1 Homöopathie und Polaritätsanalyse Grundlagen Modul 1 Einführung und akute Erkrankungen Heiner Frei Copyright beim Autor 2016 2 Lehrkonzept zur Polaritätsanalyse Block 1: Grundlagen Modul 1 Modul 2 Modul 3 Modul 4 Einführung und Akute Erkrankungen Einfache chronische Erkrankungen Umgang mit Checklisten und Fragebögen Unterschiede der Methoden H. Frei, Die Polaritätsanalyse in der Homöopathie, Narayana Verlag, Kandern 2014. 2015 2015 H. Frei, Homöopathische Behandlung bei akuten und chronischen Erkrankungen. Haug-Verlag, Stuttgart, 2011. 2015 H. Frei, Die wichtigsten Themen der homöopathischen Kindermedizin (in Planung) 2016 2015 Block 2: Kinder Modul 5 Modul 6 Modul 7 Modul 8 0 bis 3 Jahre: Erst einmal ankommen... 4 bis 7 Jahre: Sich einfügen... 8 bis 12 Jahre: Mittendrin... 13-17 Jahre: Und schon geht's weiter... 2016 2016 2016 Block 3: Komplexe Erkrankungen Modul 9 ADS/ADHS Modul 10 Psyche Modul 11 Allergien und Hauterkrankungen Multimorbide Patienten Modul 12 H. Frei, Die homöopathische 2015 Behandlung von Kindern mit ADS/ADHS. Haug, Stuttgart, 09. . 2017 . 2017 H. Frei, Homöopathische Behandlung multimorbider Patienten. Haug, Stuttgart, 11 2015 Ein Modul besteht aus einem Power-Point Vortrag und einem Skriptum mit Übungsfällen. Zeitbedarf: Mindestens 180 Unterrichtsminuten. Wir werden die Powerpoint-Vorträge und Skripten auf unserer Website (www.heinerfrei.ch) unter Ressourcen, Lehrmaterial zum Herunterladen zur Verfügung stellen. Der Narayana-Verlag wird fortlaufend Seminar-DVD's produzieren und dem DZVHAe als Lehrmaterial zur Verfügung stellen. 3 Grundregeln der Mittelbestimmung mit der Polaritäts-Analyse 1.1 Der Krankheits- und Symptomenbegriff Hahnemanns Im ORG § 7 schreibt Hahnemann1: " ... so muss […] die Gesamtheit der Symptome für den Heilkünstler das […] Einzige sein, was er an jedem Krankheitsfalle zu erkennen und durch seine Kunst hinweg zu nehmen hat [...]." Hahnemann spricht hier vom jeweiligen Krankheitsfall, nicht von der Symptomatik, die der Patient früher hatte, und die jetzt verschwunden ist. Die muss man bei chronischen Krankheiten zwar auch kennen, damit der Krankheitsverlauf beurteilt werden kann, wenn im Laufe einer Heilung frühere Symptome vorübergehend wieder auftreten. Aber vergangene Symptome werden nicht in die Repertorisation einbezogen. Symptome sind (nach ORG § 6) "[...] äusserlich durch die Sinne erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele, [also] Abweichungen vom gesunden, ehemaligen Zustande des jetzt Kranken [...]". Nicht als Symptom gelten Eigenheiten oder Charaktereigenschaften des Patienten, die auch im gesunden Zustand vorhanden sind. Sie dürfen nicht in die Repertorisation einfliessen. Das Nichtbeachten dieser Regel kann zu einer falschen Mittelwahl führen. Ist zum Beispiel ein Patient im gesunden Zustand sehr reizbar, bei Krankheit aber auffallend sanft, so ist die Sanftheit das Symptom, nicht die Reizbarkeit. Die aktuell vorhandenen Krankheitssymptome sind die zuverlässigen Wegweiser zum passenden Arzneimittel. Symptome sind Abweichungen vom ursprünglichen gesunden Zustand, also Veränderungen des Befindens bei Krankheit. Somit müssen wir uns bei jeder Fallanalyse fragen: Gehören die Symptome zum aktuellen Krankheitsfall, oder bestanden sie schon vor Beginn der Erkrankung. Das ist besonders wichtig, wenn ältere Symptome im Widerspruch zu den aktuellen stehen. Wenn z.B. eine Patientin mit einer akuten fieberhaften Erkrankung Hitze mit Abneigung gegen Entblössung hat, bezüglich der 4 vorbestehenden klimakterischen Wallungen aber Hitze mit Neigung zu Entblössung, so wird bei der akuten febrilen Erkrankung nur das Symptom Hitze mit Abneigung gegen Entblössung repertorisiert. Ein vollständiges Symptom besteht nach Hering aus den fünf Elementen Lokalisation, Empfindungen, Befunde, Modalitäten und Begleitbeschwerden. Bei der Fallaufnahme sollte versucht werden, möglichst vollständige Symptome zu erfassen. 1.2 Das Ähnlichkeitsprinzip Im ORG § 153 schreibt Hahnemann "[...] die auffallenderen, sonderlichen, ungewöhnlichen und eigenheitlichen (charakteristischen) Zeichen und Symptome des Krankheitsfalles, [sind] besonders und fast einzig in's Auge zu fassen; denn vorzüglich diesen, müssen sehr ähnliche, in der Symptomenreihe der gesuchten Arznei entsprechen, [...]". Damit der Paragraf 153 richtig verstanden wird, muss er in Bezug zum ORG § 133 gesetzt werden. Wegen seiner Bedeutung sei er hier vollständig wiedergegeben: "Bei Empfindung dieser oder jener Arzneibeschwerde, ist's zur genauen Bestimmung des Symptoms dienlich, ja erforderlich, sich [...] in verschiedne Lagen zu versetzen und zu beobachten, ob der Zufall durch Bewegung des eben leidenden Theils, durch Gehen in der Stube oder in freier Luft, durch Stehen, Sitzen oder Liegen sich vermehre, mindere oder vergehe und etwa in der ersten Lage wiederkomme, - ob durch Essen, Trinken oder durch andere Bedingung sich das Symptom ändere, oder durch Sprechen, Husten, Niesen, oder bei einer andern Verrichtung des Körpers, und darauf zu achten, zu welcher Tages- oder Nachtzeit es sich vorzüglich einzustellen pflege, wodurch das jedem Symptome Eigenthümliche und Charakteristische offenbar wird." Hahnemann beschreibt hier die Modalitäten, die natürlich auch für die Patientensymptome gelten, und sagt, dass durch sie "[...] das jedem Symptome Eigentümliche und Charakteristische offenbar wird." Das bedeutet, dass v.a. die Modalitäten des Patienten mit den Modalitäten des gesuchten Arzneimittels übereinstimmen müssen. Der ORG § 153 wird häufig anders interpretiert, nämlich in dem Sinne, dass vor allem ungewöhnliche, auffallende, seltene und vielleicht sogar kuriose Symptome die Mittelwahl bestimmen sollten, sogenannte Key notes oder As if Symptoms. Diese Symptomenspezies hat in der Regel nur ganz wenige Arzneimittelzuordnungen. 