Koordinierungsstelle für Psychiatrie - Landkreis Alzey

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Landkreis
Alzey-Worms
Kreisverwaltung
12. Fortbildungsveranstaltung
für die in der Altenhilfe Tätigen
Thema:
„Multimorbidität im Alter“
vom 21. November 2012
in der Rheinhessen-Fachklinik Alzey,
-Zentrum für Psychiatrie, Psychotherapie
und Neurologie Dautenheimer Landstr. 66
55232 Alzey
Zusammengestellt und herausgegeben durch
die Koordinierungsstelle für Psychiatrie des Landkreises Alzey-Worms
An der Hexenbleiche 36
55232 Alzey
Vorwort
Zum zwölften Mal referierten am 21. November 2012 im Rahmen der
Gerontopsychiatrischen Fortbildung Experten zum Thema „Multimorbidität im Alter“. In enger
Zusammenarbeit der Rheinhessen-Fachklinik Alzey und der Koordinierungsstelle für
Psychiatrie im Landkreis Alzey-Worms erläuterten drei Referenten das Thema umfassend.
Dr. med. Dipl.-Theol. Jochen Heckmann M.A., Ärztlicher Direktor der Geriatrischen
Fachklinik Rheinhessen-Nahe in Bad Münster am Stein-Ebernburg beleuchtete faktenreich
und detailliert das Thema „Ganzheitliche Medizin für den älteren Menschen“.
Im Anschluss schilderte Frau Hildegard Riedl, Mitarbeiterin der Evangelischen Sozialstation
Worms, praxisnah und anschaulich, was Validation bedeutet.
Nach kurzer Kaffeepause rundete Herr Dr. Wolfgang Gather, Chefarzt Gerontopsychiatrie
der Rheinhessen-Fachklinik Alzey mit „Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung bei
multimorbiden psychisch kranken alten Menschen“ den Nachmittag mit seinem
kenntnisreichen Hintergrund ab.
Wie bereits im Jahr zuvor ergänzte Frau Andrea Brodersen mit Dehn- und
Lockerungsübungen für den ganzen Körper die Fortbildung wertvoll.
Wieder einmal war die Veranstaltung sehr gut besucht. Mit überwiegend positiven
Rückmeldungen gestalten wir die Veranstaltung im November 2013 nach den
Themenwünschen der Teilnehmer.
Die einzelnen Vorträge finden Sie in der folgenden Dokumentation.
Möglichkeiten und Grenzen
der Behandlung bei multimorbiden
psychisch kranken alten Menschen
Dr. med. W. Gather
Gerontopsychiatrie
Rheinhessen-Fachklinik Alzey
Cogito ergo sum
Mens sana in corpore sano
Hyperkognitivismus
Anti-Aging-Medizin
Anti-ageism-Kampagne
__________________________
Was jeder sein will:
Selbstbewusst
Selbstbestimmt
Autonom
Zum aktuellen Stichtag am 04.11.2012 waren in der Gerontopsychiatrischen Abteilung
bei 50 % der Patienten eine relevante oder gar ursächlich für das bestehende
Störungsbild körperliche Erkrankungen vorhanden.
Multimorbidität führt zu Einschränkungen der Mobilität, sozialer Isolation, Verlust der
Selbstbestätigungsfähigkeit und der Kontrollüberzeugung und fördert damit depressive
und paranoide Störungsbilder, verschlechtert dementielle Prozesse.
Multimorbidität verschleiert oft zusätzlich vorhandene psychische Störungsbilder und
diese werden nach vielen Untersuchungen nicht wahrgenommen und auch nicht
behandelt!
Multimorbidität (oder Polymorbidität) bezeichnet die Koexsistenz von zwei oder
mehr körperlichen, geistigen und/oder seelischen Erkrankungen, an denen
eine Person gleichzeitig leidet.
Die Anzahl der körperlichen Erkrankungen nimmt mit dem Alter deutlich zu.
