Monika Egli-Alge, Geschäftsführerin forio Behinderte Täter Menschen mit Lern- und geistiger Behinderung und grenzverletzendem Verhalten Einleitung Am Forensischen Institut Ostschweiz haben wir in den vergangenen 6 Jahren auf der Grundlage der Arbeiten von David O’Callaghan (2004) spezifische Behandlungsprogramme für Menschen mit Lern- und geistigen Behinderungen entwickelt, erprobt und ein entsprechendes Angebot aufgebaut, insbesondere und schwerpunktmässig für diejenigen, die sexuelle Übergriffe begehen oder begangen haben. Die im Folgenden dargestellten inhaltlichen Aspekte wurden bisher nicht wissenschaftlich untersucht. Es handelt sich um eine praxiserprobte methodisch-therapeutische Vorgehensweise. Die bisherige Erfahrung zeigt überzeugend, dass die behandelten Jugendlichen insbesondere in den Bereichen Selbstwertgefühl, innere Einsamkeit, Kontrollüberzeugungen und Empathiefähigkeit in der Behandlung erhebliche Fortschritte machen. In Zusammenarbeit und unter der Regie der internationalen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der ESSAY-Konferenzen werden die Behandlungen hinsichtlich spezifischer Effekte von Matthias Schmelzle wissenschaftlich evaluiert. Dabei kommt vor allem das A.S.A.P. (Adolescent Sex Abuser Assessment Protocol) von Richard Beckett und Matthias Schmelzle (deutschsprachige Fassung 2003) zum Einsatz. Für Menschen mit Lern- und geistigen Behinderungen kann das Verfahren wegen ihrer kognitiven Beeinträchtigungen derzeit nicht eingesetzt werden. Entsprechende Adaptionen sind in Vorbereitung. Begriffe und Definitionen Sexueller Missbrauch Sexueller Missbrauch an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht- und Autoritätsposition aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen (Bange & Deegener 1996). Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 1 U80 Im Sinne eines vorläufigen Arbeitstitels wurde für die im Folgenden vorzustellenden Arbeiten davon ausgegangen, dass die erwähnten Programme für Menschen mit einem IQ unter 80 entwickelt werden sollten. Ein IQ unter 80 (U80) bedeutet, dass die kognitiven Fähigkeiten deutlich im Bereich der ersten Standardabweichung1 unterhalb der Norm liegen (ICD-10, DSM IV). Damit sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die kognitiven Möglichkeiten der zu behandelnden Jugendlichen im Bereich von IQ 70 bis 84 liegt. Für schweizerische Verhältnisse wird für diese Gruppe auch der Begriff „Lernbehinderung“ verwendet. Menschen mit Lern- und geistigen Behinderungen zeigen oft Defizite in sozialen Bereichen wie beispielsweise dem Beziehungs- und Kontaktverhalten sowie eine hohe Komorbidität bezüglich psychischer und psychiatrischer Erkrankungen, hierunter zum Beispiel Stereotypien (Prävalenzrate von 60%) oder Zwänge (Prävalenzrate von 40%). Das soziale Funktionsniveau von Menschen mit geistigen Behinderungen ist häufig eingeschränkt, weil ihnen beispielsweise Fähigkeiten fehlen, soziale Situationen und Kontexte intellektuell einzuschätzen, zu beurteilen, zu verstehen und zu konnotieren. Im Rahmen einer sorgfältigen und umfassenden Diagnostik vor jeder Behandlung müssen diese Erkenntnisse in dem diagnostischen Prozess Beachtung und Einzug halten. Unter diesen Voraussetzungen sind Lern- und geistig Behinderte häufig in Einrichtungen untergebracht. Oftmals haben lern- und geistig behinderte Menschen eine Institutionskarriere, deren Beginn in der Kindheit liegt. Oft korrespondiert sie mit dem Eintritt in die Schullaufbahn, wenn denn die Behinderung bereits früh erkannt wurde. So kann oder muss davon ausgegangen werden, dass Menschen mit Lern- und geistiger Behinderung und ihre Familien oftmals in ihrer Sozialisation ebenfalls belastet sind. Geistige Behinderung und sexuell grenzverletzendes Verhalten Der Terminus „sexueller Missbrauch“ ist ein unklarer und nicht differenzierter Ausdruck, der offen lässt, was genau geschehen ist, welches Verhalten gemeint ist, ob Grenzen verletzt 1 Normbereich ist definiert gemäss ICD-10 zwischen 85 und 115. Eine Standardabweichung (SD) beinhaltet 15 IQ-Punkte. Das bedeutet, dass sich der Range für die Lernbehinderung zwischen IQ 85 und 70 bewegt. Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 2 worden sind, ob strafbare Handlungen geschehen sind und in welchem Ausmaß2. Der Ausdruck lässt offen, inwiefern die Handlungen freiwillig oder einvernehmlich stattgefunden haben oder ob es sich um ein Geschehen handelt, welches zwischen diesen Polen osziliert. Ebenso lässt der Ausdruck offen, ob neben den direkt beteiligten Personen weitere involvierte waren, ob beispielsweise eine Aufdeckung oder gar eine Strafanzeige stattgefunden hat. Weder über die beschuldigte noch über die geschädigte Person gibt der Ausdruck „sexueller Missbrauch“ weiterführende Auskünfte oder Angaben. Geistige Behinderung und Sexualität Sexualität ist individuell und ein Menschenrecht. Das gilt auch für das Recht auf die Integrität der eigenen Sexualität, und auch für Menschen mit Behinderungen. Die gesamte psychische (und körperliche) Entwicklung von Menschen mit geistigen Behinderungen ist sensiblen und oft unvorhersehbaren Prozessen ausgesetzt. In der Erziehung geistig Behinderter herrschen oft Ängste und Befürchtungen derer vor, die für sie verantwortlich sind. Für Eltern ist es eine enorme Herausforderung, ein Kind mit einer geistigen Behinderung grosszuziehen und zu erziehen, im Wissen, dass dieses Kind wohl kaum jemals eine hinreichende Selbständigkeit erlangen wird. Das gilt oftmals auch für die Sexualität. Jemanden zur Selbständigkeit zu erziehen und in weitreichende Selbstverantwortung zu entlassen ist aber nicht nur für Eltern eine grosse Herausforderung! In der Entwicklungsphase der Pubertät akzentuiert sich die Dynamik im Bereich der Sexualität, weil sich verschiedene Entwicklungsenergien kumulieren: so geht es um das Durchsetzen von eigenem Willen und Wünschen, um das Ausprobieren von Grenzen und Gepflogenheiten, um das Austesten von geltenden Regeln. Geistig behinderte Menschen müssen jedoch auch dazu erzogen werden, dass sie sich anpassen und nicht mit schwierigen oder ausserordentlichem Verhalten gesellschaftlich und sozial anecken. Auch im Bereich der Sexualtität müssen sie dazu angehalten werden, dass sie „nein-sagen“ dürfen, dass sie sich eben nicht in allen Situationen anpassen müssen. Sexuell grenzverletzendes Verhalten Menschen mit geistigen Behinderungen können alle möglichen Formen sexuell grenzverletzenden Verhaltens zeigen. So wie geistig behinderte Menschen Opfer von allen Straftatbeständen werden können, so können sie im Grunde alle Straftatbestände im Bereich 2 „sexueller Missbrauch“ ist in der Schweiz kein juristischer Begriff, der beispielsweise im Strafgesetztbuch als Strafbestand aufgeführt ist. Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 3 der Delikte gegen die sexuelle Integrität3 erfüllen, die gemäß geltender Strafgesetze (beispielsweise dem Schweizerischen Strafgesetzbuch 1999) festgelegt sind. Die Forschungslage ist bisher dürftig. So existieren kaum wissenschaftliche Arbeiten, die die Problematik dieser Gruppe dezidiert und fundiert aufzeigen können und aussagekräftiges Datenmaterial liefert. In der Schweiz besteht zudem das Problem, dass in den relevanten Datenbanken (Bundesamt für Polizei 2009; Statistik Schweiz 2009; Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft 2009) die relevanten Merkmale – intellektuelle Minderbegabung, konstitutionelle und soziale Defizite, psychische Störungen – bisher nicht systematisch erfasst werden. In den Stichproben von Epps (1991) wiesen 44% der untersuchten Sexualstraftäter kognitive Defizite auf. Hawkes et al. (1997) stellten bei 53% und Dolan et al. (1996) bei 46%. der untersuchten Stichproben eine verminderte Intelligenz fest. Nach ihren Ergebnissen ist die Gruppe der Lern- und geistig behinderten Sexualstraftäter in Gefängnissen unter- und in Heimen und speziellen Einrichtungen überrepräsentiert. Aus diesen Ergebnissen kann gefolgert werden, dass sich – nach erfolgter Strafuntersuchung und ggf. Verurteilung, wofür bereits eine Menge Probleme zu bewältigen sind und sich relevante Fragen stellen – weitere Problemfelder eröffnen: Wo sollen, müssen oder können Menschen mit kognitiven Einschränkungen angemessen untergebracht werden, wenn sie straffällig geworden sind, eine entsprechende Dringlichkeit und Notwendigkeit besteht, eine Strafe oder eine Massnahme zu vollziehen? Noch viel wichtiger erscheint aus psychologischer Perspektive dabei die Frage nach der forensischen Behandlung beziehungsweise der Rückfallprophylaxe, die eine vielschichtige Rehabilitation bedeutet. Diagnostik Eine sorgfältige psychologisch/psychiatrische Diagnostik ist Grundvoraussetzung jeder Behandlung. Wenn Straftaten vorliegen, ist die Diagnostik entsprechend mit forensischen Aspekten zu vervollständigen. Bei Menschen mit Lern- und geistigen Behinderungen müssen dabei besondere Bereiche berücksichtigt werden, wie z.B. die Entwicklung, Persönlichkeit und das kognitive Potenzial. Psychometrische Verfahren sind oft unzulänglich beziehungsweise decken lediglich Teilaspekte ab und zeichnen kein vollständiges Bild. Die HamburgerWechsler Testverfahren eignen sich gut zur Leistungsdiagnostik, weil sie im Rahmen der Profilauswertung sowohl die intellektuellen Stärken als auch Schwächen 3 Und selbstverständlich auch bezogen auf andere Deliktgruppen. Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 4 berücksichtigen und somit einen brauchbaren und hilfreichen Einblick in das Potenzial der Menschen geben. Zusätzlich zur standardisierten Testung des Leistungspotenzials ist eine Schreib- und Leseprobe hilfreich. Darüber hinaus ist es im juristischen Kontext notwendig, die Schuld- und Zurechnungsfähigkeit der Lern- und geistig Behinderten Menschen zu beurteilen. Dem Bereich der Sexualität kommt nicht nur im Zusammenhang mit sexuellen Grenzüberschreitungen oder Straftaten eine grosse Bedeutung zu. Nach dem heutigen Stand des begrenzten Wissens, muss davon ausgegangen werden, dass sich bei Lern- und geistig Behinderten die Sexualität ähnlich wie bei nicht geistig Behinderten in vielfältiger Form präsentieren kann. Täterverhalten und -strategien Scheinbar irrelevante Entscheidungen Das bedeutet, dass Täter dazu neigen, ihr Verhalten als eine Aneinandereihung von Zufällen zu begreifen, ohne dass sie mit ihren bewussten Entscheidungen in die Abläufe eingreifen. Scheinbar zufällig befand man sich plötzlich und unvermittelt auf dem Spielplatz und war allein mit dem Kind, an welchem später der Übergriff verübt wurde. Scheinbar zufällig und ohne eigenes Dazutun begleitete einen dieses Kind in die Wohnung, man war vertrauensvoll und zugetan - auch dies selbstverständlich rein zufällig und ohne Steuerung, Manipulation, Lenkung oder andersweitig zielgerichtetem, bewusstem Handeln des späteren Täters (Marlatt & Gordon 1985). Problematische, sofortige Bedürfnisbefriedigung Viele Täter sind an unmittelbar zu erhaltener aber eben problematischer Bedürfnisbefriedigung interessiert und leugnen dafür langfristige Nachteile – selbstverständlich in erster Linie für die Opfer, aber auch für sich selbst. Bei diesem problematischen Verhalten, das ausführlich in der Literatur über kognitiv- behaviorale Programme im Zusammenhang mit Suchtbehandlung beispielsweise von Lipsey et al. (2007) beschrieben wurde, handelt es sich um ein Muster von mangelnder Frustrationstoleranz, mangelnden Möglichkeiten für Bedürfnisaufschub und Impulsivität. Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 5 Behinderte Menschen und Täterstrategien Nach unseren Erfahrungen können wir die Aussage wagen, dass bei den beeinträchtigten Menschen sehr ähnliche Mechanismen, Dynamiken und „Täterstrategien“ gibt wie bei Menschen ohne kognitive Einschränkungen. Nur gehen Lern- und geistig - behinderte Jugendliche und Erwachsene bei ihren Vorhaben manchmal weniger geschickt oft aber offensichtlicher vor. Ihre Strategien sind durchschaubarer, weil sie in kognitiver Hinsicht oft nicht oder eben eingeschränkt in der Lage sind, ihre Pläne geschickt anzulegen, Aufdeckung zu verhindern und ihr Vorgehen so zu gestalten, dass die Umgebung verwirrt ist und ihnen nicht sogleich auf die Schliche kommt. Mangelnde Beziehungsmöglichkeiten und die oftmals eingeschränkten Beziehungskompetenzen sowie die Rahmenbedingungen, die sie oftmals in Einrichtungen antreffen, können die Strategien beeinflussen. So ist für Menschen mit Lernund geistigen Behinderungen die Gestaltung von Liebesbeziehungen erschwert und mit erheblichen Hindernissen verbunden, sodass es diesen Menschen oft besonders schwer fällt, ihre Sexualität und ihr Beziehungsbedürfnis auf angemessene Art und Weise – im von uns so genannten „grünen Bereich“, also erlaubt, toleriert und angemessen – leben zu können. Hinzu kommt, dass Lern- und geistig behinderte Menschen oft Lücken in ihrem sexuellen Wissen haben oder ernsthaft falsch informiert sind (Brantlinger 1985). Behinderte Menschen und ihre Lebensumfelder Behinderte Menschen als Opfer und Täter Zemp und Kollegen (1997) haben in einer groß angelegten Studie in Einrichtungen für behinderte erwachsene Menschen in Österreich folgende Aussagen zur Häufigkeit von sexuell grenzverletzendem Verhalten machen können: • 27% haben andere sexuell belästigt oder sexuelle Gewalt ausgeübt. • Bei einem Drittel handelt es sich um Wiederholungstäter. • Häufigster Ausbeutungsort ist die Institution. • Bei Männern ohne Privatbereich ist der Anteil grenzverletzendem Verhalten bedeutend höher (44%). • 23% der Taten wurden von Jugendlichen begangen. Als Hintergründe führten die Forscher an, dass sexuelle Ausbeutung von Menschen mit geistiger Behinderung oftmals aus Unwissenheit, Unkenntnis und Mangel an Erfahrung Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 6 geschieht. Sie kann aber auch, genau wie bei Menschen mit einer durchschnittlichen Intelligenz, mit der Ausübung von Macht und Gewalt in Zusammenhang stehen. Bei jugendlichen Lern- und geistig Behinderten muss selbstverständlich wie bei normalintelligenten Adoleszenten die sexuelle Grenzverletzung im Kontext der pubertären Entwicklung und der Adoleszenz, betrachtet und verstanden werden. So fanden Zemp und Kollegen auch hier einen Zusammenhang und zwar in jener Hinsicht, dass bei Jugendlichen im Bereich der Sexualität, der interpersonellen Grenzen und der zwischengeschlechtlichen Annäherung oftmals Grenzverletzungen vorkommen, die als „Experimentierfehler“ bezeichnet werden könnten, ohne dass damit das Geschehen in irgendeiner Weise bagatellisisert werden soll. Bei Jugendlichen ist die Frage eines Experimentierfehlers stets als Alternativhypothese im Auge zu behalten, beziehungsweise systematisch sowohl in der Eingangsuntersuchung oder der Begutachtung als auch im Rahmen der Verlaufsdiagnostik im Auge zu behalten. Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 7 Erhebungen zu Menschen mit Lern- und geistigen Behinderungen und sexuell grenzverletzendem Verhalten aus der Schweiz Im Rahmen einer Diplomarbeit an der Université du Fribourg in der Schweiz haben Anna Adam, Christine Heller, Severine Meier und Christina Zwimpfer (2006) versucht, die Datenlage in der Schweiz zum Thema „Männer mit geistiger Behinderung und grenzverletzendem Sexualverhalten“ zu eruieren. Diese Arbeit ist die erste im deutschsprachigen Raum, die sich mit dieser Thematik praxisnah auseinandersetzt und versucht, die Situation im institutionellen Rahmen zu analysieren.. Die Diplomandinnen haben 50 Institutionen angeschrieben. Die Rücklaufquote betrug 50%. Neun Fragebögen waren nicht auswertbar. Schliesslich konnten 16 Fragebögen aus 16 Einrichtungen (32% der insgesamt Angeschriebenen) ausgewertet werden. Auf einer deskriptiven Ebene lässt die Arbeit folgende Schlüsse zu: • Menschen mit geistigen Behinderungen – Jugendliche sowie Erwachsene – begehen alle Arten von Sexualdelikten. • Sowohl die Psychiatrie, der Strafvollzug, als auch heilpädagogische Einrichtungen sind mit der ganzheitlichen Versorgung geistig Behinderter mit sexuell grenzverletzendem Verhalten überfordert. • Das Anzeigeverhalten gegenüber geistig behinderten Tätern kann als tendenziell zurückhaltend bezeichnet werden, • so verbleiben sie vermehrt in heil- und sozialpädagogischen Einrichtungen. • Verurteilte Sexualstraftäter mit geistigen Behinderungen werden tendenziell eher im Straf- und Massnahmenvollzug untergebracht. • Pädagogische Massnahmen und Angebote werden vor allem von heil- und sozialpädagogischen Einrichtungen angeboten. • Um den Schutz und die nötige Kontrolle zu gewährleisten, sind in heil- und sozialpädagogischen Einrichtungen oft bauliche und personelle Veränderungen notwendig. • Eine offene Grundhaltung sowie das Menschenbild des Betreuungspersonals beeinflusst in massgeblicher Weise den Umgang der geistig Behinderten mit ihrer Sexualität. • Die Aus- und Weiterbildung sowie die Qualifikation des Personals ist von erheblicher Wichtigkeit. Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 8 • Dem Prinzip der Normalisierung ist in der Betreuung von geistig behinderten Straftätern im Hinblick auf Korrektive bezüglich der Moralinstanz Beachtung zu schenken. • Der Kooperation und Zusammenarbeit der Fachleute kommt höchste Bedeutung zu. • Die Beurteilung des Rückfallrisikos muss im Sinne eines Monitorings ständig im Auge behalten werden. • Zum Schutze aller müssen geeignete Unterbringungs- und Behandlungsmöglichkeiten geschaffen werden. Datenerhebung Forensisches Institut Ostschweiz 2008 Im Zusammenhang mit einer Analyse der Situation von Lern- und geistig behinderten Jugendlichen und Erwachsenen im Kanton Thurgau im Jahre 2008 verfassten wir am Forensischen Institut Ostschweiz einen Fragebogen zu sexuell grenzverletzendem Verhalten in Institutionen mit Lern- und geistig behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Neben Multiple-Choice-Fragen konnte durch die Beantwortung offener Fragen individuell und dezidiert zur Thematik Stellung bezogen werden. Die Fragebögen konnten anonymisiert zurückgeschickt werden. Insgesamt wurden 33 Einrichtungen im Kanton angeschrieben. Der auswertbare Rücklauf betrug 45.5% (15 Einrichtungen). Ausgewertet wurde die Erhebung bisher rein deskriptiv. Einige