. Ein dritter Erklärungsaspekt trägt dem Wandel unseres Lebensumfeldes Rechnung. Die durch die Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien und Medien ausgelösten Veränderungen unserer Gesellschaft und Umwelt führen zu einer Flut von Informationen, die es immer schneller zu bewältigen beziehungsweise auf ihre Relevanz oder Irrelevanz hin einzuschätzen gilt. Diesem Zweck sind in einem noch zu erläuternden Sinne analogische Zeichen und Symbolsysteme dienlicher als digitalische, eine zugegebenermaßen erklärungsbedürftige These, wenn man bedenkt, dass die Datenverarbeitung durch Computer, mittels derer große Datenmengen besonders schnell ausgewertet werden können, bislang auf digitaler Basis funktioniert. Lässt sich die These jedoch untermauern, und dafür wird in diesem Buch argumentiert, so ergibt sich daraus eine wachsende Bedeutung analogischer Zeichen, ein Vorrang von Bildlichkeit im direkten wie auch im übertragenen Sinne und damit eine Aufwertung ästhetischer Komponenten in der Wahrnehmung und im Zeichengebrauch nicht nur in der Kunst, sondern auch in den alltäglichen Lebenszusammenhängen. Zugleich konnte man in den letzten 20 Jahren vermehrt beobachten, wie hartnäckige Vorurteile gegenüber einer Beschäftigung mit Ästhetik in Frage gestellt wurden und eine Neubewertung des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft, Kunst und Erkenntnis, Ästhetik und Logik, Imagination und Kognition, Sinnlichkeit und Rationalität einsetzte. Überspitzt könnte man die ins Wanken geratenen Auffassungen folgendermaßen beschreiben: Wissenschaft bringt Erkenntnisgewinn, Kunst vermag lediglich Lustgewinn, Genuss und angenehme Stimmungen zu erzeugen. In Wissenschaft und Logik geht es exakt und objektiv zu, haben wir es mit klar erfassbaren objektiven Fakten zu tun, in Kunst und Ästhetik dominiert demgegenüber der Bereich individueller, subjektiver Meinungen und Überzeugungen, haben wir es mit dem schwer fassbaren Schauplatz einer Einleitung 9 unbestimmten Gefühls- und Wahrnehmungswelt zu tun. Hier geht es um Realität, dort um Phantasiegebilde und Fiktionen. Wenngleich die Entgegensetzung hier überzeichnet ist, so trifft man doch auf eine Vielzahl von Positionen, die auf solche Charakterisierungen zurückgreifen. Es zeigte sich jedoch, dass auf der Basis einer solchen dichotomischen Beschreibung die Grundfragen der philosophischen Ästhetik keine befriedigende Antwort finden. Mit dem ›linguistic turn‹, also der paradigmatischen Wende zur Sprachphilosophie, und der Ausarbeitung zeichen- und symboltheoretischer Überlegungen, innerhalb derer die Funktionen nicht nur von sprachlichen, sondern auch von nicht-sprachlichen Zeichensystemen im Rahmen der menschlichen Wahrnehmung und Erfahrung untersucht werden, rückte schließlich wieder eine gemeinsame Grundlage von Wissenschaft und Kunst in den Blick: die Praxis unserer Sprach- und Zeichenverwendung. Dies führte zu neuen Fragestellungen und neuen Lösungsansätzen für klassische Fragen der philosophischen Ästhetik: Die Frage beispielsweise, wie die besondere Wirkung von Kunstwerken, die bewegende oder mitreißende Wirkung von Musik, das Gefühl der Belebung nach einem Galeriebesuch, die Beunruhigung, die als ›primitiv‹ bezeichnete Kult- und Kunstobjekte in uns auslösen können, oder die regelrecht körperliche Wirkung des Erschauerns beim Eintritt in eine Kathedrale zu denken ist. Die Frage, woran sich die Bedeutsamkeit eines Kunstwerkes bemisst, wenn es sich weder auf eine klare Aussage festlegen lässt noch ein bestimmtes Kriterium für Schönheit und ästhetische Wirkung angegeben werden kann. Die Frage nach der Bedeutung, der Referenz und der Expressivität von