Julia Riegler Dyspareunie als Körperpolitik. Entwurf eines kulturpsychologischen Standpunktes zur Betrachtung einer so genannten Sexualstörung Frau Riegler beschäftigt sich in ihrem theoretischen Diplomprojekt mit derMöglichkeit einer kulturpsychologischen Betrachtung der Dyspareunie (des schmerzhaften Geschlechtsverkehrs). Im kritischen Gegenentwurf zum hegemonialen Körper- und Symptomverständnis der modernen Medizin mit seinen typischen Verkürzungen hinsichtlich der wissenschaftlichen Erforschung, praktischen Behandlung (bzw. Vermarktung) sogenannter Sexualstörungen will die Autorin einen Standpunkt entwerfen, der im Sinne eines sensibilisierenden Konzeptes Ausgangspunkt für künftige (insbesondere rekonstruktiv-qualitative) empirische Untersuchungen zur Dyspareunie (oder anderen Sexualstörungen) werden kann. Dieses Anliegen beinhaltet sowohl eine metatheoretische als auch eine gegenstandstheoretische Rahmung. Im metatheoretischen Arbeitsschritt (Teil I) werden feministische (Kapitel 1), biographische (Kapitel 2) und sozio-psycho-somatische Perspektiven (Kapitel 3) gebündelt und in den Konzepten der „Somatischen Kultur“ bzw. der „Körperpolitik“ verdichtet. Die Autorin möchte hier dezidiert einen Zugang zur sozialen Wirklichkeit jenseits des herrschenden androzentrischen Wissenschaftsverständnisses entwickeln: In Kapitel 1 macht sie deutlich, was eine feministische Perspektive bei der Untersuchung weiblicher Sexualität und deren „Störungen“ leisten kann. Dabei wird die zentrale Bedeutung des weiblichen Körpers und der weiblichen Sexualität in der Neuen Frauenbewegung dargestellt, das dabei implizite Körperkonzept in seiner gesellschaftlichen und historischen Bedingtheit thematisiert, ein Überblick über die Weiterentwicklung dieses Körperkonzeptes sowie über generelle Verschiebungen im feministischen Diskurs von den 70er Jahren bis in die Gegenwart gegeben und abschließend der Stellenwert des Körpers/der Sexualität in aktuellen feministischen Diskursen erörtert. In Kapitel 2 erörtert Frau Riegler die Erkenntnispotentiale einer biographischen Perspektive im Allgemeinen und für eine Untersuchung körperlicher und sexueller Phänomene im Speziellen. Sie beleuchtet die komplexen Verhältnisse zwischen Biographie, Individuum, Geschlecht, Körper, Sexualität, Krankheit, Gesundheit und Gesellschaft. Da bei der Betrachtung von Biographien zugleich in hohem Maße Prozesse der Sozialisation thematisch werden, weist sie im Zuge einer sozialkonstruktivistischen Kritik des Sozialisations-paradigmas aus feministischer und biographietheoretischer Perspektive auf die diesem Paradigma inhärenten Beschränkungen und Mängel hin. In Abgrenzung davon skizziert sie Kernmerkmale bzw. das grundlegende Erkenntnisinteresse sozialwissenschaftlicher Biographieforschung und expliziert so, inwiefern sich die biographische Perspektive für körper- und sexualitätsbezogene Themenstellungen anbietet. Entlang dieser Perspektive werden Krankheiten oder körperlich manifeste Symptome v.a. als Niederschlag biographischer Prozesse in spezifischen sozialen Verhältnissen verstanden. Kapitel 3 entwickelt auf dieser Basis und nach einem knappen Überblick über die Vielfalt psychosomatischer Konzepte eine sozio-psychosomatische Perspektive, die sich nicht in der Annahme der psychischen Verursachung von sich körperlich manifestierender Störung erschöpft. Vielmehr soll damit eine Betrachtungsweise benannt sein, welche das Individuum als Ganzheit und das Symptom als einheitliches, biographisch strukturierten Zusammenhängen