Sendung vom 15.2.2016, 20.15 Uhr Kurt Kardinal Koch Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen im Gespräch mit Professor Albert Scharf Scharf: Willkommen zum alpha-Forum. Wir haben heute Besuch aus Rom: Der Schweizer Kurienkardinal Kurt Koch ist zu einem kurzen dienstlichen Aufenthalt in München und nimmt sich die Zeit zu diesem Gespräch. Herr Kardinal, Sie sind seit 2010 Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. Salopp ausgedrückt könnte man sagen, Sie sind der Ökumene-Minister des Papstes, der theologische Außenminister, der die Beziehungen zu den anderen christlichen Gemeinschaften und Bekenntnissen in aller Welt und – das hat tiefen Sinn – der die religiösen Beziehungen zum Judentum zu pflegen hat. Das ist eine schwierige, vielfältige Aufgabe, über die wir aber schon einmal im alpha-Forum gesprochen haben. Heute haben wir ein anderes Stichwort: Ehe und Familie in der heutigen Zeit und im Lichte der Lehre, der Pastoral der Kirche. Gerade jetzt hat sich in Rom drei Wochen lang eine Bischofssynode mit ungefähr 300 Teilnehmern damit beschäftigt. Sie waren mit dabei: Was ist Ihr Eindruck, was ist Ihr Fazit? Wie beurteilen Sie das Ergebnis? Koch: Ich glaube, das Ergebnis ist sehr positiv. Es waren ja zwei Synoden. Die erste im Jahr 2014: Das war eine kürzere Synode, die vor allem die Probleme, die Fragen aufs Tapet bringen wollte. Die zweite Synode nun sollte dem Heiligen Vater eigentlich Empfehlungen geben, wie er mit diesem Thema umgehen könnte. Ich denke, diese drei Wochen haben einen intensiven Prozess ausgelöst unter allen Teilnehmern und schlussendlich auch zu einem Dokument geführt, das von allen angenommen worden ist. Scharf: Die katholische Kirche hat sich ja nicht zum ersten Mal mit diesem Thema beschäftigt, auch Bischofssynoden hat es dazu schon gegeben, aus denen dann jeweils Lehrschreiben der Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. hervorgegangen sind. Was war dieses Mal anders? Koch: Anders waren die Herausforderungen, unter denen Ehe und Familie heute stehen. Dazu gehört, dass es eine Zunahme von Ehescheidungen gibt, dass es eine Zunahme von Menschen gibt, die nicht mehr heiraten, die nicht mehr kirchlich heiraten. Das sind neue Herausforderungen, denen sich die Kirche stellen muss. Aber ihre Grundüberzeugung, ihre Lehre ist natürlich die gleiche geblieben. Scharf: Die Spannung war ja groß und wird auch noch anhalten bis zu dem Zeitpunkt, an dem man dann sehen wird, was der Papst aus diesem Ergebnis macht. Irgendwo schwebte jedenfalls bei einigen immer wieder die Erwartung mit, es könnte sich auch die Lehre modifizierter darstellen nach diesen Beratungen, die ja sehr tiefgreifend waren. Die große Not der Menschen in diesem Bereich hat es andererseits auch schon vor 20 und 30 Jahren gegeben. Die Lehrschreiben der beiden genannten Päpste zeigen, dass ihnen diese Sorge sehr wohl bewusst gewesen ist. Es hat dann im Vorfeld dieser Synode doch sehr deutliche Zeichen gegeben, einerseits von Theologen, andererseits aber auch vom Papst selbst, dass er möglicherweise an die Nöte der Menschen in unserer Zeit anders herangeht, fast würde ich sagen: methodisch anders herangeht, als dies frühere Päpste gemacht haben, die von der Lehre ausgegangen sind. Dieser Papst nun macht immer den Eindruck, dass er zunächst einmal von der Not der Menschen ausgeht und dann überlegt, was man im Lichte der Lehre diesen Menschen Gutes tun kann. Sehe ich das richtig? Gibt es da zwar keinen Bruch, aber doch eine andere Methodik? Koch: Bei der Synode hat sich gezeigt: Das Arbeitsinstrument, das allen vorlag, hatte drei Teile, gemäß dem Dreischritt: Sehen, Urteilen, Handeln. Darin lag bereits die ganze Methode, die Papst Franziskus am Herzen liegt, offen zutage. Es geht ihm zunächst einmal darum, zu sehen, wie die Menschen leben, wo ihre Nöte sind, wo ihre Herausforderungen sind, wo auch ihre Schönheiten sind, dieses dann im Licht des Glaubens zu betrachten, im Licht der Lehre, die für den Papst feststeht, und daraus dann Handlungsanweisungen zu machen. Es gab im Laufe der Synode auch Diskussionen, ob dieser Dreischritt wirklich richtig ist. Aber es hat sich dann doch sehr deutlich gezeigt, dass er angesichts der Komplexität der Frage der richtige Weg ist. Scharf: Es gibt im christlichen Bereich, im Bereich der christlichen Kirchen ja schon auch deutliche Unterschiede in der Einschätzung der Bedeutung der Ehe, vor allem auch der Familie. Im evangelisch-lutherischen Bereich hat es vor