5 Wenn nur sie berücksichtigt wird, kann das dazu führen, dass das absonderliche Symptom wohl zum Arzneimittel passt, die Modalitäten des Patienten aber nicht. In einer solchen Konstellation wird nur selten eine Heilung erfolgen, weil das Eigentümliche und Charakteristische der übrigen Symptomatik unberücksichtigt bleibt. Bei der Mittelwahl ist ganz besonders darauf zu achten, dass die Modalitäten des Patienten mit den Modalitäten des Arzneimittels übereinstimmen. Im ORG § 211 schreibt Hahnemann zudem: "[...] dass bei homöopathischer Wahl eines Heilmittels der Gemütszustand des Kranken oft am meisten den Ausschlag gibt [...]." Auch hier geht es um die Veränderung bei Krankheit, nicht um den Charakter oder den Gemütszustand des vorher Gesunden. Der Gemütszustand des Kranken "gibt den Ausschlag" bedeutet, dass zunächst mit Hilfe der Modalitäten und anderer wichtiger Symptome eine Differenzialdiagnose der in Frage kommenden Arzneimittel erstellt wird: Danach kann der Gemütszustand das wahlentscheidende Kriterium für ein bestimmtes Arzneimittel sein. Unter den Gemütssymptomen sind die Veränderungen des Gemüts bei Krankheit zu verstehen, nicht der Charakter oder der Gemütszustand des vorher Gesunden. Nachdem aufgrund der Modalitäten und anderer wichtiger Symptome eine Differenzialdiagnose der in Frage kommenden Arzneimittel erstellt wurde, können die Veränderungen des Gemüts den Ausschlag für die definitive Mittelwahl geben. 1.3 Die Rangordnung der Symptome Erfolgt nach ORG §§ 84 bis 95 eine ausführliche Fallaufnahme, so resultiert in der Regel eine Fülle an Symptomen, die einen unterschiedlichen Einfluss auf die Mittelbestimmung haben. In der Einleitung zur revidierten Ausgabe 2000 von Bönninghausens Therapeutischem Taschenbuch (BTB)2 hat KH Gypser die Gewichtung der Symptome herausgearbeitet, die sich aus Boenninghausens Schrifttum ergibt. An erster Stelle steht die Causa des aktuellen Leidens, sofern 6 eine solche eruierbar ist (gemeint ist der Auslöser im Sinne einer Modalität), - an zweiter Stelle das Hauptsymptom mit seinen Eigenheiten (Lokalisation, Empfindungen und Befunde, Modalitäten und Begleitsymptome), an dritter die Nebensymptome, und schliesslich an vierter Stelle die Veränderungen des Gemüts (Tabelle 1). Eine Rangordnung ist von besonderer Bedeutung, wenn sich Symptome einzelner Gewichtungsebenen widersprechen. Besteht zum Beispiel beim Hauptsymptom (d.h. der Beschwerde, die den Patienten zum Arzt führt), eine Besserung durch Wärme, bei einem der Nebensymptome aber eine Verschlimmerung durch Wärme, so ist die Modalität des Hauptsymptoms höher zu gewichten als diejenige des Nebensymptoms, welche in diesem Fall weggelassen werden muss. Ist unklar was Haupt- und was Nebensymptom ist, so dürfen widersprüchliche Modalitäten nicht für die Repertorisation verwendet werden. Hat das Hauptsymptom keine Modalitäten so werden die Modalitäten der Nebensymptome zur Repertorisation herangezogen. Tabelle 1: Bönninghausens Rangordnung der Symptome Hauptsymptom mit Causa und Eigenheiten Nebensymptome mit ihren Eigenheiten Veränderungen des Gemüts 1.4 Die Zuverlässigkeit der Symptome Die Zuverlässigkeit der Symptome spielt eine entscheidende Rolle für die Präzision der Mittelbestimmung. Bei der Vorbereitung der schweizerischen ADHSDoppelblindstudie3 haben wir eine Untersuchung durchgeführt mit dem Ziel, Symptome zu ermitteln, die zu Fehlverordnungen führen, Symptome also, die von Eltern oder Patienten oft falsch eingeschätzt werden. Dazu wurden 100 Kasuistiken analysiert, bei denen zunächst ein unpassendes und in der Folge ein passendes Mittel resultierte. Die Auswertung ergab 77 unzuverlässige Symptome, darunter 44 Gemütssymptome, 9 Wettermodalitäten und 6 Nahrungsmittel- 7 Symptome (Verlangen/Abneigung/Verschlimmerung). In der Folge wurden diese von der Repertorisation ausgeschlossen.4 Durch deren Häufigkeit kam es damit in vielen Fällen zu einer Symptomenarmut, die die Arzneimittelbestimmung erschwerte. Als Ersatz für alles Unzuverlässige boten sich die Modalitäten der Wahrnehmungsstörungen der ADHS-Patienten an. Sie waren bis anhin nicht verwendet worden, weil sie gemäss gängiger Vorstellung als pathognomonische Symptome nicht in eine Repertorisation einfliessen sollten. Deren Verwendung führte aber sofort zu einer deutlichen Verbesserung der Resultate. Die Diskussion über den Umgang mit pathognomonischen Symptomen wurde im 19. Jahrhundert von Jahr und Dunham angestossen: Als pathognomonisch galten damals irreversible Organveränderungen, die nach Dunham von der Repertorisation ausgeschlossen werden sollten, weil diesbezüglich keine Heilung zu erwarten war.5,6,7 Die sprachliche und medizinische Bedeutung des Begriffs pathognomonisch hat sich in der Zwischenzeit aber geändert. Nach heutiger Interpretation sind Symptome pathognomonisch, wenn eine schulmedizinische Diagnose auf ihnen basiert. Pathognomonische Symptome sind heute also in der Regel charakteristisch für eine Krankheit. Deren Ausschluss von der Repertorisation kommt deshalb einer Missachtung des Ähnlichkeitsprinzips gleich. Pathognomonische Symptome können zu den charakteristischen Patienten- Symptomen gehören. Sie dürfen nicht von der Repertorisation ausgeschlossen werden. Warum aber können Gemütssymptome irreführend sein? Die Abteilung "Gemüt" ist das kleinste Kapitel im BTB. Boenninghausen begründet das damit, dass Gemütssymptome häufig Nachwirkungen und keine verlässlichen Symptome seien. Sie würden auch oft übersehen oder falsch beurteilt. Er empfiehlt deshalb den Gemütszustand in seiner Subtilität erst für die abschliessende Differenzierung der Arzneimittel in den Quellenwerken nachzuschlagen. Gemütssymptome werden am besten erst beim Materia medica-Vergleich in die Mittelwahl einbezogen. 