entstammendes Ereignis in den Blick nimmt; Vorstellungen von linearer Kausalitäten bez. Krankheitsverursachung treten in den Hintergrund. Anschließend stellt Frau Riegler mit Viktor von Weizsäckers „Anthropologischer Medizin“ ein explizit biographisches Konzept von Krankheit vor. In konsequenter Fortführung der Annahme Weizsäckers, dass das Wesen der Krankheit ein biographisches ist, sowie der in Kapitel 2 diskutierten Überlegung, dass in Biographien stets auch etwas Allgemeingesellschaftliches zum Ausdruck kommt, formuliert die Autorin die These, dass in psychosomatischen Symptomen nicht nur individuelle Konflikte, sondern zugleich gesellschaftliche Konfliktlagen und Widersprüche zur Geltung kommen. Mit Alexander Mitscherlichs Gedanken zur „Sozialpathologie“ und den „Krankheiten der Gesellschaft“, Anselm Eders Überlegungen zur „pathogenen sozialen Situationen“ und zur „Soziosomatik“ sowie Klaus Horns Konzept einer „Soziopsychosomatik als historisch-materialistische Psychosomatik“ werden drei Perspektiven vorgestellt, die Krankheit explizit als Ausdruck gesellschaftlich (mit)bedingter Konfliktlagen und Ambivalenzen analysieren. Diese Analysen leiten über in das vierte und letzte Kapitel der metatheoretischen Rahmung, in dem unter dem Titel „Die Somatisierung patriarchaler Verhältnisse“ die bis dahin diskutierten Perspektiven zusammengeführt und verdichtet werden. Schlüssel dazu ist Bourdieus Konzept des Habitus, welcher als biographisch und sozial strukturiertes System von Handlungsschemata eine systematische Verknüpfung von individueller Existenz und sozialer Struktur erlaubt und als präreflexiver Speicher jener Handlungsschemata wirksam wird. Frau Riegler hebt hier besonders auf den Begriff der „somatischen Kultur“ ab, welcher eine bestimmte Dimension des Habitus fasst: jene des Umgangs mit dem eigenen Körper und den Körpern anderer, was auch Sexualität einschließt. Im letzten Subkapitel beleuchtet sie mit dem Konzept der weiblichen „Körperpolitik“ die Fruchtbarkeit einer Betrachtungsweise von körperlichen Symptomen oder Erkrankungen, die in sich feministisch-sozialkritische, biographietheoretische und soziopsychosomatische Perspektiven vereint und die Dialektik von Individuum, individuellem Handeln und Biographie einerseits sowie patriarchal-gesellschaftlichen Strukturen andererseits berücksichtigt: Psychosomatische Erkrankungen und funktionelle Störungen werden hier unter dem Aspekt der individuellen Bewältigung kollektiver Konfliktlagen in der gegenwärtigen patriarchalen Gesellschaft betrachtet, wobei sowohl die ihnen innewohnende Dimension des Widerstandes gegen gesellschaftliche Verhältnisse als auch jene der Anpassung diskutiert wird. Nachdem in Teil I der Arbeit eine dialektische Perspektive entfaltet wurde, der gemäß sich gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse in der somatischen Kultur sowie im sexuellen Erleben und Verhalten als Teil der somatischen Kultur widerspiegeln, und zugleich durch die Inszenierung von Geschlecht über soziale Interaktionen, in erster Linie über den Körper, die Sexualität und das Begehren, hergestellt und reproduziert werden, geht Frau Riegler in Zuge der gegenstandstheoretischen Rahmung ihres „Standpunktes“ (Teil II) zunächst (Kapitel 5) darauf ein, mit welchen widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnissen und Ansprüchen in Bezug auf ihren Körper und ihre Sexualität Frauen sich im Laufe ihrer individuellen Biographien auseinandersetzen müssen und wie sie dies tun. Sie widmet sich hier der