Prozentuale Verteilung der Multimorbidität in verschiedenen
Altersgruppen
(WELZ et AL. 1989; zitiert nach HÄFNER, 1993)
Alter in Jahren
Anzahl der körperlichen Beeinträchtigungen
0
1-2
3,4
5-6
7-8
65-69
10,9 %
27,3 %
34,5 %
18,2 %
9,1 %
70 – 74
4,5 %
25,0 %
36,4 %
13,6 %
20,5 %
75 – 79
5,4 %
18,9 %
27,0 %
21,6 %
27,0 %
≥ 80
0%
15,4 %
25,6 %
28,2 %
30,8 %
Häufigste psychiatrische Störungsbilder bei Multimorbidität
1.) Delir
2.) Depression
3.) Angst- und Panikzustände
4.) Medikamentenabhängigkeit
_____________________________
1.) Delir

multifaktoriell bedingt
2.) Depression

häufig bei Z. n. Herzinfarkt, kardialen Eingriffen generell,
Pneumonie, post-stroke-depression, bei Morbus
Parkinson, Carcinomleiden, Gelenksimplantaten
3.) Angst- und Panikzustände

häufig bei COPD
4.) Medikamentenabhängigkeit

häufig bei chron. Schmerzstörungen
benigner Art, anhaltende somatoforme
Schmerzstörung
5.) Demenzentwicklung/Demenzverstärkung
Brief der Universitätsmedizin Mainz
bitte einscannen
Delir
A)
Reduzierte Fähigkeit, die Aufmerksamkeit gegenüber äußeren Reizen
aufrechtzuerhalten und auf neue äußere Reize zu verlagern
B)
Denkstörungen, wie z. B. Weitschweifigkeit, irrelevante oder inkohärente Sprache
C)
Mindestens zwei folgende Merkmale:
1. Bewusstseinssteigerung
2. Wahrnehmungsstörungen (z. B. Illusionen und Halluzinationen)
3. Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus
4. Gesteigerte oder verminderte psychomotorische Aktivität
5. Desorientiertheit zu Zeit, Ort und Person
6. Gedächtnisstörungen
D)
Die klinischen Merkmale entwickeln sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne und
fluktuieren gewöhnlich im Laufe des Tages
Medikamente als Auslöser von Delir/ akutem Verwirrtheitszustand
modifiziert nach Hewer et al. 1994
Analgetika
Opiate, Salicylate, alle zentral wirksamen Analgetika
Anticholinergika
Atropin, Scopolamin etc.
Antiarrhythmika
Lidocain, Mexiletin, Chinidin, Procainamid
Antibiotika
Cephalosporine, Penicilline, Sulfonamide, Isoniazid,
Rifampicin, Amphotericin B, Metronidazol, Gyrase-Hemmer
Antihistaminika
H1/H2-Blocker
Antihypertensiva
Clonidin, a-Methyldopa, ACE-Hemmer
Antikonvulsiva
Phenobarbital, Phenytoin, Valproat
Antiphlogistika
Ibuprofen, Phenylbutazon
Parkinson-Therapeutika Amantadin, Biperiden, Dopa-Präparate, Dopa-Agonisten,
MAO-B-Hemmer (?),
Anticholinergika im Allgemeinen
Kardiaka
Glykoside
Hormone
Glucocorticoide
Virustatika
Acyclovir
Zytostatika
5-Fluorouracil etc.
Psychopharmaka
Benzodiazepine, niederpotente Neuroleptika (bes.
Levomepromazin), Antidepressiva (bes. solche mit hoher
anticholinerger Potenz), Clozapin
Priscus-Liste für den Schreibtisch
Die 83 Wirkstoffe im Überblick
Bitte einscannen
2 Seiten
Psycho-organische Faktoren als mögliche Ursachen für Delir
(akuter Verwirrtheitszustand)












Mit cerebraler Minderperfusion einhergehende kardiale Erkrankungen (Infarkt,
Herzinsuffizienz, brady- und tachykarde Rhythmusstörungen)
Hypertensive Krise
Respiratorische Insuffizienz
Nieren-/Leberinsuffizienz
Akute endokrinologische und Stoffwechselerkrankungen
(z. B. Hyper-/Hypoglykämie, Hyperthyreose)
Vitamin-Mangelzustände (z. B. Wernicke-Encephalopathie)
Entgleisung des Wasser- und Elektrolythaushaltes (bes. Exsikkose!)
Infektionen (Sepsis, Pneumonie etc.)
Sekundäre Erkrankungen des ZNS (Blutung, Infarkt, Infektion, Traumata,
Anfallsstatus etc.)
Intoxikationen mit (Psycho-)Pharmaka
Primäre ZNS-Erkrankung (SDAT, vaskuläre Demenzen,
Parkinson-Syndrom etc.)
Psychische Faktoren (allgemeiner Stress, Ortswechsel!)
modifziert nach Hewer Ergotherapie al. 1994
Selbstbestimmungsfähigkeit
•
Informationsverständnis
•
Urteilsvermögen
•
Einsicht einer psychischen Störung
•
Einsicht einer Behandlungsmöglichkeit
•
Fähigkeit, eine Entscheidung zu treffen und zum Ausdruck zu bringen
Behandlungsmöglichkeiten
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Behandlung der somatischen Komorbiditäten
Aktivierung
Mobilisierung
Psychotherapeutische Umstimmung durch kognitive
Verhaltenstherapie/Tiefenpsychologie
Psychopharmakologische Behandlung (AD/NL)
Betonung der verbliebenen Ressourcen
Krankengymnastik
Ergotherapie
Teilnahme am Gruppenleben auf Station
_____________________
Versorgung mit Hilfsmitteln
Einbeziehung der Angehörigen
Schwierigkeiten der Behandlung
1.) Suizidalität mit Ablehnung der therapeutischen Möglichkeiten wie z. B. Dialyse,
Insulintherapie etc.
