Exakte Lösungen gewöhnlicher Differentialgleichungen und

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Exakte Lösungen gewöhnlicher
Differentialgleichungen
und
Differentialgleichungssysteme
in Naturwissenschaft und Technik
(anhand ausgewählter Beispiele)
Stefan Löffler
2001/2002
Inhaltsverzeichnis
1 Vorwort
3
2 Was sind Differentialgleichungen
2.1 Verwendung und Zweck von Differentialgleichungen . .
2.2 Begriffsdefinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1 Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.2 Grad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.3 Homogene und inhomogene Differentialgleichung
2.2.4 Anfangswertproblem . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.5 Integral einer Differentialgleichung . . . . . . .
2.2.6 Richtungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.7 Trajektorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Differentialgleichungen erster Ordnung
3.1 Ein Einführungsbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Differentialgleichungen der Form
dy
= g(x) · h(y) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
dx
3.2.1 Das allgemeine Lösungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2 Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3 Eindeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3 Differentialgleichungen der Form
dy
= g(ax + by + c) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
dx
µ ¶
dy
y
3.4 Differentialgleichungen der Form
=g
. . . . . . . . . . . .
dx
x
3.5 Differentialgleichungen
Ã
!der Form
dy
ax + by + c
=g
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
dx
αx + βy + γ
3.6 Das allgemeine Lösungsverfahren für Differentialgleichungen erster
Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.7 Grafische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
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4
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6
6
6
7
7
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9
9
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10
12
13
13
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. 14
. 15
. 16
. 18
INHALTSVERZEICHNIS
3.8
2
Anwendungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
3.8.1 Der radioaktive Zerfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
3.8.2 Altersbestimmung mittels 14 C . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
4 Differentialgleichungen zweiter Ordnung
4.1 Ein Einführungsbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Hilfsbeweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.1 Jedes Vielfache einer Lösung der Differentialgleichung ist wieder eine Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.2 Jede Linearkombination zweier Lösungen der Differentialgleichung ist wieder eine Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3 Das allgemeine Lösungsverfahren für Differentialgleichungen zweiter
Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.1 Homogene Differentialgleichungen zweiter Ordnung . . . . .
4.3.2 Existenz und Eindeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.3 Inhomogene Differentialgleichungen zweiter Ordnung . . . .
4.4 Anwendungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.4.1 Das Feder-Masse-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.4.2 Schwebung (des Feder-Masse-Systems) . . . . . . . . . . . .
4.4.3 Resonanz (des Feder-Masse-Systems) . . . . . . . . . . . . .
5 Differentialgleichungssysteme
5.1 Was sind Differentialgleichungssysteme? . . . . . . . . . . . . . .
5.2 Begriffsdefinitionen und Hilfsbeweise . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.1 Lineare Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.2 Eigenwert und Eigenvektor . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3 Ein Einführungsbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.4 Die allgemeine Lösung des homogenen Systems . . . . . . . . . .
5.5 Fundamentalmatrizen und die Lösung von Anfangswertproblemen
5.6 Die Lösung durch Diagonalisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.7 Inhomogene Differentialgleichungssysteme . . . . . . . . . . . . .
5.7.1 Lösung von separaten Differentialgleichungen . . . . . . . .
5.7.2 Variation der Parameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.8 Grafische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.9 Anwendungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.9.1 Der Schwingkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.9.2 Das Räuber-Beute Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.9.3 Epidemien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6 Nachwort
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26
. 26
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28
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42
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55
56
57
58
58
61
66
70
Kapitel 1
Vorwort
Vielen Menschen erscheint es schwer verständlich, dass jemand eine Fachbereichsarbeit aus Mathematik schreibt. Mein Interesse an diesem Fach besteht allerdings
schon seit vielen Jahren und hat sich unter anderem auch in der bereits zweimaligen
Teilnahme an der Österreichischen Mathematikolympiade gezeigt.
Bei der Wahl des Themas hat mich mein großes Interesse an Physik beeinflusst.
Da ich in verschiedenen Werken der physikalischen Fachliteratur immer wieder
dem Thema Differentialgleichungen“ begegnet bin, stand mein Entschluss, eine
”
Arbeit darüber zu verfassen, bald fest. Es erschien mir reizvoll, auch Differentialgleichungssysteme und die Anwendung in der Praxis darin zu behandeln. Natürlich
ist mir bewusst, dass im Rahmen einer Fachbereichsarbeit unmöglich alle Formen
von Differentialgleichungen und Differentialgleichungssystemen beleuchtet werden
können, daher werde ich mich auf jene Fälle beschränken, die ich aufbauend auf
meine mathematischen Kenntnisse verstehen und lösen kann. Besonderes Augenmerk soll auch auf praktische Beispiele gelegt werden, die jeweils am Ende der
Kapitel angeführt werden. Bei ihrer Auswahl war mir wichtig, dass sie verständlich
und keine besonderen Vorkenntnisse auf dem Gebiet der Differentialgleichungen für
ihr Verstehen notwendig sind.
Abschließend möchte ich mich noch bei Mag. Thomas Schwarz für die Betreuung
meiner Arbeit bedanken. Er ist mir mit guten Ratschlägen in fachlicher wie auch in
methodischer Hinsicht jederzeit zur Seite gestanden.
3
Kapitel 2
Was sind Differentialgleichungen
Differentialgleichungen unterscheiden sich von normalen“ Gleichungen in zwei
”
Punkten:
Zum Ersten sind sie Funktionalgleichungen, sie werden also nicht nur von
einfachen Zahlen sondern von Funktionen bestimmt. Interpretiert man normale“
”
Gleichungen als Geraden in einem Koordinatensystem, so ist es offensichtlich,
dass Funktionalgleichungen um einiges komplexer sind, da sie der abhängigen
Variablen keinen konstanten sondern einen variablen Wert zuordnen. Ein weiterer
Punkt, über den man sich bei Funktionalgleichungen Gedanken machen muss, ist
der Definitionsbereich. Im Gegensatz zu konstanten Funktionen, die immer im
gesamten Intervall der reellen Zahlen definiert sind, kann es bei anderen Funktionen
sein, dass sie in einigen Punkten oder ganzen Intervallen nicht definiert sind.
Zum Zweiten kommen in Differentialgleichungen nicht nur unbekannte Funktionen sondern vor allem deren Ableitungen vor. Das bringt insbesondere Probleme
der Integration mit sich. Nicht alle Differentialgleichungen lassen sich daher lösen,
beziehungsweise lässt sich die Lösung nicht geschlossen oder mit Hilfe elementarer Funktionen angeben. Es ist also gelegentlich auch notwendig, die Lösung einer
Differentialgleichung näherungsweise auf rein numerischem Weg zu bestimmen.
2.1
Verwendung und Zweck von Differentialgleichungen
Wofür benötigt man nun Differentialgleichungen, deren Lösung ja offenbar meist
einen ziemlichen Aufwand darstellt? Sie werden überall dort verwendet, wo
die Änderung einer Größe von der Größe selbst abhängt. Ein Beispiel ist das
Bevölkerungswachstum. Hier hängt das Wachstum der Bevölkerung von der mo4
KAPITEL 2. WAS SIND DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
5
mentanen Population ab. Gibt es von einer bekannten Population zum Zeitpunkt t1
etwa a Exemplare und setzt man voraus, dass in einer Zeiteinheit ∆t die Bevölkerung
um den Faktor c wächst, so wird es zum Zeitpunkt t1+∆t a · c Exemplare geben, zum
Zeitpunkt t1+2∆t (a · c) · c und so weiter. Dies ist freilich ein triviales Beispiel, aber es
demonstriert das Wesen einer Aufgabenstellung, die zu einer Differentialgleichung
führt. Als Differentialgleichung geschrieben sähe das Beispiel folgendermaßen aus:
df (t)
= c mit der Lösung f (t) = c · t + b0
dt
Hier geht man von einer Population der Größe b0 zum Zeitpunkt 0 aus. Auch
wenn dies eine leichte Aufgabe gewesen zu sein scheint, die Differentialgleichungen,
die das tatsächliche Bevölkerungswachstum darstellen, sind weitaus komplizierter
und übersteigen die Möglichkeiten einer Fachbereichsarbeit. Man muss nämlich
viele äußere Umwelteinflüsse wie etwa den Vorrat an Rohstoffen mit einbeziehen,
ganz zu schweigen von willkürlich auftretenden Einflüssen wie Katastrophen oder
Epidemien. Einige vereinfachte Modelle werden allerdings noch später behandelt
(vgl. S. 18 ff.).
Doch Differentialgleichungen kommen nicht nur in diesem Gebiet zum Einsatz.
Sie werden so gut wie überall in Naturwissenschaft und Technik verwendet. In der
Chemie zur Beschreibung der Elektronenverteilung in Atomen und Molekülen auf
Basis der Quantenmechanik. In der Physik in allen dynamischen Systemen, sei es
nun einfache Mechanik, Astronomie oder Hydro- beziehungsweise Aerodynamik. In
der Technik findet man Differentialgleichungen beispielsweise bei der Analyse rotierender Systeme wie Turbinen, bei denen vor allem die Resonanzfrequenz (vgl.
S. 39 ff.) eines Systems von Interesse ist. In der Biologie werden sie, wie bereits
oben kurz umrissen, unter anderem zur Darstellung des Bevölkerungswachstums
verwendet. Dabei wird die Änderung zweier Populationen beschrieben, die einander
beeinflussen oder voneinander abhängen. Eine relativ bekannte Problemstellung ist
das Räuber-Beute-Modell, auf das ich später noch eingehen werde (vgl. S. 61 ff.).
2.2
Begriffsdefinitionen
In diesem Kapitel wird die unbekannte Funktion mit f (x) oder kurz mit y bezeichnet
und die Differentialquotienten
dy d2 y
,
, . . . mit f 0 (x), f 00 (x), . . .
dx dx2
KAPITEL 2. WAS SIND DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
2.2.1
6
Ordnung
Die Ordnung einer Differentialgleichung entspricht der höchsten in der Differentialgleichung vorkommenden Ableitung. Ist beispielsweise f 000 (x) die höchste Ableitung,
so liegt die Ordnung 3 vor.
2.2.2
Grad
Der Grad einer Differentialgleichung entspricht der höchsten vorkommenden Potenz
der Differentialquotienten der gesuchten Funktion. So ist f 0 (x) + a · f (x) = cx2 eine
Differentialgleichung ersten Grades, während sowohl f 0 (x)2 + a · f (x) = cx2 als auch
f 0 (x) · f (x) = cx2 Gleichungen zweiten Grades sind. Differentialgleichungen ersten
Grades nennt man auch linear, alle anderen (höheren Grades) nicht linear.
2.2.3
Homogene und inhomogene Differentialgleichung
Eine Differentialgleichung heißt homogen, wenn in ihr keine Störfunktion s(x)
auftritt. Ist dies jedoch der Fall, nennt man sie inhomogen.
Eine Störfunktion ist eine Funktion, die nur von der unabhängigen Variablen
abhängt und als Summand in der Differentialgleichung auftritt. Zu beachten ist
hierbei, dass Produkte wie g(x) · h(y) sehr wohl auch in homogenen Differentialgleichungen auftreten können. So ist die Differentialgleichung g(x) · h(y) + f 00 (x) = 0
homogen, während g(x) · h(y) + f 00 (x) = s(x) nicht homogen ist.
2.2.4
Anfangswertproblem
Ein Anfangswertproblem liegt dann vor, wenn zu der Differentialgleichung Anfangswerte vorgegeben sind, wie etwa f (2) = 3, 5. Um die allgemeine Lösung auf ein spezielles Problem anwenden zu können, müssen alle auftretenden Integrationskonstanten
geeignet substituiert werden. Dazu benötigt man eine Anzahl von Anfangsbedingungen, die mindestens der Ordnung der Differentialgleichung entspricht. Nur dann ist
es möglich, alle bei der Integration auftretenden Konstanten durch geeignete Zahlen
zu substituieren und so von der allgemeinen Lösung der Differentialgleichung auf
eine spezielle zu kommen, die das gegebene Problem beschreibt.
2.2.5
Integral einer Differentialgleichung
Oft wird die Lösung einer Differentialgleichung auch Integral genannt, da bei einfachen Differentialgleichungen das Lösen nur ein Problem der Integration ist.
KAPITEL 2. WAS SIND DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
2.2.6
7
Richtungsfeld
Das Richtungsfeld ist ein sehr wichtiges Hilfsmittel, vor allem wenn man Informationen über das Verhalten der möglichen Lösungen gewinnen will. Ein Richtungsfeld
lässt sich allerdings nur für Differentialgleichungen erster Ordnung erstellen. Man
erhält es, indem man zu geeignet gewählten Punkten aus der gegebenen Differentialgleichung die Steigung der Lösungskurve berechnet. Diese Steigung trägt man
dann als kurzes Tangentenstück im jeweiligen Punkt im Koordinatensystem ein,
wodurch man vor allem Informationen über Periodizität und Asymptoten gewinnen
kann.
Als Beispiel sei in Figure 2.1 das Richtungsfeld von y = c · ex gegeben
y
6
4
2
-5
-4
-3
-2
-1
1
2
x
-2
Abbildung 2.1: Das Richtungsfeld von y = c · ex
Dies ist die Lösung der Differentialgleichung f 0 (x) = f (x). Hier entspricht die
Steigung im Punkt (x|y) y. Man sieht, dass die Lösung nicht periodisch, aber die
x-Achse eine Asymptote ist. Der Sinn eines Richtungsfeldes ist es, eine Annäherung
der Lösung zu konstruieren, indem man eine Kurve in die Tangentenstücke einpasst.
Als Beispiel in Figure 2.2 ein paar Lösungen, eingepasst in das vorige Richtungsfeld.
2.2.7
Trajektorien
Die Lösungen von Differentialgleichungssystemen in zwei variablen Funktionen stellt
man meist mit Hilfe von Trajektorien dar. Hier seien nun die unabhängige Variable t
und die beiden Lösungen mit y1 beziehungsweise y2 bezeichnet. Lässt man t beliebig
KAPITEL 2. WAS SIND DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
8
y
8
6
4
2
-5
-4
-3
-2
-1
1
2
x
-2
Abbildung 2.2: Einige Lösungen von y = c · ex im Richtungsfeld
wandern und trägt die Punkte, deren x-Koordinate y1 an der Stelle t und deren
y-Koordinate y2 an der Stelle t entsprechen, in ein Koordinatensystem ein, so erhält
man Trajektorien. Ein Beispiel für eine typische Trajektorie ist die Spirale auf dem
Titelblatt.
Kapitel 3
Differentialgleichungen erster
Ordnung
Differentialgleichungen erster Ordnung sind die grundlegendste Art von Differentialgleichungen. Dennoch ist es nicht möglich, alle exakt zu lösen oder alle Lösungen
in elementarer Form anzugeben.
3.1
Ein Einführungsbeispiel
Die Geschwindigkeitsfunktion eines Körpers, der sich in einem Gravitationsfeld
beschleunigt bewegt, sei bekannt. Gesucht ist die Funktion des Weges, den der
Körper zurücklegt.
Nimmt man an, dass sich der Körper nur in einem vernachlässigbar kleinen Bereich bewegt, in dem sich die gravitationsbedingte Beschleunigung kaum ändert und
daher als konstant betrachtet werden kann, so ergibt sich eine Geschwindigkeitsfunktion
v(t) = s0 (t) = − (at + v0 )
(3.1)
wobei a die konstante Beschleunigung und v0 die Geschwindigkeit des Körpers
zum Zeitpunkt t = 0 ist. Zu beachten ist hierbei, dass eine negative Geschwindigkeit
eine Bewegung auf das Gravitationszentrum zu, eine positive hingegen eine Bewegung in die Gegenrichtung beschreibt. Um die gesuchte Lösung zu finden, muss man
integrieren, wodurch man die Lösung
µ
a 2
s(t) = c −
t + v0 t
2
9
¶
(3.2)
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
10
erhält. Dabei ist c die Integrationskonstante, die zur Angabe der vollständigen
Lösung notwendig ist. Hier stellt sich die Frage nach Existenz und Eindeutigkeit der
Lösung nicht, da der Existenzbereich gleich dem Definitionsbereich des Integrals
ist. Die Eindeutigkeit der Lösung folgt aus der Eindeutigkeit des Integrals.
Den Physiker interessiert jedoch meist nicht die allgemeine Lösung, sondern
die spezielle, die seiner Aufgabenstellung entspricht. Das stellt allerdings mit der
allgemeinen Lösung und entsprechenden Anfangsbedingungen keine Schwierigkeit
mehr dar.
Gegeben seien zu Gleichung 3.1 folgende Anfangsbedingungen:
Es sei a = 9, 8m/s2 , v0 = 10m/s und c = 500m. Zu berechnen ist der Abstand
des Körpers vom Null-Punkt nach 5 Sekunden.
Die spezielle Lösung erhält man durch Einsetzen der gegebenen Zahlen in die
allgemeine Lösung 3.2. Das ergibt s(t) = 500 − (4, 9)t2 − 10t und für t = 5 die
Lösung s(5) = 327, 5m.
3.2
Differentialgleichungen der Form
dy
= g(x) · h(y)
dx
Es sei hier vor der allgemeinen Lösung der Differentialgleichung ein Beispiel angeführt um den Lösungsweg zu verdeutlichen. Gegeben sei folgende Differentialgleichung:
dy
x2 + 4x − 1 y
=
·
(3.3)
dx
x2 − 1
2
Hier liegen die beiden Funktionen
g(x) =
x2 + 4x − 1
y
und h(y) =
2
x −1
2
(3.4)
vor. Als Erstes kann man sich die Art der Lösungen mit Hilfe eines Richtungsfeldes verdeutlichen. (vgl. Figure 3.1)
Man kann erkennen, dass die Lösungskurven für x → ∞ gegen 0 streben, also
die x-Achse als Asymptote haben. Weiters sieht man, dass in der Umgebung von
x = −4 ein Maximum (beziehungsweise Minimum) liegt. Außerdem gehen alle
Lösungen durch den Punkt (−1|0), da das Richtungsfeld dort einen Knotenpunkt
hat. Dasselbe gilt für den Punkt (1|0). Auch wenn dies hier keinen direkten Hinweis
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
11
y
8
6
4
2
-8
-6
-4
-2
2
x
-2
Abbildung 3.1: Das Richtungsfeld von
x2 + 4x − 1 y
dy
=
·
dx
x2 − 1
2
auf die exakte Lösung gibt, ist es häufig erforderlich, einen ungefähren Überblick
über das Aussehen der Lösungen zu gewinnen. Unter Umständen ist das bei
bestimmten Problemstellungen sogar schon genügend Information und eine weitere,
vielleicht sehr aufwändige mathematische Behandlung wird somit überflüssig.
Wendet man sich nun der exakten Lösung der Differentialgleichung zu, so empfiehlt es sich zuerst g(x) aus 3.4 zu
4x
(3.5)
−1
zu vereinfachen. Um die Differentialgleichung integrieren zu können, muss man
nun das Verfahren der Separation der Variablen anwenden. Dazu multipliziert
man beide Seiten der Gleichung 3.3 mit dx und dividiert durch y. Dadurch erhält
man
g(x) = 1 +
µ
x2
¶
dy
4x
dx
= 1+ 2
y
x −1 2
(3.6)
Nun kann man die Klammer auf der rechten Seite ausmultiplizieren und erhält
dy
dx
2x
=
+ 2
dx
y
2
x −1
Damit kann man die Differentialgleichung integrieren. Bei
(3.7)
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
Z
12
Z
dy
dx
und
y
2
hat man kein Problem damit, und bei
Z
2x
dx
−1
x2
kommt man durch die Substitution z = x2 − 1 zum Ziel. Es ergibt sich also
¯
¯
x
¯
¯
+ ln ¯x2 − 1¯ + c
2
Daraus folgt nun sofort die Lösung
ln |y| =
y = e 2 +ln|x
x
3.2.1
(3.8)
|+c = e x2 · (x2 − 1) · ec
2 −1
(3.9)
Das allgemeine Lösungsverfahren
Betrachtet sei nun das allgemeine Problem
dy
= g(x) · h(y)
(3.10)
dx
Man kann hier auf dieselbe Art vorgehen wie beim vorigen Beispiel: Aus der
Gleichung 3.10 ergibt sich nach Multiplikation mit dx und Division durch h(y)
dy
= g(x)dx
h(y)
(3.11)
Sollten beide Seiten integrierbar sein, ergibt sich mit
Z
G(x) =
Z
g(x)dx und H(y) =
H(y) = G(x) + c
dy
h(y)
(3.12)
Existiert weiterhin eine Umkehrfunktion K(y) von H(y), so kann die Lösung
sogar explizit in der Form y = K(G(x) + c), andernfalls nur implizit angegeben
werden. Weiters stellt sich die Frage nach der Möglichkeit, eine spezielle Lösung für
einen Anfangswert y|x=ζ = η zu bestimmen. Es ist in diesem Zusammenhang klar,
dass dabei die Konstante c in einer Weise zu ersetzen ist, dass die Lösungskurve
durch den Punkt (ζ|η) verläuft. Dazu sei H(y|
x=ζ ) mit χ bezeichnet. Offensichtlich
R
ist das Problem gelöst, wenn bei H(y) = g(x)dx + c das Integral für x = ζ null
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
13
wäre. Dann würde nämlich die Substitution c = χ sofort zur Lösung des Anfangswertproblems führen. Damit das Integral für x = ζ identisch null ist, ersetzt man
es durch ein bestimmtes Integral mit der unteren Integrationsgrenze ζ und einer
variablen oberen Grenze. Damit erhält man
H(y) = χ +
Z x
ζ
g(s)ds
(3.13)
Setzt man zur Überprüfung x = ζ, so verschwindet das Integral und man erhält
H(ζ) = χ wie gefordert. Der restliche Lösungsweg verläuft analog zur allgemeinen
Lösung. Existiert eine Umkehrfunktion K(H(y)), so erhält man
µ
H(y) = K χ +
Z x
ζ
¶
g(s)ds
(3.14)
Damit wäre das Problem an sich gelöst, allerdings muss man sich nun noch
Gedanken über Existenz und Eindeutigkeit der Lösung machen.
3.2.2
Existenz
Die Existenz der Lösung folgt bei separierbaren Differentialgleichungen erster Ordnung aus der Existenz der beiden Integrale
Z
Z
dy
und g(x)dx
h(y)
Sollte eines der beiden Integrale nur in einem Teilintervall der reellen Zahlen
definiert sein, so ist auch die Lösung nur auf diesem Intervall definiert. Sind beide
Integrale nur in Teilintervallen definiert, ergibt sich der Definitionsbereich der
Lösung aus der Schnittmenge.
Soll die Lösung explizit angegeben werden, so muss noch die Existenz der
Umkehrfunktion gegeben sein.
3.2.3
Eindeutigkeit
In den meisten Fällen ist die Eindeutigkeit der Lösung dadurch garantiert, dass sich
alle Lösungen durch die additive Integrationskonstante c voneinander unterscheiden.
Das bedeutet, dass zwei verschiedene Kurven im Punkt mit der selben x-Koordinate
auch denselben Anstieg haben, also nur um c parallel zur y-Achse verschoben sind.
Problematischer kann die Frage der Eindeutigkeit werden, wenn g(x) an mindestens einer Stelle divergiert oder h(y) mindestens eine Nullstelle hat. Dann nämlich
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
14
kommt es zu Knotenpunkten im Richtungsfeld, in denen alle Lösungskurven identisch sind. Es lässt sich also in einem Knotenpunkt keine eindeutige Lösung finden.
Im Einführungsbeispiel wären solche Knotenpunkte bei x = −1 und x = +1.
3.3
Differentialgleichungen der Form
dy
= g(ax + by + c)
dx
Bei Differentialgleichungen dieser Form ist es günstig, nicht y = f (x) zu betrachten
sondern die Funktion
u(x) = ax + by + c
(3.15)
Leitet man diese Funktion nach x ab, so erhält man
dy
dx
0
u (x) = a + b · g(u(x))
u0 (x) = a + b
(3.16)
Hier liegt eine Differentialgleichung mit separierbaren Variablen vor, die zuvor
schon behandelt wurden. Als allgemeine Lösung für u(x) erhält man also
Z
u0 (x)
dx = x + c
a + b · g(u(x))
(3.17)
Die allgemeine Lösung der ursprünglichen Differentialgleichung erhält man nun
über
y=
3.4
u(x) − ax − c
b
(3.18)
à !
dy
y
Differentialgleichungen der Form
=g
dx
x
Setzt man hier
y
(3.19)
x
so erhält man nach Substitution in der ursprünglichen Differentialgleichung
u(x) =
y = x · u(x)
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
15
dy
= x · u0 (x) + u(x) = g(u(x))
(3.20)
dx
Auch hierbei handelt es sich wieder um eine Differentialgleichung mit separierbaren Variablen, und man ermittelt
u0 (x) =
g(u(x)) − u(x)
x
(3.21)
woraus sich die Lösung
Z
g(u(x)) − u(x)
dx = c + ln |x|
(3.22)
x
ergibt. Wieder gilt wie oben: Die gesuchte Lösung der ursprünglichen Differentialgleichung liefert die Gleichung
y = x · u(x)
3.5
(3.23)
Differentialgleichungen
der Form