Jahren eine Orientierungsschrift gegeben, die davon ausging, man müsse Familie neu denken, man müsse auch andere Partnerschaften außerhalb der Ehe im traditionellen Sinne ins Auge fassen und mit einem kirchlichen Segen versehen. Hat sich das in dieser Synode auch schon so manifestiert oder gibt es da nach wie vor einen deutlichen Unterschied? Koch: Es gibt einen ganz großen Konsens der Synode, dass Familie auf der Basis der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau beruht, weil nach biblischer Überzeugung, nach christlicher Überzeugung die Ehe nicht einfach eine gesellschaftliche Institution ist, sondern einen Bund darstellt, der die Liebesbeziehung Gottes zur Kirche, zu seinem Volk widerspiegelt und in diesem Sinne ein Sakrament ist. Dass das nicht neu definiert werden kann, war großer Konsens. Ich habe keine einzige Stimme in der Synode gehört, die in eine andere Richtung gegangen wäre. Scharf: In anderen christlichen Kirchen kann man den Satz lesen, ein normatives Verständnis der Ehe als göttliche Stiftung entspräche nicht der Breite des biblischen Zeugnisses. Haben wir die gleiche Bibel, den gleichen Text? Koch: Wir haben den gleichen Text, aber offenbar sehr verschiedene Leseweisen. Ich denke, das ist eine sehr große Herausforderung, denn durch verschiedene Interpretationen der Heiligen Schrift ist es letztlich zur Kirchenspaltung gekommen. Und eigentlich müssten wir die Einheit wiederfinden in einer gemeinsamen Lektüre der Heiligen Schrift. Wenn nun die Heilige Schrift so verschieden ausgelegt wird, dann ist das natürlich eine ganz große Herausforderung für das ökumenische Gespräch, intensiver über diese Fragen zu reden. Ich denke, über Ehe und Familie ist in den ökumenischen Beziehungen und ökumenischen Dialogen bisher wenig, vielleicht zu wenig gesprochen worden. Es gibt Gespräche vor allem mit den Orthodoxen, bei denen wir sehr bald einen Konsens haben werden. Ich denke, mit den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen müssen wir das Gespräch über Ehe und Familie ganz neu suchen. Scharf: Dann wird aber die katholische Kirche auch nach den Konsequenzen aus ihrer Sichtweise gefragt werden: Was ist, wenn Ehen scheitern? Was ist dann, wenn Menschen, die eine gescheiterte Ehe hinter sich haben, erneut den Bund der Ehe schließen wollen? Wie verhält sich die katholische Kirche also zur Wiederverheiratung? Auch da haben meiner Meinung nach die lutherischen Kirchen weniger Probleme, denn Luther selbst hat ja schon gesagt, die Ehe ist an sich "ein weltlich Geschäft". Das heißt, das ist ein Bund, den die Kirche segnet, in den sie sich aber sonst nicht weiter einmischt. Dies führt in den lutherischen Kirchen zur Konsequenz, dass man Ehe und Familie dann auch weltlich gestalten kann. Koch: Luther hat das natürlich nicht so gemeint, wie das heute verstanden wird. Für Luther war klar, dass die Ehe eine religiöse Dimension ist, auch eine religiöse Institution ist. Für ihn war sie lediglich kein Sakrament: Das war der Hintergrund. Aber dass die Ehe als "weltlich Ding" völlig säkular wäre, wie das heute verstanden wird, war nicht die Überzeugung von Martin Luther. Ich glaube, da könnten wir schon tiefer miteinander ins Gespräch kommen. Denn auch der evangelische Christ begnügt sich ja nicht einfach mit der staatlichen Trauung, sondern wünscht eine kirchliche Trauung. Selbst wenn sie anders verstanden wird, ist auch hier die religiöse Dimension vorhanden. Scharf: Kaum war die Synode zu Ende, gingen die Aussagen darüber, was eigentlich gemeint war, auseinander. Das ist wahrscheinlich nicht verwunderlich bei einem Text, der notwendigerweise derart ausgewogen zur Abstimmung gestellt werden musste, damit er auch die nötigen Mehrheiten findet. Vor allem der Beitrag der deutschsprachigen Bischöfe – Sie gehörten dieser Gruppe selbst auch an – ist sehr bedacht auf die Akzeptanzfähigkeit in der Weltkirche angelegt gewesen. Dennoch ist eigentlich – das sage ich jetzt einfach mal so aus meiner Erwartungshaltung heraus – überraschenderweise mehr herausgekommen, als man eigentlich hatte befürchten müssen. Denn so blass ist die Darstellung dessen, was man sich künftig auch als Dynamisierung der Seelsorge für Ehe und Familie vorstellt, nicht. Ob nun in diesem Text bereits steht, dass wiederverheiratete Geschiedene die Kommunion empfangen dürfen oder nicht, ist eine Frage, die in das Forum Internum verlagert wird. Aber das ist doch immerhin etwas gewesen, was die Vertreter der strengeren Observanz