2.) Schwerstdemente Patienten mit massiver (Reflex-)Abwehr zur Behandlung der
Komorbidität
(zieht sich ständig Infusionen, stürzt bei der Mobilisation etc.)
3.) sehr hohes Lebensalter in Kombination mit schwerer Demenz und Multimorbidität
(praktisch per se massiv verkürzte Lebenserwartung)
§ 1904 Genehmigung des Betreuungsgerichts
bei ärztlichen Maßnahmen
Die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine
Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff bedarf der Genehmigung des
Betreuungsgerichts, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute aufgrund
der Maßnahme stirbt oder einen schweren oder länger dauernden gesundheitlichen
Schaden erleidet. Ohne die Genehmigung darf die Maßnahme nur durchgeführt werden,
wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist.
•
•
•
•
•
Verbreitung, Qualität und Beachtung von Patientenverfügungen in stationären
Senioreneinrichtungen sind bisher nicht systematisch untersucht worden
Die Vollerhebung in den 11 Senioreneinrichtungen einer Großstadt aus dem Jahr
2007 ergab eine Häufigkeit von Vorausverfügungen von 12,4 %; ca. 1,4 % davon
waren Verfügungen, die nicht von Bewohnern, sondern von einem Vertreter
unterschrieben waren (Vertreterverfügungen)
Die Validität der Verfügungen im Sinne eines „informed consent“-Prozesses war in
der Regel für Dritte nicht nachvollziehbar und die Aussagekraft der Verfügungen war
begrenzt; insbesondere blieben typische Notfälle mit akut auftretender
Nichteinwilligungsfähigkeit druchgängig ungeregelt
In 14 von 23 Fällen, in denen aus der Verfügung für den aktuell gegebenen Zustand
ein Reanimationsverzicht abzuleiten war, gab es keine korrespondierende
Pflegeabsprache; die Autoren bewerten dies als Hinweis auf strukturelle Defizite bei
der Umsetzung von Patientenverfügungen in Senioreneinrichtungen
Wenig spricht dafür, dass das Patientenverfügungsgesetz aus dem Jahre 2009
nachhaltige und substantielle Veränderungen der beschriebenen Misere bewirken
wird
Schmitten, J: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 109, Heft 37, 14.09.2012
Patientenverfügungen
119 untersuchte Vorausverfügungen
Szenario I:
Bewohner bis dato einwilligungsfähig, aber aktuell durch akute vital
bedrohliche Erkrankung einwilligungsunfähig
94 % keine Aussage möglich über weiteres Vorgehen
Szenario II:
Vorbestehende (= dauerhafte) Nichteinwillungsfähigkeit bei
fortgeschrittener Demenz: 45 – 67 % keine einheitliche Aussage der
Inter-Rater-Reliabilität über weiteres Vorgehen (Reanimation,
Intensivmedizin, zu allgemeinem Vorgehen, PEG-Sonden-Anlage
etc.)
Erklärung zur Vorsorgevollmacht
Seite 1 – 4
Bitte einscannen
Erklärung zur Patientenverfügung
Seite 1 – 6
Bitte einscannen
Patientenverfügung mit Vorsorgevollmacht
und Betreuungsverfügung
Seite bitte einscannen
Festlegung zu Einleitung, Umfang und
Beendigung bestimmter ärztlicher
Maßnahmen
Seite bitte einscannen
Seite – 3Auszug aus Vorsorgevollmacht bzw.
Patientenverfügung bitte einscannen
Seite bitte einscannen
Umgang mit Patientenverfügungen und Vorsorgevollmacht
•
Bereits bei Aufnahme nach evtl. Vorliegen einer Patientenverfügung fragen
•
Diese – wenn vorhanden - in Krankenakte als Kopie verwahren und entsprechende
Notiz auf der Akte vermerken
•
Den Inhalt der Verfügung mit Patienten oder ggf. Angehörigen/Bevollmächtigten
durchgehen und noch einmal genau nachfragen, was wirklich gewollt wird!
•
Im Sinne eines „shared decision making“ zwischen Arzt und
Patient/Bevollmächtigtem gemeinsame Entscheidungsprozesse zur Therapieplanung
erarbeiten
Abbildung 5: Altersunterschiede des
objektiven Status usw.