dy
ax + by + c 
= g
dx
αx + βy + γ
Die beiden eben behandelten Formen sind Spezialfälle der Art von Differentialgleichungen, die nun behandelt werden. Daher kann man voraussetzen, dass
¯
¯ a
¯
¯
¯ α
b
β
¯
¯
¯
¯ 6= 0
¯
(3.24)
gilt. Anders ausgedrückt: Das Gleichungssystem
ax + by + c = 0
αx + βy + γ = 0
(3.25)
besitzt genau ein Lösungspaar (x0 |y0 ) (wäre die Determinante gleich null, so
ergäbe sich ein auf Seite 14 bereits behandelter Fall). Zur Vereinfachung der Differentialgleichung kann man nun das Koordinatensystem so verschieben, dass der
Punkt (x0 |y0 ) mit dem Ursprung zusammenfällt. Arithmetisch ausgedrückt bedeutet das:
y := y − y0
x := x − x0
(3.26)
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
16
Die modifizierte Differentialgleichung lautet dann
Ã
dx
ax + by
=g
dy
αx + βy
!
(3.27)
Diese neue Differentialgleichung kann man nun in den zuvor behandelten Fall
überführen:
Ã
a + b xy
dx
=g
dy
α + β xy
!
(3.28)
Als Lösung dieser Differentialgleichung erhält man also
y = f (x)
und nach Rücksubstitution gemäß 3.26 die Lösung im ursprünglichen Koordinatensystem:
y = f (x − x0 ) + y0
3.6
(3.29)
Das allgemeine Lösungsverfahren für Differentialgleichungen erster Ordnung
Gegeben sei die Differentialgleichung
dy
y−3
=−
(3.30)
dx
2
Man kann sofort erkennen, dass hier eine separierbare Differentialgleichung vorliegt, und daraus folgt unmittelbar die Lösung
x
y = c · e− 2 + 3
(3.31)
x
2
Multipliziert man beide Seiten mit e , so erhält man
x
x
y · e 2 = 3e 2 + c
(3.32)
Differenziert man nun beide Seiten und fasst geeignet zusammen, erhält man
3 x
dy x y x
e2 + e2 =
e2
dx
2
2
dy x
y−3 x
e2 = −
e2
dx
2
(3.33)
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
17
Gleichung 3.33 ist interessanter Weise identisch mit der ursprünglichen Differentialgleichung 3.30 multipliziert mit einem Faktor. Dieser Faktor wird auch
integrierender Faktor genannt. Findet man diesen Faktor, so kann man daraus die Lösung der Differentialgleichung bestimmen, wie nun allgemein gezeigt wird.
Allgemein hat jede lineare Differentialgleichung erster Ordnung folgende Form:
dy
+ p(x) · y = g(x)
(3.34)
dx
Sollte vor dem Differentialquotienten ebenfalls ein Faktor stehen, so kann man
diese Differentialgleichung auf 3.34 reduzieren. Sollte jener Faktor an beliebigen
Stellen identisch null sein, so ist das Dividieren zwar unmöglich, allerdings auch
an jenen Stellen nicht mehr notwendig. In diesem Fall fällt der Differentialquotient
weg und es handelt sich daher um eine einfache Gleichung. Gesucht ist nun ein
bestimmter integrierender Faktor µ(x).
Allgemein ergibt sich
µ(x)
µ(x)
dy
+ µ(x) · p(x) · y = µ(x) · g(x)
dx
dy
+ µ0 (x) · y + µ(x) · p(x) · y − µ0 (x) · y = µ(x) · g(x)
dx
(3.35)
Dies ist allerdings nichts anderes als
d(µ(x) · y)
+ (µ(x) · p(x) − µ0 (x)) · y = µ(x) · g(x)
(3.36)
dx
Da man im Bezug auf den integrierenden Faktor µ(x) noch einen Freiheitsgrad
offen hat, kann man nun festlegen, dass er derart sein soll, dass
µ(x) · p(x) − µ0 (x) = 0
(3.37)
gilt. In 3.37 liegt wieder eine separierbare Differentialgleichung vor, die eine
Lösung (c = 1)
R
µ(x) = e
p(x)·dx
(3.38)
besitzt. Damit kann man in jedem Fall einen integrierenden Faktor bestimmen.
Mit Bedingung 3.37 vereinfacht sich 3.36 zu
d(µ(x) · y)
= µ(x) · g(x)
dx
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
18
Z
µ(x) · y =
µ(x) · g(x)dx
R
c + µ(x) · g(x)dx
y =
µ(x)
(3.39)
wobei mit der additiven Konstante c bereits die Integrationskonstante vorweggenommen ist. Zu einer gegebenen Anfangsbedingung
y|x=x0 = y0
(3.40)
erhält man schließlich die Lösung
µ
¶
Z x
1
y=
y0 · µ(x) +
µ(s) · g(s)ds
µ(x)
x0
(3.41)
Es soll hier noch angemerkt werden, dass es auch Probleme gibt, die nicht über
einen von x abhängenden integrierenden Faktor gelöst werden können. Dies ist etwa
der Fall, wenn einige der auftretenden Integrale nicht lösbar sind. Dann kann man
allerdings analog auch integrierende Faktoren, die von y oder auch von x und y
abhängen, finden und damit die Differentialgleichung lösen.
3.7
Grafische Verfahren
Oft ist es bei Differentialgleichungen nicht möglich, auf algebraischem Weg zu
einer Lösung zu gelangen. Vor allem bei nichtlinearen Differentialgleichungen kann
dieser Fall eintreten. Es ist dann jedoch immer noch möglich, gewisse Eigenschaften
der Lösungen grafisch zu finden. Interessant ist dabei meist das Verhalten der
Lösungen in der Nähe bestimmter kritischer Punkte, etwa ob die Lösung sich
gewissen Punkten annähert oder von ihnen wegstrebt. Bei der Beschreibung
der Ausbreitung von Krankheiten kann man sich zum Beispiel durch grafische
Verfahren die Arbeit erleichtern, da normalerweise nicht die genaue Zahl der
Infektionen zu einem beliebigen Zeitpunkt zu bestimmen ist. Das ist in der Praxis
meist ohnehin unmöglich, da sie noch durch eine Unzahl nicht berücksichtigbarer
äußerer Faktoren, wie beispielsweise Temperaturveränderungen, bestimmt wird.
Von Interesse ist vielmehr, ob die Krankheit zu einer Epidemie wird oder sich in
(statistisch) akzeptablen Grenzen hält. Diese grafischen Verfahren sollen in diesem
Kapitel anhand von Differentialgleichungen demonstriert werden, deren Lösungsweg
bereits beschrieben wurde, damit die Vorgangsweise leichter nachvollzogen werden
kann.
Es sei hierzu das Problem der Bevölkerungsdynamik betrachtet. Thomas Malthus war der Erste, der eine Gesetzmäßigkeit für das Wachstum von Populationen
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
19
d
dx N (t)
N (t)
N (t)
Abbildung 3.2: Der Graph und das Richtungsfeld von
t
d
N (t) = r · N (t)
dt
fand. Er beobachtete, dass ihre Wachstumsrate proportional zur aktuellen Größe ist.
Mathematisch ausgedrückt bedeutet das, wenn N (t) die Größe der Population zum
Zeitpunkt t angibt und r die Proportionalitätskonstante ist:
d
N (t) = r · N (t)
dt
Grafisch kann man das Verhalten dieser Differentialgleichung auf zwei Arten
darstellen. Erstens durch den Graphen der ersten Ableitung, also der Steigung der
Lösungskurven, und zweitens durch ein Richtungsfeld:
Hier kann man bereits am Graphen der ersten Ableitung erkennen, dass die
Lösungen mit fortschreitender Zeit immer stärker wachsen werden. Diese Feststellung wird durch das Richtungsfeld unterstützt.
Der Ansatz eines Wachstums, das proportional zur aktuellen Population ist,
brachte für kleine Zeitintervalle oder unter idealen Bedingungen eine durchaus akzeptable Annäherung an die Wirklichkeit. Man merkte jedoch bald, dass solche
idealen Verhältnisse nirgendwo herrschten. Jede Population wird früher oder später
an Grenzen stoßen: etwa an die Grenzen des Lebensraums oder von Ressourcen.
Um diese Grenzen zu berücksichtigen wurde das logistische Wachstumsmodell entwickelt:
d
N (t) = f (N (t)) · N (t)
(3.42)
dt
Hierbei wird die Proportionalitätskonstante r nun durch die Funktion f (N (t))
ersetzt. Es sei nun das spezielle Problem betrachtet, wo zwar ein unbegrenzt großer
Lebensraum zur Verfügung steht, die (erneuerbaren) Ressourcen jedoch begrenzt
sind. Daher ist es möglich, dass sich eine unbegrenzte Anzahl Exemplare dieser
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
20
Population im Lebensraum befindet. Über einer gewissen Populationsobergrenze
stehen allerdings nicht genügend Nahrungsmittel zur Verfügung, um die gesamte
Population ausreichend zu versorgen. Gesucht ist also eine Funktion f (N (t)), die
für kleine N annähernd konstant ist, für wachsende N abnimmt und für große N
negativ wird. Die einfachste derartige Funktion ist
f (N (t)) = r − aN (t)
(3.43)
wobei r dieselbe Proportionalitätskonstante wie im vorigen Beispiel und a eine
positive Konstante ist. Subsituiert man 3.43 in 3.42, so erhält man die gesuchte
Wachstumsgleichung
d
N (t) = (r − aN (t)) · N (t)
dt
Bezeichnet man nun r/a mit K, so ergibt sich
Ã
!
d
N (t)
· N (t)
N (t) = r 1 −
dt
K
(3.44)
Die Differentialgleichung 3.44 ähnelt derjenigen des vorigen Beispiels, sie hat jedoch einen Faktor mehr. Als erstes betrachtet man den Graphen der ersten Ableitung
der gesuchten Funktion gegen die Funktion selbst. (vgl. Figure 3.3)
Man kann daraus mehrere Dinge erkennen: Die größte Steigung liegt bei einer Population von K/2. In diesem Punkt ist wohl das Verhältnis zwischen Ressourcen und
Population am ausgewogensten. Zweitens überlebt jede Population, da es kein N (t)
gibt, für das die Steigung immer negativ ist und sie somit nie auf null schrumpfen
kann. Anders ausgedrückt: Es gibt keine Schwelle, die überschritten sein muss, damit
die Population überlebt und nicht ausstirbt. Drittens stagnieren die Lösungen, die
eine Größe von K/2 überschritten haben, langsam, wobei im Punkt K ein Wachstum
von null erreicht wird. Bei K handelt es sich daher um einen sogenannten kritischen
Punkt, das Verhalten der Lösungen in seiner Umgebung ist besonders interessant.
Viertens erkennt man, dass jede Population, die eine Größe von K überschreitet,
zwangsläufig schrumpfen muss. Diese Fakten werden durch das Richtungsfeld untermauert. (vgl. Figure 3.4)
Auch hier kann man erkennen, dass eine Population, die anfangs eine Größe
zwischen null und K hat, wächst, und alle Populationen, die größer sind, in
Richtung K schrumpfen. Bei K liegt also eine Asymptote. Die unterschiedlichen
Wachstumsraten können hier ebenso noch einmal abgelesen werden.
Die Differentialgleichung 3.44 besitzt auch zwei konstante Lösungen: die Lösung
identisch null und die Lösung identisch K. Beide sind gleichzeitig für die anderen
Lösungen Asymptoten. Bei der Lösung, die identisch null ist, spricht man auch von
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
21
d
dt N (t)
rK/4
K
K/2
Abbildung 3.3:
N (t)
d
N (t) gegen N (t)
dt
einer instabilen Gleichgewichtslösung, bei der Lösung, die identisch K ist, handelt
es sich um eine stabile Gleichgewichtslösung. Allgemein bezeichnet man eine Lösung
a als stabil, wenn für ein beliebiges ² > 0 ein δ > 0 existiert, so dass für jede Lösung
Φ(t), die bei t = 0
|Φ(0) − a| < δ
erfüllt, für alle t ≥ 0 gilt:
|Φ(t) − a| < ²
Alle anderen Gleichgewichtslösungen bezeichnet man als instabil. Anders ausgedrückt: Eine Gleichgewichtslösung heißt stabil, wenn jede Lösung, die sich am
Anfang höchstens in einer bestimmten Entfernung (δ) um die Gleichgewichtslösung
befindet, niemals einen beliebigen (größeren) Bereich (²) verlässt, sich also immer in
der Nähe der Gleichgewichtslösung befindet. Eine Gleichgewichtslösung heißt asymptotisch stabil, wenn es zusätzlich ein 0 < γ < δ gibt, so dass für jede Lösung,
die
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
22
N (t)
K
K/2
t
Abbildung 3.4: Das Richrungsfeld von
d
N (t) = f (N (t)) · N (t)
dt
|Φ(0) − a| < γ
erfüllt, außerdem noch folgende Bedingung gilt:
lim Φ(t) = a
t→∞
In Worten: Eine Gleichgewichtslösung heißt asymptotisch stabil, wenn jede
Lösung, die hinreichend nah an der Gleichgewichtslösung beginnt, nicht nur in
deren Nähe bleibt, sondern sich auch immer weiter annähert; sie konvergiert.
Allgemein kann man daraus ersehen, dass Differentialgleichungen überall dort ein
besonderes Verhalten zeigen, wo der Differentialquotient null wird. In diesem Fall
entspricht das den Nullstellen des rechten Terms von 3.44, also für N (t) = 0 und
N (t) = K. Diese Erkenntnis wird bei Differentialgleichungssystemen eine wichtige
Rolle spielen.
3.8
Anwendungsbeispiele
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
3.8.1
23
Der radioaktive Zerfall
Aus Beobachtungen weiß man, dass radioaktive Elemente nicht konstant, sondern
