Nudging: Richtige statt eigene Entscheidungen

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Nudging: Richtige statt eigene Entscheidungen
28. Juni 2016
Paternalismus
Gastautor
Nudging: Richtige statt eigene Entscheidungen
Beim sogenannten Nudging handelt es sich um eine politische Strategie, die auf Erkenntnissen aus
der Verhaltensökonomie beruht. Nicht durch Ver- oder Gebote, sondern durch kleine "Stupser" sollen
Bürger dazu gebracht werden, sich besser zu verhalten, beispielsweise sich gesünder zu ernähren.
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Nudging: Richtige statt eigene Entscheidungen
Die Erfinder des Konzeptes sprechen auch von "libertärem Paternalismus". Doch Nudging bedroht –
wie jede Form von Bevormundung – den Geist einer freiheitlichen Ordnung.
Im Jahr 2008 machte ein Buch Furore, das einen „echten dritten Weg“ versprach zwischen Regulierungswut und
Laissez-faire. Der Titel: „Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness“. Diese sehr
umfassende Verheißung stammt von dem Harvard-Juristen Cass Sunstein und dem in Chicago lehrenden
Ökonomen Richard Thaler. Nudging sollte die Technik sein, mit der das moderne Staatswesen des 21. Jahrhunderts
optimiert werden kann.
Grundlage ihrer Nudge-Theorie sind im Grunde genommen zwei Banalitäten: Erstens, wir tun nicht immer das, was
wir gerne tun würden: vom regelmäßigen Schwimmen bis zu mehr Sorgfalt bei unserer individuellen
Finanzplanung, vom Energiesparen bis zur gesunden Ernährung. Kurz: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist
schwach. Zweitens, es gibt aber auch ganz gute Möglichkeiten, dieses Problem zu umgehen, nämlich, indem wir
uns selbst überlisten: zum Beispiel, indem man sich morgens mit einer Freundin zum Joggen verabredet oder
einfach, indem man Neujahrsvorsätze fasst. Der Trick besteht darin, dass wir die Umstände für uns so verändern,
dass wir eine bestimmte Entscheidung eher treffen.
Freiheitliche Alternative zur Verbotskultur
Sunstein und Thaler empfehlen nun der Politik, sich diese Phänomene menschlichen Verhaltens zunutze zu
machen. Indem man einige kleine Schrauben anders setzt oder den Rahmen leicht verschiebt – so ihr Argument –,
kann man große Teile der Bevölkerung dazu bewegen, sich im Blick auf Bereiche wie Gesundheit, Umwelt und
Vorsorge richtig zu verhalten. Die Ziele, die mit der Methode des Nudging erreicht werden sollen, sind im
Verständnis von Sunstein, Thaler und ihren Mitstreitern solche, die ohnehin breiten gesellschaftlichen Zuspruch
finden und Nutzen für die Gesamtheit stiften. Wer möchte nicht seine Gesundheit, seinen Wohlstand und sein
Glücksempfinden verbessern? Ist es nicht besser, Krankheitskosten zu senken, die Umwelt zu schonen und jedem
eine solide Alterssicherung zu ermöglichen?
Diese Ziele sollen dank Nudging nun nicht mehr mit Gesetzen und Verboten erreicht werden, sondern auf
Samtpfoten. Darum bezeichnen die Erfinder des Nudging ihr Konzept auch als „libertären Paternalismus“, weil es
zwar versucht, Menschen zum richtigen Verhalten zu bringen, aber niemals explizit eine abweichende
Entscheidung verbietet. An die Stelle des Veggie Days könnte dann zum Beispiel eine bundesweite KantinenInitiative treten: Brokkoli und Fenchel sind dann so zu platzieren, dass wir lieber dort zugreifen als bei Currywurst
oder Tortellini alla Panna. Nudging präsentiert sich mithin als freiheitliche Alternative zur Verbotskultur.
Es gibt auf vielen Ebenen sehr gute Einwände gegen diese Art, vorgeblich gesellschaftlich gewünschte oder
möglicherweise nützlichere Ergebnisse zu produzieren. Dazu gehören Fragen des Demokratie- und
Rechtsstaatsverständnisses, Fragen der Transparenz und Kontrollierbarkeit sowie insbesondere auch die Frage
nach menschlicher Autonomie und dem grundlegenden Verständnis von Eigenverantwortung. An dieser Stelle soll
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Nudging: Richtige statt eigene Entscheidungen
vor allem auf ein Problem eingegangen werden: Worin liegt die Gefahr dieses scheinbar harmlosen Mittels? Die
Antwort lässt sich knapp zusammenfassen: Sie liegt in einem einzigen Buchstaben.
Wer entscheidet über die „richtigen“ Ziele? – Politiker und Bürokraten!
In der Theorie hört sich Nudging zunächst einmal harmlos an, sanft und vernünftig. Es ist ein gewaltfreies Modell,
das scheinbar gut geeignet ist für eine Welt, in der Individualität einen immer größeren Raum einnimmt. Zwischen
diesen theoretischen Überlegungen und der praktischen Umsetzung ist allerdings ein Zwischenschritt erforderlich,
der sehr gefährlich sein kann. Denn es muss Menschen geben, die bestimmen, auf welchen Gebieten Nudging
eingesetzt wird; die entscheiden, in welche Richtung „genudged“ werden soll; die feststellen können, welche
Ergebnisse richtig, also erwünscht sind. Das sind Politiker und Bürokraten.
