Gerd Nollmann (Hrsg.) Sozialstruktur und Gesellschaftsanalyse

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Gerd Nollmann (Hrsg.)
Sozialstruktur und Gesellschaftsanalyse
Fur Hermann Strasser
Gerd Nollmann (Hrsg.)
Sozialstruktur und
Gesellschaftsanalyse
Sozlalwlssenschaftllche
Forschung zwischen Daten,
Methoden und Begriffen
III
VSVERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN
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Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet iJber
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1. Auflage Januar 2007
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© VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007
Lektorat: Frank Engelhardt
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Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v, Meppel
Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-14935-6
Vorwort
„So schon kann Soziologie sein" - fur dieses Motto hat sich Hermann Strasser
ein Leben lang engagiert. Soziologie mtisse verstandlich sein, denn Soziologie
wie Gesellschafl habe mit Verstehen zu tun. Zugegeben, i<:ein leichtes Unterfangen. Er wandte sich daher in Aufsatzen und Btichern so unterschiedlichen wie
herausfordernden Themen zu wie „Schwer vermittelbar", „Keine Gesellschaft
ohne Kriminalitat? Ohne Kriminalitat keine Gesellschaft!", „Schmidteinander
ins 21. Jahrhundert", „I,mmer die Reichen" oder „Alles Hoyzer oder was?" Vielleicht weigerte er sich deshalb, sich nur einem Spezialgebiet der soziologischen
DiszipUn hinzugeben. Wie sein soziologischer Lehrmeister, Werner Stark,
spannt er den Bogen seines soziologischen Denkens weit. Und stets lehnte er
das Literatentum ab, ohne Anspriiche der Theoriebildung zuriickzuweisen. Er
betrieb uber alle Lager hinweg qualitative und quantitative Sozialforschung und
blieb gegenliber den erhobenen Daten misstrauisch genug, um sie begrifflich zu
reflektieren, wissenssoziologisch zu ordnen und gesellschaftspolitisch zu bewerten.
Hermann Strasser studierte Nationalokonomie an der Universitat Innsbruck
und der Freien Universitat Berlin, promovierte 1967 in Innsbruck, bevor er als
Fulbright-Stipendiat ein Postgraduierten-Studium in Soziologie an der Fordham
University, New York, absolvierte und dort 1973 seinen Ph.D. erhielt Er habilitierte sich 1976 in Klagenfurt, wurde im Dezember 1977 Lehrstuhlinhaber fur
Soziologie an der damaligen Gesamthochschule Duisburg, der spateren Gerhard-Mercator-Universitat Duisburg bzw. Universitat Duisburg-Essen, und gehort seitdem zu den bekanntesten Soziologen Deutschlands. In mehr als 200
Zeitschriftenaufsatzen und 25 Buchern widmete er sich vor allem Fragen der sozialen Ungleichheit, des sozialen Wandels und der soziologischen Theorie.
Zu dem von Strassers Lebenswerk erhobenen Anspruch an die soziologische Disziplin tragen in dieser Festsclirift Weggefahrten, Kollegen, Freunde und
nicht zuletzt die diesem Anspruch verpflichteten Wissenschaftler bei. Das zentrale Anliegen des Bandes ist die Verbindung von Sozialforschung und begrifflicher Reflexion. Die Klammer des Bandes ist die Sozialstrukturanalyse und die
Ungleichheitsforschung diesseits und jenseits von Stand und Klasse. Die zur
Diskussion gestellten Themen sind daher so unterschiedliche Untersuchungsfelder wie die soziale Mobilitat, die Klassenforschung, Lebensstile, die Individualisierung, die Wissenssoziologie sozialer Ungleichheit, das soziale Kapital, die
Theorie des Marktes und der Institutionen, die Globalisierung, das offentliche
Selbstverstandnis moderner Gesellschaften, aber auch Kriminalitat, Korruption
und Arbeitslosigkeit. Nicht zuletzt haben diese Themen auch mit der hand lungs-
S,
Inhalt
theoretischen Grundlegung der empirischen Soziaiforschung zu tun, die Hermann Strasser seinen Studierenden immer wieder vor Augen gefiilirt hat, dass
namlich das menschliche Handeln in der Gesellschaft vor allem darauf ausgerichtet sei, Wertschatzung zu erlangen und Geringschatzung oder gar Missachtung zu vermeiden.
Die Duisburger Universitats-Gesellschaft hat das Werk finanziell unterstiitzt. Roelf Bleeker-Dohmen und Stefanie Osthof haben mehrere Texte kompetent tibersetzt. Stefanie Osthof hat die Beitrage redal<:tionell fiir die Publikation
vorbereitet und zusammen mit Angela Traumann Korrektur gelesen. Nicht zuletzt haben die Autoren eine Festschrift entstehen lassen, die nicht nur die Vielfalt der wissenschaftlichen Leistungen, sondern auch die akademische Wertschatzung von nah und fern flir Hermann Strasser zum Ausdruck bringt. Nicht
nur den Genannten mochte ich meinen Dank aussprechen, sondern insbesondere
meinem „HabiHtationsvater" Hermann Strasser flir das kulturelle und soziale
Kapital, an dem ich liber die Jahre teilhaben durfte.
Duisburg, 28. November 2006
Gerd Nollman
Inhalt
Einleitung
Die Praxis sozialer Ungleichheit und ihre sozialstrul<:turellen Folgen
Gerd Nollmann
13
Klassen und Sozialstruktur
Soziale Klassen und die Differenzierung von Arbeitsvertragen
John H. Goldthorpe
39
Strukturelle Differenzierung, Statusinkonsistenz und soziale Integration:
Mehrebenenmodelle fiir Paneldaten
Uwe Engel und Julia Simonson
72
Individualisierung und/oder Restrukturierung? Am Beispiel der sozialstrukturellen Verankerung der Parteienlandschaft und des Wertewandels
Dieter Holtmann
97
Kritik oder Rechtfertigung sozialer Ungleichheit? Die deutsche
,Sozialstrukturideologie' vom Ende der Klassengesellschaft in historischer
und vergleichender Perspektive. Eine wissenssoziologische Analyse
MaxHaller
107
10
Inhalt
Zur Verbesserung der Erklarungsl<jaft vertikaler Strukturierungskonzepte
in der Lebensstilforschung
Petra Stein
160
Paradigmen der vergleichend-historischen Methodologien:
Durkheimsche vs. Weberianische Ansatze und ihre Folgen
Harold Kerbo
184
Kulturelle und politische Aspekte der Gesellschaftsanalyse
Stadterneuerung als McDisneyisierung der Stadte
George Ritzer und Michael Friedman
207
Markte als Gemeinschaftshandeln
NicoStehr
231
Die europaische Identitat - aber wo liegt sie?
Johannes WeiB
252
Lebenszufriedenheit, Lebensbereiche und ReUgiositat
Heiner Meulemann
261
Staat und Eigentumsrechte in der Entwicklung der europaischen
Gesellschaft. Die Institutionentheorie von Douglass North
Georg W. Oesterdiekhoff
278
Soziale Kontrolle am Rande der Gesellschaft:
Polizisten und Prostituierte in Duisburg
Thomas Schweer und Natalie Scherer
304
Inhalt
11
Die Entertainmentfalle. Fernsehen als SpaBgesellschaft und die
SpaBkultur im deutschen Fernsehen seit den 1990er Jahren
Marcus S. Kleiner
Ausblick in eine ungleiche Zukunft
Der neue Egalitarismus: Lehren aus der wirtschaftlichen
Ungleichheit in GroBbritannien
Patrick Diamond und Anthony Giddens.
363
Autorenverzeichnis
3 84
Kurz-CV von Hermann Strasser
390
Einleitung: Die Praxis sozialer Ungleichlieit und ihre
sozialstrukturellen Folgen
Gerd Nollmann
1
Sozialstruktur und gesellschaftliches Selbstverstandnis
Dass die Welt nicht das ist, was sie zu sein scheint, wurde seit Beginn der Moderne unzahlige Male gesagt. Der Widerspruch von Schein und Sein trifft nun
auf besondere Weise auf das Begriffspaar Sozialstruktur und Gesellschaft zu.
Wahrend Offentlichl<:eiten seit Jahrhunderten das Lied vom selbst bestimmten
Individuum singen, deckt die Sozialstrukturanalyse die strukturellen und kulturellen RegelmaBigkeiten auf, nach denen die Individuen ihre Wahlerstimme abgeben (Holtmann, in diesem Band), ihre Lebenspartner „wahlen" (Blossfeld/Timm 2003), kriminell werden (Strasser/van den Brinl<: 2004, Strasser
2006), von der Polizei verhaftet und von der Justiz verurteilt werden
(Schweer/Strasser 2003), Drogen konsumieren (Schweer/Strasser 1994), Einstellungen erwerben (Strasser et al. 1988), Bildungsabschltisse und berufliche
Ziele erreichen (Shavit/Blossfeld 1993), Einkommen und Vermogen sammeln
Oder aber unter die Armutsgrenze fallen (Groh-Samberg 2004), l<Tank werden
und schlieBlich friiher oder spater sterben. Die Sozialstrukturanalyse hat das
Wissen zum Zusammenspiel von Sein und Schein in den letzten Jahrzehnten revolutioniert und empirisch prazisiert.
Deshalb ist schwer nachvollziehbar, warum gerade in Zeiten groBer Fortschritte der Forschung eines ihrer zentralen Konzepte - der Klassenbegriff verabschiedet werden sollte (Strasser 1985, 1987; Strasser/Dederichs 2000; Haller in diesem Band). Das Hauptargument gegen die Annahme, wir lebten nach
wie vor in einer Klassengesellschaft, lautete, dass Menschen heute ihr Leben
langst nicht mehr als durch ein kollektives Schicksal determiniert deuteten und
sich stattdessen als individualisierte Entscheidungstrager begriffen (Beck 1986).