vielmehr proportional zur vorhandenen Masse zerfallen. Die Massenänderung ist also
zu jedem Zeitpunkt proportional zur zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Masse. Dies
führt auf die Differentialgleichung
dm
N (t) = −r · m
(3.45)
dt
Hierbei handelt es sich bei m um die Masse und bei r um den Proportionalitätsfaktor. Das negative Vorzeichen ist dadurch bedingt, dass es sich um einen
Zerfall handelt, die Masse also kontinuierlich abnimmt. Geometrisch bedeutet das,
dass die Kurve eine negative Steigung hat. Durch Separation der Variablen erhält
man nun aus 3.45
dm
N (t) = −r · dt
m
woraus sich durch Integration
ln |m| = −rt + c
(3.46)
(3.47)
ergibt. 3.47 lässt sich zu der bekannten Formel des radioaktiven Zerfalls vereinfachen:
m = e−rt+c
m = C · e−rt
(3.48)
Für ein gegebenes Anfangswertproblem mit einer Masse m0 zum Zeitpunkt t = 0
erhält man die Lösung durch
m0 = C · e 0
m = m0 · e−rt
3.8.2
Altersbestimmung mittels
14
(3.49)
C
Mit der vorhin bestimmten Formel können nun beispielsweise Altersbestimmungen
von Fossilien gemacht werden. Benutzt wird dazu das radioaktive Kohlenstoffisotop
14
C. Pflanzen oder Tiere nehmen dieses Kohlenstoffisotop zu Lebzeiten aus der Luft
auf (die Konzentration in der Luft ist konstant). Nach dem Tod wird kein weiteres
14
C aufgenommen, der bereits im Körper befindliche Kohlenstoff zerfällt. Da die
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
24
Halbwertszeit (die Zeit, in der die Hälfte des Kohlenstoffs zerfällt) mit 5730 Jahren
sehr lang ist, eignet sich diese Methode ideal für Altersbestimmungen. Um sie anwenden zu können, muss man zuerst aus der Halbwertszeit den Proportionalitätsfaktor
r bestimmen:
m0
= m0 · e−rτ
2
− ln 2
= −r
τ
r ≈ 0, 000120968
(3.50)
Nun gilt es, die Integrationskonstante C zu bestimmen: Dazu möge die Aufgabenstellung lauten:
Es sei im Jahre 2000 eine Probe genommen worden, in der sich 5% der ursprünglichen 14 C Konzentration nachweisen ließen. Wie alt ist das Fossil?
1
= C · e−0,000120968·2000
20
C = 0, 063685634
(3.51)
Damit lautet die gesuchte Formel:
m = 0, 063685634 · e−0,000120968·t
(3.52)
Hier bezeichnet m nicht mehr die absolute Masse, die für dieses Beispiel ja belanglos ist, sondern vielmehr das Verhältnis von der anfänglichen Masse (zum Todeszeitpunkt des Fossils) und der momentanen Masse (zum Zeitpunkt t in Jahren).
Für t = 2000 ergibt sich also 0, 05. Gesucht ist jetzt lediglich der Zeitpunkt, für den
m = 1 gilt:
ln
1
= −0, 000120968 · t
0, 063685634
t ≈ −22765 (Jahre)
Dieses Ergebnis lässt sich auch durch die Zerfallskurve bestätigen. (vgl. Figure
3.5)
Es muss hier noch angemerkt werden, dass auch diese Methode ihre Grenzen
hat. Bei Fossilien, die über 50000 Jahre alt sind, liegt die verbleibende 14 C Konzentration bereits unter 3 Promille. Derart kleine Konzentrationen sind mit den bisher
verfügbaren Messtechniken nicht mehr hinreichend genau erfassbar.
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER ORDNUNG
25
m
1
0.8
0.6
0.4
0.2
-30000 -25000 -20000 -15000 -10000 -5000
Abbildung 3.5: Die Kurve m = 0, 063685634 · e−0,000120968·t
5000
t
Kapitel 4
Differentialgleichungen zweiter
Ordnung
4.1
Ein Einführungsbeispiel
Gegeben sei folgende Differentialgleichung:
f 00 (x) − f (x) = 0
(4.1)
Auf den ersten Blick kann man hier keines der bereits bekannten
Lösungsverfahren anwenden. Doch formt man auf
f 00 (x) = f (x)
(4.2)
um, so erkennt man, dass die Exponentialfunktion f (x) = ex eine mögliche
Lösung darstellt. Setzt man zur Probe in 4.1 ein, ergibt sich
d2 ex
− ex = 0
dx2
dex
− ex = 0
dx
ex − ex = 0
w.A.
Es muss hier hinzugefügt werden, dass es noch eine weitere Lösung gibt,
nämlich f (x) = e−x . Diese beiden Funktionen sind die einzigen Lösungen der
Differentialgleichung 4.2.
Dies gibt nun bereits Anlass zur Vermutung, dass ein allgemeiner Ansatz mit
der Exponentialfunktion immer zur Lösung führen könnte. Um diese Vermutung zu
26
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
27
untermauern, sei hier noch ein weiteres Beispiel angeführt. Gegeben sei folgende
Differentialgleichung:
d2 y
dy
− 2 − 15y = 0
2
dx
dx
Nun kann man allgemein y = er·x ansetzen. In 4.3 eingesetzt ergibt dies:
d2 er·x
der·x
−
2
− 15 · er·x = 0
dx2
dx
r2 · er·x − 2r · er·x − 15 · er·x = 0
r2 − 2r − 15 = 0
(4.3)
(4.4)
Diese Gleichung wird auch charakteristische Gleichung genannt. Als
Lösungen erhält man
r1 = 5 und r2 = −3
(4.5)
Die allgemeine Lösung von 4.3 lautet also
y = A · e5x + B · e−3x
(4.6)
wobei A und B jene Konstanten sind, die bei speziellen Lösungen spezifiziert
werden müssen. Zur Probe setzt man 4.6 in 4.3 ein und erhält
³
´
d2 (A · e5x + B · e−3x )
d (A · e5x + B · e−3x )
5x
−3x
−
2
−
15
A
·
e
+
B
·
e
=
dx2
dx
25A · e5x + 9B · e−3x − 10A · e5x + 6B · e−3x − 15A · e5x + 15B · e−3x =
A · e5x (25 − 10 − 15) + B · e−3x (9 + 6 − 15) = 0
4.2
Hilfsbeweise
Bevor nun das allgemeine Lösungsverfahren für Differentialgleichungen zweiter Ordnung behandelt wird, müssen noch einige Annahmen, die im Einführungsbeispiel
aufgestellt worden sind, bewiesen werden.
4.2.1
Jedes Vielfache einer Lösung der Differentialgleichung
ist wieder eine Lösung
Diese Aussage lässt sich durch Einsetzen in die Differentialgleichung beweisen.
Nimmt man an, dass Φ(x) eine Lösung ist, so substituiert man γ · Φ(x) in die
Differentialgleichung:
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
a
28
d2 (γ · Φ(x))
d(γ · Φ(x))
+ c(γ · Φ(x)) = 0
+
b
dx2
dx
Nach der Konstantenregel der Differentialrechnung kann man bei jedem Summanden γ aus dem Differential herausziehen, damit durchdividieren und man erhält
die ursprüngliche Differentialgleichung, für die Φ(x) gemäß Voraussetzung eine
Lösung ist. Dadurch ist die Aussage wahr, was zu beweisen war.
4.2.2
Jede Linearkombination zweier Lösungen der Differentialgleichung ist wieder eine Lösung
Auch hier setzt man voraus, dass die beiden Funktionen Φ(x) und Ψ(x) nicht identische Lösungen der Differentialgleichung sind. Wieder setzt man in die Differentialgleichung ein und erhält:
a
d2 (Φ(x) + Ψ(x))
d(Φ(x) + Ψ(x))
+b
+ c(Φ(x) + Ψ(x)) = 0
2
dx
dx
Nach der Summenregel der Differentialrechnung kann man die hier auftretenden
Differentiale aufspalten und nach geeignetem Ausmultiplizieren und Zusammenfassen ergibt sich:
"
#
"
#
d2 (Φ(x))
d(Φ(x))
d2 (Ψ(x))
d(Ψ(x))
a
+b
+ c(Φ(x)) + a
+b
+ c(Ψ(x)) = 0
2
2
dx
dx
dx
dx
Da die beiden Funktionen Φ(x) und Ψ(x) Lösungen der ursprünglichen Differentialgleichungen sind, sind beide Summanden identisch null, was zu beweisen war.
4.3
Das allgemeine Lösungsverfahren für Differentialgleichungen zweiter Ordnung
4.3.1
Homogene Differentialgleichungen zweiter Ordnung
Betrachtet sei nun die allgemeine homogene Differentialgleichung zweiter Ordnung:
d2 y
dy
+
b
+ cy = 0
(4.7)
dx2
dx
Entsprechend dem Beispiel setzt man auch hier allgemein y = er·x an. Dadurch
erhält man die charakteristische Gleichung
a
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
d2 er·x
der·x
+
b
+ cer·x = 0
dx2
dx
ar2 · er·x + br · er·x + c · er·x = 0
ar2 + br + c = 0
29
a
(4.8)
Die beiden Lösungen von 4.8 sind
√
√
−b + b2 − 4ac
−b − b2 − 4ac
r1 =
und r2 =
2a
2a
Nun muss man eine Fallunterscheidung der Diskriminante durchführen:
(4.9)
1. b2 − 4ac > 0
In diesem Fall verläuft der weitere Lösungsweg analog zu dem des
Einführungsbeispiels, die Lösung lautet also:
y = A · er1 ·x + B · er2 ·x
(4.10)
2. b2 − 4ac = 0
In diesem Fall ergibt sich ein Problem: Die charakteristische Gleichung hat
nur eine doppelte Nullstelle. Es liegt allerdings die Vermutung nahe, dass es
auch hier eine zweite Lösung gibt. Da bereits bekannt ist, dass ein konstanter
Faktor keine neue Lösung bedingt, könnte ein variabler Faktor eine mögliche
Hilfe bieten. Der allgemeine Ansatz lautet dabei:
b
b
y1 = e− 2a x , y2 = m(x) · y1 = m(x) · e− 2a x
Um nun die Funktion m(x) zu bestimmen, setzt man y2 in die Differentialgleichung 4.7 ein und erhält:
³
a
b
d2 m(x) · e− 2a x
dx2
´
³
+b
b
d m(x) · e− 2a x
dx
´
³
b
+ c m(x) · e− 2a x
´
b
b2 − b x
e 2a + bm0 (x)e− 2a x −
4a
b
b
b2
− e− 2a x + cm(x)e− 2a x
2aÃ
!
b2
b2
00
0
am (x) + (−b + b)m (x) +
−
+ c m(x)
4a 2a
Ã
!
2
b
−
4ac
am00 (x) + −
m(x)
4a
m00 (x)
b
= 0
b
am00 (x)e− 2a x − bm0 (x)e− 2a x +
= 0
= 0
= 0
= 0
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
30
Hier liegt eine Differentialgleichung zweiten Grades vor, die man durch zweimaliges Integrieren lösen kann. So erhält man
m(x) = c1 x + c2
Setzt man die hier gefundene Funktion wieder in y2 ein, so ergibt sich
y2 = c1 xerx + c2 erx
Hier ist der zweite Summand ohne Bedeutung, da er bereits in y1 enthalten
ist. Damit lautet die vollständige, allgemeine Lösung
y = A · er·x + B · x · er·x
(4.11)
3. b2 − 4ac < 0
In diesem Fall erhält man zwei komplex konjugierte Nullstellen. Bezeichnet
man sie mit λ − ıµ, λ + ıµ so ergibt sich folgende Lösung der Differentialgleichung:
y = A · e(λ−ıµ)·x + B · e(λ+ıµ)·x
y = A · eλ eıµx + B · eλ eıµx
(4.12)
Mit Hilfe der Formel
eıx = cos x + ı sin x
erhält man
y = Aeλx (cos(−µx) + ı sin(−µx)) + Beλx (cos(µx) + ı sin(µx))
und unter Berücksichtigung von cos(−x) = cos(x) und sin(−x) = − sin(x)
schließlich
y = eλx (A + B) cos µx − eλx ı(A − B) sin µx
Wie im vorigen Kapitel gezeigt, ist mit jeder Lösung auch jedes ihrer Vielfachen eine Lösung. Somit ist der imaginäre Faktor belanglos und kann daher
weggelassen werden. Daraus folgt das Ergebnis
y = eλx (A + B) cos µx + eλx (A − B) sin µx
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
4.3.2
31
Existenz und Eindeutigkeit
Gegeben sei folgendes Anfangswertproblem:
¯
dy ¯¯
d2 y
dy
a 2 + b + cy = 0, y|x=x0 = y0 ,
¯
= y0
dx
dx
dx ¯x=x0
(4.13)
Zu der homogenen Differentialgleichung können, wie oben gezeigt, auf jeden Fall
zwei Lösungen gefunden werden. Die Frage ist, ob man die auftretenden Konstanten
immer so spezifizieren kann, dass sie den gegebenen Anfangsbedingungen an der
Stelle x0 genügen. Bezeichnet man die beiden einzelnen Lösungen mit y1 = f1 (x)
und y2 = f2 (x), ergibt sich das Gleichungssystem
A · f1 (x0 ) + B · f2 (x0 ) = y0
A · f1 0 (x0 ) + B · f2 0 (x0 ) = y 0
(4.14)
das die beiden Lösungen
¯
¯
¯
¯ y
¯ 0 f1 (x0 ) ¯
¯
¯
0
¯ y 0 f1 (x0 ) ¯
A = ¯¯
f2 (x0 )
¯ f1 (x0 )
¯
¯ f1 0 (x0 ) f2 0 (x0 )
¯
¯ f (x )
¯ 2 0
¯
¯ f2 0 (x0 )
y0
y0
¯
¯
¯
¯
¯
¯, B = ¯
¯ f (x )
¯
f2 (x0 )
¯ 1 0
¯
¯
¯
¯ f1 0 (x0 ) f2 0 (x0 )
¯
¯,
¯
¯
¯
¯
hat. Da die Determinante in beiden Nennern gleich ist, ist sie die Bedingung
für die Existenz einer Lösung zum gegebenen Anfangswertproblem. Ist sie für das
gesamte Intervall ungleich null, so lassen sich mit Sicherheit zu beliebigen Anfangswerten die beiden Konstanten A und B entsprechend spezifizieren. Da bereits alle
drei möglichen Fälle von Lösungen behandelt wurden, kann man diese Determinante
für alle drei berechnen und erhält:
¯
¯ er1 x
¯
¯
¯ r1 er1 x
er2 x
r2 er2 x
¯
¯
¯
¯ = r2 er1 x er2 x − r1 er1 x er2 x = (r2 − r1 )e(r1 +r2 )x
¯
und
¯
¯ erx
¯
¯
¯ rerx
xerx
rxerx
¯
¯
¯
¯ = e2rx (1 + rx) − rxe2rx = (1 + rx − rx)e2rx = e2rx
¯
Der dritte Fall verläuft analog zum ersten. Damit ist die Determinante in jedem
Fall ungleich null, wodurch eine Existenz der Lösung garantiert ist.
Die Eindeutigkeit folgt unmittelbar daraus. Es wurde gezeigt, dass die Vorgabe
von zwei Anfangsbedingungen genügt, um die Differentialgleichung zu lösen. Hat
man nun eine beliebige Funktion, die der Differentialgleichung genügt, so kann man
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
32