8 Im Gegensatz dazu sind Modalitäten in der Regel eindeutig. Unabhängig vom individuellen, kulturellen oder sprachlichen Hintergrund wird zum Beispiel Kälte oder Wärme überall gleich wahrgenommen. Auch andere polare Symptome wie Durst/Durstlosigkeit lassen wenig Spielraum für Fehlinterpretationen. Aufgrund der Erfahrungen in der ADHS-Studie konnten wir eine Hierarchie der Zuverlässigkeit der Symptome erstellen (Tabelle 2, Symptomenzuverlässigkeit von oben nach unten abnehmend). Tabelle 2: Hierarchie der Zuverlässigkeit der Symptome Modalitäten/Polare Symptome Befunde Empfindungen/Gemütssymptome 1.5 Die Heringsche Regel Hering beschrieb 1865 im Hahnemannian Monthly die folgende Regel: "Gesetzt der Fall, der Patient leidet an den Symptomen, die in der Reihenfolge a, b, c, d, e aufgetreten sind, dann sollten sie ihn, vorausgesetzt die Behandlung soll vollständig und dauerhaft sein, in der Reihenfolge e, d, c, b, a verlassen." 8 Er leitet daraus ab, dass die jüngsten Symptome des Patienten für die Arzneimittelbestimmung wichtiger sind als ältere, da sie zuerst verschwinden sollten. Die in der Krankheitsentwicklung zuletzt aufgetretenen, charakteristischen Symptome haben Priorität bei der Arzneimittelbestimmung. Die Heringsche Regel ist wichtig, weil man durch eine Beschränkung auf die jüngsten Symptome oft Ordnung in eine unübersichtliche Symptomatik bringt, und damit auch komplizierte Fälle lösen kann. Meistens bessern sich dann auch ältere Symptome. Sobald mehrere Leiden gleichzeitig vorliegen, muss man darum wissen, wann jedes einzelne Leiden begann. 9 1.6 Kontraindikationen Boenninghausen war bestrebt bei seiner Mittelwahl die Patientensymptomatik, und dabei insbesondere die Modalitäten möglichst mit dem Genius eines Arzneimittels in Übereinstimmung zu bringen. Der Genius eines Arzneimittels umfasst diejenigen Modalitäten, Empfindungen und Befunde, die sich in der Arzneimittelprüfung in verschiedenen Lokalisationen mehrfach gezeigt haben, und in der Regel auch klinisch geheilt worden sind. Sie sind das eigentlich Charakteristische des Arzneimittels. Die Geniussymptome eines Arzneimittels stehen im BTB in hohen Graden, also im 3., 4. oder 5. Grad (Tabelle 3). Tabelle 3: Boenninghausens Gradeinteilung der Symptome 1. Grad: Seltenes Vorkommen des Symptoms in der Arzneimittelprüfung. 2. Grad: Häufiges Vorkommendes Symptoms in der Arzneimittelprüfung. 3. Grad: Das Symptom ist in der Arzneimittelprüfung aufgetreten und durch das Arzneimittel klinisch geheilt worden. 4. Grad: Das Symptom ist in der Arzneimittelprüfung aufgetreten, und durch das Arzneimittel häufig klinisch geheilt worden. 5. Grad: Symptom 4. Grades, das aufgrund sehr häufiger klinischer Beobachtung von Bönninghausen durch Unterstreichung hervorgehoben wurde. Er riet zwecks Absicherung der Mittelwahl zu überprüfen, ob ein oder mehrere Bestandteile der Patientensymptomatik zu den Geniussymptomen des Arzneimittels in Widerspruch stehen. Dieser Widerspruch kann polare Symptome betreffen. Polare Symptome sind Symptome, die auch ein Gegenteil resp. einen "Gegenpol" aufweisen können, wie Durst/Durstlosigkeit, Kälte verschlimmert/Kälte bessert oder Verlangen nach freier Luft/ Abneigung gegen freie Luft. 10 Der Patient kann nur einen Pol eines polaren Symptomes aufweisen: Er ist z.B. durstig, oder hat eine Verschlimmerung durch Kälte. Beim Arzneimittel können hingegen beide Pole vorhanden sein, weil sich dessen Symptomatik aus den Beobachtungen von mehreren Prüfern zusammensetzt. Meistens ist das eine Symptom häufiger, das andere seltender beobachtet worden, womit Pol und Gegenpol unterschiedliche Grade aufweisen. Bei einem Widerspruch im Sinne Bönninghausens steht das Patientensymptom im 1. oder 2. Grad, der Gegenpol hingegen im 3., 4. oder 5. Grad. In diesem Fall entspricht der Gegenpol dem Genius des Arzneimittels, nicht das Patientensymptom. Bönninghausen hat die Erfahrung gemacht, dass in solchen Konstellationen nur selten Heilungen erfolgen, weshalb sie eine Kontraindikation für das betreffende Arzneimittel darstellen. Bei der Überprüfung erfolgloser Verordnungen, die in Unkenntnis dieser Beobachtung Bönninghausens gemacht wurden, findet man häufig unbeachtete Kontraindikationen. Die polaren Symptome des passenden Arzneimittels sollten möglichst in hohen Graden abgedeckt sein. Ist ein Gegenpol in einem hohen Grad (3. - 5. Grad), das Patientensymptom aber in einem tiefen (1. - 2. Grad), so entspricht der Genius des Arzneimittels nicht der Patientensymptomatik. Das Mittel wird den Patienten kaum heilen und ist deshalb kontraindiziert. 1.7 Die Polaritätsdifferenz Während der Anfangsphase der ADHS-Doppelblindstudie musste die Treffsicherheit der Verschreibungen zwingend verbessert werden, um die Arbeit zu einem Erfolg zu führen. In dieser Drucksituation entstand die Idee der Polaritätsanalyse, einem mathematischen Verfahren, das zu höheren Trefferquoten und damit zu solideren Besserungen führte: Bönninghausens Kontraindikationen wurden ergänzt durch die Berechnung der Polaritätsdifferenz, welche uns eine Heilungswahrscheinlichkeit für die infrage kommenden Arzneimittel liefert: Bei jedem zur Auswahl stehenden Mittel werden die Grade aller polaren Patientensymptome addiert. Von der resultierenden Summe subtrahiert man die Grade der entsprechenden Gegenpolsymptome. Das Resultat ist die Polaritätsdifferenz. 