vor der Synode eigentlich nicht für annehmbar erklärt haben. Ebenso gilt dies für das ganz deutliche Prinzip des Papstes, das er ja im Vorfeld fast schon bis in seine täglichen Predigten bei der Frühmesse immer wieder betont hat: dass es zu allererst gilt, Barmherzigkeit zu üben. Diejenigen, die sich nur an den Buchstaben des Gesetzes klammern, schmälern den Horizont Gottes, hat er einmal gesagt. Das waren ja schon deutliche Fingerzeige auch für die Synode, wie der Papst es gerne hätte. Oder täusche ich mich da? Koch: Vielleicht muss man dazu zweierlei sagen. Es macht einen großen Unterschied aus, ob Kardinäle vor der Synode in der Öffentlichkeit übereinander reden oder ob sie dann in der Synode miteinander reden. Ich denke, in der deutschsprachigen Gruppe war es ein Anliegen, auf keinen Fall hinter das zurückzugehen, was die früheren Päpste gesagt haben. Wir haben ja diesen großartigen Text von Johannes Paul II., "Familiaris consortio", in dem er gerade im Hinblick auf die wiederverheirateten Geschiedenen sehr deutlich sagt, dass es die wiederverheirateten Geschiedenen nicht gibt, wobei hier die Betonung auf dem "die" liegt: Jede Situation ist anders und jeder Seelsorger, jeder Bischof ist berufen, sehr genau hinzusehen, um welche Situation es sich handelt. Insofern hat die deutschsprachige Gruppe ganz auf diesen Text von Papst Johannes Paul II. aufgebaut, hat ihn weitergedacht, weiterentwickelt. Sie hat klargemacht, dass man auf keinen Fall hinter diese Aussagen zurückgehen kann. Scharf: Das Erstaunliche für viele Menschen und für andere Teilnehmer war wahrscheinlich, dass diese deutschsprachige Gruppe sich zu einem prägnanten Beitrag verständigen konnte, der in weiten Teilen gerade im Hinblick auf diese Problematik in das Schlussdokument Eingang gefunden hat. In dieser Gruppe waren außer Ihnen noch weitere Kardinäle, darunter auf der einen Seite Ihr Vorgänger im päpstlichen Amt, Walter Kasper, und auf der anderen Seite Gerhard Ludwig Müller, der Präfekt der Glaubenskongregation, der im Vorfeld deutlich andere Meinungen als Kasper geäußert hat. Auch Kardinal Marx aus München und Kardinal Schönborn aus Wien waren in dieser Gruppe mit dabei. Dass sich dann diese Gruppe, in der eigentlich die Fronten regelrecht personifiziert waren, auf einen gemeinsamen Text verständigen konnte, war eine große Leistung, wie ich finde. Koch: Es war natürlich schon so, dass diese Gruppe viel größer war, als man das in der Öffentlichkeit wahrgenommen hat. In dieser Gruppe waren auch noch Vertreter aus Ungarn, aus Serbien, aus Kroatien, aus Finnland und aus Syrien. Auch der Patriarch der Melkiten, Patriarch Gregorius, war anwesend. Ich glaube, dieses weite Spektrum hat mitgeholfen, dass man einen guten Konsens gefunden hat. Ganz sicher hat auch die hervorragende Moderatorenarbeit von Kardinal Schönborn geholfen, einen Konsens zu finden. So eine Synode kann ja nicht entscheiden, sondern kann nur Empfehlungen geben. Je einmütiger die Empfehlungen sind, umso leichter ist es dann für den Papst, seine Entscheidungen zu fällen. Das entscheidende Anliegen für uns war daher: So zu denken und zu arbeiten, dass man möglichst einmütig etwas feststellen kann, um es dann in die Hand des Papstes zu legen. Scharf: Kardinal Marx hat gesagt, dieser Schlussbericht sei ein Impulstext: ein Impuls für wen? Für den Papst? Koch: Ja. Scharf: Der Papst ist daran ja nicht gebunden, aber er hat, wie mir scheint, bereits in seiner Schlussansprache doch deutlich gemacht, wo er nach wie vor die Gewichte sieht. Er hat nämlich gemeint, man müsse die Wirklichkeiten von heute mit den Augen Gottes sehen und deuten, um die Menschen zu ermutigen und nicht zu enttäuschen; die erste Pflicht bestehe nicht darin, Verurteilungen und Bannflüche auszuteilen, sondern darin, die Barmherzigkeit Gottes zu verkünden. Damit konnte er sich natürlich auf Vorgänger berufen: auf Papst Paul VI., auf Papst Johannes Paul II., auf Papst Benedikt XVI. Er hätte auch bereits die Eröffnungsansprache von Johannes XXIII. zum Konzil nennen können, denn Johannes XXIII. sagte damals schon, Aufgabe der Kirche sei nicht, die Strenge des Gesetzes zu verhängen, sondern Barmherzigkeit zu üben. Das heißt, es gibt eine ganz lange Linie in der Betonung dieses, wie es Kasper einmal genannt hat, hermeneutischen Prinzips, durch Barmherzigkeit die Wahrheit zu erkennen. Koch: Ja. Scharf: Andererseits hat Kardinal Müller vor zwei Jahren in einem Aufsatz geschrieben, die Barmherzigkeit sei das Gesamtprinzip