an einer beliebigen Stelle die Werte der Funktion und ihrer ersten Ableitung berechnen. Mit zwei Anfangsbedingungen ist es aber möglich, die Differentialgleichung auf
die oben beschriebene Weise zu lösen. Diese Lösung und die gegebene Funktion
müssen also identisch sein. Damit ist die Eindeutigkeit jeder Lösung bewiesen, da
die Konstanten eindeutig aus dem oben aufgestellten Gleichungssystem bestimmt
werden können.
4.3.3
Inhomogene Differentialgleichungen zweiter Ordnung
Gesucht ist nun die Lösung der inhomogenen Differentialgleichung, gegeben durch
d2 y
dy
+ b + cy = s(x)
(4.15)
2
dx
dx
Anzunehmen ist hierbei, dass sich die Lösung der inhomogenen Differentialgleichung nicht grundlegend von der der homogenen unterscheidet. In der Tat ist es ausreichend, eine spezielle Lösung der Differentialgleichung 4.15 zu finden, man nennt
diese die partikuläre Lösung. Die Summe der allgemeinen Lösung der homogenen
und der partikulären Lösung der inhomogenen Differentialgleichung ergibt dann die
allgemeine Lösung der inhomogenen Differentialgleichung. Formal lässt sich das wie
folgt begründen:
a
y = yh + yp
d (yh + yp )
d2 (yh + yp )
+b
+ c (yh + yp ) = s(x)
a
2
dx
"
# " dx
#
d2 yh
dyh
d2 yp
dyp
a 2 +b
+ cyh + a 2 + b
+ cyp = s(x)
dx
dx
dx
dx
Hierbei ist der linke Summand immer identisch null, während der rechte
Summand immer identisch der Störfunktion ist, was zu zeigen war.
Eine Möglichkeit zur Bestimmung einer partikulären Lösung ist ein geeigneter
Ansatz in Abhängigkeit von der Störfunktion. Speziell bei Potenz-, Exponentialund trigonometrischen Funktionen empfiehlt sich dieser Weg. Danach setzt man die
allgemein angesetzte partikuläre Lösung in die inhomogene Differentialgleichung
ein und führt einen Koeffizientenvergleich durch, um eine spezielle Lösung zu
bekommen.
Der zweite und wesentlich allgemeinere Weg ist jener der Variation der Parameter. Zugrunde liegt dabei die Annahme, dass sich die allgemeine Lösung der homogenen nicht grundlegend von der partikulären Lösung der inhomogenen Differentialgleichung unterscheidet. Der einzige Unterschied besteht darin, dass man nicht von
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
33
konstanten Parametern ausgeht sondern von variablen. Damit lautet der Ansatz für
die partikuläre Lösung
yp = A(x) · y1 + B(x) · y2
(4.16)
Da hier zwei unbekannte Funktionen auftreten, ist es notwendig, ein Gleichungssystem aus zwei Gleichungen aufzustellen. Differenziert man nun 4.16, erhält man
dy1
dy2
dyp
= A0 (x)y1 + A(x)
+ B 0 (x)y2 + B(x)
(4.17)
dx
dx
dx
Um diese Gleichung zu vereinfachen, kann man nun die erste Bedingung für die
beiden unbekannten Funktionen aufstellen, nämlich
A0 (x)y1 + B 0 (x)y2 = 0
(4.18)
Dadurch vereinfacht sich 4.17 zu
dyp
dy1
dy2
= A(x)
+ B(x)
dx
dx
dx
Differenziert man nun noch einmal, erhält man
(4.19)
d2 yp
dy1
d2 y1
dy2
d2 y2
0
0
=
A
(x)
+
A(x)
+
B
(x)
+
B(x)
dx2
dx
dx2
dx
dx2
Substituiert man nun 4.19 und 4.20 in 4.15, so ergibt sich
"
(4.20)
#
dy1
d2 y1
dy2
d2 y2
a · A (x)
+ A(x) 2 + B 0 (x)
+ B(x) 2 +
dx
dx
dx
dx
#
"
dy1
dy2
+ c · [A(x)y1 + B(x)y2 ] = s(x)
b · A(x)
+ B(x)
dx
dx
"
#
"
#
dy1
dy2
0
0
A (x) · a
+ B (x) · a
+
dx
dx
#
"
#
"
dy1
d2 y2
dy2
d2 y1
+ cy1 + B(x) · a 2 + b
+ cy2 = s(x)
A(x) · a 2 + b
dx
dx
dx
dx
0
Hier kann man sehen, dass der dritte und vierte Summand identisch null sind,
da die Terme in den eckigen Klammern jeweils der homogenen Differentialgleichung
entsprechen. Dadurch vereinfacht sich die Gleichung zu
dy2
dy1
+ aB 0 (x)
= s(x)
(4.21)
dx
dx
4.18 und 4.21 ergeben zusammen jenes Gleichungssystem, das am Anfang gefordert wurde. Daraus ergeben sich die Lösungen
aA0 (x)
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
A0 (x) = ¯¯
¯
¯
¯
¯
y2 · s(x)
y1
y2
dy1
dy2
a
a
dx
dx
y1 · s(x)
y2
dy2
a
dx
dx
¯ und B 0 (x) = ¯
¯
¯ y1
¯
¯
¯
¯ dy
1
¯
¯
¯
¯ a
34
¯
¯
¯
¯
¯
¯
Die Funktionen selbst erhält man durch Integration. Dabei sind die Integrationskonstanten nicht von Bedeutung, da ja nur eine einzige spezielle Lösung gefordert
ist. Sie können also beliebig gewählt werden.
Daraus erhält man dann die allgemeine Lösung der inhomogenen Differentialgleichung:
y = Ay1 + By2 + A(x)y1 + B(x)y2
4.4
Anwendungsbeispiele
4.4.1
Das Feder-Masse-System
Beim Feder-Masse-System handelt es sich um eine Art Pendel: eine Masse hängt
an einer Feder, die wiederum an eine Halterung befestigt ist. Wird die Masse aus
ihrer Gleichgewichtsposition gebracht und losgelassen, so schwingt sie auf und ab.
Dafür soll nun eine Formel gefunden werden.
Zu jeder Feder gibt es eine Federkonstante. Diese Federkonstante legt das
Verhältnis zwischen (kleinen) Auslenkungen und den daraus resultierenden Federkräften an. Zusätzlich wirkt auf die Feder die durch den Körper bedingte Gewichtskraft. Befindet sich der Körper in einer Gleichgewichtsposition, so heben diese beiden
Kräfte einander auf:
m·g+k·L=0
(4.22)
Hier bezeichnet m die Masse des Körpers, g die Erdbeschleunigung, k die
Federkonstante und L die Federausdehnung.
Wird der an der Feder hängende Körper bewegt, so wirken mehrere Kräfte auf
ihn ein. Zum einen die Gewichtskraft, die bereits erwähnt wurde:
Fg = m · g
Weiters wirkt die ebenfalls bereits erwähnte Federkraft:
(4.23)
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
Ff = −k · (L + y)
35
(4.24)
Hier bezeichnet L wieder die Auslenkung der Feder, wenn sich der Körper in der
Gleichgewichtsposition befindet, während y die Auslenkung aus ebendieser bezeichnet. Ist y größer null, so bedeutet das hier eine Dehnung der Feder (Auslenkung
nach unten), andernfalls eine Stauchung.
Außerdem wirkt noch eine der Bewegung entgegengerichtete Kraft, die Reibung.
Sie ist proportional zur Geschwindigkeit der Bewegung und daher gegeben durch
dy
(4.25)
dt
Möglich ist noch eine weitere Kraft, die durch eine Bewegung der Federaufhängung auf dieses System übertragen werden kann. In dem Fall würde es sich
um eine erzwungene Schwingung handeln, die hier jedoch vorerst nicht betrachtet
werden soll. Die resultierende Kraft, die nun tatsächlich auf den Körper einwirkt,
ist durch die Summe aller vorhin aufgezählten Kräfte gegeben:
Fγ = −γ
d2 y
dy
= m · g − k · (L + y) − γ
(4.26)
2
dx
dt
Multipliziert man hier aus und verwendet die Beziehung 4.22, so ergibt sich
m·
d2 y
dy
+ γ + ky = 0
(4.27)
2
dx
dt
Gegeben sei eine Feder mit m = 1kg, k = 500N m−1 und γ = 8kgs−1 . Sie
wird aus der Ruhelage 2cm ausgelenkt und danach losgelassen. Welche Schwingung
beschreibt sie?
m·
Nach 4.27 ergibt sich die folgende Differentialgleichung:
dy
d2 y
+ 8 + 500y = 0
2
dx
dt
Daraus errechnet man die Lösungen der charakteristischen Gleichung
(4.28)
r2 + 8r + 500 = 0
√
r = −4 ± 16 − 500
r1 = −4 + 22 · ı, r2 = −4 − 22 · ı
(4.29)
Mit Hilfe dieser Werte erhält man nun nach dem am Anfang des Kapitels beschriebenen Verfahren
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
y = e−4t (A + B) cos(22 · t) + e−4t (A − B) sin(22 · t)
36
(4.30)
Aus der zweiten Aussage der Angabe kann man entnehmen, dass folgende Bedingungen gelten müssen:
¯
y|t=0
dy ¯¯
¯
=0
= 0, 02,
dx ¯t=0
(4.31)
Dadurch kann man dann die beiden Konstanten A und B bestimmen und erhält
1
· e−4t sin(22 · t)
(4.32)
275
Der zugehörige Graph zeigt, in welcher Weise sich der Körper bewegt. (vgl. Figure
4.1)
y = 0, 02 · e−4t cos(22 · t) +
y
0.02
0.015
0.01
0.005
0.2
0.4
0.6
0.8
1
t
-0.005
-0.01
Abbildung 4.1: Pendelbewegung
4.4.2
Schwebung (des Feder-Masse-Systems)
Ein aus der Musik bekanntes Phänomen ist die Schwebung. Es handelt sich dabei
um einen rasch auf- und abschwellenden (meist hohen) Ton. Er wird beispielsweise
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
37
erzeugt, wenn man zwei Stimmgabeln ähnlicher Frequenz gleichzeitig anschlägt.
Dieses Phänomen soll hier nun mathematisch untersucht werden.
Dazu sei wieder das Anfangswertproblem aus 4.4.1 betrachtet:
¯
d2 y
dy ¯¯
¯
=0
m 2 + k · y = F0 · cos(ρ · t), y|t=0 = 0,
dx
dx ¯t=0
(4.33)
Dabei handelt es sich der Einfachheit halber um eine ungedämpfte Schwingung.
Auch wenn solche Schwingungen in der Natur nicht vorkommen, so ist 4.33 dennoch eine akzeptable Näherung für verhältnismäßig kleine Dämpfungskoeffizienten.
Man kann ebenso erkennen, dass es sich bei 4.33 um eine inhomogene Differentialgleichung handelt. Die Schwingung ist also erzwungen, weshalb die Anfangsbedingungen, die das Feder-Masse-System im Gleichgewichtszustand beschreiben, keine
konstante Lösung zur Folge haben. Wichtig ist dabei noch die Festlegung, dass die
Anregungsfrequenz nicht gleich der Eigenfrequenz des Systems sein darf. Als Erstes
löst man nun die homogene Differentialgleichung und erhält
yh = c1 cos(ω · t) + c2 sin(ω · t)
(4.34)
Hier wurde (A + B) = c1 und (A − B) = c2 gesetzt und ω für den imaginären
Koeffizienten der (rein imaginären) Lösung. Um nun eine partikuläre Lösung zu finden, bietet es sich an, nicht das Verfahren der Variation der Parameter zu verwenden
sondern folgenden Ansatz zu wählen:
yp = a sin(ρ · t) + b cos(ρ · t)
(4.35)
Diese Lösung ist stark an die Lösung der homogenen Differentialgleichung angelehnt, allerdings mit einer anderen Periode. Sie entspricht der der Störfunktion, da
sie ja durch (mehrmaliges) Differenzieren nicht verändert wird. Somit erhält man
folgende Beziehung:
³
´
m −ρ2 a sin(ρ · t) − ρ2 b cos(ρ · t) + k(a sin(ρ · t) + b cos(ρ · t)) = F0 cos(ρ · t) (4.36)
Multipliziert man hier aus und führt einen Koeffizientenvergleich durch, so bekommt man die beiden folgende Beziehungen:
a (−mρ2 + k) = 0
b (−mρ2 + k) = F0
Daraus folgen die Lösungen
(4.37)
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
38
a = 0
b =
F0
k − mρ2
(4.38)
Subsituiert man 4.38 in 4.35, so erhält man die partikuläre Lösung von 4.33 und
damit auch die allgemeine Lösung:
y = c1 cos(ω · t) + c2 sin(ω · t) +
F0
cos(ρ · t)
k − mρ2
(4.39)
Nun sind noch die Konstanten zu den gegebenen Anfangsbedingungen zu berechnen. Das führt auf die beiden folgenden Gleichungen:
F0
= 0
k − mρ2
c2 = 0
(4.40)
F0
[cos(ρ · t) − cos(ω · t)]
k − mρ2
(4.41)
c1 +
Somit vereinfacht sich 4.39 zu
y=
Man kann nun folgende Beziehung verwenden:
cos(a ± b) = cos(a) · cos(b) ∓ sin(a) · sin(b)
a=
(ρ + ω)t
(ρ − ω)t
,b =
2
2
cos(a + b) − cos(a − b) = [cos(a) · cos(b) − sin(a) · sin(b)] −
[cos(a) · cos(b) + sin(a) · sin(b)]
2F0
(ρ + ω)t
(ρ − ω)t
sin
· sin
2
k − mρ
2
2
2F0
(ρ + ω)t
(ρ − ω)t
y = −
sin
· sin
2
2
m (ω − ρ )
2
2
y = −
Für die Werte m = 1kg, k = 121N m−1 , F0 = 20N und ρ = 9s−1 ergibt sich
dann die Schwingung in Figure 4.2.
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
39
y
1
0.5
2
4
6
8
t
-0.5
-1
Abbildung 4.2: Schwebung
4.4.3
Resonanz (des Feder-Masse-Systems)
Hier soll der Fall behandelt werden, der zuvor ausgeschlossen wurde. Die Anregungsfrequenz sei jetzt gleich der Eigenfrequenz des Systems. Dies führt zu einem
Resonanz“ genannten Effekt. Im Alltag kann man diesen Effekt bemerken, wenn
”
beispielsweise ein Lautsprecher einen Ton in seiner Eigenfrequenz wiedergeben soll.
In dem Fall beginnt der Lautsprecher zu dröhnen.
In Industrie und Technik spielt dieser Effekt auch eine große Rolle. Wie später
gezeigt wird nimmt die Amplitude der Schwingung bei Resonanz kontinuierlich zu.
Würde das beim Bau einer Turbine beispielsweise nicht bedacht, so würde diese
Turbine bei ihrer Inbetriebnahme zerstört werden. Es ist also äußerst wichtig, den
Resonanzeffekt genau zu kennen, um derartige Zwischenfälle zu verhindern.
Wiederum sei ein Anfangswertproblem ähnlich dem aus 4.4.1 betrachtet:
s