Die irritierte Reaktion von Klassenforschern lag bekanntlich in der Klarstellung,
dass genau diese Bedeutungsschichten des Klassenbegriffs tiberhaupt nicht
mehr gemeint seien (Mayer/Blossfeld 1990). Die Klassenforschung sei, so G.
Marshall (1997: 53), ,,a far more limited project'. Sie will nicht die Basis ftir
kollektives politisches Handeln darlegen und erst recht nicht mehr den Graben
zwischen Sein und einem theoretisch postulierten, empirisch aber nicht be legten Bewusstsein ilberwinden. Vielmehr geht es darum, Berufsklassen nach ih-
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Gerd Nollmann
rem tatsachlichen typischen Verhalten im Berufzu unterscheiden und im Anschluss zu erforschen, welche „objektiven" Konsequenzen das typische Verhalten auBerhalb der Berufswelt in sonstigen Lebenszusammenhangen hat
(Nollmann/Strasser 2007).
Diese neue Bescheidenheit der Klassenforschung ist moglicherweise inzwischen gar nicht mehr notwendig. Wer genau hinschaut, erkennt nicht nur ihre empirisch sorgfaltige Herausarbeitung sozialer RegelmaBigkeiten, deren Ursprung in der Differenzierung von Berufsrollen liegt, sondern auch eine kraftvoUe hermeneutische Begrundung des Klassenbegriffs. Goldthorpe (in diesem
Band) erortert die Ursachen der Klassenbildung langst organisationssoziologisch und sinnverstehend. Beschafligungsverhaltnisse nehmen, so Goldthorpe,
entweder die Form eines Arbeitsvertrags an, der einen direkten Austausch von
Arbeitsl<jaft gegen Entlohnung (labour contract) regelt, oder sie bestehen als
Dienstverhaltnis (service relationship). Die organisationssoziologische Denkfigur betrachtet beide Formen der Beziehung als Resultat von organisatorischen
Steuerungsproblemen, die sich aus der UnvoUstandigkeit des Arbeitsvertrags
ergeben. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen Vertrag schlieBen, kann
nicht erschopfend festgelegt werden, wie der spatere Arbeitsalltag en detail aussieht. Die Institutionenokonomik spricht von einem ,,agency problem", das neben vielen unbekannten Informationen auch versteckte Handlungen des Arbeitsalltags enthalt. Je nach der vorgesehenen Arbeit kann der Arbeitgeber mehr oder
minder genaue Informationen iiber die genauen Handlungsmoglichkeiten und
das tatsachliche Leistungsverhalten des Arbeitnehmers haben.
Klassen leiten sich demgemaB aus der organisatorischen Spezifizierbarkeit
von Arbeitsvertragen und deren Konsequenzen fiir praktisches berufliches Verhalten ab. Der „einfache" Arbeitsvertrag ist angemessen, wenn eine relativ hohe
Kontrollierbarkeit eine einfache Austauschbeziehung zwischen Arbeitgeber und
Arbeitnehmer auf der Grundlage erbrachter Stiickzahlen oder der verbrachten
Zeit am Arbeitsplatz etabliert. Dieser „spot contract ist umgekehrt nicht fiir
Mitarbeiter realisierbar, die der Organisation ihr Expertenwissen zur Verfugung
stellen und stellvertretend Entscheidungen treffen. Auch sind deren Arbeitsleistungen nicht so einfach messbar wie die eines Arbeiters. Goldthorpe spricht in
diesem Zusammenhang von einem „Dienstverhaltnis". Im Gegensatz zum einfachen Austausch von Arbeitsleistung und Gegenleistung sieht es neben der monetaren Vergtitung in Form eines Gehalts - anstatt eines an der erbrachten Leistung beruhenden Arbeitslohns - flir den Beschaftigten Karrieremoglichlceiten
vor. Ferner wird diesen Arbeitnehmern auch ein langerfristig angelegtes Dienstverhaltnis angeboten, weil die Organisation auf spezifische Qualifikationen angewiesen ist und oft Investitionen in betriebsspezifisches Expertenwissen getatigt hat, die nicht an andere, etwaige Konkurrenten verloren werden durfen.
Sozialstmktur und Gesellschaft
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Beschaftigungsverhaltnisse unterscheiden sich demgemaB in der Autonomie der Arbeit und Zeitverwendung am Arbeitsplatz, in den erforderlichen
skills, in der Hohe der Einktinfte und der sonstigen Arten der Vergtitung bis hin
zu den bestehenden Karrieremoglichkeiten. Die beiden Grundformen des Arbeitsverhaltnisses sind als Idealtypen zu verstehen. De facto fmden sich in der
Praxis auch Mischformen. Grundsatzlich fiihrt aber die Form des Beschafligungsverhaitnisses zu einer Differenzierung von Arbeitsvertragen, die Goldthorpe als Grundlage des Klassenschemas betrachtet.
So betrachtet verfiigt die Klassenforschung inzwischen liber ein umfassendes handlungstheoretisches, hermeneutisches Fundament. In jtingeren Publikationen und auch Forschungen erhalt die von der Theorie des Sinnverstehens
immer wieder betonte Regelung menschlichen Verhaltens durch subjektive Vorstellungen, Deutungsschemata und Kausalannahmen immer mehr Aufmerksamkeit. Wird die Definition der Situation in Arbeitsorganisationen durch die beiden
von Goldthorpe genannten Kontinua bestimmt, wird auch „verstandUcher" und
schlieBlich auch „kausal durchsichtiger", inwiefern sich das berufliche Verhalten von Berufsgruppen tatsachHch voneinander unterscheidet und welche Konsequenzen das innerhalb und auBerhalb der Arbeitsorganisation fiir faktisches
menschliches Verhahen hat. Der Jabour contract' ist beschranlct auf einen
simplen Austausch von Geld und zahlbaren Leistungen. Solch ein ,,spot
contract' impliziert kurze kausale Verkntipfungen - sowohl objektiv als auch
subjektiv. Das AusmaB, in dem etwa ein Arbeiter subjektiv die Ursachen von
organisationalen Ergebnissen - etwa Geschaftszahlen und generell die Organisationsentwicklung - auf sein eigenes Verhalten zurechnet, ist aufgrund dieser
vertragsbedingten, kurzen Kausalstrange gering. Er nimmt ohne Zweifel an,
dass er selbst es ist, der seinen Job macht. Aber er wird generell nicht oder selten jene kausalen Zurechnungen zwischen dem eigenen Verhalten und den
iibergreifenden Zustanden der Organisation vornehmen, die sich weiter oben auf
der hierarchischen Leiter haufiger finden. Die zentrale Differenz zwischen ,,/abou/' und ..service contracts'' ist nach Goldthorpe (2000: 217) das AusmaB der
„Diffusheit". Der Jabour contract" sieht subjektiv eine spezifische Beziehung
zwischen der Person und den Arbeitsergebnissen, die vergleichsweise wenig Interpretationsbedarf hat. Je groBer die Arbeitsorganisation und je hoher ein
Dienstklassenangehoriger positioniert ist, desto indirekter, der Interpretation bedtirftiger, aber flir Selbst- und Fremdzurechnungen erwtinschter und unerwtinschter Folgen eben auch offener, erscheint demgegentiber die Klassenlage.
Die Dienstklasse hat das strukturelle Privileg, in der internen und extemen Darstellung der Organisation Erfolge stark auf ihr eigenes Verhalten zu beziehen
(wie realistisch das von auBen betrachtet auch sein mag), Misserfolge extern auf
unbeeinflussbare GroBen zuzurechnen oder als Anlass fur unattraktive Veran-
16
Gerd Nollmann
derungen der Organisation zu nehmen. Wahrend der Arbeiter einfach seinen Job
macht (z. B. ,,100 Autotiiren am Tag montieren") und alles Weitere eher als externe Randerscheinung seines klar defmierten Jobs sieht, betrachtet insbesondere die obere Dienstklasse die Ursachen und Wirkungen der Welt abstrakter und
stellt immer wieder auf Leistungen, Fahigkeiten und Kontrollierbarkeit in einem
weiter gefassten Horizont selektiver Kausalzurechnungen ab.
Auf dieser Basis kann man sich besser vorstellen, wie die jUngeren Herausforderungen, etwa der Globalisierung, im Alltag zwischen den Berufsgruppen
verhandelt werden. Wenn etwa in Unternehmen daruber beraten wird, welche
Produkte wann fur welche Kunden in welchen Regionen zu welchen Preisen
hergestellt werden sollen, werden im Entscheidungsprozess an verschiedenen
Orten, in verschiedenen Gremien und in informellen Kontakten zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten, Geschaftsfiihrung und Betriebsrat Spielraume gesucht, Argumente ausgetauscht, Bedenken geauBert, Interessen vertreten, Warnungen und Empfehlungen ausgesprochen. Im Alltag konnen Abteilungsleiter in
Fiihrungsgremien im Falle von Schuldzuweisungen auf eine der anderen Abteilungen zeigen und behaupten, dass die eigene Abteilung eben nicht anders handeln konne, wenn ein gutes Produkt erstellt werden solle. Diskussionen iiber
Verbesserungen verlaufen in solchen Gremien oft im Sand der Details, weil es
im Zweifelsfall immer Grunde gibt, warum dieser oder jener Vorgang so und
nicht anders angelegt ist.