Nun ist es freilich ohnehin schon in vielen Fällen kaum möglich, eine objektiv richtige Entscheidung zu treffen. Die
einen argumentieren etwa, man solle komplett auf Fleisch oder gar alle tierischen Produkte verzichten. Die
anderen raten davon ab, Laktose zu konsumieren. Wieder andere schwören darauf, keinerlei Kohlenhydrate zu sich
zu nehmen. Und hier geht es nur um einige diätetische Differenzen …
Über die unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze hinaus birgt aber die Notwendigkeit zu entscheiden, was
richtig sein soll, noch eine wesentlich größere Gefahr: Wir wissen, dass Politiker und Bürokraten keine selbstlosen,
allgütigen und allwissenden Gestalten sind. Insbesondere Politiker haben in der Regel eine Agenda. Wer aber für
eine bestimmte politische Richtung einsteht, wird auch eine hypothetische Objektivität gegebenenfalls sehr rasch
aufgeben zugunsten einer Perspektive, die mit seinen eigenen Überzeugungen und Ansichten konform geht. Um es
etwas schematisch zu illustrieren: Während ein Politiker der Grünen sich des Instruments vielleicht bedienen wird,
um den Fleischkonsum zu reduzieren, könnte es einer AfD-Politikerin dabei helfen, ein traditionelles Familienbild
stark zu machen. Es ist ein Mittel, das Frau Aigner ebenso zur Verfügung stehen kann wie Herrn Ramelow.
Hier kommt der Buchstabe ins Spiel. In der Theorie geht Nudging davon aus: Wir tun nicht immer das, was wir
eigentlich tun wollen. Der Politiker denkt: Wir tun nicht immer das, was wir eigentlich tun sollen. Während Nudging
in der Theorie dazu dient, uns dabei zu helfen, unsere tatsächlichen Präferenzen besser zu verfolgen, wird es in der
politischen Praxis schnell zu einem Mittel, die Präferenzen anderer besser umzusetzen. Die Technik wird mit einer
Agenda ausgestattet.
Bevormundung der Bürger durch den Staat
Am Ende läuft vieles auf die grundsätzliche Frage hinaus: Wer entscheidet eigentlich, was das Richtige ist? Gewiss,
es gibt immer gesellschaftliche Stimmungen, die eine relativ breite Zustimmung finden. Die Stimmung in den
letzten zwei, drei Jahrzehnten etwa lässt sich unter Stichworten wie Nachhaltigkeit, Ökologie und Fitness
zusammenfassen. Doch auch wenn sich ein großer Teil der Bevölkerung diese Ziele zu eigen macht, ergibt sich
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Nudging: Richtige statt eigene Entscheidungen
daraus noch nicht, dass es legitim wäre, die Ziele für alle zu setzen. Zwar argumentieren die Freunde des Nudging,
dass genau das schließlich nicht geschehe. Man wolle ja nur etwas vorschlagen und ein wenig attraktiver machen.
Klar ist jedoch: Eigentlich sollten sich alle Menschen ihrem Vorschlag anschließen. Insofern werden immer noch
Ziele gesetzt. Es wird immer noch auf allen möglichen Gebieten unseres Lebens bestimmt, was gut und was
schlecht ist. Nur die Mittel zur Durchsetzung haben sich geändert.
Nudging kann am Ende, wie auch andere Formen des Paternalismus, den Geist unserer staatlichen Ordnung
bedrohen. Im Grundgesetz findet sich unmittelbar nach der Bestimmung zum Schutz der Menschenwürde die
Formulierung: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte
anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Diese
Bestimmung begründet unser Land als freiheitlichen Staat. Wenn politische Akteure der Ansicht sind, dass
bestimmte Formen der freien Entfaltung der Persönlichkeit zu korrigieren sind, und wenn sie nach Mitteln suchen,
diese Entfaltung sanft in die richtige Richtung zu lenken, dann stellen sie prinzipiell jene Autonomie infrage, die uns
zu mündigen Bürgern macht.
Vor gut sechseinhalb Jahrzehnten rief Ludwig Erhard den Delegierten des 1. CDU-Bundesparteitags in Erinnerung,
„dass die freie Konsumwahl zu den in den Sternen geschriebenen Grundrechten eines Volkes und jedes einzelnen
Menschen gehört und dass es demgegenüber ein Verbrechen an der Würde und an der Seele des Menschen
bedeutet, ihn durch staatliche Willkür zum Normalverbraucher erniedrigen zu wollen“.
Der Autor dieses Beitrags, Clemens Schneider, ist Managing Director der Denkfabrik Prometheus – Das
Freiheitsinstitut (www.prometheusinstitut.de). Das Institut hat im letzten Monat unter dem Motto „Ich brauch kein
Kindermädchen“ eine Kampagne zum Thema Nudging und Paternalismus gestartet (siehe auch die dazugehörige
Website www.dontnudge.me).
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