Gottes und man könne nicht das, was Gott uns als Regeln aufgegeben hat, mithilfe der gleichen Barmherzigkeit ins Gegenteil verkehren. Aber auch Kardinal Müller hat diesem Bericht zugestimmt. Koch: Ja, wir haben sehr intensive Diskussionen darüber gehabt, wie sich denn nun Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Wahrheit zueinander verhalten. Es ist in der deutschen Sprachgruppe ja auch in einem Bericht ein Abschnitt darüber formuliert worden. Darin haben wir den sehr guten Konsens gefunden, dass man Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Barmherzigkeit und Wahrheit nicht gegeneinander ausspielen kann, dass beide unmittelbar zusammengehören und dass das ja auch keine neue Erfindung von heute ist. Denn Sie haben das ja bereits angesprochen: Von Johannes XXIII. über Paul VI. und Johannes Paul II. bis zu Benedikt XVI. geht ja eine ganz große Linie. Denken Sie vor allem an Johannes Paul II., der seine zweite Enzyklika "Dives in Misericordia" genannt hat, also "Reich an Erbarmen", der den Barmherzigkeits-Sonntag eingeführt hat. Das ist also keine Neuheit von der Synode heute, sondern da stehen Papst Franziskus und die Synode in einer sehr guten Tradition. Scharf: Die Reaktionen auf diese Synode und ihren Bericht haben bei mir Erinnerungen an die Situation nach dem Zweiten Vatikanum hervorgerufen, als ebenfalls sogleich ein Konflikt sichtbar wurde zwischen denen, die glaubten, die Wahrheit nicht schmälern zu dürfen, und dem Willen des damaligen Papstes Johannes XXIII., dass sich die Kirche öffne, dass sie sich in die Zeit hinein öffne und bei all den Problemen der Zeit sozusagen ein Partner werde für die Menschen. Dieses von ihm angedachte und gewollte Aggiornamento war aber keine Anpassung an den Zeitgeist, selbst wenn man auch das gleich wieder hineininterpretierte in diese Öffnung. Genau diese Diskussion sieht man jetzt auch wieder: Der bekannte deutsche Philosoph Robert Spaemann hat dieser Synode entgegengerufen, dem Zeitgeist müsse man die Stirn bieten und dürfe nicht ständig nach Schlupflöchern suchen. Hat das die Diskussionen quasi im Untergrund ein wenig beeinflusst? Wenn wir auf diese Probleme der Menschen und die Anfälligkeit der Menschen dafür eingehen – dass Ehen scheitern, hat ja oft viele Gründe –, liefern wir uns dann nicht dem Zeitgeist aus, der seinerseits alles zerfließen lässt, was vorher eben auch die Einheit der Kirche dargestellt hat? Ist das also über das damalige Konzil hinaus bis heute ein Dauerthema geblieben? Koch: Das ist eine Grundspannung, die die Kirche immer beschäftigt, weil sie auf der einen Seite eine Offenbarung hat und diese Offenbarung nicht verfügbar ist: Diese Offenbarung ist uns geschenkt und ist verbindlich. Auf der anderen Seite gibt es aber auch den Wandel in der Geschichte und deshalb muss man eben immer wieder neu überlegen, wie denn diese Offenbarung in die Zeit hinein übersetzt werden kann, und zwar so, dass die Menschen sie verstehen können. Es geht also nicht darum, dass wir jeweils eine andere Offenbarung verkünden, sondern es geht darum, dass wir dasselbe manchmal anders sagen müssen, damit das Gemeinte wirklich durchkommt zu den Menschen. Das ergibt dann natürlich eine Spannung, denn da gibt es eben die einen, die sagen: "Nein, auch der Wortlaut muss so bleiben, wie es bisher gewesen ist!" Und es gibt die anderen, die sagen: "Wir müssen die Sprache so anpassen, dass uns die Menschen von heute verstehen." Das kann zu den beiden Extremen führen, dass man sich einerseits in der Lehre verfestigt und diese andererseits "verflüssigt". Aber beides gehört unlösbar zusammen. Ich glaube, gerade diese Äußerungen von Papst Franziskus waren ein Zwischenruf, nicht auseinanderzudividieren, was unlösbar zusammengehört. Denn was nützt es, wenn wir den Glauben in einer Sprache verkünden, die der heutige Mensch nicht versteht? Dass die Menschen uns verstehen, muss uns doch ein Anliegen sein! Und das ist auch der Grundimpuls von Papst Franziskus, dass die Kirche missionarischer werden muss, dass sie aus sich herausgehen und die schöne Botschaft verkünden muss. Deshalb muss sie auch Verantwortung tragen für die Sprache, in der das geschieht. Der christliche Glaube ist ja auch der Überzeugung, dass Gott nicht einfach von jenseits der Zeit zu uns spricht, sondern in der konkreten Zeit, in der konkreten Geschichte zu uns spricht. Deshalb müssen wir genau sehen, was in der Geschichte geschieht, und dieses im Licht des Glaubens beurteilen. Wenn wir das