Jedoch andert das durch Konlcurrenzerlebnisse in Gang gesetzte Deutungsmuster des sich verschdrfenden Wetthewerbs die typischen Kausalzurechnungen. Mitarbeiterbesprechungen sehen in Unternehmen, die dem Einsparungsstress ausgesetzt sind, anders aus. In ihnen wird die „Wahrnehmung" verschoben. Schon der nicht-globale „Markt" stellt in der internen Zurechnungspraxis ein schwarzes Loch dar, das alle anders lautenden Argumente aufsaugt.
Der Markt, so kann man in deutschen Unternehmen von oben horen, „stellt unsere Bedingungen, ausschlieBlich, und sonst niemand - wenn's der Markt aber
ist, dann gibt's gar keine Diskussion. Der Markt hat immer Recht. Wir konnen
uns dann nur tiberlegen, ob wir uns in diesem Fall 'nen Marktverzicht leisten"
(Matthies 1999: 247).
Es ist wenig sinnvoU, daruber zu diskutieren, ob diese Definition der Situation angemessen ist (vgl. Esser 1996). Wenn es um die Verteilung von Belastungen geht, rechnen sich Akteure unternehmensinternes Handeln nicht nur
deshalb als alternativloses Erleben von Marktzwdngen zu, weil sie sich dann als
bloBe VoUzugsbeamte formaler Programme darstellen. Sie tun das auch, weil
sie ihr Verhalten als Reaktion auf Markte interpretieren. Das interne Erleben des
Handelns der Konkurrenten richtet sich angstvoU und hektisch auf die Umwelt,
um die dort aufgenommenen Signale als Beleg flir interne Notwendigkeiten des
Sozialstmktur und Gesellschaft
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Handelns aufzunehmen. Hierin liegt die wichtigste praktische Bedeutung von
Markten als sinnhafte Kausalzurechnung. Diese Lenkung von Kausalzurechniingen durch „Markte" ist deshalb auch keineswegs auf Unternehmen beschrankt. Was Unternehmen heute auf globaler Ebene tun, machen inzwischen
offentliche Verwaltungen auf lokaler und regionaler Ebene nach: Mit Hilfe der
Budgetierung von Einnahmen und Ausgaben verkiirzen sie ihre „Leistungstiefe"; outsourcing und subcontracting bieten Kostenvorteile. Insofern wird die
Globalisierung bisweilen nicht nur als Sachzwang, sondern als willkommener
Aufbruch in neue Wachstums- und Absatzgebiete gefeiert - insbesondere in der
mittelstandischen Zuliefererindustrie (Fieten/Friedrich/Lagemann 1997). Dort
legt - so zeigt die vom Institut fiir Mittelstandsforschung durchgefuhrte Befragung von liber 10000 Mittelstandlern - schon die vorgestellte Konkurrenzsituation vorsorgliche MaBnahmen nahe. Ist die Konl<:urrenz noch nicht aktiv, wird
ihr Verhalten als nicht zu verschlafende Chance interpretiert, sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen - etwa durch Stellenabbau oder Verlagerung der
Produktion ins Ausland. Marktvergesellschaftung verbindet das zwanghafte Erleben mit der sozialen Konstruktion von Handlungserfordernissen. Das heiBt
nichts anderes, als dass Dienstklassenangehorige ihre von unten eingeforderte
Verantwortung fiir Veranderungen extemalisieren konnen. Die Globahsierung
der Markte steigert die Anziehungskrafle dieses schwarzen Loches zu einem
wuchtigen Universalargument, das anders lautende Ansprtiche abschmettert. In
Unternehmen, deren Preise global unterboten werden, wird es zur vornehmsten
Aufgabe des Managements, mit barter Hand Ansprtiche auf hohere Gehalter,
Stellen, Beforderungen und Zuwendungen so lange abzuwehren, bis die Konkurrenzfahigkeit wieder hergestellt ist. Beispiele gibt es genug, vom Staubsaugerhersteller Leifheit liber Opel bis zu den Call Centers. Globalisierungsfolgen
werden nach MaBgabe bereits etablierter Hierarchien weiterverarbeitet nach
dem Motto: Unten gespart, oben belohnt. Seit dem in den 70er Jahren erfolgten,
jahen Ende des Traums immerwahrender Prosperitat (Lutz 1984) ist das Geld in
Unternehmen, Verwaltungen, Universitaten, Schulen, Krankenhausern knapper
geworden - mit der Folge, dass dieses „Zurechnungsspier' immer starker betont
wurde - mit der weiteren, „objektiven" Konsequenz, dass die Verteilung von
Einkommen im Zeitablauf entlang der Klassenstruktur ungleicher wird (Nollmann/Strasser 2003). Die in diesem Spiel eingenommenen Rollen sind klassenspezifisch verteilt. Diese sinnhaften RegelmaBigkeiten des praktischen Erklarens in der Berufswelt stellen keinesfalls individuell erworbene Personlichkeitsmerkmale dar, sondern werden objektiv von der Berufsklassenstruktur vorgegeben - mit wichtigen Konsequenzen fiir das sinnhafte Verhalten sowohl innerhalb als auch auBerhalb des Berufs.
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GerdNoUmann
2
Das neue Interesse am kulturellen Kapital
Die Vermutung drangt sich auf, dass diese strukturell determinierte, nichtsdestotrotz subjektive Varianz der klassenspezifischen Zurechnung letztlich nicht an
den Grenzen der Arbeitsorganisation Halt macht, sondern gleichsam hinter dem
Rucken der Akteure mehr oder minder unbemerkt in sonstige Lebenszusammenhange diffundiert und auch die intergenerationale Vererbung von Positionen
mit verursacht. Sie wird insbesondere als habitueller Erklarungsstil schon in
friihen Jahren der Soziahsation weitergereicht und trotz expandierter Bildung im
Lebensverlauf reproduziert. Diese Sichtweise erklart das in jUngerer Zeit enorm
belebte Interesse der Mobilitatsforschung am so genannten kulturellen Kapital
(De Graaf 1998; OECD 2001; Bowles et al. 2001; Esping-Andersen 2004;
Becker 2003). Bourdieus (1983) These dazu lautet, dass die in der sozialen Herkunft erlernte Vertrautheit mit kulturellen Symbolen eine zentrale Vorbedingung fur Erfolg in der Bildungsphase sei - nicht zuletzt deshalb, weil das Bildungssystem selbst strukturell flir Schtiler mittlerer oder hoherer Herkunft voreingenommen sei und die Ungleichheit der mitgebrachten kulturellen Ressourcen gerade nicht begradige, sonder eher verstarke.
Goldthorpe (2000) hat wiederholt eine reservierte Haltung zu kulturalistischen Erklarungen dieser Art eingenommen, weil sie den strukturellen Impetus
von Klassen nicht adaquat berticksichtigten. Damit ist nicht gemeint, dass die
klassenstrukturelle Beweisfuhrung subjektive Elemente der intergenerationellen
Transmission vollstandig zuruckweist. Die Argumentation basiert aber eher auf
strukturellen Verteilungen der Berufe. Angehorige unterer Klassen wlirden in
Bildungsfragen ihre nicht zu leugnende Knappheit an okonomischen Ressourcen tiberbewerten, passten sich den Verhaltnissen deshalb ubermaBig an und
verkauften sich letztlich unter ihrem moglichen Wert (vgl. Goldthorpe 2000:
241 ff.). Die fur sinnverstehende Betrachtungen typische Figur der self fulfilling
prophecy subjektiver Kausalhypothesen ist gleichwohl auch in dieser Argumentation prasent und wird strikt an die strukturelle Verteilung von Ressourcen gebunden - etwa auch in der Vermutung von Erikson und Goldthorpe (1992), dass
die fast vollstandige Beseitigung von Kinderarmut und die Nivellierung der Familieneinkommen in Schweden zur dortigen Lockerung der intergenerationellen
Transmission beigetragen hatten.
Neuere Untersuchungen legen eine differenziertere Betrachtungsweise nahe. Esping-Andersen (2004: 294 ff) zeigt mit Analysen zu PISA und dem International Adult Literacy Survey (lALS), dass in Deutschland, Franl<jeich, Danemark, Schweden, Kanada, GroBbritannien und den USA Lese-, Auffassungsund Interpretationskompetenzen von SchUlern als abhangige Variable starker
vom kulturellen Kapital der Familie vorhergesagt werden (~ .3) als von ihrem
soziookonomischen Status (~ .2) und Wohlstand (~ .03). Schon diese Beobach-
Sozialstruktur und Geseliscliaft
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tung lasst vermuten, dass die Transmission nicht vom Geld allein gesteuert wird.
Kognitive Kompetenzen sind auch je nach Land unterschiedUch ungleich verteilt. Ein Gini-Koeffizient fiir entsprechende Test-Scores Uegt zwischen .08 in
Danemark und .158 fur die Vereinigten Staaten. Diese Kompetenz-Ginis korreHeren hoch mit den Gini-Koeffizienten fiir die nationale Einkommensverteiking
und dem Einfluss des vaterlichen Bildungsgrades auf die Bildungserfoige der
Kinder. Diese Ergebnisse erzahien die Geschichte der intergenerationellen
Transmission zwar noch nicht vollstandig neu. Sie ermutigen aber eine weitere
DetailUerung des Zusammenhangs von Geld, Klasse und Kultur. EspingAndersen vermutet in der Interaktion dieser GroBen den Schlussel zu einem
noch tiefer gehenden Verstandnis von Mobilitat.
