UNIVERSITÄT DES SAARLANDES FACHRICHTUNG 6.1 – MATHEMATIK Prof. Dr. Jörg Eschmeier M. Sc. Sebastian Langendörfer Zusatzunterlagen zur Vorlesung Analysis II e Sommersemester 2014 Integralrechnung Dieses Blatt enthält verschiedene Informationen zur Integralrechnung. Es ist gedacht für diejenigen, die den entsprechenden Stoff nicht in ihrer Analysis I hatten. Für Beweise und weiterführende Informationen sei auf Kapitel 16 und 17 des Skripts zur Analysis I aus dem Wintersemester 13/14 auf unserer Homepage verwiesen. Im Folgenden wollen wir die Größe von Flächen zwischen dem Graphen einer Funktion f : [a, b] → R und der x-Achse berechnen. Die entscheidende Idee dabei besteht darin, diese Flächen zu approximieren durch die entsprechend gebildeten Flächen geeigneter stückweiser konstanter Funktionen. Definition 0.1 Seien a, b ∈ R mit a < b. Eine Teilung des Intervalls [a, b] ist eine endliche Folge T = (ti )ni=0 in R mit α = t0 < t1 < . . . < tn = b. Ist S = (si )m i=0 eine weitere Teilung von [a, b], so heißt S feiner als T (geschrieben als S ≥ T ), falls {tj ; j = 0, . . . , n} ⊂ {si ; i = 0, . . . , m}. n In der obigen Situation ist S = (si )m i=0 feiner als T = (tj )j=0 genau dann, wenn es Indizes 0 = i0 < i1 < . . . < in = m gibt so, dass tj = sij für j = 0, . . . , n ist. Die oben angesprochenen stückweise konstanten Funktionen sind die sogeannten Treppenfunktionen: Definition 0.2 Eine Funktion φ : [a, b] → R (a, b ∈ R, a < b) heißt Treppenfunktion, falls es eine Teilung T = (ti )ni=0 von [a, b] gibt so, dass φ|]ti−1 ,ti [ konstant ist für jedes i = 1, . . . , n. In diesem Fall nennt man φ Treppenfunktion bezüglich T . Für diese Funktionen ist es wegen ihrer einfachen Bauart, einfach ein sinnvolles Integral zu definieren. Definition 0.3 Für φ ∈ T ([a, b]) definiert man Z b φdx = a n X ci (ti − ti−1 ) (Integral von φ über [a, b]), i=1 falls φ Treppenfunktion bezüglich der Teilung T = (ti )ni=0 von [a, b] ist und φ|]ti−1 ti [ ≡ ci ist für jedes i = 1, . . . , n. 1 Dabei ist das so definierte Integral nicht von der konkret gewählten Teilung T abhängig. Damit ist es uns möglich, für allgemeine Funktionen f : [a, b] → R den Begriff der Integrierbarkeit zu definieren. Definition 0.4 Sei f : [a, b] → R eine beschränkte Funktion. (a) Man nennt b∗ Z b Z ψdx; ψ ∈ T ([a, b]) mit ψ ≥ f f dx = inf a a das Oberintegral von f und Z b Z b f dx = sup φdx; φ ∈ T ([a, b]) mit φ ≤ f a∗ a das Unterintegral von f . (b) Die Funktion f heißt (Riemann-) integrierbar, falls Z b Z b∗ f dx. f dx = a∗ a Rb In diesem Fall definiert man das (Riemann-) Integral Ober- und Unterintegrals von f . Wir schreiben a f dx als den gemeinsamen Wert des RI([a, b]) = {f ; f : [a, b] → R ist Riemann-integrierbar} für die Menge aller Riemann-integrierbaren Funktionen auf [a, b]. Man kann sich