11 Je höher die Polaritätsdifferenz, umso eher entspricht das Arzneimittel der charakteristischen Patientensymptomatik, vorausgesetzt es liegen keine Kontraindikationen vor. Die konsequente Umsetzung der Polaritätsanalyse führte zu einem Quantensprung in der Präzision der Arzneimittelbestimmung.4,9 Damit polare Symptome möglichst vollständig erfasst werden können, ergänzen wir seither die Anamnese mit Checklisten für akute Erkrankungen (und Fragebögen für chronische Erkrankungen, s. Modul 2). Für akute Erkrankungen stehen acht Checklisten zur Verfügung. 1.8 Checklisten für akute Erkrankungen Kopfschmerzen und Schwindel HNO- und Augenerkrankungen Atemwege Magen-Darmtrakt Nieren und ableitende Harnwege Bewegungsapparat Erkrankungen von Kleinkindern Grippale Erkrankungen [Sie können die Checklisten und Fragebögen von unserer Website herunterladen und verwenden (www.heinerfrei.ch)]. Nachfolgend werden wir anhand von Fallbeispielen die Anwendung der Polaritätsanalyse bei akuten Erkrankungen einüben. Sie brauchen dazu die folgenden Hilfsmittel: 1.9 Arbeitsinstrumente Polarity-Analysis Software (Deutsch, Englisch oder Spanisch), basierend auf dem Bönninghausen Taschenbuch 1846. Sie können eine Testversion von der Website http://polarity-analysis.com herunterladen und während eines Monats 12 gratis verwenden. Danach kann das Programm geleast werden (ca. 10 Euro/Monat). Polaritätsanalyse-Checklisten und Fragebögen (www.heinerfrei.ch). Eine Materia medica, z.B. Herings Leitsymptome der homöopathischen Materia Medica. Software. Hrsg. M Tauscher, C Till, Till-Verlag, Runkel, 2006 (Kosten: ca. 190 Euro). Lehrbuch: Heiner Frei, Die Polaritätsanalyse in der Homöopathie, ein präziser Weg zum homöopathischen Arzneimittel. Narayana Verlag, 2014. Fallbeispiele 2.1 Scharlach, Felipe A, 4 Jahre Drei Tage vor der aktuellen Konsultation beginnt Felipe’s Leiden mit leichten Halsschmerzen. Die Mutter kommt in die Sprechstunde weil neu auch Kopf- und Gliederschmerzen sowie Fieber (39,4° C) aufgetreten sind. Der Allgemeinzustand ist deutlich reduziert, er kann kaum mehr schlucken; nur Kaltes ist noch erträglich. Im Status findet sich ein hochroter Rachen, stark geschollene Tonsillen und petechiale Blutungen auf dem Gaumenbogen: Dieser Befund ist typisch für betahämolysierende Streptokokken der Gruppe B, den Scharlacherreger. Die Zunge ist himbeerrot, die zervikalen Lymphdrüsen stark geschwollen und schmerzhaft, das Abdomen leicht druckdolent. Vorläufige Diagnose: Streptokokken-Angina. Bedingung für die Scharlachdiagnose ist zusätzlich der charakteristische, feinfleckige, leicht erhabene, hellrote Hautausschlag, der entsteht, wenn die Erreger auch Toxine bilden. Ein Blick auf die Haut zeigt der überraschten Mutter, dass das Exanthem bereits vorhanden ist. Der übrige Status ist unauffällig. Mit Hilfe der Checkliste für akute Hals-Nasen-Ohren und Augen-Erkrankungen erarbeitet die Mutter die folgenden Symptome: Mundgeruch/ Mundtrockenheit Durst-P < Schlucken-P > Nahrungsmittel, kaltes-P 13 < Kälte-P > Warmeinhüllen-P < Im Freien-P Abneigung freie Luft-P < Bewegung-P < Anstrengung, körperlich-P > Liegen-P < Stehen-P < Druck, äusserer-P (P = Polare Symptome) Repertorisationsschema zur Polaritätsanalyse Polare Symptome/Gegenpolaritäten Differenzierung genügend Materia medica-Vergleich Mittelwahl Differenzierung ungenügend Einbezug unpolarer Symptome Materia medica-Vergleich Mittelwahl 14 Repertorisation F.A. (Polarity-Analysis Software) Erklärungen zur Repertorisation 1. Die Arzneimittel sind in diesem Ausdruck geordnet nach Anzahl der Treffer. Weitere Medikamente wurden hier aus Platzgründen nicht dargestellt, weil sie tiefere Trefferzahlen und niedrigere Polaritätsdifferenzen aufweisen. 2. Signaturen der Symptome: Die farbigen Felder vor den Symptomen zeigen die Zuverlässigkeit an, die ein Symptom für die Mittelbestimmung aufweist: Grün= hoch, gelb = mittel, rot = tief. Wenn immer möglich brauchen Sie nur hochzuverlässige Symptome für die Repertorisation. Die Zahl im farbigen Feld, z.B. 99 beim Symptom Durst, entspricht der Anzahl der dem Symptom zugeordneten Arzneimittel. Diese Information ist wichtig, weil sie zeigt, wie stark die Mittelwahl durch Verwendung dieser Rubrik eingegrenzt wird. Polare Symptome sind mit (P) gekennzeichnet. 15 3. Patientensymptome: Finden sich unterhalb der blauen und oberhalb der roten Linie. 4. Die Gegenpole finden sich unterhalb der roten Linie. 5. Berechnung der Polaritätsdifferenz: Die Grade der polaren Patientensymptome eines Arzneimittels werden addiert. Davon wird die Summe der Grade der Gegenpole subtrahiert: Das Resultat ist die Polaritätsdifferenz (Beispiele: Bryonia 34-13=21, oder Ars-a 25-20=5). 6. Kontraindikationen, CI: Die Gegenpole im Geniusbereich (Grade 3-5) werden mit der Gradierung des Patientensymptoms verglichen. Hat dieses einen tiefen Grad (1-2), der Gegenpol aber einen hohen (3-5), so entspricht der Genius des Arzneimittels nicht der charakteristischen Patientensymptomatik; das Arzneimittel ist deshalb kontraindiziert. (Beispiel: Bei Arsenicum album ist das Patientensymptom Nahrungsmittel, Kaltes bessert im 1. Grad, der Gegenpol Nahrungsmittel, Kaltes verschlimmert aber im 4. Grad, d.h. Nahrungsmittel, Kaltes verschlimmert ist ein Geniussymptom von Ars-a. Das Mittel passt deshalb nicht perfekt zur Patientensymptomatik.). 