Wie immer man zu den damit verbundenen Fragen steht - die jtingere empirische Forschung hat auf erstaunliche Weise einige Fronten aufgelost, die bisher als uneinnehmbar galten. Diese betrifft nicht nur den langst uberholten Gegensatz zwischen Struktur und Kultur, sondern auch den Scheinwiderspruch
zwischen Individualisierung und Klassenstrukturierung des Verhaltens. Alle
Begriffe sind - wie schon Weber unter Berufung auf Kant der Soziologie ausdrucklich, aber leider wohl nicht nachhaltig genug ins Stammbuch geschrieben
hat - Idealtypen, also Instrumente, die der Wirklichkeitskonstruktion und dadurch auch ihrer Erfassung dienen. Uber ihre Eignung entscheiden Theorie und
Empiric gewissermaBen gemeinsam - indem Begriffe so zugeschnitten werden,
dass sie offen fur empirische Tests sind. Aber das Bewusstsein fiir den Wirklichkeit erzeugenden Gehalt begrifflicher Schnitte ist enorm gewachsen.
Nichtsdestotrotz tragt der Klassenbegriff aufgrund seiner historisch gewachsenen Verwendung sowohl bei den meisten Sozialwissenschaftlern als
auch in der Offentlichl<:eit kollektive Handlungskonnotationen, die von dem,
was von der Forschung empirisch de facto erzeugt wird, eigentlich nicht mehr
getragen werden. Das zeigt sich auch darin, dass, als ,,New Labour'' Goldthorpes Schema als „NS-SEC" fur die praktische Arbeit ubernommen hat, die
Janguage of class'' unbedingt vermieden werden soUte. „Soziookonomischer
Status" erschien neutraler. Das ist moglicherweise ein Hinweis darauf, dass der
Klassenbegriff trotz aller empirischen Erfolge zu belastet ist und interessante
Forschungsergebnisse nicht mehr werturteilsfrei zu transportieren vermag. Immerhin hat die Individualisierungsdebatte gezeigt, dass die theoretische Begleitreflexion des Klassenbegriffs fiir die Selbstvergewisserung der soziologischen
Forschung hilfreich sein kann (Nollmann/Strasser 2002). Sie hat immerhin Gelegenheit zur Klarstellung von Missverstandnissen gegeben, sodass vielleicht
nach der Debatte einige Soziologen Bedeutung und Ziele heutiger Klassenforschung mehr statt weniger wertschatzen.
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Gerd Nollmann
Kontinuitat, Erneuerung, Innovation der Ungleicliheitsforschung (Strasser/Goldthorpe 1985) schlieBen auch die Dynamisierung der Betrachtung ein.
Sah es friiher so aus, als ob Klassen antagonistische Blocke bezeiciineten, hat
die neuere Lebensverlaufsforschung den theoretischen Status des Klassenbegriffs nochmals deutlich verandert. Die transformierte Bedeutung des Klassenbegriffs zeigt sich nicht nur in der empirischen Neuausrichtung der Forschung
an Berufsgruppen. Die sui<:zessiven Revisionen haben den Klassenbegriff heute
zu einem Werkzeug gemacht, mit dem die Forschung in Lebensverlaufe eingelassene Kausalitaten zwischen gesellschaftlichen Feldern aufdecict. Ausbildungs- und Berufskarrieren beruhen auf sich selbst verstarkenden kausalen Prozessen. Schon die Verteilung auf Haupt-/Realschule und Gymnasium bedingt irreversible Einschrankungen, die im weiteren Lebensverlauf verstarkt werden.
Moglichkeiten fur Berufskarrieren engen sich fruher ein, als man erwarten wurde (Mayer 1990: 11 f).
Lebensverlaufsstudien zeigen, wie Individuen als identische Einheit in den
dlfferenzierten Feldern der modernen Gesellschaft handeln und behandelt werden. Die Lebensverlaufsforschung zielt insofern auf das Verhaltnis von Milo-o
und Mal<JO (Mayer 1990: 8). Ihr Begriff der Reproduktionsklasse scheint sich
unausweichlich in markanten Gegensatz zur handlungstheoretischen Tradition
zu stellen. Webers Soziologie hatte die Gesellschaft gerade deshalb in soziale
Beziehungen aufgelost, weil seine Zwischenbetrachtung den Blick in die entgegengesetzte Richtung gelenkt hatte: weg von kontinuierlichen, ubergreifenden
Einheiten, hin zur spharentypischen, durch unliberwindbare Abgrtinde gekennzeichneten Vielfalt. Der Begriff des sozialen Handelns, seine typischen Orientierungen und die aus ihm hervorgehenden sozialen Beziehungen zerschneiden
die Einheit des Menschen. Die sinnverstehende Soziologie ist nicht nur - wie
Tyrell (1998) Webers Wissenschaflslehre charakterisiert hat - eine Soziologie
ohne Gesellschaft. Sie ist bereits bei Weber insoweit eine Soziologie ohne
Mensch, als dessen Einheit im sozialen Handeln nicht auftaucht. Wo Handlungstheoretiker die Differenzierung sozialer Beziehungen hervorheben, sieht
die Lebensverlaufsforschung die in der individuellen Lebensgeschichte aufbewahrten Kontinuitaten, die liber diese Differenzen hinweg gleiten. Leitmotiv ist
deshalb Bourdieus LQbQnsvQrlmxfshypothese, die er in einem diachronen Klassenbegriff fasst: „Einem bestimmten Umfang ererbten Kapitals entspricht ein
Bundel ungefahr gleich wahrscheinlicher, zu ungefahr gleichwertigen Positionen fuhrender Lebensldufe - das einem bestimmten Individuum objektiv gegebene Moglichkeitsfeld...'' (Bourdieu 1987: 188). Bourdieu sieht typische Lebensverlaufe nicht nur als k\diS?>Qnbedingt, sondern als k\?iSSQnkonstitutiv an. Die
messbare Durchlassigkeit von Klassengrenzen erscheint als Priifstein fur die Totalitaten, die sich gegen den Anschein differenzierter Felder als zugrunde lie-
Sozialstrui<:tur und Gesellschaft
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gende BQziQhungsemheit der modernen Gesellschaft erweisen. Wenn nachgewiesen werden kann, dass die Zuweisung der Individuen zu ihren sozialen Positionen von ihrer Herkunft abhangt, erscheinen die mit dem Menschen verbundenen Verhaltenserwartungen als stdrkere Einheit als die differentiellen, erworbenen Merkmale innerhalb der eigenlogischen Beziehungsfelder, die Weber mit
dem Begriff des gemeinten Sinns von Verhalten aufgearbeitet hat. Die auch im
Zeitablauf stabile Identitdt des Individuums kann in diesem Fall kraftigere endogene Kausalitaten mobilisieren als die eigenlogischen Felder, die im Zentrum
von Differenzierungs- und Handlungstheorien stehen (Mayer 1990: 11).
Entscheidend ist nun aber, dass der in der Lebenslaufforschung verwendete
Klassenbegriff seine Bedeutung geandert hat. Klassenzugehorigkeiten werden
nicht primar durch sachliche Merkmalskombinationen (Einlcommen, Prestige,
Weisungsbeftignisse, Ausbeutungsweise) defmiert, sondern liber die sich kumulativ verstarkende Selektivitat von Lebensverlaufen prozessfovmig konstituiert,
sodass aktuelle Zustande und Ereignisse aus vergangenen Lebensgeschichten
mit mehr oder minder groBer Wahrscheinlichkeit kausal erkldrbar werden. Fiir
Ausbildungs- und Berufskarrieren hat sich die Klassenforschung als unverzichtbares Analyseinstrument erwiesen, well sich bildungs- und berufsbiografische
Ereignisreihen den differenzierten Beziehungsfeldern der Gesellschaft wirksam
einpragen.
Insofern lost sich in Lebenslaufforschungen, die mit dem Klassenbegriff
arbeiten, das alte Akteurproblem des Klassenbegriffs auf Es sind stets die individuellen und kollektiven Akteure innerhalb der Felder: die Individuen in ihrer
Lebenslauflcontinuitat, die Schulen, die Universitaten, die Arbeitsorganisationen
von Wirtschaft, Verwaltung usw., die handeln - und nicht die Klassen. Die Reproduktionsklasse wird als s'mnfremder Einfluss tiber die Kontinuitat des Individuums (meistens) unbemerkt in die Handlungslogik dieser Felder importiert.
Der Klassenbegriff bezeichnet lediglich die endogene kausale Kontinuitat, die in
der Herkunft und im Lebensverlauf des Individuums aufbewahrt ist.
Die in der Lebenslaufforschung erfolgte Transformation des Klassenbegriffs zeigt ihren vollstandigen Abschied von veralteten Klassenpramissen nicht
nur in der Auflosung des Problems des Klassenhandelns. Sie belegt diesen Abschied auch in ihrem Verzicht auf Konfliktvermutungen. Sie mochte die dynamische Einbettung von Lebensverlaufen in eine differenzierte Gesellschaft erforschen und verzichtet darauf, in Klassen einen Akteur zu sehen, der grundsatzlich oder im Einzelfall in Konflikten handelt. Sie versteht den Klassenbegriff
kausal aus der Beobachterperspektive: Es geht ihr nicht um Klassen, die in Konflikten handeln, sondern um genetische Reproduktionsklassen, deren Wirkung in
Lebensverlaufen nachgewiesen werden kann. Folgerichtig geht sie nicht nur davon aus, dass „Politik ftir Gruppen in besonderen Lebenslagen ... an die Stelle
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Gerd NoUmann
von Klassenpolitik" tritt (Mayer 1990: 14). Auch pladiert sie vorsichtig, bisweilen gar entschieden fur eine Verbindung klassenformiger Mal<JoregelmaBigkeiten mit Mtooregeln menschlichen Verhaltens, die sich als Kausal- und KontroUvorstellungen messen lassen (Mayer 2003; Diewald et al. 1996). Was aus
der Sicht der interdisziplinaren Lebenslaufforschung als notwendige Verbindung von soziologischer Strukturanalyse und sozialpsychologischer Entwicklungsforschung erscheint, bezeichnet in der hier verwendeten Termino logic
nichts anderes als die mogliche Erheilung sozialstruktureller Verteilungen durch
die Erforschung sinnhafter, d. h. praktischer Kausalzurechnungen.