machen, dann ist das meiner Meinung nach gerade keine Anpassung an den Zeitgeist. Scharf: Sprache kann natürlich auch Begriffe verändern und sich sozusagen von der Wahrheit entfernen. Ist es auf der anderen Seite für die katholische Kirche nicht auch eine neue Erkenntnis, dass sich die Offenbarung durch die Geschichte wandeln kann: in der Aktualität, in der Ausprägung dessen, was die Lehre für heute bedeutet? Sie haben über die Geschichtstheologie des bedeutenden protestantischen Theologen Wolfhart Pannenberg promoviert und sich intensiv mit diesem Thema "Geschichte, Zeit, Offenbarung" beschäftigt, mit der Offenbarung, die sich, wie Pannenberg sagt, überhaupt erst für die Zeit nach dem Ende der Zeiten entwickelt und dann erst deutlich wird. Ist dieser Prozess auch für die Anpassung der Lehre im rechten Sinne an die Probleme der Zeit von einer neuen Bedeutung für die katholische Kirche? Koch: Das, was Wolfhart Pannenberg mit seiner Überzeugung neu entdeckt hat, nämlich die Offenbarung als Geschichte in der Geschichte, ist ja in der katholischen Theologie von Joseph Ratzinger entwickelt worden, vor allem in seiner Habilitationsschrift über das Offenbarungsverständnis von Bonaventura, denn dort weist er nach: Offenbarung geschieht nicht einfach in der Heiligen Schrift, sondern Offenbarung geschieht in der Geschichte. Gott selbst hat sich in der Geschichte offenbart. Und deshalb können wir die Offenbarung nicht einfach jenseits der Geschichte suchen, sondern müssen sie immer wieder neu entdecken, müssen immer wieder neu entdecken, was Gott, der ewig Treue, der sich offenbart hat, uns in der heutigen Situation sagen will. Ich denke, da gibt es heute auch einen sehr großen ökumenischen Konsens. Scharf: Ist das für die Ökumene, für die Einheit in der Vielheit vielleicht eine größere Klammer, als es die Probleme sind – darf jemand zum Abendmahl gehen oder nicht? –, über die man immerzu diskutiert? Koch: Ich glaube, in der Grundüberzeugung gerade im Hinblick auf das Verhältnis von Offenbarung und Geschichte haben wir ökumenisch großartige Konsense gefunden. Die Differenzen liegen heute an einem anderen Ort: Sie liegen heute vor allem – und deswegen reden wir ja über dieses Thema – in der Ethik. Das ist ein grundlegender Wandel, denn in den 80er und 90er Jahren hatte die Devise der Ökumene noch geheißen: "Glaube trennt, Handeln eint." Heute müssen wir fast schon das Umgekehrte sagen: Wir konnten viele Glaubensfragen vertiefen, haben jedoch heute ganz neue Dissense auf der Ebene der Ethik. Das ist eine große Herausforderung und wir müssen uns diesen Fragen stellen. Denn wenn die christlichen Kirchen zu den grundlegenden ethischen Fragen des Lebens und des Zusammenlebens nicht mit einer Stimme sprechen können, wird die christliche Stimme in Europa immer schwächer. Scharf: Das wird sie vermutlich ohnehin, das ist sie bereits. Koch: Aber wir sollten nicht auch noch dazu beitragen. Scharf: Und schon gar nicht durch einen Streit über eigentlich Einigendes. Sehen Sie Chancen, dass man sich durch solche oft auch vordergründigen Positionsbehauptungen in aktuellen Debatten über die Wissenschaftsethik, über naturwissenschaftliche Probleme, über das Entstehen des Lebens, über das Ende des Lebens wieder näherkommt? Es kann ja eigentlich nicht anders sein, wenn man sich auf die Bibel beruft. Koch: Ich meine, gerade in Deutschland gab es ja einen großartigen Konsens in bioethischen Fragen, der dann aber leider brüchig geworden ist rund um die Frage des Stichdatums. Ich hoffe natürlich schon, dass man gerade bei den Fragen, die das Leben, die den Lebensbeginn und das Lebensende betreffen, wieder zu größeren Konsensen findet. Wir müssen jedenfalls intensiv darum ringen. Scharf: Die Bayerische Akademie der Wissenschaften plant gerade eine Vorlesungsreihe über Religion und Gesellschaft, über Sinnstiftungssysteme. In der Ankündigung dazu ist bereits die Rede von den "Christentümern". Sind wir schon so weit, dass sich die Christenheit in einzelne "Christentümer" zersplittert hat, die im Grunde genommen je einen gesonderten Glauben entwickeln, obwohl ja allen der Glaube an den dreieinigen Gott und an Jesus Christus gemeinsam sein sollte? Koch: Es kommt natürlich darauf an, wie man diese Aussage versteht. Wenn man sie rein soziologisch nimmt, kann man den Eindruck haben, dass es verschiedene Ausgestaltungen des Christentums gibt, und daher in diesem Sinne von "Christentümern" sprechen. Ich vermute aber, dass etwas anderes, dass etwas