7. Spalten mit Kontraindikationen, CI, sind grau hinterlegt und lassen so mit einem Blick erkennen, welche Arzneimittel kontraindiziert sind. Kontraindikationen vermindern generell die Heilungswahrscheinlichkeit eines Arzneimittels. Interpretation Repertorisiert man nur die polaren Symptome, so decken elf Arzneimittel die Symptomatik vollständig ab, vier davon ohne Kontraindikationen, aber mit sehr grossen Unterschieden in der Polaritätsdifferenz (Bry 21, Merc-s 12, Nat-m 12, Thuj 2). Schliesst man den Scharlachausschlag in die Repertorisation ein, so bleiben nur noch Bryonia und Mercurius solubilis übrig. Materia medica-Vergleich für Bryonia (GS)10 Trockene Zunge. Stechen: beim Schlingen, Wenden des Kopfes und Berühren des Halses. Große Trockenheit im Hals und im Rachen, bisweilen auch mit Brennen. Halsweh: Trocken und roh im Halse beim leeren Schlingen; beim Trinken vergeht diese Empfindung auf eine kurze Zeit, kommt aber bald wieder […]. Rasche Ermattung; jede Bewegung wird vermieden; Beschwerden bei 16 eigener Bewegung oder wenn andere den Kranken bewegen, am ganzen Körper Schmerzen […]. Materia medica-Vergleich für Mercurius solubilis (GS) Röte und Geschwulst des weichen Gaumens, der Mandeln und der ganzen Mundhöhle. Beschwerliches Schlingen. Brennen im Schlunde, […]. Stete, schmerzhafte Trockenheit im Halse. Dabei der ganze Mund voll von Speichel; Rohheit, Rauheit und Brennen im Hals. Verschwärung der Mandeln, mit scharf stechenden Schmerzen im Rachen beim Schlingen. Harte und große Lymphknoten am Hals. Mittelgabe und Verlauf Felipe erhält aufgrund der hohen Polaritätsdifferenz Bryonia C 200. In der darauf folgenden Nacht hat er noch etwas Fieber. Am nächsten Morgen, zwölf Stunden später, sind Hals- und Kopfschmerzen verschwunden und der kleine Mann ist wieder munter. Anmerkungen Scharlach ist meistens eine harmlose Erkrankung. In seltenen Fällen kann er aber einen homöopathisch therapeutische gefährlichen, septischen behandelnde Arzt Verlauf eine nehmen, sichere weshalb diagnostische der und Hand braucht. In diesem Falle hätte der Patient auch ohne Materia medica-Vergleich Bryonia erhalten, das dessen Genius aufgrund der sehr hohen Polaritätsdifferenz viel spezifischer abdeckt als Mercurius solubilis. 2.2 Cannabis-Intoxikation, Hene H, 19 Jahre Hene ist ein hochgewachsener junger Mann, den ich seit seiner frühen Kindheit kenne. Er lebt bei der Mutter, die an Multipler Sclerose schwer erkrankt ist, und hat viele Aufgaben übernommen, die eigentlich dem ausgezogenen Vater zuständen. Auf einer Reise nach Amsterdam raucht er zweimal einen Joint. Vier Tage später kommt er in die Praxis weil er seither dauernd das Gefühl hat er sei "high": Er sieht alles wie im Nebel, hat ein Druckgefühl im Kopf und in den Ohren, 17 und Drehschwindel. Äusserlich merke ich ihm lediglich an, dass er etwas verlangsamt ist. Materia medica-Vergleich für Cannabis sativa (GS) Nach angestrengtem Sehen wie Nebel vor den Augen. Gesichtsschwäche u. Trübsichtigkeit [für Nähe u. Ferne]. Drücken unterm Stirnhügel bis tief durch das Gehirn in den Hinterkopf hinein. Druck in den Schläfen. Schwindel: im Stehen, wie Düseligkeit. Schwindel im Gehen, wie zum seitwärts Fallen. Ich gebe ihm Cannabis sativa C200 und bestelle ihn für eine vorbereitete Fallaufnahme in den nächsten Tagen. Vier Tage später kommt er (ohne dass er nochmals Cannabis konsumiert hätte) in unverändert benebeltem Zustand, hat aber den Neurologie-Fragebogen korrekt vorbereitet. Folgende Symptome sind ihm aufgefallen: Sehen wie im Nebel Kopfschmerzen drückend Drehschwindel Gleichgültigkeit, Apathie < Wärme-P < Warmeinhüllen-P < Stehen-P < Sitzen-P < Gehen-P < nach Erwachen-P Harnabgang gering-P Harnabgang unterbrochen Repertorisieren wir nur die polaren Symptome so resultiert eine breite Differentialdiagnose mit 21 Arzneimitteln, davon 9 ohne Kontraindikationen. Opium, Nitricum acidum und Veratrum haben die höchsten Polaritätsdifferenzen. Schliessen wir das besondere nicht-polare Symptom Sehen Nebel mit ein, so bleiben Opium und Nitricum acidum die Favoriten. 18 Repertorisation H.H. Materia medica-Vergleich für Opium (GS) Verdunkelung der Augen. Funken vor den Augen. Kopfschmerz: Drücken in den Schläfen; Schwindel, Schläfrigkeit; ... Betäubende Gleichgültigkeit. Verhaltung des Harnes... Öfters Unterbrechung des Harnstrahls, der Harn beginnt erst nach langem Warten zu fließen, infolge Krampf des Blasenschließmuskels. Materia medica-Vergleich für Nitricum acidum (GS) Schwindel. Eingenommenheit des Kopfes. Schwere im Kopfe. Betäubtheit des Kopfes. Blenden der Augen vom Tageslichte. Harnunterdrückung, ohne Schmerz, mehrere Tage. Viel Drang zum Harnen; mit wenig Abgang. Mittelgabe und Verlauf Hene erhält aufgrund des besser passenden Materia medica-Vergleichs eine Dosis Opium C 200. Ich sehe ihn nach vier Tagen wieder: Nach einer halbtägigen Verschlimmerung tritt eine deutliche Besserung ein, er hat aber noch Mühe, visuelle Eindrücke aufzunehmen. Sonst ist alles wieder normal. Eine Woche später kommt er nochmals, weil Kopfschmerzen und Schwindel wieder aufgetreten sind, beziffert die Besserung aber immer noch mit 70%. Mit Opium C 500 verschwindet die Pathologie vollständig, und der Patient schwört sich, nie wieder zu kiffen... 19 Anmerkung Der Umweg über Cannabis sativa war zwar verlockend, aber wohl schon primär zum Scheitern verurteilt: Ein Isotherapie ergibt bestenfalls eine Linderung der Symptome, kaum je eine Heilung. 