Aspekte seien hier speziell hervorgehoben: So haben alle Einrichtungen angegeben, dass sie eine standardisierte schriftliche Erfassung aller Vorfälle (sexueller) Gewalt vornehmen. Das bedeutet, dass die Einrichtungen durchaus für das Thema sensibilisiert sind. Diesbezüglich bestehen auch Seitens der Aufsichtsstellen und Behörden im Kanton Thurgau entsprechende Richtlinien und Vorgaben, welche die Einrichtungen erfüllen müssen, um eine Betriebsbewilligung zu erhalten beziehungsweise zu behalten.Des weiteren ist erwähnenswert, dass in allen Einrichtungen eine grosse Bandbreite an Vorfällen dokumentiert wird und eine Vielfalt pädagogisch-struktureller Reaktionsweisen auf die Vorfälle besteht. Diese breit gestreute Palette an Reaktionen sollte nicht vorschnell als Kreativität interpretiert werden, sondern kann auch ein Anzeichen von Beliebigkeit sein. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass sich die Einrichtungen durchaus etwas einfallen lassen, um die Situation in den Griff zu bekommen. Die Befragung zeigte darüber hinaus, dass sowohl in Kinder-, als auch Jugendheimen sowie in Einrichtungen für Erwachsene sexuell grenzverletzendes Verhalten ein allgegenwärtiges Thema ist. Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 9 Alle 15 Einrichtungen gaben an, außergewöhnliche Vorfälle im Zusammenhang mit grenzverletzendem Verhalten schriftlich und standardisiert zu erfassen und zu dokumentieren. Elf Einrichtungen beschrieben, wöchentlich 1 – 5 Vorfälle grenzverletzendes Verhalten zu registrieren, eine Einrichtung sprach von keinerlei Vorfällen, zwei von mehr als 5 pro Woche. Im Bezug auf sexuelle Vorfälle erfassten sieben Einrichtungen „Anfassen gegen den Willen“, eine Einrichtung „Küssen“, zwei „Geschlechtsverkehr gegen den Willen“ und fünf Einrichtungen „anderes sexuelles Verhalten gegen den Willen“. Als Fazit aus der Befragung ergibt sich, dass die angeschriebenen Einrichtungen in ihrem Alltag häufig – 13 Vorfälle pro Woche mit Gewalt, 15 Vorfälle pro Woche mit Sex – mit grenzverletzendem Verhalten konfrontiert sind. Darin liegt ein hohes Belastungspotenzial sowohl für die Betroffenen, möglicherweise auch für die ausübenden Personen,aber auch für das Personal in den Einrichtungen. Bei Gewalttätigkeit und sexuell grenzverletzendem Verhalten sind generell alle Beteiligten einer hohen Spannung ausgesetzt, bewegen sich zwischen Dramatisieren und Bagatellisieren. Die Anforderung, die Sensibilität für die Thematik beizuhalten ist hoch. In Krisensituationen sind oft Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Chaos nahe und können den Blick verstellen. Lösungsansätze – Behandlungsmöglichkeiten Für erwachsene sowie jugendliche Sexualstraftätern gilt die Wirksamkeit der deliktorientierten, kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung in einem Gruppensetting als wissenschaftlich fundiert (Hanson 2002; Lipsey 2007). Durch sie wird nachweislich die Rückfallhäufigkeit reduziert. Um kognitiv-verhaltenstherapeutischen Programmen folgen zu können, ist ein Leistungspotenzial erforderlich, das sich im Rahmen der Norm bewegt, weil die kognitiv-verhaltenstherapeutischen Maßnahmen maßgeblich auf Einsicht und Erkenntnisprozesse bauen. Menschen mit Lern- und geistiger Behinderung fehlen die notwendigen Denk- und Erkenntisprozesse und –möglichkeiten weitgehend. Das bedeutet, dass die Behandlungsziele – die im Grunde für Menschen mit Lern- und geistigen Behinderungen und grenzverletzendem Verhalten die gleichen sind, wie für Menschen mit kognitiven Fertigkeiten im Normbereich – auf andere Weise zu erreichen sind. Die Ziele jeder Täterbehandlung müssen mit Blick auf