Interessante Forschungsfragen, die gerade auf dem Klassenbegriff aufbauen, anstatt ihn zu verabschieden, konnten auf dieser Basis etwa lauten: Wie
wandeln sich z. B. Leistungszurechnungen - also die Annahme, der eigene Berufsweg hange von eigenen Anstrengungen ab - im Lebensverlauf? Welche
Grunde veranschlagen in welchem AusmaB welche Klassenangehorigen habituell an welchen Stationen, Phasen und Ubergangen des Lebenslaufs fur ihre Bildungs- und Berufsentscheidungen und fur soziale Uber- und Unterordnung?
(Heinz 2000; Heckhausen/Tomasik 2002) Sind es moglicherweise gerade die
Mitglieder der unteren und auch der mittleren Klassen, die anfangs dem
Leistungsmythos der Arbeitswelt zu naiv aufsitzen, um den praktischen Sinn
von Karriereturnieren rechtzeitig genug zu begreifen (Rosenbaum 1984)? Welche Kohorteneffekte lassen sich bei Leistungszurechnungen beobachten? Nimmt
die Leistungszurechnung in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit zu oder ab? Wie kann
der Gegenstandsbezug von Items, die Leistungszurechnungen abfragen, prazisiert werden, damit ihr Praxisgehalt wirklich erfasst wird? Wenn die Lebensverlaufsforschung den Klassenbegriff lediglich als smnfremden Kausalstrang
menschlichen Verhaltens in Lebensphasen auffasst, gibt es keinen Grund, auf
ihn zu verzichten, denn er steht sinnverstehenden, „subjektorientierten" Betrachtungen gerade nicht im Weg, sondem ermoglicht erst ihre empirisch kontrollierte Generalisierung in der Sozialforschung.
3
Erklaren und Verstehen als Paradigma der Ungleichheitsforschung
Ganz im Sinne der scheinbar unvermeidlichen Konkurrenz von wissenschaftlichen Forschungsprogrammen sind Lebensverlaufs-, ^Status attainment'^ und
Klassenforschung sowie nicht zuletzt Bourdieus kulturalistische Theorie sozialer Ungleichheit bisweilen als Rivalen betrachtet worden (Strasser 1992). Sowohl die neuere, „kulturaHstische" Wende in der Klassenforschung als auch die
auf der Allianz von Soziologic und Entwicklungspsychologic basierende Lebensverlaufsforschung (Mayer 2003) deuten jedoch in eine andere Richtung. Ihr
gemeinsames Paradigma ist die empirische Allianz von Erklaren und Verstehen,
die Max Weber einst ins soziologische Stammbuch geschrieben hatte, ohne al-
Sozialstruktur und Gesellschaft
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lerdings here its verstandlich geschildert zu haben, wie diese Allianz genau urazusetzen sei. Weber wollte beweisen, dass das Kausalitatsprinzip in den Kulturwissenschaften in vollem Umfang angewendet werden konne. Dazu mtissten
probabilistische RegelmaBigkeiten durch verstehende Betrachtungen erganzt
und gestUtzt werden, um zu sinn- und kausaladaquaten Aussagen zu gelangen.
Welche Rolle die von der Klassenforschung gemachten Aussagen in diesem
Konzert iibernommen haben, liegt auf der Hand: Klassenschemata liefern eine
Typologie, die die Berechnung relativer Wahrscheinlichkeiten erlaubt - etwa
des Erreichens eines Bildungsabschlusses, einer beruflichen Zielposition, des
Eintritts in Armut usw. Verstandlich werden solche Wahrscheinlichkeiten durch
theoretische und empirische Rekonstruktionen der „Erfahrungsregeln", nach denen die sinnhafte Praxis solche Wahrscheinlichkeiten erst hervorbringt. Die
klarste Exposition Webers (1985: 327) dazu stammt nicht aus den Soziologischen Grundbegriffen, sondern aus dem Stammler-Aufsatz. Verstehbar und geregelt an menschlichem Verhalten seien „,Maximen', welche in dem einen Fall
ganz ebenso wie in dem anderen in ihrer das empirische Verhalten des Individuums kausal beeinflussenden Wirksamkeit gestiitzt werden durch entweder
selbst gefundene oder von anderen erlernte Erfahrungsregeln von dem Typus:
wenn ich x tue, ist, nach Erfahrungsregeln, y die Folge'\ Die Menschen erwarten in ihrem Verhalten wechselseitig bestimmte kausale Idealisierungen und Generalisierungen nach „Erfahrungsregeln" oder, wie spater gesagt wurde, der Situation angemessene Kausalattributionen (Heider 1958). Ebenso wie die
kasuistisch argumentierenden Juristen lassen sich die Menschen durch die „eigentliche" Unendlichkeit des kausalen Netzes keinesfalls irritieren, sondern erwarten voneinander bestimmte vorgestellte Ursachen und Wirkungen in Abgrenzung zu anderen, nicht bezeichneten Ursachen und Wirkungen und verhalten
sich dementsprechend. Ausdriicklich hebt Weber dabei hervor, dass den Menschen ihre im eigenen Verhalten gezeigten kausalen Uberzeugungen nicht vollstandig und durchgangig „bewusst" sein mlissen (ebd.: 334). Es geht, wie es
spater (ebd.: 393) noch deutlicher heiBt, um die kausale Betrachtung dessen,
was die Menschen in ihrem aufieren Verhalten einander als geltend zeigen was immer dabei in ihren Kopfen mental passiert.
Die Tauglichkeit von Webers theoretischen Anstrengungen um eine empirische Soziologie ist fiir die Ungleichheitsforschung nicht unmittelbar einsichtig.
Die spatere Diskussion hat sich meist auf Webers schmale AuBerungen zum
Klassenbegriff selbst konzentriert und Webers Betonung einer groBeren Klassenpluralitat herausgearbeitet. Diese Rezeption ist wichtig, legt aber allein noch
nicht das ganze Potential von Webers Kausalitatstheorie frei. Es ist namlich
auch moglich, seinen Beitrag zur Theorie und Empiric ungleicher Beziehungen
mit einem anderen Schwerpunkt zu lesen. Nach Weber kann menschliches Ver-
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Gerd NoUmann
halten unter modernen Bedingungen nicht einfach aus einem Guss beschrieben
werden, weil es je nach Bereich unterschiedlichen Regeln folgt. Dieses Problem
grenzt er einer ersten Annaherung durch die Einfuhrung soziologischer Abstraktionen in Bezug mif soziale Beziehungen ein. Der Sinngehalt solcher Typen von
Situationen kann in der modernen Gesellschaft nach Weber von mehr oder minder groBer Dauer, mehr oder minder durch formale Vereinbarungen explizit vereinbart und mehr oder minder konflikthaft oder konsensuell sein. Stets aber lasst
sich die Bedeutung solcher sozialen Beziehungen, etwa des „Staats", aus den
wechselseitigen Erwartungen ableiten, die die Menschen in ihrem Verhalten beziiglich dieser Gebilde zeigen. Webers Begriffsarbeit war in dieser Hinsicht
darum bemtiht, eine der juristischen Kasuistik analoge Bildung von Generalisierungen und Idealisierungen zu schaffen, die die Basis fur spatere, in der
Sozialforschung dann empirisch zu leistende, kausal adaquate Zurechnungen
menschlichen Verhaltens schaffen. In welche Richtungen rechnen die Menschen
je nach Lebensphase, Herkunft, Geschlecht, beruflicher Stellung usw. tatsachlich in politischen Offentlichkeiten, in der Schule, in der Familie, in der Berufswelt usw. zu? Wie unterscheiden sich die Gruppen in ihren Erwartungen? Welcher Wandel der Erwartungen kann beobachtet werden? Wann glauben sie z. B.
an die Leistungsverursachung eines Sachverhalts, wann nicht? Welche sozialstrukturellen, unerwarteten Ursachen und Folgen hat das wiederum?
Das Verstehen von Sinnzusammenhangen, das diesen Bereichsbezug von
Verhalten aufdeckt, ist dabei eine Art von Anl<:er, der kausale Erklarungen
menschlichen Verhaltens befestigt. Er reduziert die Zahl moglicher kausaler Besclireibungen von Verhalten durch die MaBgabe, dass die kausale Selbstdeutung
des Verhaltens mit der kausalen Fremddeutung kompatibel sein muss. Behaupten wir z. B., eine bestimmte RegelmaBigkeit sei durch eine Berufsgruppe
(Klasse) kausal erkldrbar, muss diese Hypothese durch Daten und Hypothesen
iiber entsprechende sinnhafte Erwartungen solcher Berufsgruppenangehoriger
empirisch iiberprtift werden: Inwiefern sind deren Zurechnungen ihres eigenen
Verhaltens typisch? Ein weiteres Beispiel aus der Sozialforschung verdeutlicht
das: Einiges spricht etwa dafur, dass sich Angehorige niedriger Klassen hautlger
als so sehr von Nikotin abhangig deuten, dass sie es seltener schaffen, tatsachlich durch eigenes Wollen mit dem Rauchen aufzuhoren. Es ist die externe Zurechnung der Abhangigkeit anstelle der Zurechnung des Verhaltens auf eigenes
Wollen, die kausal als Deutung eigenen Verhaltens wirksam wird. Sie zeigt, inwiefern Gesundheitsverhalten auf sinn- und kausal adaquate Weise klassenabhangig ist.