überlegen, dass eine große Klasse von Funktionen Riemann-integrierbar ist. Satz 0.5 (a) Jede stetige Funktion f : [a, b] → R ist Riemann-integrierbar. (b) Jede monotone Funktion f : [a, b] → R ist Riemann-integrierbar. Die Menge der Riemann-integrierbaren Funktionen lässt sich mit etwas mehr Struktur versehen. Es gilt: Satz 0.6 Die Menge RI([a, b]) der Rieman-integrierbaren Funktionen bildet einen R-Vektorraum bezüglich der punktweise definierten Addition und Skalarmultiplikation. Für das Integral gilt (a) Die Abbildung Z RI([a, b]) → R, f 7→ b f dx a ist R-linear. (b) Für f, g ∈ RI([a, b]) mit f ≤ g auf [a, b] ist (Monotonie des Integrals) Z b Z b f dx ≤ g dx. a a Die Menge RI([a, b]) ist stabil bezüglich einiger weiterer Operationen. 2 Satz 0.7 Für Riemann-integrierbare Funktionen f, g : [a, b] → R und jede reelle Zahl p ∈ [1, ∞) gilt: (a) f + , f − ∈ RI([a, b]), wobei f + (t) = max(0, f (t)), f − (t) = max(0, −f (t)) für t ∈ [a, b] sei. Rb Rb (b) |f | ∈ RI([a, b]) und | a f dx| ≤ a |f |dx ≤ kf k[a,b] (b − a), (c) max(f, g), min(f, g) ∈ RI([a, b]), (d) |f |p ∈ RI([a, b]), (e) f g ∈ RI([a, b]). Die Abschätzung aus Teil b) nennt man manchmal auch Standardabschächtzung. Der nächste Satz besagt, dass für jede stetige Funktion f : [a, b] → R eine Stelle t ∈ R existiert so, dass die Fläche zwischen dem Graphen von f und der x-Achse gleich der Fläche des Rechteckes mit Höhe f (t) und Länge b − a ist. Satz 0.8 (Mittelwertsatz der Integralrechnung) Ist f : [a, b] → R stetig, so gibt es ein t ∈ [a, b] Rb mit a f dx = f (t) (b − a). Wir wollen auch mit Riemann-Integralen arbeiten, bei denen die Grenzen nicht in der richtigen Reihenfolge sind. Definition 0.9 Seien a, b ∈ R und f : [min(a, b), max(a, b)] → R eine beliebige Funktion. Wir definieren Z b f dx = 0 für a = b a und setzen Z b Z f dx = − a a f dx, b falls b < a ist und f : [b, a] → R Riemann-integrierbar ist. Mit dieser Schreibweise kann man sich überlegen, dass man ein Riemann-Integral problemlos bezüglich seiner Grenzen aufteilen kann. Bemerkung 0.10 Seien a, b, c ∈ R reelle Zahlen und sei f : [min(a, b, c), max(a, b, c)] → R eine Funktion. Ist f Riemann-integrierbar oder ist a = b = c, so gilt Z b Z f dx = a c Z f dx + a b f dx. c Sei I im Folgenden immer ein beliebiges Intervall in R (offen, halboffen, abgeschlossen, beschränkt oder unbeschränkt), das mindestens zwei verschiedene reelle Zahlen enthält. Den aus der Schule bekannten Zusammenhang zwischen Differential- und Integralrechnung stellt der folgende Satz her. 3 Satz 0.11 Sei f : I → R stetig und sei a ∈ I ein fester Punkt. Dann ist die Funktion Z x f (t)dt F : I → R, F (x) = a differenzierbar auf I mit F 0 (x) = f (x) für alle x ∈ I. Sei f : I → R eine Funktion. Wir nennen eine differenzierbare Funktion F : I → R Stammfunktion für f , falls