Kunstwerken. Überlegungen dazu, was es heißt, einem Zeichengebilde den Charakter eines Kunstwerkes oder einer Person kreative Fähigkeiten zuzuschreiben. Ist dies eine Frage des Zeichens selbst, seiner Verwendung oder seiner Deutung? Oder auch die klassische Frage der Kunstphilosophie, ob Schönheit der Gegenbegriff zur Wahrheit sei oder ob es demgegenüber Sinn mache, von so etwas wie der Wahrheit eines Kunstwerkes zu sprechen. Auf der neuen Grundlage sind auch Fragen wieder zu stellen, die auf die philosophische Problematik einer Beschreibung der Struktur ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Komponenten in der Erfahrung überhaupt abzielen, Fragen nach der Unterscheidung ästhetischer Erfahrung von anderen Erfahrungstypen, nach der Art unserer Wahrnehmungsprozesse, nach der kognitiven Kraft des Ästhetischen. Sie stehen im Zentrum dieses Buches, wobei von Kapitel zu 10 Einleitung Kapitel ein neuer Einzelaspekt fokussiert oder der jeweils ins Auge gefasste Aspekt aus unterschiedlichen Perspektiven im Lichte verschiedener philosophischer Ansätze beleuchtet wird. Geeignet sind hierzu Positionen, die weder in einen Logozentrismus noch in einen puren Ästhetizismus münden und über die notwendige Offenheit verfügen, die fest verwurzelte Dichotomie von Kunst und Erkenntnis aufzubrechen, indem Verbindungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede logischer und ästhetischer Komponenten im menschlichen Welt- und Selbstverständnis auf einer gemeinsamen Basis untersucht werden. Philosophische Ansätze, die sich darum bemühen, stehen im Blickpunkt dieses Buches. In unserer heutigen Zeit sind dies insbesondere die zeichen- und symboltheoretische Position Nelson Goodmans sowie die Interpretationsphilosophie Günter Abels. Wichtige Ansätze zu einer solchen Betrachtung finden sich jedoch bereits mehr oder weniger ausgearbeitet bei Alexander Gottlieb Baumgarten, Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche, in den phänomenologischen Analysen Maurice Merleau-Pontys sowie in gestalttheoretischer Perspektive bei Rudolf Arnheim. Allen genannten Autoren sind Abschnitte dieses Buches gewidmet. Ziel der Untersuchung ist es, die kognitiven Dimensionen ästhetischer Erfahrung auszuloten, zu systematisieren und deren Bedingungen zu klären im Rückgriff auf konstruktive Prozesse der Organisation der Sinnlichkeit, der Bildung von Einheiten und Strukturen im Bereich der Empfindung, der Wahrnehmung und der Erfahrung. Dabei wird das Zusammenspiel anschaulicher und begrifflicher Komponenten, das ›freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand‹, analysiert und im Lichte unterschiedlicher Ansätze kritisch erörtert. Dies ermöglicht die Differenzierung und Darstellung des systematischen Zusammenhanges von Aspekten, mittels derer die kognitive Kraft ästhetischer Erfahrung verständlich gemacht werden kann. Der argumentative Gang des Buches gestaltet sich, grob skizziert, folgendermaßen: Es gliedert sich in vier Kapitel. Kapitel I dient der Problemexposition und besteht in einer Interpretation, Entfaltung und Diskussion zentraler Überlegungen Kants zu Struktur und Bedingungen ästhetischer Urteile sowie zum Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und Erkenntnis. Die Kapitel II und III bilden den im engeren Sinne forschungsorientierten Kern der Arbeit und sind als Antwort auf die zuvor entwickelte Fragestellung zu lesen. KantSpezialisten sei frei heraus anheim gestellt, den in Kapitel I gelieferten Problemaufriss zu überspringen und gleich mit Kapitel II zu starten. Während dort ausgehend von einer Differenzierung der Einleitung 11 Funktionen der Einbildungskraft die Grundlagen ästhetischer Freiheit