Was der zu verstehende Sinn eines Verhaltens ist, hatte Weber (1985: 329)
als subjektive Erwartung iiber Ursachen und Wirkungen (etwa Leistungen als
geglaubte Ursache eigener oder fremder Erfolge) bezeichnet, die gemaB erlern-
Sozialstruktur und Gesellschaft
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ten Erfahrungsregeln verkniipft werden. Subjektive Erwartungen liber Ursachen
und Wirkungen eigenen und fremden Verhaitens waren dort so allgemein formuliert, dass jede Art von Kausaldeutung fur die Erklarung menschUchen Verhaitens interessant ist. Die Erfahrungsregeln, die das tatsachliche Verhalten nach
Weber nicht nur normativ festlegen, sondern auch kausal erklaren konnen, beziehen sich dort auch auf Verhaltensweisen, die aus reiner Gewohnheit, nicht
selten gar in dumpfer Halbbewusstheit vollzogen werden. Jeder, der einige Jahre
an Skat- oder Doppelkopfrunden teilgenommen hat, kann das bestatigen. Das
regelkonforme Legen der richtigen Karte erfolgt schlieBlich oft ohne ausdrlickliche Intentionalitat. Je starker das praktische Verhalten eine Kegel verinnerlicht,
desto impliziter wird ihre Ausdrucklichkeit. Das lasst sich auch an einem der
Beispiele, die Weber in den Grundbegriffen gibt, darlegen. Wer einmal die
Grundrechenarten erlernt hat und mit RegelmaBigkeit die richtige Losung fur
die Aufgabe „2+2" angeben kann, braucht dazu spater keine intentionale Anstrengung mehr zu erbringen.
Nach den in den vorhergehenden Aufsatzen entwickelten Auffassungen
ware es deshalb auch moglich gewesen zu sagen, dass der Sozialwissenschaftler
die in den jeweiligen sozialen Beziehungen typischen Kausalvorstellungen quaHtativ studieren und dann in Umfragen moglichst quantitativ messen so lite, und
zwar ganz gleich, ob sie auf eigenes WoUen oder aber auf geglaubte externe
Zwange zielen. Der Forscher konnte z. B. zahlen, wie oft Menschen in ihrem
sichtbaren Verhalten je nach Klasse, Bildung, Geschlecht, Lebensphase, zuhorendem Publikum usw. tatsachlich in besthrimten sozialen Beziehungen die Ursache fur bestimmte Sachverhalte in „Leistungen" lokalisieren und wann sie
statt dessen Gliick, Schicksal, Wohlwollen Dritter, Traditionen usw. als Grund
ansehen, um dann aufgrund dieser Zahlungen Hypothesen liber kausale Folgen
solcher RegelmaBigkeiten aufzustellen. Die Grundbegriffe zielen auf subjektive,
mit einer gewissen RegelmaBigkeit im Verhalten sichtbar werdende Kausalvorstellungen (Nollmann 2003).
Die Annahme, solche Kausalvorstellungen traten mit einer gewissen RegelmaBigkeit auf, ist spater oft Icritisiert worden. Turner (1983: 513) betont, dass
Weber (1985: 420) sich offenbar einfach auf die durchschnittliche Fahigkeit
menschlichen Verhaitens verlasse, wahrscheinliche Ursachen und Wirkungen
adaquat zu berlicksichtigen, ohne selbst liber eine entsprechende Theorie des
Alltagswissens zu verfugen. Wer diese Kritik so auBert, macht zwar zu Recht
geltend, dass Weber diese Regeln des Zurechnens nur postulieren, aber nicht
oder nur beispielhaft empirisch konturieren konnte. Aber Weber hat auch gar
nicht behauptet, diese Regeln schon zu kennen, sondern vielmehr nur dargelegt,
dass es moglich sei, sie zu erforschen. Wer aber diese Prdmisse eines spater
empirisch zu flillenden Forschungsprogramms nicht teilt, bezweifelt letztlich
26
Gerd Nollmann
den Sinn des Gedankengangs, denn die Erfahrungsregeln, die geglaubte Verkntipfungen von Ursachen und Wirkungen enthalten, sind Webers Garant fiir die
Anwendbarkeit der Kausalkategorie auf dem Gebiet menschlichen Verhaltens.
Ohne die Annahme, dass die Erwartungen der Menschen im Alltag auf regelmaBige Weise an geglaubten Ursachen und Wirkungen eigenen und fremden
Verhaltens orientiert sind, ist Webers Kausalitatstheorie nicht tragfahig. Ob das
Vertrauen, das Weber in immer neuen Anlaufen praktischen Erfahrungsregeln
geschenkt hat, berechtigt ist oder nicht, kann nur empirisch entschieden werden.
Das von Weber in den Kritischen Studien erlauterte Beispiel der Mutter,
die sich fragt, warum sie ihr Kind geschlagen habe, zeigt am deutlichsten, dass
Weber kausale Zurechnungen nicht nur fur ein Merkmal der juristischen oder
der wissenschaftlichen Betrachtung, sondern fur einen Grnndzng jeden Verhaltens halt. Die Kausalitatskategorie ist insofern nicht ein intellektuelles Instrument der Weltdeutung, sondern fmdet schon in der alltaglichen Selbst- und
Fremddeutung Verwendung. Auch die Mutter nimmt ein Kausalurteil uber objektive Moglichkeiten und adaquate Verursachungen vor, wenn sie ihr eigenes
Verhalten betrachtet. Es spieh zunachst einmal keine Rolle, ob der Sozialwissenschaftler diese Kausalaussage fur plausibel halt und nicht z. B. eher die Klassenzugehorigkeit oder den Bildungsgrad als entscheidende Determinante der
mutterlichen Gewalt ansieht. Entscheidend ist fur die kausale Erklarung
menschlichen Verhaltens vielmehr nach Weber, dass Urteile liber adaquate Verursachungen im Gegenstand bereits vorkommen und diese deshalb als gemeinter
Sinn eines Verhaltens ein adaquater Kausalfaktor auch in der wissenschaftlichen Erklarung werden konnten. Das Verstehen von Sinnzusammenhcingen ist
insofern, in der von Weber ursprtinglich verwendeten Terminologic ausgedrtickt, nichts anderes als eine kausale Zurechnung, die schon im Gegenstand
der Kulturwissenschaft enthalten ist. Mit einer fur Weber (1985: 431, 545)
selbst wichtigen Unterscheidung ware es auch moglich, das Begriffspaar Sinnund Kausaladaquanz mit Hilfe der Unterscheidung von sinnhaften und sinnfremden Kausalzurechnungen zu erlautern. Es geht also nicht im Geringsten um
eine Gleichsetzung dieser beiden Unterscheidungen, sondern lediglich um die
propadeutische Explikation der weit reichenden, extrem anspruchsvollen Voraussetzungen, die in der Theorie von Sinn- und Kausaladaquanz enthalten sind,
damit deutlich wird, dass das Verstehen von Sinnzusammenhangen auf praktischen kausalen Zurechnungen beruht und Hypothesen daruber formuliert werden miissen, welche Folgen praktische Kausalzurechnungen haben und inwiefern sie sowohl strukturell erzeugt als auch erzeugend sind. Diesen sehr hohen
Anspruch von Webers Kausalitatstheorie kann man nun aus der Sicht der spateren sozialpsychologischen und sozialstrukturellen Forschung darlegen.
Sozialstruktur und Gesellschaft
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Es ist wichtig zu betonen, dass die Diskussion von Webers Kausalitatstheorie alles andere als eine literarische Ubung ist, sondern vielmehr zentrale Bedeutung fur die Beurteilung der von der Sozialforschung vorgelegten Daten hat. Ein
spannendes Beispiel dafiir bietet die Diskussion uber die Leistungsgesellschaft.
Auch wenn die verfiigbaren Daten vorsichtig hinsichtlich ihrer Validitat und Reliabilitat eingeschatzt werden miissen, zeichnet sich heute folgendes Bild ab: Als
sozialpsychologisches Datum bezeichnet „Leistung" eine kausale Zurechnung
menschlichen Verhaltens, die die Ursachen des zu erklarenden Sachverhalts in
internen und variablen Momenten sieht. Wird ein Verhalten als Leistung bezeichnet, werden die Ursachen fiir ein erklarungsbedtirftiges Phanomen, etwa
ungleiche Berufskarrieren, aus der Teilnehmerperspektive in der betreffenden
Person, nicht hingegen in deren Herkunft, Milieu, Natur etc. lokalisiert. Gemeint
ist damit der Blick der Praxis. So werden in Arbeitsorganisationen Vorgesetzte
stets die Leistung eines Mitarbeiters hervorheben, wenn sie diesen befordern
(unabhangig davon, ob die anderen Mitarbeiter das tatsachlich glauben oder gar
auf Hinterbuhnen vortragen, dass soziales Kapitel ausschlaggebend war). Auch
der Sinnzusammenhang menschlichen Verhaltens in Bildungsorganisationen ist
dadurch gekennzeichnet, dass diese ihre Mitglieder auf Leistungen einschworen.