zukünftigen Opferschutz definiert werden. Es geht aus forensisch-therapeutischer Sicht nicht um das Heilen einer Krankheit oder Grunderkrankung im medizinischen Sinne sondern darum, Risikosituationen und Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 10 -faktoren zu erkennen, wahrzunehmen, zu identifizieren und schliesslich zu bewältigen. Bei normalbegabten Straftätern werden hierzu Modelle wie das des „Missbrauchskreislaufs“ oder „Deliktkreislaufs“, des „Gewaltkreislaufs“ oder des „Suchtkreislaufs“ (Ryan & Lane 1991) herangezogen und durchgearbeitet. Behandlungsprogramm für Menschen mit Lern- und geistigen Behinderungen In unserem Behandlungsprogramm für Menschen mit Lern- und geistigen Behinderungen und grenzverletzendem Verhalten bezeichnen wir das Angebot als „Kurs“. Damit ist gemeint, dass es sich um ein Angebot handelt, bei dem dazu gelernt werden kann, das man besucht, weil man eine bestimmtes Fertigkeit nicht oder nur lückenhaft beherrscht und diese im Laufe des Kurses besser oder ganz erlernen kann. Es geht also um das Ausbilden bestimmter Skills. Kognitiv-verhaltenstherapeutisch, heilpägagogisch und gruppenpsychotherapeutisch Der „Kurs“ muss deliktorientiert sein. Die kognitiv-verhaltenstherapeutische Komponente haben wir in „heilpädagogisch“umbenannt, weil sich exakt in diesem Bereich unser Angebot stark von den bekannten und bewährten Techniken unterscheidet. Heilpädagogisch bedeutet, dass oftmals ein einziger Zugang nicht ausreicht sondern auf mehrere Arten, mit unterschiedlichen Kanälen und mit hoher Redundanz zielgerichtet gearbeitet werden muss. Die Behandlung von Straftätern in einer Gruppe kann erfolgreich sein, weil sich gewisse Mechanismen besser steuern lassen und Rechtfertigungsstrategien von den Gruppenteilnehmern eher als von den Therapeuten entlarvt werden können. Die Indikation für die Gruppe sollte ausgesprochen sorgfältig gestellt werden, da ein Minimum an Gruppenfähigkeit bei den Teilnehmern bestehen muss. Bei Menschen mit Erkrankungen aus dem autistischen Spektrum mit erheblich eingeschränkten Fertigkeiten im interpersonellen Austausch ist z.B. alternativ eher an eine Einzelbehandlung zu denken. Dies gilt vor allem, wenn die zu erwartenden Erfolgsaussichten und das Entwicklungspotenzial der sozialen Fertigkeiten als marginal beurteilt wird. Die therapeutische Gruppe bietet zur Erhöhung der sozialen Kompetenzen ausgesprochen hilfreiche Möglichkeiten. Im Rahmen von spezifischer Nachbehandlungskonzepten müssen die erworbenen Fertigkeiten allerdings oft aufgefrischt („reboostet“) werden. Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 11 Nachbehandlungskonzepte Der Kurs dauert ein Jahr. Danach ist die Behandlung abgeschlossen, aber nicht vorbei. Denn die weitere Gesamt- und sexuelle Entwicklung der Kursteilnehmer muss gemeinsam vor dem Hintergrund der inzwischen weitestgehend bekannten Risiken beobachtet werden. Aus diesem Grund ist ein Nachbehandlungskonzept unerlässlich. Problematische Verhaltensweisen können nicht in kurzer Zeit verändert werden. Wer mit einer solchen Zielsetzung an diese Arbeit geht, wird enttäuscht. Auf der anderen Seite kann und darf die umschriebene therapeutische Arbeit aber auch nicht zu lange dauern. Sie muss ein Ende haben, was auch bedeutet, dass die Phase des Erwerbens, des Lernens, abgeschlossen ist und der Phase der Bewährung im Alltag Platz macht. Um Gelerntes zu festigen, ist es hilfreich, es weiter gezielt zu üben und kritisch zu praktizieren. Das bedeutet für Menschen mit Lern- und geistigen Behinderungen, dass das erwähnte Monitoring im Alltag implementiert ist und sie für ihr Verhalten Rückmeldungen