F 0 = f auf ganz I gilt. Sind F, G : I → R Stammfunktionen zu f , so ist F − G konstant auf I. Damit kann aus dem obigen Resultat den folgenden Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung gewinnen. Satz 0.12 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung) Sei f : I → R stetig und sei F : I → R eine Stammfunktion für f . Dann gilt für beliebige Zahlen a, b ∈ I Z b f dx = F (b) − F (a). a Wir führen folgenden Schreibweise ein, um mit solchen Stammfunktionen umzugehen. Definition 0.13 (a) Ist F : I → R eine Funktion, so schreibt man für beliebige a, b ∈ I F |ba = F (b) − F (a). (b) Sind f, F : D → R Funktionen auf einer Menge ∅ 6= D ⊂ R, so schreibt man Z f dx = F (x) (x ∈ D), falls F |J Stammfunktion zu f |J für jedes abgeschlossene endliche Intervall J ⊂ D positiver Länge ist. Einige wichtige Beispiele sind gegeben durch (b) (c) (d) (e) (f) (g) n+1 xn dx = xn+1 (x ∈ R) R n+1 n ∈ Z \ {−1} : xn dx = xn+1 (x ∈ R \ {0}) R 1 x dx = log |x| (x ∈ R \ {0}) R α+1 α ∈ R \ {−1} : xα dx = xα+1 (x > 0) R x e dx = ex (x ∈ R) R ax a ∈ R∗+ \ {1} : ax dx = log (x ∈ R) a R R cos x dx = sin x, sin x dx = − cos x (x ∈ R) (a) n ∈ N : R (h) Mit der Kettenregel folgt Z π tan x dx = − log | cos x| (x ∈ R \ {(2n + 1) ; n ∈ Z}) 2 Z cot dx = log | sin x| (x ∈ R \ πZ). 4 (i) R √ 1 1−x2 (j) R 1 1+x2 (k) R log x dx = x log x − x (l) R cos2 dx = 12 (x + cos x sin x) (Produktregel) (m) R sin2 dx = 21 (x − cos x sin x) (Produktregel) dx = arcsin x dx = arctan x (|x| < 1) (x ∈ R) (14.13) (14.13) (x > 0) (Produktregel) Die wichtigsten Regeln um Riemann-Integrale zu berechnen, sind die Substitutionsregel und die partielle Integration. Satz 0.14 (Substitution) Seien wie zuvor I, J ⊂ R beliebige Intervalle, die beide mindestens zwei verschiedene Punkte enthalten. Ist f : I → R stetig und ist φ : J → R stetig differenzierbar mit φ(J) ⊂ I, so gilt für beliebige a, b ∈ J Z b Z φ(b) 0 f (φ(t))φ (t)dt = f (x)dx. a φ(a) Bemerkung: (a) Etwas suggestiver kann man die Substitutionsformel schreiben als Z φ(b) Z b dφ(t) f (x)dx = f (φ(t)) dt. dt φ(a) a Man substituiere x durch φ(t) und “erweitere mit dt“. (b) Setzt man in zusätzlich voraus, dass φ : J → I bijektiv ist, so gilt Z d Z φ−1 (d) dφ(t) f (x)dx = f (φ(t)) dt dt c φ−1 (c) für alle c, d ∈ I. Satz 0.15 (Partielle Integration) Seien f, g : I → R stetig differenzierbare Funktionen und seien a, b ∈ I beliebig. Dann gilt Z b Z b b 0 f g dx = f g a − f 0 g dx a a Zum Abschluss dieses Blattes nun noch jede Menge Beispiele zur Anwendung dieser beiden Regeln. Sei F : R → R eine stetige Funktion und seien a, b, c ∈ R, n ∈ N. (a) Die Substitutionsregel angewendet mit φ : R → R, φ(t) = t + c zeigt, dass Z b+c Z b Z b d(t + c) F (x)dx = F (t + c) dt = F (t + c)dt. dt a+c a a (b) Für c ∈ R \ {0} folgt mit φ : R → R, φ(t) = ct Z