¯
d2 y
k 
dy ¯¯
m 2 + k · y = F0 · cos 
· t , y|t=0 = 0,
¯
=0
dx
m
dx ¯t=0
Die Lösung der homogenen Differentialgleichung ist bereits bekannt:
(4.42)
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
yh = c1 cos(ω · t) + c2 sin(ω · t)
40
(4.43)
Um nun eine partikuläre Lösung zu finden, muss der Ansatz, der bei der Schwebung verwendet wurde, etwas modifiziert werden:
yp = a · t · sin(ω · t) + b · t · cos(ω · t)
(4.44)
Dies ist notwendig, da die Anregungsfrequenz gleich der Eigenfrequenz ist und
daher ein entsprechender Ansatz nur wieder auf Lösungen der homogenen Differentialgleichungen führen würde (die Störfunktion ist selbst Lösung der homogenen
Differentialgleichung). Daher muss man sich desselben Verfahrens bedienen, das auch
bei doppelten Nullstellen der charakteristischen Gleichung angewendet werden muss.
Substitution von 4.44 in 4.42 führt auf
h
m −bω sin(ωt) + aω cos(ωt) − atω 2 sin(ωt) + aω cos(ωt)−
i
bω sin(ωt) − btω 2 cos(ωt) + k[at sin(ωt) + bt cos(ωt)] = F0 cos(ωt)
h
i
a 2ωm cos(ωt) − tω 2 m sin(ωt) + kt sin(ωt) +
h
i
b −2ωm sin(ωt) − tω 2 m cos(ωt) + kt cos(ωt)
= F0 cos(ωt)
am[2ω cos(ωt)] + bm[−2ω sin(ωt)] = F0 cos(ωt)
(4.45)
Ein Koeffizientenvergleich ergibt
F0
2mω
b = 0
a =
(4.46)
Die allgemeine Lösung von 4.42 lautet daher
F0
t sin(ω · t)
(4.47)
2mω
Zu den gegebenen Anfangsbedingungen müssen nur noch die Konstanten berechnet werden:
y = c1 cos(ω · t) + c2 sin(ω · t) +
c1 = 0
c2 = 0
KAPITEL 4. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ZWEITER ORDNUNG
41
In diesem Spezialfall sieht man besonders schön den Effekt der Resonanz. (vgl.
Figure 4.3)
y
10
5
2
4
6
-5
-10
Abbildung 4.3: Resonanz
8
10
t
Kapitel 5
Differentialgleichungssysteme
5.1
Was sind Differentialgleichungssysteme?
Differentialgleichungssysteme sind Systeme von Differentialgleichungen analog zu
normalen Gleichungssystemen. Sie beinhalten im Gegensatz zu den bisher betrachteten Differentialgleichungen mehrere unbekannte Funktionen mitsamt ihren Differentialquotienten. Daher sind sie im allgemeinen wesentlich schwerer zu lösen. Ein
Beispiel für ein solches Differentialgleichungssystem ist
dy1
= −y1 + 2y2
dx
dy2
= 3y1 + 5y2
dx
Im Allgemeinen wird bei Differentialgleichungssystemen, ähnlich wie bei normalen Gleichungssystemen, die Matrizenschreibweise bevorzugt. Sie ist wesentlich
kompakter und bietet die Möglichkeit, zu einer bestimmten Art von Differentialgleichungssystem eine allgemeine Lösung zu ermitteln. Das bedeutet, dass nicht bei
jedem derartigen Differentialgleichungssystem dieselben, meist langwierigen Matrizenoperationen durchgeführt werden müssen, sondern lediglich einige wenige Operationen zum Ziel führen. Hat man solche konstanten Abfolgen von Operationen gefunden, kann man außerdem Computer einsetzen, was die Arbeit deutlich beschleunigt
und vereinfacht. Das vorhergehende Beispiel für ein Differentialgleichungssystem in
Matrizenschreibweise ist
d
y=
dx
Ã
−1 2
3 5
!
Ã
y (dabei ist y der Vektor
y1
y2
!
)
Verwendet werden Differentialgleichungssysteme überall dort, wo mehrere
verschiedene Größen dynamisch von einander abhängen. Beispiele dafür sind
42
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
43
Bevölkerungsmodelle mit mehreren Populationen (beispielsweise eine Räuber- und
eine Beutepopulation), oder gekoppelte Schwingungen.
In weiterer Folge sei das lineare Differentialgleichungssystem der Form
d
d
y = Ay beziehungsweise
y = Ay + g(x)
dx
dx
betrachtet.
5.2
5.2.1
Begriffsdefinitionen und Hilfsbeweise
Lineare Abhängigkeit
Vektoren x(1) , x(2) , . . . , x(n) heißen linear abhängig, wenn es mindestens n Konstanten ungleich null gibt, so dass
c1 x(1) + c2 x(2) + . . . + cn x(n) = 0 gilt
Gibt es sie nicht, heißen die Vektoren linear unabhängig. In kompakter Form
angeschrieben entspricht das vorige Gleichungssystem
Xc = 0
wobei X die Matrix ist, deren Spalten gleich x(1) , . . . , x(n) sind. Die Aussage X
”
ist linear unabhängig“ ist damit äquivalent zur Aussage die Determinante von X
”
ist ungleich null“.
Wichtig ist die Frage der linearen Abhängigkeit mehrerer Vektoren, wenn es
um die allgemeine Lösung eines Differentialgleichungssystems geht. Sind nämlich
die gefundenen Lösungsvektoren linear abhängig, so können sie nicht als allgemeine
Lösung bezeichnet werden. Diese Aussage ist analog zu der Feststellung, dass mit
jeder Lösung einer Differentialgleichung auch jedes beliebige Vielfache der Lösung
der Differentialgleichung genügt (vgl. S. 27 f.). Sie folgt unmittelbar daraus, dass
man aus einem Differentialquotienten einen konstanten Faktor herausziehen kann.
5.2.2
Eigenwert und Eigenvektor
Gegeben sei folgendes (normales) Gleichungssystem:
Ax = y
(5.1)
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
44
Dieses Gleichungssystem erinnert entfernt an ähnliche Abbildungen, die eine Variable in eine andere überführen. Bei einem solchen Gleichungssystem spricht man
dabei von einer Transformation. Es liegt also der Schluss nahe y = λx zu setzen.
Damit ergibt sich
Ax = λx
(A − λI)x = 0
(5.2)
Hier bezeichnet I die Identitätsmatrix und 0 die Nullmatrix. Man kann erkennen,
dass das Gleichungssystem 5.2 nur dann von null verschiedene Lösungen besitzen
kann, wenn λ so gewählt werden kann, dass
|A − λI| = 0 gilt
(5.3)
Die Werte von λ, die Gleichung 5.3 genügen, nennt man Eigenwerte der
Matrix A. Die Lösungen des Gleichungssystems 5.2 nennt man die zugehörigen
Eigenvektoren.
Eine weitere interessante Tatsache ergibt sich, wenn man mit T die Matrix bezeichnet, deren Spalten die zu A gehörigen Eigenvektoren sind. Dann sind die Spalten der Matrix AT gleich Ax(1) , . . . Ax(n) , wie eine direkte Berechnung zeigt. Laut
Beziehung 5.2 gilt dann
³
AT = λ1 x(1) . . . λn x(n)
´
(5.4)
Nun ist 5.4 aber gleich TD, wenn



