II Interviews

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IIInterviews
2 Das Strukturelle Interview
Peter Buchheim, Stephan Doering, Otto Kernberg
2.1Einleitung
2.1.1 Das Strukturelle Interview im Kontext der Entwicklungsphasen
­psychodynamischer Interviewtechnik
Das bereits Ende der 1970er-Jahre entwickelte Strukturelle Interview (Kernberg
1977, 1981, 1984, dt. 1985) stellte einen innovativen und integrativen diagnostischen Ansatz in der psychoanalytisch-psychiatrischen Interviewtechnik dar, der
erstmals neben der Psychopathologie und Psychodynamik die intrapsychischen
strukturellen Eigenschaften von Patienten mit psychischen Störungen erfasste.
Auf diese Weise ermöglicht es nicht nur die Diagnostik einer im Vordergrund
stehenden psychischen Störung, sondern auch die Unterscheidung der Patienten
in Bezug auf das Funktionsniveau ihrer Persönlichkeit.
Es wird davon ausgegangen, dass die vielfältigen Einflüsse, die genetische, konstitutionelle, biologische, familiäre, psychodynamische und psychosoziale Faktoren
auf die Entstehung der Erkrankung haben, auch in der psychischen Struktur zum
Ausdruck kommen. Unter der Annahme, dass das psychische Funktionieren einer
Person durch diese Struktur bestimmt wird, bildet sie eine Matrix, auf der sich
Verhalten und Symptome entwickeln.
Drei strukturelle Charakteristika sind Determinanten für die Differenzierung der
strukturellen Organisation auf den drei unterschiedlichen Niveaus – nämlich der
neurotischen, der Borderline- und der psychotischen Persönlichkeitsorganisation:
• Identitätsintegration versus Identitätsdiffusion (und die Qualität von Objektbeziehungen),
• die Konstellation von reifen oder unreifen Abwehrmechanismen,
• das Vorhandensein oder das Fehlen der Fähigkeit zur Realitätsprüfung.
Die Strukturelle Diagnose (Kernberg 1981) versteht sich als eine umfassende
Diagnostik sowohl der intrapsychischen Organisation mit ihrer Stabilität und
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Kontinuität über die Zeit als auch der phänomenologisch erfassbaren psychischen
Störung. Dieses Ziel wird erreicht über eine spezielle Form des klinischen Interviews mit einem Fokus auf die Interaktion zwischen Patient und Diagnostiker, auf
das allgemeine interpersonelle Verhalten und Funktionieren des Patienten und auf
die Psychopathologie und Vorgeschichte der aktuellen Erkrankung.
Die theoretischen Grundlagen und die Konzeption des Strukturellen Interviews
wurden im Beitrag „Structural Interviewing“ in der Zeitschrift „Psychiatric Clinics of North America“ (Kernberg 1981) und im Beitrag „The Structural Interview“ in dem Buch „Severe personalitiy disorders“ (Kernberg 1984) systematisch
und ausführlich beschrieben, nachdem bereits in dem Buch „Borderline conditions
and pathological narcissism“ (Kernberg 1975) die Grundzüge einer „deskriptiven
Analyse“ und einer „strukturellen Analyse“ formuliert worden sind.
In dem Therapiemanual mit dem Titel „Psychotherapy for borderline personality
– focusing on object relations“ (Clarkin et al. 2006; dt. 2008) werden in einer
aktualisierten Bearbeitung die Grundlagen der Objektbeziehungstheorie und der
Persönlichkeitsorganisation sowie eine entsprechende Konzeption und Durchführung des Strukturellen Interviews dargestellt, auf die wir uns in diesem Beitrag
vorwiegend beziehen werden.
Ein kurzer Blick auf die Entwicklung der psychodynamischen Interviewtechnik
zeigt, dass sich durch die Aufnahme psychoanalytischen Gedankenguts in den
USA bereits in den 1930er-Jahren die psychiatrische Diagnostik verändert hatte,
worauf Thomä und Kächele (1985) unter Bezugnahme auf die Übersicht von
Burnham (1967) hinweisen. Schon in den 1930er-Jahren lassen sich dort diese
Einflüsse auf das psychiatrische Erstgespräch erkennen, die Gill et al. (1954)
beschrieben haben. Mit dem Psychiatrischen Interview von Sullivan (1954) und
dem Erstinterview in der psychiatrischen Praxis von Gill et al. (1954), die als erste
Generation psychiatrisch-psychodynamischer Erstinterviewkonzepte betrachtet
werden können (Buchheim et al. 1987), wurden ausführlich die Methodik, die
Technik und das Training psychodynamischer Interviews dargestellt. Der wesentliche Beitrag der Autoren bestand in der Präzisierung der psychodynamischen
Interviewtechnik, wobei es vor allem zu einer interpersonell orientierten Wende in
der Einstellung des Interviewers kam, indem der Untersucher in seiner Interaktion
mit dem Patienten sowohl die Rolle des Beobachters als auch des Teilnehmers
einnimmt.