Theologisches dahintersteckt, denn ich denke, die Grundschwierigkeit, die wir heute in der Ökumene haben, besteht darin, dass wir keine gemeinsame Zielbestimmung der Ökumene mehr haben. Wir sind uns in vielen Fragen einig geworden, aber wir sind uns nicht einig, wohin denn die ökumenische Reise gehen soll. Da gibt es zwei grundverschiedene Vorstellungen: Es gibt die katholische Vorstellung, dass wir die Einheit, die sichtbare Einheit im Glauben, in den Sakramenten und in den Ämtern suchen. Von dieser Grundüberzeugung haben sich nicht wenige der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen verabschiedet. Sie verstehen Einheit nur noch als gegenseitige Anerkennung aller kirchlichen Realitäten, die es gibt. Und die Summe all dieser Kirchentümer wäre dann diese eine Kirche. Vielleicht steht genau das hinter dieser Rede von den verschiedenen Christentümern: dass wir die Einheit im eigentlichen Sinne gar nicht mehr suchen, sondern die verschiedenen Ausprägungen des christlichen Glaubens so stehenlassen, wie sie sind, uns gegenseitig anerkennen und so die Einheit bekommen. Ich denke aber, hier müssen wir wirklich ganz neu über das Ziel der Ökumene reden. Scharf: Das wäre dann nämlich keine Einheit der Christenheit, sondern eine Gemeinschaft der Kirchen. Koch: Ja, das wäre dann eben eine Gemeinschaft aller vorhandenen Kirchen – wie das ja im Protestantismus gelebt wird. Der Protestantismus ist ja eine Gemeinschaft verschiedener Kirchen, teilweise sogar bekenntnisverschiedener Kirchen. Das ist wirklich das protestantische Ökumene-Modell. Das katholische Modell geht hingegen von einer anderen Realität und von einer anderen Zielbestimmung aus. Ich denke, wir müssen hier wirklich ganz neu darum ringen, wohin denn die Reise gehen soll. Denn wenn man kein gemeinsames Ziel mehr hat, dann kann es sein, dass man sich weiter auseinanderentwickelt, als das bisher der Fall gewesen ist. Scharf: Wobei in dieser Diskussion oft vergessen wird, dass zur Einheit der Christenheit auch die orthodoxe Kirche gehört. Koch: Ja, selbstverständlich. Scharf: Und die orthodoxe Kirche wird das noch einmal anders sehen, sowohl im Verhältnis zu Rom wie auch zu den anderen christlichen Bekenntnissen. Koch: Mit der Orthodoxie haben wir sicherlich Einigkeit im Hinblick auf die Zielbestimmung: dass es eine sichtbare Einheit im Glauben, in den Sakramenten und in den Ämtern geben soll. Wie dann diese Einheit vor allem mit Blick auf den Dienst des Petrusamtes ausgestaltet wird, ist hier die strittige Frage. Scharf: Herr Kardinal, ehe Sie Papst Benedikt nach Rom holte, waren Sie bereits 15 Jahre Bischof von Basel. Die Diözese Basel deckt einen guten Teil der deutschsprachigen Schweiz ab. Ich weiß nicht, ob es sich um acht oder neun oder noch mehr Kantone handelt. Koch: Es sind zehn Kantone. Scharf: Auf jeden Fall sind diese Kantone religiös durchaus unterschiedlich geprägt. Die Stadt Luzern, aus der Sie kommen, ist, wenn ich das mal so plakativ sagen darf, katholisch. Aber viele andere wie Bern und Basel sind ausgeprägt evangelisch. Koch: … gewesen. Denn das hat sich sehr verändert. Scharf: Ja? Koch: Durch die Migration. In Zürich ist die Mehrheit inzwischen katholisch. Scharf: Ah ja. Immerhin, das Problem der Interkonfessionalität hat sich in Ihrer Diözese Basel sicherlich auf ganz besondere Weise gestellt. Sie haben Erfahrungen gemacht damit, haben Erfahrungen gemacht auch mit interkonfessionellen Ehen. Glauben Sie, dass diese Synode den Seelsorgern und den Bischöfen in der Schweiz und natürlich auch in Deutschland und in Österreich helfen wird? Koch: Ich glaube schon, denn es ist uns ja ein Anliegen gewesen, das Positive der konfessionsverschiedenen Ehen zu betonen. Aber im Arbeitsinstrument waren mehr nur die Probleme gegeben. Ich denke jedoch, dass eine konfessionsverschiedene Ehe auch eine besondere Sendung hat, nämlich Ökumene im Alltag zu leben, die Ökumene des Lebens zu gestalten. Hier können wir auch durchaus etwas lernen, wenn die konfessionsverschiedene Ehe wirklich eine Brücke zwischen den verschiedenen Kirchen ist und dieses auch leben kann. Heute haben wir natürlich neue Herausforderungen: Wir haben heute nicht nur konfessionsverschiedene Ehen mit jeweils anderen christlichen Kirchen, sondern auch solche mit je anderen Religionen. Und es gibt z. B. gerade im Osten von Deutschland viele Ehen zwischen gläubigen Menschen und ungläubigen Menschen: Das sind nochmals ganz andere Herausforderungen, denen sich die Kirche stellen