D=


λ1 0 . . . 0
0 λ2 . . . 0
..
..
..
.
.
.
0 0 . . . λn






(5.5)
die Diagonalmatrix der Eigenwerte bezeichnet. Daraus erhält man
AT = TD
(5.6)
Da zwei verschiedene Eigenvektoren immer linear unabhängig sein müssen, ist
T invertierbar und es ergibt sich
D = T−1 AT
(5.7)
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
5.3
45
Ein Einführungsbeispiel
Gegeben sei folgendes Differentialgleichungssystem:
d
y=
dx
Ã
4 9
3 −2
!
y
(5.8)
Bevor man nun an die Lösung dieses Systems geht, sollte man sich einige allgemeine Gedanken über derartige Differentialgleichungssysteme machen. Entsprechend dem Lösungsansatz für Differentialgleichungen zweiter Ordnung wählt man
auch bei Differentialgleichungssystemen der Form
d
y = Ay
dx
einen Ansatz mit der Exponentialfunktion:
y = ζerx
(5.9)
(5.10)
Substituiert man nun 5.9 in 5.8, so erhält man
rζerx = Aζerx
rζ = Aζ
(A − rI)ζ = 0
(5.11)
Wie man sieht, entspricht r den Eigenwerten von A, ζ entspricht dem zugehörigen Eigenvektor.
Verfährt man nun bei 5.8 wie beschrieben, erhält man die Eigenwerte
Ã
y = ζerx
Ã
!
4 9
rx
rζe
=
ζerx
3 −2
4−r
9
3
−2 − r
¯
¯ 4−r
¯
¯
¯
3
!
9
−2 − r
ζ = 0
¯
¯
¯
¯
¯
= 0
r2 − 2r − 35 = 0
r1 = −5 und r2 = 7
(5.12)
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
46
Mit diesen Eigenwerten erhält man die Eigenvektoren
Ã
9 9
3 3
!Ã
!
ζ1
ζ2
ζ1
ζ (1)
!
Ã
0
=
0
= −ζ2
Ã
!
1
=
−1
(5.13)
und
Ã
−3 9
3 −9
!Ã
ζ1
ζ2
!
Ã
=
0
0
!
ζ1 = 3ζ2
Ã
!
1
(2)
ζ
=
3
(5.14)
Mit Hilfe dieser beiden Eigenvektoren erhält man schließlich die beiden
Lösungsvektoren
Ã
y(1) = c1
1
−1
!
Ã
e−5x und y(2) = c2
1
3
!
e7x
(5.15)
deren Kombination die allgemeine Lösung von 5.8 ergibt. Sie lautet also
Ã
y = c1
1
−1
!
Ã
−5x
e
+ c2
1
3
!
e7x
(5.16)
Diese beiden Lösungen kann man nun auf verschiedene Weise grafisch veranschaulichen. Einerseits kann man jede Lösung für sich allein in einem Koordinatensystem betrachten. (vgl. Figure 5.1 und Figure 5.2)
Hier sind Lösungen für verschiedenen Konstanten c1 , c2 dargestellt. Schwarz sind
die beiden Kurven für c1 = c2 = 1 eingezeichnet.
Andererseits kann man auch die Lösung in einem y1 -y2 -Koordinatensystem darstellen, wobei x als Parameter betrachtet wird. (vgl. Figure 5.3)
5.4
Die allgemeine Lösung des homogenen Systems
Da die Betrachtung des allgemeinen Differentialgleichungssystems zuvor etwas vereinfacht dargestellt wurde, sei nun die vollständige Betrachtung angeführt. Aus
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
47
y1
8
6
4
2
-2
-1
1
2
x
-2
Abbildung 5.1: y1 = c1 e−5x + c2 e7x
d
y = Ay
dx
folgen über den allgemeinen Ansatz der Exponentialfunktion
y = ζerx
(5.17)
(5.18)
die zwei Gleichungen, die die Eigenwerte und Eigenvektoren von A liefern:
(A − rI)ζ = 0
|A − rI| = 0
(5.19)
(5.20)
Die Eigenwerte können nun eine von drei Formen annehmen:
• alle Eigenwerte sind einfach und reell
dieser Fall wurde bereits zuvor behandelt (vgl. S. 45 f.).
Hier unterscheidet man zwei Arten von Trajektorien.
Diejenigen, die im Einführungsbeispiel vorgekommen sind, treten bei Eigenwerten mit unterschiedlichen Vorzeichen auf, gibt es einen Sattelpunkt.
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
48
y2
8
6
4
2
-1
-2
1
2
x
-2
Abbildung 5.2: y2 = −c1 e−5x + 3c2 e7x
Die zweite Art tritt bei Eigenwerten mit demselben Vorzeichen auf, es gibt
einen Knotenpunkt. (vgl. Figure 5.4)
• es gibt konjugiert komplexe Eigenwerte
In jeder Gleichung können komplexe Lösungen immer nur konjugiert auftreten. Dadurch ergibt sich aus 5.19, dass auch die zugehörigen Eigenvektoren
konjugiert komplex sind. Mit den Ansätzen
r1 = λ + ıµ, r2 = λ − ıµ
ζ (1) = a + ıb, ζ (2) = a − ıb
erhält man
y(1) = (a + ıb)e(λ+ıµ)x
y(1) = eλx (a + ıb)(cos µx + ı sin µx)
y(1) = eλx (a cos µx − b sin µx) + ıeλx (a sin µx + b cos µx)
Als zweite Lösung erhält man
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
49
y2
4
2
-4
-2
2
y1
4
-2
-4
Abbildung 5.3: Die allgemeine Lösung von 5.16 im y1 -y2 -Koordinatensystem
y(2) = (a − ıb)e(λ−ıµ)x
y(2) = eλx (a − ıb)(cos µx − ı sin µx)
y(2) = eλx (a cos µx − b sin µx) − ıeλx (a sin µx + b cos µx)
die sich von der ersten allerdings nur durch den Faktor −1 unterscheidet. Das
legt den Schluss nahe, dass es sich bei den Summanden der ersten Lösung
um linear unabhängige Lösungen handelt. Um diese Vermutung zu beweisen,
muss die Determinante der beiden Summanden berechnet werden, wobei der
konstante Faktor ı weggelassen werden kann:
¯
¯ eλx a cos µx − eλx b sin µx eλx a sin µx + eλx b cos µx
¯
1
1
1
1
¯ λx
¯ e a2 cos µx − eλx b2 sin µx eλx a2 sin µx + eλx b2 cos µx
³
³
eλx a1 cos µx − eλx b1 sin µx
eλx a2 cos µx − eλx b2 sin µx
´³
´³
eλx a2 sin µx + eλx b2 cos µx
eλx a1 sin µx + eλx b1 cos µx
´
´
¯
¯
¯
¯
¯
−
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
50
y2
4
2
-4
-2
2
y1
4
-2
-4
Abbildung 5.4: Eigenwerte mit dem selben Vorzeichen
³
´
³
´
e2λx a1 a2 sin µx cos µx − a2 b1 sin2 µx + a1 b2 cos2 µx − b1 b2 sin µx cos µx
e2λx a1 a2 sin µx cos µx − a1 b2 sin2 µx + a2 b1 cos2 µx − b1 b2 sin µx cos µx
³
e2λx −a2 b1 sin2 µx + a1 b2 cos2 µx + a1 b2 sin2 µx − a2 b1 cos2 µx
−
´
e2λx (a1 b2 − a2 b1 )
Da dieser Wert für alle x ungleich null ist, sind die beiden Summanden der
ersten Lösung tatsächlich linear unabhängig und die allgemeine Lösung lautet
y = c1 eλx (a cos µx − b sin µx) + c2 eλx (a sin µx + b cos µx)
Typische Trajektorien sehen wie in Figure 5.5 aus (hier liegt ein Spiralpunkt
vor):
Sind die beiden Eigenwerte rein imaginär, so entarten“ die Trajektorien zu
”
geschlossenen Bahnen, die Lösungen sind dann periodisch.
• es gibt mehrfache Eigenwerte
Die erste Lösung für diesen Eigenwert ergibt sich aus analog zum ersten Punkt.
Für die zweite wählt man folgenden Ansatz:
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
51
y2
4
2
-4
-2
2
4
y1
-2
-4
Abbildung 5.5: Konjugiert komplexe Eigenwerte
y(2) = ζxerx + ηerx
Dieser Ansatz ähnelt dem für Differentialgleichungen zweiter Ordnung. Der
zweite Summand ergibt sich hier aus der Tatsache, dass sich der Vektor η vom
Vektor ζ durchaus um mehr als eine multiplikative Konstante unterscheiden
kann. Er ist damit nicht Teil der ersten Lösung und kann daher nicht, wie bei
Differentialgleichungen zweiter Ordnung, weggelassen werden. Für 3, 4, 5, . . .
-fache Eigenwerte muss man entsprechend einen Ansatz mit Potenzen von x
vom Grad 2, 3, 4, . . . wählen. Substituiert man nun y(2) in 5.17, so erhält man
ζerx + ζrxerx + ηrerx = A (ζxerx + ηerx )
Durch Koeffizientenvergleich ergibt sich das Gleichungssystem
ζr = Aζ
ζ + rη = Aη
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
52
(A − rI)ζ = 0
(A − rI)η = ζ
Die erste Gleichung zeigt, dass es sich bei ζ wiederum um den zum Eigenwert
gehörigen Eigenvektor von A handelt. Aus der zweiten Gleichung kann dann
der Vektor η bestimmt werden.
Typische Trajektorien sehen wie in Figure 5.6 aus (hier liegt ein Knotenpunkt
vor)
y2
4
2
-4
-2
2
4
y1
-2
-4
Abbildung 5.6: Mehrfache Eigenwerte
5.5
Fundamentalmatrizen und die Lösung von
Anfangswertproblemen
Gegeben sei folgendes Anfangswertproblem:
d
y = Ay mit der Anfangsbedingung y|x=x0 = y0
dx
(5.21)
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
53
Als erstes bestimmt man die Eigenwerte und die zugehörigen Eigenvektoren von
A, wie im vorigen Abschnitt beschrieben wurde. Daraus erhält man die Lösungen
y(1) , . . . y(n) . Die daraus gebildete Matrix

(1)
y
 1.

Ψ(x) =  ..
yn(1)
(n)
. . . y1
..
.
...