erörtert werden, dient das dritte Kapitel einer Fundierung zweier Hauptaspekte in der Begründung der kognitiven Kraft ästhetischer Erfahrung: der in der Dichte und Komplexität ästhetischen Erlebens realisierten ›sinnlichen Prägnanz‹ und dem kreativem Zeichengebrauch zu Grunde liegenden Verhältnis von Zeichen und Interpretationspraxis. Das abschließende Kapitel IV ist als systematische Aufstellung und Anordnung der Ergebnisse zu verstehen, das heißt als Systematik derjenigen Charakteristika ästhetischer Erfahrung, die sich als kognitiv relevant erwiesen haben. Im Einzelnen vollzieht sich die Entfaltung und argumentative Klärung der Fragestellung wie folgt: Als Ausgangspunkt und Basistext zur Einführung in die Problemlage dient zunächst Kants ästhetisches Hauptwerk, die Kritik der Urteilskraft. Sie bietet eine eindrucksvolle Darstellung der Problemarchitektur. Herausgreifend aus den damit gegebenen Problempunkten wird im ersten Kapitel das Verhältnis von Erkenntnis und ästhetischer Erfahrung thematisiert. Die relevanten Passagen werden philologisch untersucht, interpretiert und rekonstruiert. Dies betrifft die Darstellung der vier Merkmale des reinen Geschmacksurteils, die Struktur der Rechtfertigung seines Geltungsanspruches sowie die Klärung des Beziehungsgeflechtes zwischen dem ästhetischen Gemütszustand, dem begleitenden Lustgefühl und dem reinen Geschmacksurteil als Proposition, als Anderen mitteilbarer Satz. In einem zweiten Schritt werden unter Heranziehung anderer Schriften Kants Bedeutungsdifferenzierungen in Bezug auf die Begriffe ›Zweckmäßigkeit‹, ›Mitteilbarkeit‹ und ›Spiel‹ ausgeführt sowie der Unterschied von bestimmender und reflektierender Urteilskraft thematisiert. Ferner werden aus heutiger Perspektive terminologische Präzisierungen vorgenommen, etwa die Unterscheidungen von ›subjektiver‹ und ›objektiver‹ Zeit, Regularität und Regel, impliziter und expliziter Regel, Erkenntnis im weiten und engen Sinne. Ziel dieser Untersuchungen ist es zu zeigen, dass ästhetische Komponenten der objektiv ausgerichteten Erfahrung, der empirisch und begrifflich bestimmten Erkenntnis bereits zu Grunde liegen. Dabei zeigt sich, dass die Untersuchung des Verhältnisses von objektiver Erkenntnis und ästhetischer Erfahrung durch einen Brückenschlag zur Freiheitsproblematik nicht nur in theoretischer, sondern auch in praktischer Perspektive einen entscheidenden Schritt weiter gebracht werden kann. 12 Einleitung Eben dieser Schritt wird im zweiten Kapitel der Arbeit entfaltet, und zwar im Ausgang einer Erörterung der von Kant unterschiedenen Funktionsweisen von Einbildungskraft. Zu diesem Zweck wird die Perspektive zunächst Kant-intern ausgeweitet auf Textstellen der Anthropologie, vor allem aber der Kritik der reinen Vernunft. Die dortigen Abschnitte zur Deduktion der Kategorien, das Schematismus-Kapitel und die Konzeption der Synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes werden einer detaillierten Analyse unterzogen, um verständlich zu machen, welche konstruktiven Leistungen unter dem Terminus der Einbildungskraft das für die ästhetische Erfahrung charakteristische ›Schematisieren ohne Begriffe‹ auszeichnen. Die Überlegungen hinsichtlich der konstitutiven Funktionen von Einbildungskraft und Verstand in der Wahrnehmung, in der empirischen Erkenntnis und im ästhetischen Erleben werden dann mit drei Forschungsansätzen des 20. Jahrhunderts konfrontiert, die sich intensiv um eine Klärung des Verhältnisses von Kunst und Erkenntnis bemüht haben. Aus der Perspektive dieser Positionen werden sie kritisch beleuchtet, geprüft und erweitert: 1. Im phänomenologischen Werk Maurice Merleau-Pontys findet unter dem Terminus der ›fungierenden Intentionalität‹ eine Einbettung grundlegender imaginatorischer Prozesse in die Dichte des präobjektiven und primordialen Wahrnehmungs- und Präsenzfeldes statt. Sie ist verbunden mit einer Analyse der zeitlichen Strukturen der Wahrnehmung und einer Verankerung der Subjektivität in der Leiblichkeit. 