muss. Scharf: Leidet die Vorstellung der katholischen Kirche, dass die Ehe – durch das bewusste Versprechen von Mann und Frau, zu einer Einheit zu werden – ein Sakrament darstellt, nicht dadurch, dass der eine Partner diese sakramentale Vorstellung möglicherweise überhaupt nicht hat und die Ehe anders beurteilt? Was bedeutet das dann aber für den sakramentalen Charakter einer solchen Ehe? Koch: Das ist eine ganz schwierige Frage, über wie wir, wie ich meine, in unserer Kirche noch sehr viel nachdenken müssen. Denn im katholischen Kirchenrecht heißt es z. B.: Jede Ehe unter Getauften ist Sakrament. Das heißt also, auch eine Ehe von Protestanten ist Sakrament. Was heißt das aber, wenn Protestanten das selber so nicht sehen? Was heißt das vor allem, wenn solche Ehen scheitern und es zu einer Wiederverheiratung kommt? Nach katholischem Recht hat das ja dieselben Konsequenzen wie bei einer katholischen Ehe. Deshalb müssen wir meiner Meinung nach ökumenisch zwischen den Kirchen neu darüber reden, wie wir die Ehe heute verstehen. Und die katholische Kirche muss sich im Hinblick auf diesen Grundsatz überlegen, wie er in einer multikonfessionellen und multireligiösen Welt gelebt werden kann. Das scheint mir eine wichtige Herausforderung zu sein, die nun nach der Synode noch in Angriff genommen werden muss. Scharf: Kann das u. U. bedeuten, dass auch der sakramentale Charakter bei solchen Ehen nicht der gleiche ist, wie wenn sich überzeugte Katholiken zu einer Ehe zusammenfinden … Koch: Dahinter steht ja noch die viel grundlegendere Frage, die Papst Benedikt bereits als Kardinal immer benannt hat: Welche Rolle spielt eigentlich der Glaube beim Zustandekommen der Ehe? Das ist eine ganz schwierige Frage, weil man den Glauben schwer überprüfen kann. Auf der anderen Seite kann es aber, wie das Konzil sagt, doch auch keinen Eheschluss ohne jeden Glauben geben: Die Sakramente setzen den Glauben voraus, bringen ihn zum Ausdruck und nähren ihn. Diese Frage, welche Bedeutung das Glaubensbewusstsein und das Glaubensverständnis der einzelnen Menschen, die heiraten, für das Verständnis ihrer Ehe hat, muss weiter vertieft werden. Scharf: Da hilft auch diese Vereinfachung und Verkürzung der ehegerichtlichen Praxis in der Kirche durch Papst Franziskus wenig. Denn die Plausibilität der Argumente ist dabei ja wahrscheinlich das Problem. Koch: Diese Frage spielt dann bei der Nichtigkeitserklärung selbstverständlich eine Rolle: Wie und mit welchem Glaubensverständnis ist diese Ehe geschlossen worden? Aber das ist eine wirklich noch ungeklärte Frage. Scharf: Das ist sicherlich schwierig zu ermitteln – im Nachhinein. Koch: Ja. Scharf: Die gesamten Probleme sind damit also keineswegs gelöst. Koch: Das stimmt. Scharf: Ich habe aber auch in Gesprächen mit Seelsorgern den Eindruck gewonnen, dass diese angetan waren davon, dass man ihre Erfahrungen damit bestätigt hat. Ich kenne viele Pfarrer, die eigentlich ohnehin schon so verfuhren. Ich weiß nicht, ob das gängige seelsorgerische Praxis gewesen ist, aber für manche waren die Gedankengänge im Ergebnis dieser Synode nicht neu. Koch: Das ist die ständige Herausforderung, wie die Glaubenslehre und die Pastoral so glaubwürdig miteinander verknüpft werden können, dass es keine Abstriche von der Lehre gibt und der Mensch in seiner ganz konkreten Situation ernst genommen wird. Das ist die Kunst der Seelsorge. Und dass die Synode nun auch einmal deutlich gesagt hat, dass das ein guter Weg ist, dass das der Weg der Kirche ist, ist für die Seelsorger sicherlich eine Hilfe. Scharf: Die Ökumene steht, wie mir scheint, vor zwei großen Ereignissen. Da gibt es das Jahr 2017, das erstens an den Thesenanschlag in Wittenberg erinnert. Es wird das Lutherjahr gefeiert, es wird Luthers gedacht. Wie steht die katholische Kirche dazu? Koch: Wir arbeiten zusammen, all unsere Dialoge im Vatikan sind auf universaler Ebene, unser Gesprächspartner ist der Lutherische Weltbund. Und mit dem Lutherischen Weltbund zusammen haben wir ein Dokument verfasst mit dem Titel "From Conflict to Communion", also "Vom Konflikt zur Gemeinschaft", in dem wir zu zeigen versuchen, wie ein Reformationsgedenken gemeinsam stattfinden kann. Diese Schrift hat vor allem drei Schwerpunkte; der erste ist, dass man beim Ziel "vom Konflikt zur Gemeinschaft" dennoch nicht zu schnell vom Konflikt wegkommt. Denn wir dürfen nicht darüber hinwegsehen, dass bei allen positiven Impulsen, die die Reformation gebracht hat, es zur Kirchenspaltung