Die Schtiler lernen, Ungleichheit der Noten als graduellen Ausdruck ihrer sich
selbst zuzurechnenden Leistungen zu betrachten: Die Schtiler sollen sich ihre
Noten selbst zuschreiben und ihre Anstrengungen erhohen, um bessere Noten zu
erreichen (Mortimer 1996).
Demgegenliber erscheinen aus der sozialstrukturell forschenden Beobachterperspektive Bildungs- und Begabungsstatistiken als sinnfremde Randbedingung von mehr oder minder durch „Leistungen" bestimmten Lebensverlaufen.
„Leistung" bezeichnet hier eine sozialstrukturelle, sinnfremde RegehnaBigkeit,
etwa der Verteilung von Bildungstiteln, Einkommen und beruflichen Positionen,
deren kausale Wirksamkeit mit anderen Variablen, etwa der sozialen Herkunft
oder des Geschlechts, zu konkurrieren scheint. Solche Verteilungen bezeichnen
nicht die Sinnhaftigkeit des menschlichen Verhaltens selbst, sondern die sozialstrukturellen Ursachen und Wirkungen von menschlichem Verhalten.
Der Kausalgehalt des Leistungsbegriffs ist folglich doppelter, namlich sowohl sozialpsychologischer als auch sozialstruktureller Art, und fiir die Forschung ist es nach Weber von hochster Relevanz, beide Bedeutungen sauber zu
trennen. Wer erstens berufliche Erfolge aus Bildungs- und Begabungsindikatoren einerseits und Einfltissen der sozialen Herkunft andererseits aus der Beobachterperspektive zu erklaren versucht, gelangt zu einem gemischten Bild, das
hochstens die Aussage erlaubt, dass beide Erklarungsrichtungen auf jeden Fall
erhebliches kausales Gewicht haben, ohne dass eine Dominanz einer Variablengruppe eindeutig festgestellt werden kann (so Breen/Goldthorpe 1999;
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Gerd Nollmann
Bond/Saunders 1999). Fragt man jedoch zweitens in Umfragen nach sinnhaften
Zurechnungsgewohnheiten, die die Menschen in ihren Lebensbereichen, etwa
im Beruf, in der Bildung oder in politischen Offentlichkeiten beziiglich „Leistung" haben, zeigt sich eine im Vergleich wesenthch starkere individualistische
Deutungspraferenz, die die Ungleichheit der Menschen auf gleichsam „ubertriebene" Weise in Leistungsunterschieden begrundet sieht (Kluegel/Smith 1986).
Diese Sichtweise hat durch die Einfuhrung von Kosten/Leistungsrechnungen in
Wirtschaft, Verwaltung, Bildung und Gesundheit nochmals erheblich an Gewicht gewonnen, well diese Leistungszurechnungen erzwingen. Die sinnhafte
Erkldrung aus der Teilnehmerperspektive ist also kausal viel einseitiger als die
sinnfremde Beobachterperspektive. Cum grano salis konnte man zur gesamten
Kausallage sagen, dass aus der sinnfremden Beobachterperspektive die moderne
Gesellschaft in einem Verhaltnis von etwa 50:50 als Meritolo-atie und als Aristolcratie erscheint. Aus der Teilnehmerperspektive scheint hingegen das Verhaltnis jedoch eher bei etwa 80:20 zugunsten des Leistungsglaubens zu liegen.
Ftir die Forschung kommt es darauf an, in beiden Forschungsergebnissen
nicht einen problematischen Widerspruch zu sehen oder die Praxis liber das von
aufien betrachtet viel hohere Gewicht der aslmptiven Parameter belehren zu
wollen. Vielmehr miissen mit Webers Kausalitatstheorie aus den sinnhaften und
sinnfremden Daten die richtigen Schlussfolgerungen flir Ablauf und Wirkungen
menschlichen Verhaltens gezogen werden. Die „Einseitigkeit" der sinnhaften
Leistungszurechnungen in westlichen Gesellschaften bleibt namlich alles andere
als folgenlos. Sie ftihrt dazu, dass der Konfliktgehalt sozialer Ungleichheit nicht
selten uberraschend gering bleibt, weil die Menschen meistens und insbesondere
in der Bildung sowie in fi-uhen Berufsjahren wirklich glauben, Ungleichheiten
seien durch unterschiedliche Leistungen begrundet. Zumindest widersprechen
sie dieser Zurechnung auch spater offentlich nicht, sondern mtissen sich mit ihren Zweifeln in Situationen begeben, in denen Widerspruch mehr oder minder
folgenlos verhallt - etwa in informelle Hinterbiihnen oder private Diskussionen
mit Freunden oder in der Familie oder schlieBlich in die einsame Resignation,
die wiederum messbare Storungen des emotionalen und seelischen Gleichgewichts bewirkt (Liebig/Schupp 2004). Geltung und Nicht-Geltung des Leistungswerts werden im Verhalten selbst damit aber auf zwei verschiedene Gleise
gesetzt. Die Auffassung, Ungleichheiten der Bezahlung, der Position und des
Geschlechts seien durch unterschiedliche Leistungen kausal verursacht, stellt
zwar keinesfalls die exklusive, wohl aber die geltende und als legitim beanspruchte Sichtweise dar, wenn es darauf ankommt - und das, obwohl von
auBen kaum ubersehen werden kann, dass sie kausal hochst einseitig ist. Gerade
das Auseinanderfallen dieser beiden Sichtweisen muss analysiert werden. Ob
und wenn ja, inwieweit die kausalen Zurechnungen aus Teilnehmer- und Beob-
Soziaistruktur und Gesellschaft
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achterperspektive divergieren und welche kausalen Folgen das hat, war zu Webers Zeiten natlirlich nicht im Geringsten voraussehbar, well es noch keine Sozialforschung gab, die die heute verfiigbaren Daten zu Einstellungen und sozialstrukturellen Variablen bereit stellt.^
Der Leistungswert ist also in der Lage, einen briichigen, gleichwohl wirksamen Konsens fur ungleiche Lebensverlaufe uber Klassengrenzen hinweg zu
mobilisieren, gerade weil er nicht immer fur alle zu alien Zeiten in gleichem
MaBe gilt. Dieses aneinander gesteigerte Wechselspiel von eingefordertem Konsens und zuruckgedrangtem Konflikt gelangt allerdings erst dann in den Blick,
wenn mit Weber zwischen sinnhaften und sinnfremden kausalen Zurechnungen
unterschieden wird. „Leistung" bezeichnet einmal das sinnhafte Verhalten selbst
und im anderen Fall die von auBen erkannten, sinnfremden Ursachen und Wirkungen des Verhaltens.
Expliziert man auf diese Weise die zu „verstehende" Sinnadaquanz eines
Verhaltens als praktische, „gemeinte" Kausalvorstellung, verhalt sich diese in
ihrer logischen Kausalstruktur nicht grundsatzlich anders als die s'mnfremde
Kausaladaquanz eines Verhaltens. In beiden Fallen geht es um Ursachen und
Wirkungen. Die sinnadaquate Beschreibung eines Verhaltens (Teilnehmerperspektive) ist nur insofern immer eine kausal adaquate Beschreibung eines Verhaltens (Beobachterperspektive), als es ohne sie nicht moglich ist, eine nicht
willkilrliche kausale Erklarung von Verhalten anzufertigen. Sofern dargelegt
werden kann, dass das als sinnadaquat bezeichnete Verhalten mit einer gewissen
RegelmaBigkeit vorzukommen pflegt, ist die sinnadaquate Beschreibung des
Verhaltens auch kausal adaquat, denn ohne das zugrunde liegende menschliche
Verhalten gabe es den betrachteten Zusammenhang nicht.
So betrachtet erscheint eine Allianz von Erklaren und Verstehen, von EntwicklungS'/Sozialpsychologie und Soziologie, von subjektivem und objektivem
Erklaren geradezu ein „naturlicher" Fortschritt bei der sukzessiven Umsetzung
von Webers Programm. Das belebte Interesse am kulturellen Kapital, der Uber' Weber (1985: 444 f.) diskiitiert dieses Problem an den nur scheinbar anders gearteten Beispielen
des Diebes, des falsch spielenden Kartenspielers und des Totschlagers. Die geltenden Erwartungen
sagen, dass deren abweichendes Verhalten eigentlich gar nicht vorkommen dtirt^. Gleichwohl machen Statistiken (sinnfremde RegelmaBigkeit) dieses Abweichen - zumindest fiir die Beispiele des
Diebstahls und des Totschlags - sichtbar. Ahnliches gilt ftlr den „Wettbewerb" von Meritokratie und
Aristokratie: Auch wenn die Forschung die immense Bedeutung der sozialen Herkunft fiir Berufskarrieren eindeutig belegt hat, scheinen die Menschen oft an der in der Praxis ublichen Fiktion testzuhalten, dass angeblich Leistungen ausschlaggebend seien. Gerade die Divergenz ist von Interesse,
denn dieser „lrrglauben" hat wichtige Folgen, die man ohne seine Kenntnis nicht erkennen wiirde wie z. B. die Tatsache, dass ohne die geglaubten Fiktionen das heute iibliche AusmaB an sozialer
Ungleichheit gar nicht moglich ware, weil die Menschen sonst tatsachlich offentlich widersprechen
und ggf. die geltende Ordnung zerstoren wiirden.