2. Auf der Grundlage der gestalttheoretischen und wahrnehmungspsychologischen Studien Rudolf Arnheims kommt es zu einer Neuformulierung und einem modifizierten Lösungsansatz des Schematismus-Problems sowie zu einer wahrnehmungstheoretisch aufschlussreichen Unterscheidung von drei Grundtypen ästhetischer Einstellung. 3. Schließlich werden die unseren Wahrnehmungen und Erfahrungen zu Grunde liegenden konstruktionalen Prozesse hinsichtlich der darin relevanten Zeichenfunktionen in der Optik der Allgemeinen Symboltheorie Nelson Goodmans rekonstruiert. Dessen philosophische Untersuchung von Zeichen- und Symbolsystemen bildet auch das Fundament für eine Erläuterung des Kantischen Konzepts der ›ästhetischen Idee‹ mittels symboltheoretischer Funktionen. Dichte, Fülle, Metapher und Exemplifikation sind diejenigen Konzepte, mittels derer das Potential ›gewitzter‹, ›genialer‹ und kreativer Zeichenverwendung verdeutlicht werden kann. Diese Überlegungen werden schließlich zurückbezogen auf den Kontext des Kantischen Werkes und münden in eine Analyse des Verhältnis- Einleitung 13 ses von ästhetischer und praktischer Freiheit. Dabei bildet die Entfaltung der unterschiedlichen Freiheitskonzepte den Hintergrund für eine Klärung der Funktionen der subjektiv-reflektierenden, ästhetischen Einbildungskraft. Das dritte Kapitel greift aus der Reihe der skizzierten Charakteristika zwei Aspekte heraus, um sie zu präzisieren, zu explizieren und ihre Bedingungen zu klären: die ›sinnliche Prägnanz‹, die man als Pendant zur begrifflichen Klarheit auffassen könnte, und die künstlerische Kreativität und Originalität. Der Abschnitt zur Prägnanz wirkt vielleicht zunächst wie eine historische Einbettung der Überlegungen zur Dichte sinnlicher, ästhetisch-affizierender Zeichen, er leistet aber vor allem in systematischer Hinsicht eine Erläuterung des Phänomens der Prägnanz sinnlicher Organisationsformen im Rückgriff auf Maximal- und Harmonie-Prinzipien in der Ästhetik von Leibniz bis hin zu Nietzsche. Dabei geht es um Realisierungen des Verhältnisses von Ordnung, Einheit und Vielfalt sowie um Baumgartens Konzept der ›Cognitio clara et confusa‹, einer sinnlichen Erkenntnisform, die sich zwar nicht mittels einer begrifflichen Merkmalsanalyse erfassen lässt, aber dennoch unter Ausnutzung solcher von ihm klar definierten Vorzüge wie Stärke, Reichtum, Komplexität und Lebhaftigkeit über eine besondere Prägnanz verfügt. Der Abschnitt zur Kreativität und Originalität in der Kunst setzt sich eingehend mit dem Verhältnis von Zeichenfunktionen und Interpretationspraxis auseinander. In einem ersten Schritt wird der abweichende und innovative Zeichengebrauch thematisiert. Dies gibt Anlass zur Erörterung des Zusammenhanges von Regel, Regularität und Praxis, zunächst unter Berufung auf symboltheoretische Überlegungen Nelson Goodmans in seinem Werk Sprachen der Kunst, dann im Rekurs auf die Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels. Im Lichte dieses Ansatzes wird die kognitive Leistungskraft ästhetischer Erfahrung und der ihr zu Grunde liegenden Zeichenverwendung auf ihre epistemischen Bedingungen hin untersucht. Schließlich werden die in den Künsten relevanten Zeichenund Interpretationsfunktionen in Abels heuristisches Grundmodell der Interpretationsebenen eingetragen, wobei sich ein Zusammenspiel verschiedener