erhalten, vor allem dafür, was sie gut machen, aber auch für erneutes Problemverhalten. Die Kursabsolventen sollen wissen, dass die externe Kontrolle zuverlässig bleibt und dass die internale oder im besten Fall internalisierte Kontrolle nicht enden sollte. Das Gelernte muss und kann als fester, neuer Bestandteil des Verhaltensrepertoires vorausgesetzt werden, die Automatisierung bedarf eines längeren Zeitraums. Dies erreichen wir, indem wir ein Nachbehandlungskonzept installieren, das wie der Kurs eine hohe Verbindlichkeit und eine ausgesprochen wohlwollende Haltung verspricht. Darüber hinaus steht für die Nachbehandlung die Einrichtung im Zentrum der Bemühungen und löst die Therapeuten in ihrer Rolle als Vermittler von Wissen ab. Die Einrichtung beziehungsweise die entsprechenden VertreterInnen müssen im Hinblick auf die Nachsorge von Anbeginn an in die Behandlung integriert werden. So kann eine Behandlungskette entstehen, die möglichst wenig Gelegenheiten beziehungsweise Gefahren bietet, dass Spaltungsprozesse entstehen oder wesentliche Informationen untergehen. Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 12 Literatur Adam A, Heller C, Meier S & Zwimpfer C. Männer mit geistiger Behinderung und grenzverletzendem Sexualverhalten. Diplomarbeit Universität Freiburg, 2006 Bach H. Geistig Behinderte unter pädagogischen Aspekt. In: Deutscher Bildungsrat (Hrsg). Beckett R. Schmelzle M.: A.S.A.P. Adoleszent Sexoffender Assessment Pack unpublished, 2003 Brantlinger E. Mildly mentally retarded secondary school students’ information about and attitudes towards sexuality and sex education. Education and training of the mentally retarded 1985; 19: 99-108 Büttner M. Diagnostik der intellektuellen Minderbegabung. Untersuchung über die Zuverlässigkeit von Testbefunden. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 1984; 33: 123-133 Dilling H, Mombour W & Schmidt MH (Hrsg). ICD 10. Internationale Klassifikation psychischer Störungen. Bern: Huber, 1993 Dolan M, Holloway J, Bailey S & Kroll L. The psychosocial characteristics of juvenile sexual offenders referred to an adolescent forensic service in the UK. Medicine, Science and the Law 1996; 36: 343-352 Epps K. The residental treatment of adolescent sex offenders. 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Stand 2009 [Online-Dokument: www.admin.ch] Statistik Schweiz. Stand 2009 [Online-Dokument: www.bfs.ch] Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 14 Korrespondenzadresse Monika Egli-Alge, lic. phil. I Fachpsychologin Psychotherapie FSP/Rechtspsychologin SGRP Geschäftsführerin Forensisches Institut Ostschweiz. Zürcherstrasse 149 CH-8500 Frauenfeld E-Mail: [email protected] Vollständiger Artikel erschienen in: Briken P., Spehr A.,Romer G., Berner W. (Hrsg.) (2010). Sexuell grenzverletzende Kinder und Jugendliche. Pabst Science Publishers, Lengerich, Berlin, Bremen, Miami, Riga, Viernheim, Wien, Zagreb Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 15 Anhang Erhebung Forensisches Institut Ostschweiz 2008 Anzahl Vorfälle/Woche N = 15 16 15 14 12 11 10 8 6 4 2 2 1 0 0 1-5 mehr Erfassung 1 Art der Vorfälle 12 12 10 8 8 7 6 6 4 3 3 3 2 0 Schlagen Schlagen mit ohne T reten Beissen Kratzen Würgen Andere 48 Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 16 Sexuelle Vorfälle 7 7 6 5 5 4 3 2 2 1 1 0 Anfassen Küssen Geschlechtsverkehr Andere 49 Verletzungen 9 9 8 7 7 6 5 4 3 2 2 2 1 0 Keine Hämatome Wunden Andere 50 Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 17 Interventionen 10 10 10 9 8 8 7 7 6 6 7 6 5 5 5 4 4 3 2 1 1 0 51 Strafanzeigen 6 6 5 4 3 3 2 1 1 0 54 Behandlungsansätze U80 forio 2010 Seite 18