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Gerd Nollmann
gang zur Lebensverlaufsforschung, das vertiefte Interesse an Milaoprozessen in
Familie, Peergroups, Schule, Nachbarschaft, Schulsystem, Arbeitsmarkt, Wohlfahrtsstaat und Mehrebenenbetrachtungen verweisen darauf, dass sich die Klassenforschung langst der Aufgabe widmet, die probabiiistischen RegelmaBiglceiten zwischen Sozialstrui<:tur und Gesellschaft verstandlicher und damit auch
kausal durchsichtiger zu machen (Hout/DiPrete 2004: 19).
4
Die Beitrage
John Goldthorpe untersucht in seinem Beitrag den Zusammenhang von Beschaftigungsverhaltnissen, ihrer vertraglichen Regelung und der Bildung gesellschaftlicher Klassen. Sein Anliegen ist, ein moglichst allgemeines, werturteilsfreies Analyse-Instrument zur Verftigung zu stellen, das die Klassenstruktur
moderner Gesellschaften auf der Grundlage der Theorie rationalen Handeins beschreiben und erklaren kann.
Uwe Engel und Julia Simonson setzen sich mit den Auswirkungen von Statusinkonsistenz auf die soziale Integration auseinander. Grundlage ihrer Modellierung ist die Statusinkonsistenztheorie, die auf ein modernes Phanomen verweist: Individuen weisen Merkmale unterschiedlicher Statuspositionen auf und
lassen sich so keiner Statusposition eindeutig zuordnen. Forschungsbedarf sehen
sie bei den Fragen, ob Statusinkonsistenz heute noch bedeutsame psychosoziale
und soziale Auswirkungen hat oder ob diese Auswirkungen mit zunehmender
Haufung von Statusinkonsistenz in der Gesellschaft abnehmen.
Das Verhaltnis von Individualisierung und Restrukturierung in sich ausdifferenzierenden Sozialstrukturen ist Gegenstand des Beitrags von Dieter
Holtmann. Am Beispiel der sozialstrukturellen Verankerung der Parteienlandschaft und des Wertewandels zeigt er, dass Individualisierung und Restrukturierung sich nicht ausschlieBen, dass ihr Verhaltnis aber auch nicht durch eindimensionale Erklarungen zu bestimmen ist. An die Stelle von alteren Klassenmodellen mtissen vielmehr neuere Modelle vertikaler Strukturierung treten, die
die Restrukturierungstendenzen neben den Individualisierungstendenzen angemessen abbilden konnen.
Den spezifisch deutschen Blick auf die Sozialstruktur unterzieht Max Mailer in seinem Beitrag einer wissenssoziologischen Analyse. Im Vergleich mit
der deutschen Soziologie friiherer Jahre aber auch mit den soziologischen Untersuchungen in Franl<Teich, GroBbritannien und den Vereinigten Staaten von
Amerika diskutiert er, wann und warum gerade in Deutschland das Ende der
Klassengesellschaft ausgerufen wurde und wie wir heute die Klassenanalyse im
Sinne einer kritischen Soziologie fur die Theoriebildung nutzbar machen konnen.
Sozialstruktur und Gesellschaft
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Petra Stein eroffnet eine Forschungsperspektive auf den Zusammenhang
zwischen Lebensbedingungen und Lebensstilen. Empirische Studien legen nahe,
dass Lebensstile als neuere Konzepte zur Beschreibung sozialer Ungleichheit
die klassischen strukturtheoretischen Ansatze nicht verdrangen sollten. Stein argumentiert, dass bei der Erforschung der Auswirkungen von Schicht- oder Klassenzugehorigkeit auf den Lebensstil Mobilitatsprozesse gewinnbringend einbezogen werden konnen. Es wird deutlich, dass neben der sozialen Position und
den „objektiven" Lebensbedingungen auch die intergenerationelle Mobilitat eixiQn Einfluss auf die Neigung zu einem Kulturschema hat. Die Einbeziehung
von Mobilitatsprozessen kann damit die Erklarungslcraft von Klassen und
Schichten wesentlich verbessern.
Fur eine bessere Kombination quantitativer und qualitativer Untersuchungsmethoden bei der Erforschung sozialer Ungleichheit pladiert Harold
Kerbo. Am Beispiel der Erforschung gesellschaftlicher Schichtung in Japan
zeigt er auf, wie westliche Vorurteile in Kombination mit quantitativen Forschungsmethoden in der Tradition Durkheims den Blick auf wichtige nationale
Eigenheiten verstellen. Diese Eigenheiten konnten mithilfe einer quaHtativen
vergleichend-historischen Methodologic in der Tradition Webers erkannt und
berucksichtigt werden.
George Ritzer und Michael Friedman machen einen Ausflug in die Kultur
des globalen Dorfes. In alien GroBstadten der Welt, so argumentieren sie, sind
die gleichen Prozesse der Stadterneuerung im Gange. Nach der Abwanderung
von Produktionsunternehmen in „billigere" Lander orientieren sich die Stadte
auf der Suche nach neuen Einnahmequellen an den liberal 1 erfolgreichen Konzepten der „McDisneyisierung". An die Stelle der Produktion tritt der Konsum,
der an alien Orten der Welt in den gleichen Formen und aufgrund der gleichen
Anreize vollzogen wird. Einzelne Stadte konnen sich hierbei nur noch durch den
Zauber ihres Namens aus der Universalitat der Konsumlandschaften herausheben. Als Ausweg aus dem drohenden Dilemma des Konsumverfalls durch Ununterscheidbarkeit empfehlen die Autoren der Politik, einen Ausgleich zwischen
Universellem und Ureigenem anzustreben, durch den sich die Stadte ein eigenes
Gesicht bewahren konnen.
In seiner Kritik sowohl okonomischer als auch soziologischer Sichtweisen
auf den Markt als isolierten gesellschaftlichen Einzelbereich in Auseinandersetzung mit staatlichen und gesellschaftlichen Vorgaben pladiert Nico Stehr fur eine Analyse des Marktes als soziale Praxis, die in die gesellschaftliche Sozialstruktur eingebettet ist und sich durchdrungen von gesellschaftlicher Moral im
Zusammenspiel kompetenter Akteure entfaltet und fortentwickelt.
Die Bedeutung der Religion fur Menschen in modernen, hoch differenzierten Gesellschaften untersucht Heiner Meulemann. Er stellt zunachst die moder-
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Gerd Noilmann
ne Religion ais einen Teilbereich des Lebens neben anderen vor. Das Besondere
an diesem Teilbereich ist aber, dass hier nicht nur eine Einzeibereichszufriedenheit erzeugt, sondern Zufriedenheit auch fiir das Leben insgesamt bere itgeste lit
wird. Meulemann stellt den Einfluss der Religiositat auf die Zufriedenheit mit
dem Leben insgesamt dar - einerseits in Abgrenzung zum Einfluss der ReUgiositat auf die Zufriedenheit mit einzelnen Lebensbereichen, andererseits in Abgrenzung zum Einfluss anderer Faktoren auf die Zufriedenheit mit dem Leben
insgesamt. Dabei wird deutlich, dass die Religion trotz ihrer Stellung als Teilbereich des Lebens nach wie vor geeignet ist, dem Leben der Menschen insgesamt
Sinn zu geben und das menschliche Bedurfnis nach „Kosmisierung" zu erfuUen.
Um die Deutungshoheit liber die Trieblaafte gesellschaftlicher Entwicklung geht es im Beitrag von Georg W. Oesterdiekhoff. In einer l<Titischen Auseinandersetzung mit der Institutionentheorie von Douglass North verteidigt er bei
der Bestimmung der Ursachen kultureller Entwicklung und Divergenz die Uberlegenheit soziologischer und kulturanthropologischer Erklarungsansatze gegenuber neueren, rein okonomischen Ansatzen von Markt und Eigentum.
Thomas Schweer und Nicole Scherer beschreiben das schwierige Spannungsfeld zwischen Rechtsstaat und Prostitutionsszene in Deutschland. Trotz
Legalisierung verscharfen sich die Lebensbedingungen der betroffenen Frauen
immer weiter. Der Text lasst vermuten, dass der noch gestiegene und weiter
steigende, dringende staatliche Handlungsbedarf vom modernen Rechts- und
Sozialstaat nicht in seinem ganzen AusmaB erfasst und anerkannt wird. Hier
bleiben Wissenschaft und Politik als Gestaltungskrafte der Gesellschaft weiterhin gefragt.
Einen Blick auf die Konstruktion der SpaBgesellschaft wirft Marcus S.
Kleiner. Vor dem Hintergrund des Booms von Comedy-VormSitQn im deutschen
Fernsehen analysiert er die medialen und wissenschaftlichen Diskurse tiber
SpaBgesellschaft und SpaBkultur. Er entlarvt diese Diskurse als weitgehend
selbstreferentielle Kommunikationen, in denen eigene Bedeutungen erst produziert werden. Hier reden Medien mit Medien und Wissenschaft mit Wissenschaft, und genau durch diese Diskurse wird - letztlich vielleicht sogar an der
Unterhaltungs5ffentlichkeit vorbei - die SpaBgesellschaft erst ausgerufen, an
deren Bild sich die Macher der immer gleichen Unterhaltungsshows orientieren.
Fur einen neuen Egalitarismus als Leitformel des modernen Sozialstaats
pladieren Anthony Giddens und Patrick Diamond. Sie diskutieren exemplarisch
die Politik von New Labour in GroBbritannien. An die Stelle alterer egalitaristischer Forderungen nach Umverteilung und Ergebnisgleichheit setzen sie das
Ziel, soziale Gerechtigkeit durch die Herstellung von Chancengleichheit bei diversen Moglichkeiten des Ergebnisses zu erreichen. Ausgerichtet an der Vision
eines Sozialstaates, der die Armut als Hypothek auf Leben und Personlichkeit
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