Interpretationsprozesse in der ästhetischen Erfahrung bzw. in der Auseinandersetzung mit künstlerischen Objekten abzeichnet. Rückwirkend machen Kerngedanken und Grundbegriffe der phänomenologischen Untersuchungen Maurice Merleau-Pontys, der 14 Einleitung wahrnehmungs- und gestaltpsychologischen Forschungen Rudolf Arnheims, der Symbolphilosophie Nelson Goodmans und der Interpretationsphilosophie Günter Abels, aufschlussreich eingetragen in das auf der Grundlage der kantischen Texte konturierte Szenario, deutlich, welche Leistungskraft und Ausbaufähigkeit mit diesem Ansatz auch für die Gegenwartsphilosophie gegeben ist. Es zeigt sich, dass sich aus dem Werk Kants wie auch aus ausgewählten, heute nur noch selten oder nur in historischer Perspektive gelesenen Texten der Ästhetik des 18. Jahrhunderts fein strukturierte Beiträge, klar entfaltete philosophische Begrifflichkeiten und Problemanalysen erneut fruchtbar machen lassen auch für die aktuellen Fragestellungen und Diskussionen im Bereich der Ästhetik und der Philosophie der Wahrnehmung,1 besonders aber für eine Klärung der Frage nach den Grundlagen der kognitiven Kraft des Ästhetischen. Das kurze Schlusskapitel versteht sich als Extrakt in Form einer systematischen Gliederung und übersichtlichen Darstellung von Thesen und Ergebnissen der hier vorgestellten Forschung, speziell der im Verlauf dieses Buches nach und nach entwickelten kognitiv relevanten Charakteristika ästhetischer Erfahrung. Der vorliegende Text basiert auf einer Dissertation an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Technischen Universität Berlin. Die Dissertationsschrift ist zu einem beträchtlichen Teil in Arbeitsphasen entstanden, die durch Einladungen zu Forschungsaufenthalten und Kongressteilnahmen ermöglicht wurden. Erste Anreize zur Beschäftigung mit dem Thema ergaben sich durch die Mitarbeit in 1 Nur einige dieser die heutigen wahrnehmungsphilosophischen Diskussionen dominierenden Themen, die, wie sich im Verlauf der Arbeit zeigen wird, auch für die Beantwortung ästhetischen Fragen von hoher Relevanz sind, seien hier kurz genannt: Dabei geht es beispielsweise um die Frage, wie der öffentliche Charakter der Wahrnehmung mit der Individualität der Empfindungen sinnvoll verbunden werden kann oder ob Individualität und Öffentlichkeit, Individualität und Allgemeinheit einander ausschließen müssen. Des weiteren werden das Verhältnis von Propositionalität und Nicht-Propositionalität, von Diskursivität und Nicht-Diskursivität beziehungsweise Bildlichkeit, von begrifflichen und anschaulichen Aspekten sowie schließlich von impliziten und expliziten, inferentiellen und nichtinferentiellen Strukturen in der Wahrnehmung diskutiert. All dies geschieht im Rekurs auf phänomenale und symboltheoretische Aspekte wie Dichte, Kontinuierlichkeit und Feinstrukturiertheit der Wahrnehmung sowie auf unterschiedlich konzipierte Prinzipien der Individuation, Identifikation und Re-Identifikation von Empfindungen und Wahrnehmungen. Einleitung 15 dem vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) geförderten deutsch-italienischen Forschungsprojekt »Das Problem der Interpretation im Denken der Gegenwart« (1996-98) unter Leitung von Prof. Dr. Günter Abel und Prof. Dr. Mario Ruggenini. Beiden sei für diese Motivation mein Dank ausgesprochen. Vorarbeiten zum Abschnitt ›Maximalprinzipien in der Ästhetik: Sinnliche Prägnanz als Gegenmodell zur begrifflichen Klarheit‹ wurden zur Diskussion gestellt im Rahmen des ebenfalls von Seiten des DAAD unterstützten deutsch-spanischen Forschungsprojektes »Die Konzepte von Toleranz und Harmonie bei Leibniz, ihre Rezeption in der Aufklärungsarbeit und ihre aktuelle