(5.22)
yn(n)
nennt man Fundamentalmatrix. Wichtig an ihr ist, dass sie immer invertierbar
ist, da ihre Spalten definitionsgemäß aus lauter linear unabhängigen Vektoren bestehen (zwei Lösungen, die nicht linear unabhängig sind, lassen sich durch Multiplikation mit einer Konstanten in einander überführen). Durch diese Matrix lässt sich
die Lösung des Differentialgleichungssystems 5.21 in sehr kompakter Form angeben:
y = Ψ(x)c
(5.23)
Aus den Anfangswerten ergibt sich nun die Bedingung
Ψ(x0 )c = y0
Da die Fundamentalmatrix invertierbar ist, lässt sich daraus der konstante Vektor
c durch
c = Ψ−1 (x0 )y0
(5.24)
ermitteln. Die Lösung des Anfangswertproblems 5.21 lautet also
y = Ψ(x)Ψ−1 (x0 )y0
(5.25)
In der Praxis ist es jedoch meist umständlich, die Inverse der Matrix Ψ(x) zu
finden, da sie im Allgemeinen sehr umfangreich ist. Daher bedient man sich häufig
einer speziellen Fundamentalmatrix. Ψ(x) genügt ja der Differentialgleichung
Ψ0 (x) = AΨ(x)
(5.26)
Da diese Differentialgleichung unendlich viele Lösungen hat, gibt es auch
entsprechend unendlich viele Fundamentalmatrizen. Man kann nun die spezielle
Lösungsmatrix wählen, die außer 5.26 auch noch in Anlehnung an 5.21 der Anfangsbedingung
Ψ(x0 ) = I
(5.27)
genügt. Bezeichnet man diese Lösung mit Φ(x), so vereinfacht sich 5.25 zu
y = Φ(x)y0
(5.28)
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
54
Diese Betrachtung ist vor allem dann sinnvoll, wenn man dasselbe System unter
verschiedenen Anfangsbedingungen studieren will.
5.6
Die Lösung durch Diagonalisieren
Interessant ist auch, dass das Lösen eines Differentialgleichungssystems dem Diagonalisieren einer Matrix entspricht. Gegeben sei wiederum folgendes Differentialgleichungssystem:
d
y = Ay
(5.29)
dx
Bezeichnet nun T die Matrix, deren Spalten die Eigenvektoren von A sind, so
kann man folgende Transformation definieren:
y = Tz
(5.30)
Substituiert man 5.30 in 5.29, so erhält man
d
z = ATz
dx
Da T invertierbar ist, kann man das zu
T·
(5.31)
³
´
d
z = T−1 AT z
(5.32)
dx
umformen. Am Anfang des Kapitels (vgl. S. 43 f.) wurde allerdings gezeigt, dass
−1
T AT der Diagonalmatrix D der Eigenwerte entspricht. Dadurch vereinfacht sich
5.32 zu
d
z = Dz
dx
Wie sich durch eine Probe zeigen lässt, ist



P(x) = 


er1 x 0 . . . 0
0 er2 x . . . 0
..
..
..
.
.
.
rn x
0
0 ... e
(5.33)






(5.34)
eine Fundamentalmatrix von 5.33. Aus 5.34 und 5.30 kann man nun eine Fundamentalmatrix des Systems 5.29 errechnen:
Ψ(x) = TP(x)
(5.35)
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
55
Zwar birgt dieses Verfahren für die Lösung eines homogenen Differentialgleichungssystems keine besonderen Vorteile, es ist jedoch wichtig für die Lösung inhomogener Differentialgleichungssysteme. Außerdem ist es bemerkenswert, dass das
Lösung von Differentialgleichungssystemen auch als ein Problem der Diagonalisierung von Matrizen aufgefasst werden kann.
5.7
Inhomogene Differentialgleichungssysteme
Das Differentialgleichungssystem
d
y = Ay + g(x)
dx
kann auf zwei Arten gelöst werden.
5.7.1
(5.36)
Lösung von separaten Differentialgleichungen
Zuerst sei eine Methode in Anlehnung an die vorigen Betrachtungen beschrieben.
Der Ansatz über die Transformation
y = Tz
(5.37)
führt auf
T·
d
z = ATz + g(x)
dx
³
´
d
z = T−1 AT z + T−1 g(x)
dx
d
z = Dz + h(x)
dx
(5.38)
wobei T−1 g(x) mit h(x) bezeichnet wurde. 5.38 ist nun ein System von ungekoppelten Differentialgleichungen, das heißt, in jeder Gleichung kommen nur eine
unbekannte Funktion und ihr Differentialquotient vor. Sie können daher separat
gelöst werden:
d
zi = ri zi + hi (x)
dx
Z
zi = eri x
e−ri x hi xdx + ci eri x
Die Lösung von 5.36 erhält man nun aus 5.39 gemäß der Relation 5.37:
(5.39)
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME

56

z1 . . . 0
 .
.. 
.
y =T·
.
. 


0 . . . zn
5.7.2
Variation der Parameter
Der zweite Weg läuft über die Variation der Parameter. Bei geeignet gewähltem
u(x) ist
y = Ψ(x)c + u(x)
(5.40)
eine Lösung von 5.36, wie die Probe zeigt (Ψ(x) ist eine Lösung des homogenen
Differentialgleichungssystems):
d
(Ψ(x)c + u(x)) = A(Ψ(x)c + u(x)) + g(x)
dx
d
d
(Ψ(x))c − AΨ(x)c = A · u(x) − (u(x)) + g(x)
dx
à dx
!
d
d
(Ψ(x)) − AΨ(x) c = A · u(x) − (u(x)) + g(x)
dx
dx
d
0 = A · u(x) − (u(x)) + g(x)
dx
(5.41)
Wählt man nun den Ansatz
u(x) = Ψ(x) · v(x)
(5.42)
so muss dieser 5.41 genügen. Durch Substitution erhält man
Ψ0 (x)v(x) + Ψ(x)v0 (x) = AΨ(x)v(x) + g(x)
(5.43)
Da Ψ(x) eine Fundamentalmatrix des homogenen Systems ist, vereinfacht sich
5.43 zu
AΨ(x)v(x) + Ψ(x)v0 (x) = AΨ(x)v(x) + g(x)
Ψ(x)v0 (x) = g(x)
v0 (x) = Ψ−1 (x)g(x)
Z
v(x) =
Ψ−1 (x)g(x) · dx
(5.44)
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
57
Die allgemeine Lösung lautet also:
Z
y = Ψ(x)c + Ψ(x)
Ψ−1 (x)g(x) · dx
(5.45)
Zu einem gegebenen Anfangsvektor erhält man die spezielle Lösung durch
y = Ψ(x)Ψ−1 (x0 )y0 + Ψ(x)
Z x
x0
Ψ−1 (t)g(t) · dt
(5.46)
Verwendet man nun wieder die spezielle Fundamentalmatrix Φ(x), für die
Φ(x0 ) = I gilt, so vereinfacht sich 5.46 zusätzlich:
y = Φ(x)y0 + Φ(x)
5.8
Z x
x0
Φ−1 (t)g(t) · dt
(5.47)
Grafische Verfahren
Viele Differentialgleichungssysteme sind exakt nicht (überall) lösbar. In diesem Fall
bedient man sich grafischer Verfahren, um einen Überblick über die Lösungen zu
bekommen. Wie bereits im Kapitel über Differentialgleichungen erster Ordnung
erwähnt wurde, interessieren einen dabei meist die kritischen Punkte und das Verhalten der Lösungen in deren Umgebung. Kennt man das Verhalten an diesen Punkten,
so ist es möglich, die Trajektorien dazwischen zu ergänzen, ohne dafür Differentialgleichungen lösen zu müssen. Diese Methode sei nun für Differentialgleichungssysteme mit zwei Unbekannten etwas näher erläutert. Gegeben sei das Differentialgleichungssystem
d
y = f (y)
(5.48)
dx
Hier liegt nun auch eine Vektorfunktion vor, das heißt, es handelt sich für jede
Variable um eine andere Funktion.
Besonders interessant sind all jene Punkte, an denen
f (y) = 0
gilt. Dort ist nämlich auch der Differentialquotient null, es liegt also ein
kritischer Punkt vor.
Im beschränkten Rahmen dieser Fachbereichsarbeit muss nun eine Einschränkung für die Differentialgleichungssysteme vorausgesetzt werden: die Systeme
müssen fastlinear sein. Derartige Systeme haben die Eigenschaft, dass der
nichtlineare Term von f im Verhältnis zu y in der Nähe der kritischen Punkte
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
58
vernachlässigbar klein wird.
Man kann nun 5.48 in einen linearen und einen nichtlinearen Anteil aufspalten:
d
y = Ay + g(y)
(5.49)
dx
Jetzt setzt man voraus, dass der zu untersuchende Punkt im Ursprung liegt. Diese
Annahme ist zulässig, da man den Punkt entsprechend in den Ursprung transformieren kann, sollte er sich nicht dort befinden. Da weiter vorausgesetzt wurde, dass
das System fastlinear ist, kann man in der Nähe des Ursprungs den nichtlinearen
Anteil vernachlässigen. Das führt auf ein lineares System, das mit den behandelten
Methoden gelöst werden kann. Man kann also zu jedem kritischen Punkt die Trajektorien in seiner Umgebung bestimmen. Daraus kann man schließlich die restlichen
Trajektorienstücke interpolieren. Obwohl es sich dabei dann nicht um eine exakte Lösung des Differentialgleichungssystems in der gesamten Ebene handelt, sind
doch die Lösungen in den kritischen Punkten hinreichend exakt. Man kann also
das Verhalten und die Art der Lösungen daraus ersehen. Beispielsweise kann man
erkennen, ob eine Lösung periodisch ist oder nicht. Benötigt man dennoch genaue
Zahlen, bleibt einem nichts anderes übrig, als das System numerisch zu lösen.
5.9
5.9.1
Anwendungsbeispiele
Der Schwingkreis
Der Schwingkreis ist der wohl bedeutendste technische Bestandteil eines jeden Senders oder Empfängers elektromagnetischer Wellen. Ohne ihn gäbe es also keine Radios, Fernseher oder Handys. Grund genug, ihn hier eingehender zu betrachten. Ein
Schwingkreis besteht aus drei Elementen, die parallel geschaltet sind: einem Kondensator, einem Widerstand und einer Spule. Bezeichnet man die Spannung, die
am Kondensator abfällt, mit U1 , die am Widerstand abfallende mit U2 und die an
der Spule abfallende mit U3 und analog die Stromstärken mit I1 , I2 , I3 , so gelten
folgende elementare Gleichungen im Stromkreis:
dU1
= I1
dt
U2 = R · I2
(5.50)
dI3
L·
= U3
dt
Hier bezeichnet C die Kapazität des Kondensators in Farad, R den Widerstand
in Ohm und L die Induktivität der Spule in Henry.
C·
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
59
Weiters sind in einer Parallelschaltung alle abfallenden Spannungen gleich,
während die Summe aller Stromstärken gleich null ist. Mit diesem Gesetzmäßigkeiten
lässt sich 5.50 in ein System von zwei Differentialgleichungen vereinfachen, die nur
mehr von der am Kondensator abfallenden Spannung und der Stromstärke in der
Spule abhängen:
dU1
U1
dI3
= I3 −
und L ·
= U1
dt
R
dt
Als Matrix hat das Differentialgleichungssystem 5.51 folgende Gestalt:
C·

(5.51)

1
1
Ã
!
− 
d
U
U
RC
C ·
=
(5.52)


1
I
dt I
0
L
Zunächst muss man die Eigenwerte der Matrix bestimmen. Das führt zu der
charakteristischen Gleichung und deren Lösungen:
Ã
r2 +
!
 −
1
1
·r+
RC
LC
= 0
s
1
1
1
±
−
r = −
2RC
4R2 C 2 LC
√
1
L − 4R2 C
√
r = −
±
2RC
2RC L
√
√
√
√
L + L − 4R2 C
L − L − 4R2 C
√
√
r1 = −
, r2 = −
(5.53)
2RC L
2RC L
Um die Eigenvektoren zu erhalten, muss man daher das folgende Gleichungssystem lösen:









√
√
L + L − 4R2 C
√
2RC L
1
L
√
√
− L + L − 4R2 C
√
2RC L
1
L
1
 −
+

RC

1
−
√
√C
L + L − 4R2 C
√
−
2RC L
1
−
√
√C
L + L − 4R2 C
√
−
2RC L

!
 Ã

ζ1
·
=0

ζ2


!
 Ã

ζ1
·
=0

ζ2

(5.54)
Da die Determinante der Koeffizientenmatrix null ist, bleibt ein Wert des Eigenvektors frei zu wählen. Der Einfachheit halber soll hier ζ2 gleich eins gesetzt werden.
Das ergibt für ζ1 :
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
60
√
√
− L + L − 4R2 C
1
√
· ζ1 =
C
2RC L
ζ1
√
2R L
√
= −√
L − L − 4R2 C
(5.55)
Nun empfiehlt es sich, den Bruch derart zu erweitern, dass man ζ1 in einen Realund einen Imaginärteil aufspalten kann (da es im Schwingkreis zu einer Schwingung
kommt, muss es einen Real- und einen Imaginärteil geben, die dann zu Sinus- und
Kosinusfunktionen führen):
√
√
√
2R L
L + L − 4R2 C
√
√
ζ1 = − √
·√
L − L − 4R2 C
L + L − 4R2 C
√ √
2RL + 2R L L − 4R2 C
ζ1 = −
L − (L − 4R2 C)
√
L + L2 − 4R2 CL
ζ1 = −
2RC
Damit lautet der Eigenvektor:


√


L
4R2 CL − L2
−


ζ (1) =  2RC  + ı ·  −

2RC
1
0
(5.56)
(5.57)
Aus 5.53 und 5.57 ergibt sich die allgemeine Lösung von 5.52:
Ã
U
I

!
t
− 2RC
= c1 e
t
c2 e− 2RC

à √
!
L
2C − L
4R
−

√
t −
2RC  cos −
2RC L
1



√
à √
!
4R2 CL − L2
2
4R C − L 
 −

√
t +

 sin −
2RC
2RC
L
1


à √
!
L
2C − L
4R
−

√
t −
2RC  sin −
2RC L
1



√
à √
!
4R2 CL − L2
2C − L
4R
 −


√
t 
(5.58)

 cos −
2RC
2RC
L
1
Anschaulicher wird diese Lösung, wenn man Zahlen statt der Konstanten
einsetzt:
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
61
Gegeben sei ein Kondensator mit C = 0.1F , ein Widerstand mit R = 10Ohm
und eine Spule mit L = 1Henry. Zum Zeitpunkt t = 0 werde eine Spannung von
U0 = 1V olt induziert und die Stromstärke sei I0 = 0Ampere.
Auch wenn dieses Beispiel in der Praxis nicht vorkommt (die Kapazität von Kondensatoren liegt normalerweise im Pikofarad-Bereich), so demonstriert es dennoch
besser die Schwingung eines derartigen Schwingkreises als Zahlenwerte, die weit über
einer Milliarde liegen. Mit diesen Werten vereinfacht sich 5.58 zu
Ã
U
I

!
− 2t
= c1 e
t
c2 e− 2

à √
!
1
39
−


t −
2 cos −
2
1


√ 
¶
µ
39
39 
 −


2  sin − 2 t  +
1


à √
!
1
39
−


t −
2 sin −
2
1


√ 
à √
!
39
39 
 −


2  cos − 2 t 
1
(5.59)
Mit den gegebenen Anfangsbedingungen ergibt das die in Figure 5.7 dargestellten
Kurven.
Hier sind die Spannungskurve und die der Stromstärke übereinander dargestellt.
Bei der schwarzen Kurve handelt es sich um die Spannung, bei der grauen um
die Stromstärke. Man kann erkennen, dass der tatsächliche Strom der Spannung
hinterherhinkt, dass also die Maxima verschoben sind, wie dies auch in der Realität
der Fall ist.
5.9.2
Das Räuber-Beute Modell
Ein sehr bekanntes Differentialgleichungssystem ist das Räuber-Beute-Modell nach
Lotka-Volterra. Es basiert auf zwei Populationen, einer Beute-Population und einer Räuber-Population. Die einzige Nahrung der Räuber ist dabei die BeutePopulation, diese besitzt allerdings unbegrenzte Nahrung. Das führt dazu, dass die
Beute-Population unbeschränkt wächst, wenn keine Räuber vorhanden sind. Umgekehrt stirbt die Räuber-Population aus, wenn keine Beute vorhanden ist. Zusätzlich
verändern sich die beiden Populationen noch proportional zu ihrem Zusammentreffen, die sich aus dem Produkt der beiden ergibt. Das führt auf das folgende
Differentialgleichungssystem:
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
62
U, I
1
0.5
4
2
6
8
10
t
-0.5
-1
Abbildung 5.7: Die Kurve aus 5.59 mit den Anfangswerten U |t=0 = 1 und I|t=0 = 0
dR
= −aR + αBR
dt
dB
= cB − γBR
dt
Die kritischen Punkte liegen hier bei
Ã
P1 = (0 | 0) und P2 =
c
γ
(5.60)
¯ !
¯a
¯
¯
¯α
(5.61)
In der Umgebung des Ursprungs können die nichtlinearen Terme in 5.60 vernachlässigt werden, was zu dem Differentialgleichungssystem
d
dt
Ã
R
B
!
Ã
=
−a 0
0 c
! Ã
·
R
B
!
mit den Eigenwerten
c−a
r=
±
2
s
c2 − 2ac + a2
+ ac
4
r1 = c und r2 = a
(5.62)
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
63
führt. Da die beiden Eigenwerte unterschiedliche Vorzeichen haben, liegt ein
Sattelpunkt vor. Man kann außerdem zeigen, dass er gerade so liegt, dass alle
Lösungen, die im ersten Quadranten beginnen, auch darin bleiben, was ja für ein
realitätsnahes Modell notwendig ist.
Um den zweiten kritischen Punkt betrachten zu können, muss nun das Koordinatensystem entsprechend transformiert werden.
R=R−
c
a
und B = B −
γ
α
ergeben
Ã
!
µ
¶Ã
dR
c
a
c
= −a R +
+α B−
R+
dt
γ
α
!γ
µ
¶
µ
¶Ã
dB
a
a
c
= c B+
−γ B−
R+
dt
α
α
γ
Ã
!
dR
ac
a
c
ac
= −aR −
+ α BR − R + B +
dt
γ Ã
α
γ
αγ
!
dB
ac
a
c
ac
= cB +
− γ BR − R + B +
dt
α
α
γ
αγ
!
dR
cα
=
B + αBR
dt
γ
(5.63)
dB
aγ
= − R − αBR
dt
α
Nun kann in 5.63 der nichtlineare Term wiederum vernachlässigt werden. Daraus
ergibt sich das Differentialgleichungssystem
d
dt
Ã
R
B
!