cb Z b Z b d(ct) dt = c F (ct)dt. F (x)dx = F (ct) dt ca a a 5 (c) Mit φ : R → R, φ(t) = tn+1 erhält man Z b n t F (t n+1 a 1 )dt = n+1 Z b n+1 F (t a dtn+1 1 ) dt = dt n+1 Z bn+1 F (x)dx. an+1 (d) Sei J ⊂ R ein Intervall wie in und φ : J → R differenzierbar mit φ(t) 6= 0 für alle t ∈ J. Dann gilt für alle a, b ∈ J Z b 0 b φ (t) dt = log |φ| a . a φ(t) Zur Begründung beachte man, dass nach dem Zwischenwertsatz entweder φ(J) ⊂ (0, ∞) oder φ(J) ⊂ (−∞, 0) ist. Im ersten Fall sei I = (0, ∞), im zweiten Fall setzen wir I = (−∞, 0). Mit der Substitutionsregel angewendet mit f : I → R, f (x) = x1 folgt Z a b φ0 (t) dt = φ(t) b Z 0 Z φ(b) f (φ(t))φ (t)dt = φ(a) a b φ(b) f (x)dx = log |x| φ(a) = log |φ| . a Wählt man etwa für φ die Funktion φ : (0, π) → R, φ(t) = sin t, so erhält man als konkretes Beispiel für a, b ∈ (0, π) Z b Z b b b cos t cot t dt = dt = log | sin t| a = log(sin t)a . a sin t a (e) (Partialbruchzerlegung) Seien r, s, α, β ∈ R mit α 6= β. Wir wollen für a, b ∈ R mit α, β ∈ / [a, b] das Integral Z b rx + s dx I= a (x − α)(x − β) berechnen. Dazu zeigen wir zunächst, dass reelle Zahlen A, B existieren mit rx + s A B = + für alle x ∈ [a, b]. (x − α)(x − β) x−α x−β Offensichtlich ist die Gültigkeit dieser Darstellung äquivalent zu (A + B)x − (αB + βA) = rx + s für alle x ∈ [a, b]. Indem man beide Seiten nach x ableitet, sieht man, dass diese Identität äquivalent ist zur Gültigkeit des Gleichungssystems A + B = r und αB + βA = −s oder zu B = r − A und α(r − A) + βA = −s. Also sind die eindeutigen Lösungen unseres Problems gegeben durch A= r(α − β) − (αr + s) βr + s αr + s und B = = . α−β α−β β−α Als Anwendung von Teil (d) erhält man die Formel Z b Z b b b dx dx I=A +B = A log |x − α|a + B log |x − β|a a x−α a x−β mit A und B wie oben. Als Spezialfall berechnen wir für a, b, γ ∈ R mit γ, −γ ∈ / [a, b] ∪ {0} das Integral Z b Z b dx dx I= = . 2 − γ2 x (x − γ)(x + γ) a a 6 Mit r = 0, s = 1, α = γ, β = −γ erhält man A = 1 2γ , 1 B = − 2γ und b x − γ b 1 1 . (log |x − γ| − log |x + γ|) a = log I= 2γ 2γ x + γ a (f) Ist a < b und ist φ : [a, b] → R stetig differenzierbar, so erhält man mit der Substitutionsregel angewendet auf die Funktion f : R → R, f (x) = xn die Formel b Z Z n 0 φ(b) φ(t) φ (t)dt = a xn dx = φ(a) 1 (φ(b)n+1 − φ(a)n+1 ). n+1 (g) Mit I = R∗+ , f (x) = log x, g(x) = x erhält man für 0 < a < b b Z b Z (log x) log x dx = a a Z b b b d d x dx = (x log x) a − log x x dx = x(log x − 1)a . dx dx a Insbesondere gilt im Sinne von Definition 0.13 (b) Z log x dx = x(log x − 1) (x > 0). (h) Seien a, b ∈ R. Für I = R, f (x) = arctan x, g(x) = x erhält man Z b Z arctan x dx = a Insbesondere ist arctan x a R b Z b 1 b 2x b d 1 x dx = x arctan xa − dx = (x arctan x− log(1+x2 ))a . 2 dx 2 a 1+x 2 arctan dx = x arctan x − 12 log(1 + x2 ) auf ganz R. 7