Bedeutung und Relevanz« (2003-2005). Ich danke den Leitern des Projektes, Prof. Dr. Hans Poser und Dr. Concha Roldán, für die Möglichkeit der aktiven Mitwirkung in der Arbeitsgruppe sowie deren Mitgliedern für Ihre konstruktive Kritik. Der Abschnitt ›Ästhetische und praktische Freiheit‹ wurde erarbeitet im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes am PhilosophieInstitut des Consejo Superior de Investigaciones Científicas (CSIC) in Madrid im Frühjahr 2004. Mein Dank geht an Dr. Roberto R. Aramayo für die Einladung zur Mitarbeit in seinem Projekt »El problema de la compatibilización entre naturaleza y libertad. Kant y su tercera ›Crítica‹« und für die Möglichkeit zur Publikation der Forschungsergebnisse.2 Der Abschnitt ›Ästhetische Erfahrung in Wahrnehmungssituationen‹ entstand während eines zweiten Forschungsaufenthaltes am CSIC im Frühjahr 2006. Mein herzlicher Dank für diese wiederholte Einladung an das Madrider Institut gilt Prof. Dr. José M. González García. Grundgedanken der Abschnitte ›Die ästhetische Idee in symboltheoretischer Sicht‹ und ›Ästhetische und praktische Freiheit‹ durfte ich in Vorträgen auf dem XIX. Deutschen Kongress für Philosophie in Bonn zum Thema ›Grenzen und Grenzüberschreitungen‹ (2002) und auf dem XX. Deutschen Kongress für Philosophie in Berlin zum Thema ›Kreativität‹ (2005) zur Diskussion stellen. Beide Vorträge wurden in den Kongressakten publiziert.3 2 3 Diese erschienen unter dem Titel: Libertad estética y libertad práctica. La ›Crítica del discernimiento‹ y su incidencia en el concepto kantiano de ›libertad moral‹, in: Isegoría. Revista de Filosofía Moral y Política 30 (2004), S. 161-175. Grenzen des Begrifflichen in der ästhetischen Erfahrung. Kants Konzeption der ästhetischen Idee in symboltheoretischer Perspektive, in: Grenzen und Grenzüberschreitungen. Akten des XIX. Deutschen Kongresses für Philosophie, hrsg. v. W. Hogrebe, Bonn 2002, S. 969-980; Kreativität und Freiheit. Kants Konzept der äs- 16 Einleitung Ohne diese institutionelle Unterstützung von verschiedenen Seiten wäre das Projekt vermutlich in den wissenschaftsorganisatorischen Aufgaben des Universitätsalltages untergegangen. Wichtiger aber noch als die institutionelle Einbettung sind einzelne Personen für die Entstehung und inhaltliche Prägung der nunmehr in Buchform vorliegenden Forschungsarbeit. Viel verdanke ich meinen wissenschaftlichen Lehrern am Institut für Philosophie der Technischen Universität Berlin Prof. Dr. Günter Abel, Mentor und Betreuer der Arbeit, und Prof. Dr. Hans Poser, an deren Projekten, Forschungsaktivitäten und Kolloquien ich seit vielen Jahren mitwirken durfte. Nachdrücklich danken möchte ich vor allem zwei Institutskollegen und Freunden: zunächst und vor allem Dr. Ulrich Dirks für seine geduldige, langjährige Unterstützung und die stets hilfreiche und zutreffende Kritik sowie Claudio Roller M.A. für anregende Gespräche zu den Themen der Arbeit. Ersterem gilt darüber hinaus mein ausdrücklicher Dank für die sorgfältige Durchsicht des gesamten Manuskripts vor der Drucklegung. Für redaktionelle Hilfen danke ich Frau Dr. Katharina Zeitz. Für die Aufnahme des Buches in das Verlagsprogramm und seine freundliche Unterstützung sei Herrn Thomas Egel, dem Leiter des Parerga Verlages, Dank gesagt. Abschließend geht mein herzlicher Dank an meinen Mann, Dr. Juan Carlos Velasco, der mich immer wieder dazu motiviert hat, das einmal begonnene Projekt zu Ende zu führen. thetischen Einbildungskraft im Spiegel der Freiheitsproblematik, in: Kreativität. Akten des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie, Sektionsbeiträge Bd. 1, hrsg. v. G. Abel, Berlin 2005, S. 577-588.