0
=

aγ
−
α
cα  Ã
!
R
γ 
·
B
0
mit den Eigenwerten
r1 =
√
√
−ac und r2 = − −ac
(5.64)
Da die beiden Eigenwerte rein imaginär sind, handelt es sich bei dem zweiten
kritischen Punkt um eine Spezialform des Spiralpunkts, nämlich um ein Zentrum
geschlossener Kurven, die Ellipsen ähneln.
Mit 5.60 lässt sich bereits ein Richtungsfeld konstruieren, mit Hilfe dessen sich
die bis jetzt formulierten Vermutungen bestätigen lassen. (vgl. Figure 5.8)
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
64
R
c
γ
a
α
B
Abbildung 5.8: Das Richhtungsfeld von 5.60 mit den kritischen Punkten und Nullgeraden
Es sind hier die beiden kritischen Punkte markiert, ebenso wie die Nullgeraden,
auf denen einer der Differentialquotienten null ist. Man sieht außerdem, dass es sich
beim Ursprung um einen Sattelpunkt handelt und beim zweiten kritischen Punkt
um ein Zentrum.
Das Differentialgleichungssystem 5.60 kann man in der Form nicht lösen. Man
kann jedoch den Quotienten der beiden Differentialquotienten bilden, was
R · (αB − a)
dR
=
dB
B · (c − γR)
(5.65)
ergibt. Dabei handelt es sich um eine separierbare Differentialgleichung erster
Ordnung. Durch Umformen erhält man
αB − a
c − γR
dR =
dB
(5.66)
R
B
Integration liefert nun das Ergebnis, das allerdings nicht explizit darstellbar ist:
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
65
c ln R − γR − αB + a ln B = C
(5.67)
Betrachtet sei nun ein spezielles Räuber-Beute Modell:
Es seien folgende Parameter für die Populationen gegeben: a = 0, 75, α = 0, 25,
c = 1 und γ = 0, 5.
Damit ist das Ergebnis implizit gegeben durch
3
1
1
ln B − R − B = C
4
2
4
Zu 5.68 gehören die in Figure 5.9 dargestellten Trajektorien:
ln R +
(5.68)
R
5
4
3
2
1
2
4
6
8
B
Abbildung 5.9: Die Trajektorien von 5.68
Betrachtet man eine Räuberpopulation der Anfangsgröße 0, 75 und eine Beutepopulation der Anfangsgröße 2, so kann man aus den Trajektorien zusätzlich die
Graphen der beiden Populationen extrapolieren. (vgl Figure 5.10)
Hier ist die Räuberpopulation schwarz und die Beutepopulation grau dargestellt.
Man kann erkennen, dass die Räuber-Population der Beute-Population hinterherhinkt. Außerdem ist aus den Graphen ersichtlich, dass die Räuber-Population
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
66
R, B
7
6
5
4
3
2
1
5
10
15
20
25
30
t
Abbildung 5.10: Die Graphen der Räuber- und Beute-Population
relativ schnell anwächst, wenn genügend Beute vorhanden ist, allerdings relativ langsam schrumpft. Bei der Beute-Population ist es genau umgekehrt. Auch interessant
ist die unterschiedliche Amplitude, die sich aus den Parametern ergibt.
5.9.3
Epidemien
Auch die Ausbreitung von Epidemien lässt sich mit Hilfe von Differentialgleichungssystemen beschreiben. Allerdings muss hier immer bedacht werden, dass sie einen
idealisierten Fall beschreiben: unvorhergesehene Umwelteinflüsse, die beispielsweise
das Immunsystem schwächen, werden unter anderem nicht berücksichtigt. Außerdem beschränkt sich die Betrachtung auf eine relativ kurze Zeitspanne, es kann also
nicht angegeben werden, wie viele Menschen zu einem bestimmten Tag des Jahres
Schnupfen haben. Die Werte, die man erhält, sind gute Richtwerte, können aber
niemals exakte Angaben über die Ausbreitung machen.
Zur Beschreibung einer Epidemie, die sich in einer Population ausbreitet, ist es
sinnvoll, diese Population in drei Klassen aufzuteilen: die Gesunden G, die noch
nicht infiziert wurden, dies aber noch werden können, die Kranken K, die bereits
infiziert wurden, und die Immunen I, die die Krankheit bereits hinter sich haben
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
67
und nun immun oder tot sind.
Nun müssen einige Annahmen getroffen werden:
• Die Zahl derer, die infiziert werden, ist proportional zum Produkt der Gesunden und Kranken. Dabei wird angenommen, dass bei jedem Treffen mit einer
gewissen Wahrscheinlichkeit ein Gesunder infiziert wird. Weiters wird dabei
angenommen, dass es eine Vermischung aller Klassen gibt, wodurch etwa soziologische Faktoren außer Acht gelassen werden.
• Aus der Klasse der Kranken gehen mit einem konstanten Faktor Individuen
in die Klasse der Immunen über.
• Die Population ist konstant.
Diese Annahmen liefern das folgende Differentialgleichungssystem:
dG
= −rGK
dt
dK
= rGK − pK
dt
dI
= pK
dt
Weiters können die folgenden Anfangszustände angenommen werden:
G|t=0 = G0 > 0, K|t=0 = K0 > 0, I|t=0 = 0, G + K + I = N
(5.69)
(5.70)
Man kann erkennen, dass die Anzahl der Kranken mit der Proportionalitätskonstante r zu- und mit der Proportionalitätskonstante p abnimmt. Wichtig ist
der Quotient aus p und r, es stellt einen kritischen Wert dar. Solange die Zahl der
Gesunden über diesem Wert liegt, nimmt die Zahl der Kranken zu. Unterschreitet
jedoch die Zahl der Gesunden diesen Wert, so hat die Anzahl der Kranken ein Maximum erreicht und beginnt wieder zu fallen. Ist dieser Wert also hoch oder werden
gleich zu Beginn genügend“ Individuen krank, so kommt es zu keiner Epidemie.
”
Außerdem sieht man, dass die Zahl der Gesunden kontinuierlich abnimmt, während
die Zahl der Immunen kontinuierlich zunimmt.
Interessant sind nun die Grenzwerte für t → ∞. Da die Zahl der Gesunden
monoton abnimmt, null aber nicht unterschreiten kann, muss für G dieser Grenzwert
existieren. Analog nimmt die Zahl der Immunen monoton zu, kann aber die als
konstant angenommen Größe N der Population nicht überschreiten. Der Grenzwert
existiert also auch für I. Aus der Tatsache, dass die Summe von G, K und I konstant
ist, folgt, dass auch der Grenzwert für K existiert. Diese Grenzwerte sind deshalb
wichtig, weil sie zeigen, wie sich die Epidemie im Endeffekt entwickelt. In diesem
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
68
Beispiel ist bereits aus der Angabe ersichtlich, dass die Zahl der Kranken gegen null
gehen wird, sobald die Zahl der verbliebenen Gesunden hinreichend klein ist. Daher
definiert man das Verhältnis der Immunen zur gesamten Population als Intensität
der Epidemie.
Eine höchst interessante Aussage über die Lösung erhält man, wenn man die
erste Differentialgleichung von 5.69 durch die dritte dividiert. Das ergibt nämlich
dG
r
=− G
dI
p
(5.71)
Bei 5.71 handelt es sich um eine separierbare Differentialgleichung erster Ordnung. Die Lösung lautet
r
G = G0 · e− p I
(5.72)
Es gilt nun sicher für alle t
r
r
G0 · e− p I > G0 · e− p N > 0
was gleichbedeutend ist mit der Aussage, dass niemals alle Gesunden auch krank
werden. Die Epidemie endet also nicht auf Grund des Fehlens von ansteckungsgefährdeten Individuen.
Um näheren Aufschluss über das Verhalten der Epidemie zu erhalten, liegt es
daher nahe, den Quotienten aus der ersten und der zweiten Differentialgleichung von
5.69 zu betrachten:
dK
p
= −1 +
(5.73)
dG
rG
Es handelt sich dabei wieder um eine separierbare Differentialgleichung erster
Ordnung. Daher erhält man
p − rG
dG = dK
rG
Z G
Z K
p − rx
dx =
dy
rx
G0
K0
p
G
K = K0 + ln
− G + G0
r G0
p
G
= N − G + ln
r G0
(5.74)
Durch 5.74 lassen sich nun die Trajektorien in der G-K-Ebene darstellen. (vgl.
Figure 5.11)
KAPITEL 5. DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME
69
K
1
0.8
0.6
0.4
0.2
0.2
0.4
0.6
0.8
1
G
Abbildung 5.11: Die Trajektorien von 5.74 in der G-K-Ebene
Die Trajektorien sind hier für N = 1 und p/r = 0, 3 (gestrichelte Linie) dargestellt. Bei 0, 3, also gerade beim kritischen Wert, haben all diese Kurven ein Maximum. Weiters sieht man, dass tatsächlich alle Epidemien, bei denen die Anzahl
der Gesunden bereits am Anfang kleiner ist als der kritische Wert, sofort abflauen.
Auch das überraschende Ergebnis, dass bis zum Schluss noch gesunde Individuen
vorhanden sind, wird bestätigt.
Kapitel 6
Nachwort
Hatte ich zu Beginn der Arbeit Bedenken, mein Wunschthema könnte zu wenig ergiebig für eine Fachbereichsarbeit sein, so wurde ich schnell eines Besseren belehrt.
Bestätigt hat sich hingegen die Annahme, dass Differentialgleichungen in sehr vielen
Bereichen angewendet werden können. Egal, ob man eine mechanische Schwingung,
einen technischen Schwingkreis, die Entwicklung einer oder mehrerer Populationen
oder die Ausbreitung von Epidemien beschreiben will - man braucht Differentialgleichungen oder Differentialgleichungssysteme! In Naturwissenschaft und Technik sind
sie unverzichtbar. Da ich vorhabe, an der Technischen Universität Physik zu studieren, hoffe ich, mit der vorliegenden Arbeit einen ersten Schritt in diese Richtung
getan zu haben.
70
Abbildungsverzeichnis
2.1
2.2
Das Richtungsfeld von y = c · ex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Einige Lösungen von y = c · ex im Richtungsfeld . . . . . . . . . . . .
3.1
Das Richtungsfeld von
7
8
3.5
dy
x2 + 4x − 1 y
=
·
. . . . . . .
dx
x2 − 1
2
d
Der Graph und das Richtungsfeld von N (t) = r · N (t)
dt
d
N (t) gegen N (t) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
dt
d
Das Richrungsfeld von N (t) = f (N (t)) · N (t) . . . . .
dt
Die Kurve m = 0, 063685634 · e−0,000120968·t . . . . . . . .
4.1
4.2
4.3
Pendelbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Schwebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
3.2
3.3
3.4
. . . . . . . 11
. . . . . . . 19
. . . . . . . 21
. . . . . . . 22
. . . . . . . 25
y1 = c1 e−5x + c2 e7x . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
y2 = −c1 e−5x + 3c2 e7x . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die allgemeine Lösung von 5.16 im y1 -y2 -Koordinatensystem . . . .
Eigenwerte mit dem selben Vorzeichen . . . . . . . . . . . . . . . .
Konjugiert komplexe Eigenwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Mehrfache Eigenwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Kurve aus 5.59 mit den Anfangswerten U |t=0 = 1 und I|t=0 = 0
Das Richhtungsfeld von 5.60 mit den kritischen Punkten und Nullgeraden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.9 Die Trajektorien von 5.68 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.10 Die Graphen der Räuber- und Beute-Population . . . . . . . . . . .
5.11 Die Trajektorien von 5.74 in der G-K-Ebene . . . . . . . . . . . . .
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
5.6
5.7
5.8
71
.
.
.
.
.
.
.
47
48
49
50
51
52
62
.
.
.
.
64
65
66
69
Literaturverzeichnis
[1] BREUER, Hans: dtv-Atlas zur Physik, 2 Bde. Verlag dtv 5. Auflage, München
1996
[2] JAROS, Albert, Alfred Nussbaumer, Peter Nussbauer: Basiswissen 1; Verlag
öbv& hpt, Wien 2000
[3] JAROS, Albert, Alfred Nussbaumer, Peter Nussbauer: Basiswissen 2; Verlag
öbv& hpt, 2. Auflage, Wien 2000
[4] WALTER, Wolfgang: Gewöhnliche Differentialgleichungen; Springer Verlag
Berlin Heidelberg, New York, 7. Auflage, 2000
[5] BOYCE, W. E., R. C. DiPrima: Gewöhnliche Differentialgleichungen; Spektrum Akademischer Verlag 1995
[6] REINHARDT, Fritz, Heinrich Soeder: dtv-Atlas zur Mathematik; dtv, 10. Auflage
[7] STÖCKER, Horst, Robert Mnzel: Taschenbuch der Schulmathematik; Verlag
Harri Deutsch; Frankfurt/Main 1995
[8] WALTER, Wolfgang: Analysis 1; Verlag Springer, 5. Auflage 1999
CD-ROM
MATHEMATICA 4.1 FOR STUDENTS, Wolfram Research
72
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