2.3 Akute Mittelohrentzündung, Maria F, 39 Jahre Frau F. kommt im allgemeinen Notfalldienst in die homöopathische Praxis, weil sie seit zehn Tagen an stechenden Ohrenschmerzen rechts und Halsweh leidet. Trotz Antibiotika-Therapie ist bisher keine Besserung eingetreten. Kein Fieber. Bei der Untersuchung finden sich gerötete Tonsillen, ein entdifferenziertes, gerötetes Trommelfell rechts sowie zervikal beidseits geschwollene Lymphdrüsen. Der übrige Status ist unauffällig. Aus der Checkliste für Akute HNO-und Augenerkrankungen schreibt die Patientin die folgenden Symptome heraus: Ohr rechts-P > Wärme-P < Entblössen-P > im Freien-P > Ruhe-P > Liegen-P < Schlucken-P (verschlimmert die Ohrenschmerzen) Durst-P Fremdkörpergefühl im Hals wie von einem Splitter Husten nachts Wiederum repertorisieren wir zuerst nur die polaren Symptomen. Grenzen diese die Mittelwahl nicht genügend ein, so müssen relevante nichtpolare Symptome eingeschlossen werden, in diesem Fall das Splittergefühl im Rachen. 20 Repertorisation M.F. Drei Arzneimittel decken alle Symptome ab. Hepar sulphur entfällt wegen Kontraindikationen. Materia medica-Vergleich für Colchicum (GS)10 Ohrenschmerzen mit reissendem Stechen. Entzündung und Röte des Gaumens. Reissen im Rachen. Halsweh, wie durch Schwellung am Eingang der Speiseröhre. Entzündungen, Reissen und Stechen im Gaumen und im Hals. Nächtlicher Husten mit unwillkürlichem Fortspritzen des Harnes. Materia medica-Vergleich für Cicuta virosa (GS) Beim Schlucken platzt es im rechten Ohr. Trockenheit des Schlundes und Halses unter starkem Durst. Unvermögen zu Schlucken. Nach dem Schlucken eines scharfen Knochenstückes oder bei andern Verletzung des Ösophagus verschliesst sich der Hals und es droht Erstickung. Husten mit viel Auswurf, besonders am Tage. 21 Mittelgabe und Verlauf Wegen der Verschlechterung der Ohrenschmerzen beim Schlucken fällt die erste Wahl auf Cicuta C 200. Colchicum erhält die Patientin als Reserve, für den Fall, dass sich die Ohrenschmerzen nicht innerhalb von sechs Stunden deutlich bessern. Der Verlauf ist verblüffend: Nach sechs Stunden hat sie viel weniger Schmerzen, und zwei Tage später übermittelt die Patientin eine Besserung um 95%. Im Laufe der nächsten Tage verschwinden auch noch die kleinen Restbeschwerden. Anmerkungen Bei akuten Mittelohrentzündungen muss eine schnelle Besserung der Schmerzen erfolgen. Die Patientin erhält deshalb die Anweisung, bereits nach sechs Stunden das Reservemittel einzunehmen, falls immer noch starke Schmerzen vorliegen. Sind diese nach weiteren sechs Stunden nicht verschwunden, so darf zum Antibiotikum gegriffen werden. Dieses Procedere, das in 76% der Fälle ohne Antibiotikagabe zum Erfolg führt (2,4 mal schneller als bei Placebo-Behandlung), ist in einer früheren Publikation beschrieben worden (Abbildung 1)11. 22 2.4 Mononukleosis infektiosa, Louis K., 15 Jahre In Louis' Schulklasse sind mehrere Kinder hintereinander an Pfeiffer‘schem Drüsenfieber (Mononucleosis infectiosa) erkrankt. Louis kommt am zweiten Erkrankungstag in die Praxis. Er hat hohes Fieber, einen eitrig-gelben Schnupfen, Husten, Mundgeruch und starke Schluckschmerzen, aufgrund derer er nicht einmal mehr seinen Speichel schlucken kann. Jedes Sprechen ist qualvoll. Er kann kaum stehen und wirkt deprimiert. Seine Temperatur liegt bei 40° C und der Allgemeinzustand ist stark reduziert. Im Status findet sich eine ausgedehnte membranöse Angina tonsillaris (weiss belegte Tonsillen), keine zusätzlichen Befunde. Das Blutbild zeigt die virale Natur der Erkrankung. Im Verlauf können auch Antikörper gegen Ebstein-Barr-Viren serologisch nachgewiesen werden. - Mit Hilfe der Checkliste für Erkrankungen erarbeitet Louis’ Mutter die folgenden Symptome: < Schlucken-P < Sprechen-P Speichelvermehrung-P > Wärme-P > Warmeinhüllen-P (bedeutet Wärme bessert)* Verlangen freie Luft-P Abneigung gegen Bewegung-P < Anstrengung körperlich-P (bedeutet Abneigung zu Bewegen)* > Ruhe-P > Liegen-P > Sitzen-P (bedeutet Sitzen krumm bessert)* < Stehen-P < Druck-P < Reiben-P (bedeutet Druck verschlimmert)* > Umschläge, feuchte-P Geruchsinn vermindert-P < beim Erwachen-P < nach Aufstehen-P (bedeutet Stehen verschlimmert)* > Sitzen krumm-P > Gesellschaft-P** grippale 23 *) Präzisierungen bei der Symptomenbesprechung **) Gesellschaft bessert ist normal beim einem kranken Kind, Symptom nicht zur Repertorisation verwenden. Bei dieser Symptomenfülle muss Gleichsinniges hinterfragt, und gegebenenfalls weggelassen werden (kursiv). Die Angabe Anstrengung verschlimmert ist beim schlechten Allgemeinzustand des Patienten wenig glaubwürdig, da er Anstrengung an sich meidet. Zur Repertorisation werden wiederum nur die polaren Symptome verwendet. Repertorisation L.K. 24 Drei Arzneimittel decken alle Symptome ab; nur Mezereum hat keine Kontraindikationen. Staphisagria, das aus Platzgründen nicht dargestellt werden konnte, wäre zweite Wahl, obschon es die Bewegungs-Abneigung nicht abdeckt. Am Beispiel von Lycopodium kann in dieser Repertorisation auch die relative Kontraindikation (KI) erläutert werden: Sie betrifft die Konstellation Patientensymptom im dritten oder vierten Grad, Gegenpolsymptom im 4. oder 5. Grad, mindestens Patientensymptom eine Gradstufe Geruchsinn höher. schwach im Bei Lycopodium dritten Grad, der steht das Gegenpol Geruchsinn empfindlich im vierten. Beide Pole liegen im Geniusbereich des Arzneimittels, aber der Patientenpol ist etwas tiefer gradiert, als der Gegenpol. Diese Konstellation wird nicht als absolute Kontraindikation gehandhabt. Es ist eine Ermessensfrage, ob ein Arzneimittel mit relativer Kontraindikation verwendet werden soll oder nicht. (Lycopodium fällt in diesem Beispiel aber aufgrund weiterer