grundlegenden Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen der (sexuellen) Vergesellschaftung von Frauen. Die folgenden Subkapitel gelten daher der Darstellung hegemonialer Weiblichkeitskonstruktionen, der damit einhergehenden normativen Ansprüche an den weiblichen Körper und an weibliche Sexualität sowie damit verknüpfter gesellschaftlicher Widersprüche und Konfliktlagen, welche sich auch im Erleben und im Verhältnis zum Körper und zur Sexualität manifestieren. Die Autorin geht dabei zuerst der Frage nach, inwieweit Mädchen und Frauen ein positiv- lustvolles Verhältnis zu ihrem Körper entwickeln können bzw. welche Entwicklungslinien ein solches Verhältnis erschweren oder auch eine Tabuisierung einer auf den eigenen Körper und das eigene Geschlecht gerichteten Lust begünstigen, und richtet dann den Fokus auf die Frage nach der Schwierigkeit bzw. der Möglichkeit weiblichen Begehrens. Im letzten Kapitel macht Frau Riegler das Symptom des Schmerzes beim Geschlechtsverkehr konkret zum Gegenstand der Betrachtung. Einleitend expliziert sie die Problematik verschiedener in der Fachsprache gängiger Begriffe und des ihnen zugrunde liegenden Krankheits- sowie Sexualitätsverständnisses, kritisiert ausführlich den Begriff der „sexuellen Funktionsstörung“, problematisiert die Parallelisierung männlicher und weiblicher Sexualität, die derzeit üblichen Klassifikationen von Sexualstörungen sowie das ihnen zugrunde liegende Krankheits- und Sexualitätsverständnis. Unter den Stichworten Medikalisierung und Kommerzialisierung von Sexualität werden jene Prozesse thematisiert, durch die sexuelle Schwierigkeiten zu sexuellen Dysfunktionen und diese zu einem Krankheitsbild werden, das medizinisch behandelt werden muss; ökonomischen Interessen spielen dabei offenbar keine geringe Rolle. Schließlich wird das Erscheinungsbild der Dyspareunie sowie deren Definition, Klassifikation, ätiologische und therapeutische Überlegungen dargestellt und diskutiert. In ihren abschließenden Betrachtungen stellt Frau Riegler nochmals in verdichteter Weise die zentralen Erkenntnis- und Forschungspotentiale des von ihr entworfenen Standpunktes dar. So wäre aus kulturtheoretischer Perspektive danach zu fragen, welcher spezifische Habitus/ welche spezifische somatische Kultur, d.h. welches „Erzeugungsprinzip“ der Körperpolitik der Dyspareunie zugrunde liegt; welche symbolische Bedeutung dieser Körperpolitik innewohnt; welche kollektiven Probleme ihrer sexuellen Vergesellschaftung Frauen mittels der Dyspareunie verarbeiten bzw. für welche strukturellen gesellschaftlichen Widersprüche die Dyspareunie eine „imaginäre Lösung“ darstellen kann. Die Autorin setzt sich mit großer Selbstverständlichkeit und Reife mit human- und sozialwissenschaftlichen Grundlagenproblemen auseinander und liefert einen elaborierten methodologischen Gegenentwurf zu einem nomologischen und androzentrischen Wissenschaftsverständnis im Bereich der Sexualstörungen. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass sie nicht bei einer theoretischen Kritik stehen bleiben will, sondern sich letztlich immer auch für eine empirische Perspektive interessiert, die von solchen Grundüberlegungen berührt ist. Es bleibt zu hoffen, dass sie dieses Interesse in Folgearbeiten wird einholen können. Denn der Anspruch der hier vorgelegten Arbeit ist ungewöhnlich fundamental, die Arbeit zudem formal und sprachlich auf höchstem Niveau, nachgerade publikationsreif. Frau Riegler qualifiziert sich damit eindrucksvoll für weitere akademische Aufgaben.