Schon zuvor hatte Deutsch (1939) in seiner sogenannten Assoziativen Anamnese
eine zurückhaltende, zuhörende Haltung des Interviewers empfohlen, um dem
Patienten zu ermöglichen, seine inneren Konflikte zu entfalten. Balint und Balint
(1961) hoben in ihrem an der Londoner Tavistock-Klinik entstandenen Diagnostischen Interview den besonderen Stellenwert der zwischenmenschlichen Beziehungen hervor und betonten im Sinne Heimanns (1950) explizit die Bedeutung der
Gegenübertragung für den diagnostischen Prozess. Argelander (1970) arbeitete
diesen Ansatz in seiner Monografie „Das Erstinterview in der Psychotherapie“
noch weiter aus. In Deutschland bildete die Tiefenpsychologisch-biografische
Anamnese einen wesentlichen Baustein der psychodynamischen Diagnostik. DiePeter Buchheim, Stephan Doering, Otto Kernberg
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ser diagnostische Ansatz, basierend auf dem klassischen Neurosenmodell, wurde
in den 1940er-Jahren von Schultz-Hencke (1951) in Berlin entworfen und von
Dührssen (1954, 1981) und Rudolf (1981) weiterentwickelt.
2.1.2 Konzeptualisierung des Strukturellen Interviews
Das Strukturelle Interview, das ein ausgewogenes Mischungsverhältnis zwischen deskriptiver Phänomenologie, psychodynamischer Beziehungsanalyse und
­struktureller Diagnostik aufweist, steht für eine „zweite Generation“ psychodynamischer Interviewtechnik (Buchheim et al. 1987). Zum einen wird es den
diagnostischen, therapeutischen und prognostischen Aufgaben eines psychia­
trisch-psychodynamischen Erstgesprächs für ein breites Spektrum psychischer
Erkrankungen gerecht. Zum anderen stellt es einen innovativen Ansatz in der
strukturellen ­Diagnostik von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen
– insbesondere mit Borderline-Persönlichkeit – dar, da es von Anfang an im
engen Z
­ usammenhang mit der Konzeptualisierung der Objektbeziehungstheorie
und des Konzeptes der Persönlichkeitsorganisation sowie der Modifizierung der
­psychoanalytischen Behandlungstechnik von Borderline-Störungen entwickelt
wurde.
Die Ergebnisse des Psychotherapie-Forschungsprojektes der Menninger Foundation (Kernberg et al. 1972) und die klinischen Erfahrungen an der MenningerKlinik in Topeka zeigten, dass weder die klassische psychoanalytische Behandlungstechnik noch das psychoanalytische Erstinterview für schwerer gestörte
Patienten geeignet waren. Insbesondere in der Arbeit mit diesen strukturell schwer
gestörten Patienten war es kaum umzusetzen, längere Zeit in frei schwebender
Aufmerksamkeit zu verharren. Ebenso erwies es sich als schwierig, in angemessener Zeit einen vollständigen biografischen Überblick zu erhalten. Mit der Entwicklung und Anwendung des Strukturellen Interviews wurde es möglich, diese
schwer gestörter Patienten adäquat und differenziert vor allem auch in Bezug auf
ihre Persönlichkeitsstruktur zu diagnostizieren
Auf der Grundlage der Objektbeziehungstheorie und des Konzeptes der Persönlichkeitsorganisation sowie in Anlehnung an das Strukturelle Interview wurde
das Structured Interview of Personality Organization (STIPO) von Clarkin, Kernberg und Mitarbeitern zunächst zur Anwendung in der Psychotherapieforschung
ausgearbeitet (Clarkin et al. 2004). Das STIPO ermöglicht das Erstellen einer
operationalisierten Strukturdiagnose (neurotische Persönlichkeitsorganisation/
NPO, höher strukturierte Borderline-Persönlichkeitsorganisation/BPO, niedrig
strukturierte BPO) mithilfe einer genauen Einschätzung von sieben Dimensionen der Persönlichkeitsorganisation: „Identität“, „Coping/Rigidität“, „Primitive
Abwehr“, „Realitätsprüfung“, „Qualität der Objektbeziehungen“, „Aggression“
und „Moralische Werte“.
Aufgrund seiner Strukturierung und Operationalisierung kann das STIPO einer
dritten Generation psychodynamisch orientierter Interviewmethoden insbeson14
2 Das Strukturelle Interview
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