absoluter Kontraindikation und einer geringeren Polaritätsdifferenz aus dem Rennen). Materia medica-Vergleich für Mezereum (GS) Brennen im Hals, Trockenheit im Schlund, hackender Husten; ängstliche Atembeklemmung und lösen des Schleims beim Husten. Zusammenschnüren im Hals und im Magen. Rauhigkeit im Rachen. Schlund wie verengert; der Bissen drückt beim Hinabschlucken. Schlucken, selbst von Flüssigem ist schwer und schmerzhaft. Materia medica-Vergleich für Staphisagria (GS) Hals und Rachen trocken und scharrig, mit Wundheitsschmerz beim Reden und Schlingen. Beim Sprechen schluckt sie beständig. Geschwulst der Mandeln. Mittelgabe und Verlauf Sowohl die Höhe der Polaritätsdifferenz, als auch der Materia medica-Vergleich sprechen für Mezereum, von dem Louis eine Dosis der Potenz C 200 erhält. Nach der Mittelgabe bessert sich der Zustand von Stunde zu Stunde. Nach vier Tagen sind die Schluckschmerzen und die Membranen völlig verschwunden. Sieben Tage später ist Louis im Gegensatz zu mehreren Schulkameraden, die noch über Wochen darniederliegen, wieder völlig gesund. 25 Anmerkung In diesem Falle gibt der Patient so viele Symptome an, dass es unmöglich ist, ein Arzneimittel zu finden, welches keine Kontraindikationen aufweist. Deshalb müssen gleichsinnige Symptome unter der genauesten Bezeichnung zusammengefasst werden. Deren Besprechung und Klärung ist von grösster Bedeutung für eine erfolgreiche Mittelbestimmung. Es braucht dabei Fingerspitzengefühl, eine gute Beobachtungsgabe und auch etwas Erfahrung, die sich aber bei häufiger Anwendung der Polaritätsanalyse schnell einstellt. 2.5 Drei-Monats-Koliken: Yannik M., 6 Wochen Yannik wird während unserem Notarztdienst wegen Bauchschmerzen und anhaltendem Schreien in die Praxis gebracht. Er ist das erste Kind seiner Eltern und wurde nach einer unauffälligen Schwangerschaft in der 40. SSW geboren. Die postnatale Adaptation verlief unauffällig. Trotz intensivem Stillen scheint er immer hungrig zu sein. Die Eltern ergänzen in der fünften Woche die Ernährung mit einer Säuglingsmilch, was aber am Problem nichts ändert: Yannik trinkt weiterhin sehr hastig, scheint nach zehn Minuten bereits satt zu sein, und verlangt nach einer Stunde erneut Nahrung. Im Laufe des Tages wird er zunehmend unruhig, unzufrieden, und gegen Abend kommt es zu längeren Schreiphasen von bis zu drei Stunden Dauer, in denen er sich nicht mehr beruhigen lässt. Ein warmes Kirschsteinkissen und leichtes Massieren des Bauches besseren etwas, ebenfalls das Herumtragen des Kindes (Bewegung) und das Anziehen der Beine. Stuhlgang hat er nur alle 5-6 Tage, mit normalen, gelben Stühlen. Bei der Untersuchung ist er irritabel und angespannt, beruhigt sich aber beim Ausziehen zusehends. Auffällig sind ein leicht erhöhter Muskeltonus und ein ausgeprägter Meteorismus über dem ganzen Abdomen. Keine andern pathologischen Befunde. Diagnostisch handelt es sich um Drei-Monats-Koliken mit einer leichten Obstipation. Aus der Checkliste für akute Erkrankungen von Kleinkindern schreiben die Eltern die folgenden Symptome heraus: Blähungsschmerz 26 Verstopfung < Abends < nach Trinken-P < Beim Erwachen-P < Druck, äusserer-P > Wärme-P > Bewegung-P > Reiben-P (> Massieren des Bauches) > Sitzen krumm-P Für die Repertorisation können nach Rückfrage und Verifikation alle Symptome verwendet werden. Repertorisation Y.M. Zehn Arzneimittel decken alle Symptome ab, aber nur Kalium carbonicum und Ignatia haben keine Kontraindikationen. Mit einem Materia medica-Vergleich kann jetzt überprüft werden, welches der beiden hochpolaren Arzneimittel die Symptomatik präziser abdeckt. 27 Materia medica-Vergleich für Kalium carbonicum (GS) Schneiden in den Gedärmen, argen Schmerzes; er muß, um sich zu erleichtern, vorgebückt sitzen und mit beiden Händen aufdrücken, oder sich weit zurück lehnen; grade sitzen darf er nicht. Vollheit, Hitze im Bauch und große Auftreibung desselben, nach nur wenig Essen, sogleich. Spannen im Bauch. Blähungsversetzung. Kolik. Materia medica-Vergleich für Ignatia (GS) Blähungskolik; eingeklemmte Blähungen... Ungemeine Blähsucht; [...]. Ungenüglicher, kurzer und plötzlicher Abgang stinkender Blähungen, jedoch nicht ohne Pressen mit den Bauchmuskeln. Schmerzen, nach Blähungsabgang >, derselbe geht nur schwer vor sich. Mittelgabe und Verlauf Aufgrund des Materia medica-Vergleichs und der höheren Polaritätsdifferenz fällt der Entscheid zu Gunsten von Kalium carbonicum, von dem Yannik eine Dosis der Potenz C 200 erhält. In der folgenden Nacht schläft er ruhig durch, und am nächsten Tag haben die Koliken deutlich nachgelassen. Innerhalb von drei Tagen verschwindet die ganze Symptomatik vollständig und definitiv. Anmerkung Das Hauptproblem bei kleinen Säuglingen ist die Unsicherheit der Symptome. Oft braucht es eine längere Exploration bis man die entscheidenden Veränderungen herausgearbeitet hat. 2.6 Pneumonie des rechten Lungenmittellappens: Zora B, 3 Jahre Zora ist ein schüchternes, feingliedriges Kind mit wallendem pupurrotem Haar. Sie hustet seit vier Tagen und hat Fieber bis 39.5° C, besonders nach dem Mittagsschlaf. Sie isst und trinkt auch kaum mehr und atmet sehr schnell. Ihr Allgemeinzustand ist deutlich reduziert, und sie hängt nur noch in den Armen der Mutter. 