gekommen ist und zu den grausamen, blutigen Konfessionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts, dass es vor allem zum Dreißigjährigen Krieg gekommen ist, der Europa in ein Blutbad verwandelt hat. Darüber dürfen wir nicht einfach hinweggehen. Der zweite Schwerpunkt ist: Wir haben nicht nur 500 Jahre seit der Reformation, wir haben 50 Jahre Dialog zwischen katholischer Kirche und den Lutheranern und haben dabei viele Gemeinsamkeit entdeckt. Dafür sollen wir dankbar sein. Der dritte Impuls ist die Hoffnung: Hoffnung darauf, dass ein gemeinsames Reformationsgedenken neue Schritte in die Zukunft der Einheit bringen wird. Es geht also um Trauer und Schuldbekenntnis, um Dankbarkeit und um Hoffnung: Das sind die drei Impulse. Auf der Basis dieser Impulse bereiten wir ein gottesdienstliches Ereignis zum Reformationsgedenken auf der universalen Ebene zwischen Lutheranern und Katholiken vor. Scharf: Beschränkt sich das auf die Lutheraner? Denn es gibt ja auch reformatorische Kirchen anderen Ursprungs wie z. B. die Calvinisten, die Zwinglianer usw. Nehmen die diesen Anstoß zur Besinnung und zur Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte auch mit wahr? Koch: Das ist sehr unterschiedlich, weil diese natürlich jeweils eine ganz andere Geschichte haben. Nehmen Sie alleine das Luthertum: Die Einführung der Reformation in den nordischen Ländern wie Norwegen, Schweden, Finnland geschah ja erst viel später. Und das war vor allem keine Volksbewegung, sondern das war ein staatliches Diktat. Das sind also ganz unterschiedliche Situationen gewesen. Die Reformation von Zwingli und Calvin war wiederum eine ganz andere. Viele von diesen anderen reformatorischen Kirchen nehmen das wahr und sagen: "Ja, auch wir nehmen 2017 als Anlass, um über unsere Ursprünge neu nachzudenken." Es gibt aber auch reformatorische Kirchen, die ihre geschichtlichen Wurzeln anders deuten. Das ist also sehr, sehr verschieden. Es ist jeweils ihre eigene Entscheidung, wie sie sich zu diesem Reformationsgedenken im Jahr 2017 verhalten. Denn es ist klar: Das ist ein lutherisches Datum. Scharf: Welche Rolle spielen denn in diesem ökumenischen Miteinander und Dialog die Freikirchen, die ja zumindest quantitativ eine zunehmend bedeutende Rolle in aller Welt spielen? Koch: Das ist eine neue, ganz große Herausforderung, die wir in der Ökumene haben. Denn wir können uns heute nicht mehr darauf beschränken, nur Dialoge mit den historischen Kirchen zu führen. Stattdessen gibt es z. B. ein großes Anwachsen der Evangelischen Allianz und vor allem der pentekostalischen Kirchen, also der Pfingstbewegung. Der Pentekostalismus ist heute zahlenmäßig die zweitgrößte Realität nach der katholischen Kirche, d. h. er hat ein ungeheures Wachstum erlebt in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Scharf: In anderen Kontinenten oder auch schon in Europa? Koch: Auf allen Kontinenten, natürlich ganz besonders stark in Lateinamerika, aber auch in Afrika, Asien und auch in Europa. Da sind dann ganz andere Themen zu besprechen, als das bisher mit den historischen Kirchen der Fall gewesen ist. Scharf: Aus der Sicht der historischen Kirchen und auch aus der Sicht des normalen Gläubigen in Europa waren das ja immer nur Sekten. Damit jedoch kann man das alles, kann man diese pfingstlichen Bewegungen wohl schon längst nicht mehr abtun. Koch: Ja, damit wird man ihnen nicht gerecht. Es gibt natürlich unter den pentekostalischen Bewegungen auch solche, die ganz anti-katholisch, ganz anti-ökumenisch sind. Es gibt aber auch solche, die den Dialog suchen. Natürlich können wir nur mit denjenigen einen Dialog führen, die einen solchen Dialog auch wollen. Mit denen, die das nicht wollen, kann man keinen Dialog führen. Aber wir haben heute den großen Vorteil, dass Papst Franziskus von Argentinien her eine sehr gute Kenntnis dieser Realität hat. Er lädt immer mehr Leute von den pentekostalischen Bewegungen ein und gibt ihnen Privataudienzen. Das ist ein ganz großer Vorteil und das öffnet uns auch neue Türen in dieses Feld hinein. Scharf: Das heißt, es liegt eine spannende Zeit vor uns – und vor allem vor Ihnen. Ich danke Ihnen sehr, Herr Kardinal, dass Sie sich heute Zeit für uns genommen haben. Sie haben morgen noch ein ökumenisches Ereignis an der Münchner Universität und in der Katholischen Akademie in Bayern. Ich wünsche Ihnen Gottes Segen für Ihre weitere Tätigkeit. Herzlichen Dank. Koch: Ich danke Ihnen für dieses interessante Gespräch. © Bayerischer Rundfunk