28 Im Status finde ich ein sehr blasses, schlaffes Mädchen mit interkostalen Einziehungen beim Atmen und einer Atemfrequenz von 25/Minute. Bei der Auskultation fallen Rasselgeräusche ein über leichtes dem Wheezing rechten und feuchte, Lungenmittellappen feinblasige auf. Die Sauerstoffsättigung beträgt 92%. Es handelt sich also um ein Atemnotsyndrom bei Mittellappenpneumonie. Aus der Checkliste für Akute Erkrankungen der Atemwege schreibt die Mutter folgende Symptome heraus: Husten mit Auswurf Atem schnell-P < Ausatmen-P < Während Schlaf-P < Nach Schlaf-P < Ruhe-P < Berührung-P > Im Freien-P Durstlosigkeit-P Appetitlosigkeit-P Muskeln schlaff-P Abneigung gegen Bewegung-P Gereiztheit-P Traurigkeit-P Die Repertorisation kann nur mit den polaren Symptomen, zunächst auch unter Weglassung der Gemütssymptome erfolgen. 29 Repertorisation Z.B. Drei Arzneimittel decken alle Symptome ab. Pulsatilla hat die höchste Polaritätsdifferenz, aber es besteht aufgrund der Appetitlosigkeit eine relative Kontraindikation (Patientensymptom und Gegenpol beide in hohen Graden, das Patientensymptom aber etwas weniger hoch bewertet). Diese kann, wenn die übrigen Symptome gut zum Krankheitsbild passen, übergangen werden. Zweite Wahl wäre aufgrund der Polaritätsdifferenz Lycopodium, obschon es das Symptom Ausatmen verschlimmert nicht abdeckt. Materia medica-Vergleich für Pulsatilla (GS) Atemmangel: am Abend; in der Nacht. Engbrüstigkeit: asthmatische, erhöht durch Bewegung. Kurzatmigkeit nach dem Mittagessen. Atembeschwerden: nach geringfügigen Gemütsbewegungen; Ängstlichkeit, als würde der Hals 30 zugeschnürt, meist am Abend und in der Nacht. Auswurf: früh, nach dem Aufstehen. Materia medica-Vergleich für Lycopodium (GS) Kurzatmigkeit [bei Kindern], besonders im Schlafe. Engheit der Brust; Beim Liegen auf dem Rücken <. Keuchender Atem am Tage, mit Gefühl von zu viel Schleim in der Brust. Hustenreiz vom tief Atmen. Mittelgabe und Verlauf Zora erhält eine Dosis Pulsatilla C 200. Sie schläft auf dem Heimweg ein und beginnt ruhiger zu atmen. Am nächsten Tage ist das Fieber weg, der Allgemeinzustand viel besser und sie isst wieder normal. Innerhalb von zwei Tagen verschwindet der Husten vollständig. Bei der Nachkontrolle 10 Tage später ist sie völlig gesund. Anmerkung Dieser Fall ist aufgrund der tiefen Sauerstoffsättigung kritisch. Engmaschige Kontrollen müssen sicherstellen, dass das Kind nicht doch hospitalisiert werden muss. Normalerweise bitten wir die Eltern uns nach einigen Stunden über den Verlauf zu orientieren. Ist keine klare Besserung eingetreten, so muss der Patient gleich nochmals angeschaut werden. 3 Outcome-Studien für akute Erkrankungen Damit die Auswirkungen der Polaritätsanalyse auf die Treffsicherheit der Verordnungen und die Qualität der Besserungen bei akuten Erkrankungen erfasst werden konnte, wurden mehrere prospektive Outcome-Studien durchgeführt. Dabei wendeten wir die folgenden Kriterien an: 3.1 Outcome-Parameter Ersttreffer: Besserung von 50% oder mehr innerhalb von 48 Stunden nach der Mittelgabe (C 200). Keine weitere Konsultation nötig. 31 Zweittreffer: Braucht Reservedosis (C 200) nach 48 Stunden, weil die Besserung geringer ist als 50%. Diese bessert 50% oder mehr spätestens vier Tage nach Behandlungsbeginn, keine weitere Konsultation nötig. Keine Reaktion: Weder das erste noch das zweite Mittel bessern vollständig. Zweite Konsultation nötig. 3.2 Resultate Studien Fallzahl 1. Treffer 2. Treffer Keine Reaktion Grippe (H1N1) 52 32 13 7 Heuschnupfen 33 19 9 5 Mittelohrentzündungen 34 14 12 8 Tonsillitis 39 23 12 4 Sinusitis 8 3 4 1 Infekt obere Luftwege 22 11 11 0 Infekt untere Luftwege 48 26 14 8 Enteritis 20 15 4 1 256 143 79 34 Total 56% der Patienten werden durch das erstverabreichte Mittel geheilt, 31% durch das Reservemittel. 13% reagieren nicht oder nur ungenügend auf die erste und die zweite Mittelgabe und brauchen eine Folgekonsultation (Abbildung 2). 32 Bei einem Vergleich zwischen einem konventionellen Vorgehen nach BogerBönninghausen und der Polaritätsanalyse zeigt sich, dass sich die GesamtTrefferquote (1. Arzneimittel, bei Bedarf auch Reservemittel) bei Hustenpatienten um 8% steigern lässt. Leider haben wir keine Vergleichsgruppe, die die Behandlungsresultate bei allen akuten Erkrankungen mit der BönninghausenMethode ohne Polaritätsanalyse zeigt (Abbildung 3). 33 Literatur 1. Hahnemann S, Organon der Heilkunst, 6. Auflage, Hrsg. JM Schmidt. Haug-Verlag, Stuttgart, 2002. 2. Bönninghausen Cv, Bönninghausens Therapeutisches Taschenbuch, Revidierte Ausgabe 2000. Hrsg. KH Gypser, Sonntag-Verlag, Stuttgart, 2000. 3. Frei H, Everts R, von Ammon K, Kaufmann F, Walther D, Hsu-Schmitz SF, Collenberg M, Fuhrer K, Hassink R, Steinlin M, Thurneysen A: Homeopathic treatment of children with attention deficit hyperactivity disorder: a randomised, double blind, placebo controlled crossover-trial. Eur J Pediatr (2005), 164: 758-767. 4. Frei H, von Ammon K, Thurneysen A, Treatment of hyperactive children: Incerased efficiency through modifications of homeopathic diagnostic procedure. Homeopathy (2006), 95: 163-170. 5. Dunham C, Lectures on Materia Medica. Reprint, Jain Publishers, New Delhi, 1885. 6. Dunham C, Homeopathy, the Science of Therapeutics. Pratap Medical Publishers, New Delhi, without year. 7. Holzapfel K, Zur Kritik der pathognomonischen Symptome. ZKH (2002), 46/5:183-193. 8. Hering C, Hahnemanns Three Rules Concerning the Rank of Symptoms. Hahnemannian Monthly, (1865), August: 5-12. 9. Frei H, Polarity analysis, a new approach to increase the precision of homeopathic prescriptions. Homeopathy (2009), 98: 49-55. 10.Hering C, Herings Leitsymptome der homöopathischen Materia Medica. Software. Hrsg. M Tauscher, C Till, Till-Verlag, Runkel, 2006. 11.Frei H, Thurneysen A, Homeopathy in acute otitis media in children: treatment effect or spontaneous resolution? Brit Hom J 2001 =ct;90(4):180-182.