Seite bitte einscannen
Modell der Selektion, Optimierung und Kompensation (SOK)
(Baltes und Baltes 1990)
Selektion:
1.
2.
Elektive Selektion bezieht sich auf Prozesse der Auswahl von Zielen und
ermöglicht dadurch die Fokussierung von Ressourcen.
Verlustbasierte Selektion wird relevant, wenn aufgrund von Einschränkungen in
zuvor verfügbaren Ressourcen Ziele nicht mehr aufrechterhalten werden können.
Optimierung:
Optimierung bezeichnet den Prozess der Zielverfolgung. Optimierung trägt damit
zu den Entwicklungsgewinnen bei; welche Mittel zielrelevant sind, hängt von den
jeweils gesetzten Zielen ab.
Kompensation:
Kompensation bezeichnet den Einsatz von Mitteln, um Verlusten und
Einschränkungen entgegenzuwirken.
SOK-Strategien tragen mit zum erfolgreichen oder guten Altern bei.
Verstehbarkeit
Seite bitte einscannen
Im Längsschnitt gesicherte Risikofaktoren
Seite bitte einscannen
In Längs- und Querschnittstudien gesicherte
protektive Faktoren
Seite bitte einscannen
Abbildung 2: Ein Arbeitsmodell der Korrelate
usw.
Seite bitte einscannen
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
Geriatrie
Ganzheitliche Medizin für den
älteren Menschen
J. Heckmann
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Was ist Altern ?
Die Farben des Herbstes
• „Altern“ meint mehr als nur die bekannte
Analogie zum Wandel der Jahreszeiten:
„Goldener Herbst“
• Altern ist stets differentielles Altern
• Altern umfasst stets Gewinne und Verluste
• Altern ist immer auch das, was die einzelnen
Menschen für sich selbst und für andere darin
sehen und zugleich was die Gesellschaft als
Altersleitbilder vorgibt.
14
Reife Leistung
Psychologische
Aspekte
15
Alternsbilder
16
17
18
Wünsche und Ziele
Vorurteile
19
Der Zahn der Zeit
Körperliche Veränderungen
Organfunktionen im Alter - physiologische Veränderungen
• Niere
Filtrationsleistung
70 %
•
Durchblutung
50%
• Lunge
Max. Ein-/Ausatemvolumen 56%
• Muskulatur Handkraft
55%
• Sinne
Geschmacksknospen
35%
• Kognition Reaktionsgeschwindigkeit verlangsamt
Multimorbidität im Alter
• 70-74 Jahre
6,4 Diagnosen
• 80-84 Jahre
8,4 Diagnosen
20
Krankheit im Alter
4 Atypische Symptompräsentation
4 Erhöhte Instabilität und verminderte
Anpassungsfähigkeit
4 Fehlende sektorielle Begrenzung von Organschäden
4 Reduzierte Spontanrekonvaleszenz
4 Unzureichende soziale Unterstützungssysteme
4 Biographische Krisensituation
4 Verminderte oder bedrohte Alltagskompetenz
4 Multimorbidität
21
Fr. A. 84 Jahre
• Herzinsuffizienz NYHA IIIII
• KHK mit Zn
Myokardinfarkten (1999
und 2004)
• Rez. Dekompensationen
• Insulinpflichtiger Diabetes
mellitus mit PNP,
Retinopathie
• Zn Sigmateilresektion bei
Sigma Ca 2003
22
Fr. A., 84 Jahre
• Zunehmende Unsicherheit beim
Gehen, rezidivierende Stürze bei
muskulärer Schwäche,
• Dyspnoe bei geringer Belastung
• Untergewichtigkeit
• Drohende Vereinsamung, lebt
alleine
• Reaktiv depressive Verstimmung
bei Sorge um den Verlust der
Selbständigkeit
• 5 Stufen bis zur Wohnung im
Wohnblock
• Einziger Sohn lebt in Italien
• 2x/Woche Zugehfrau
• 1x/Woche Pflegedienst zum 23
Baden
Der geriatrische Patient
„Ein geriatrischer Patient ist ein biologisch
älterer Patient ,
• der durch altersbedingte
Funktionseinschränkungen bei Erkrankungen
akut gefährdet ist
• der zur Multimorbidität neigt,
• bei dem ein besonderer Handlungsbedarf
rehabilitativ, somato-psychisch und
psychosozial besteht.“
24
Ein geriatrischer Patient ist definiert durch:
• geriatrietypische Multimorbidität und
höheres Lebensalter (überwiegend 70 Jahre oder älter).
• oder 80 Jahre und älter aufgrund der im Alter
zunehmenden Instabilität (Definition der
wissenschaftlichen Fachgesellschaften)
• Die geriatrietypische Multimorbidität hat im Sinne des
biologischen Alters Vorrang vor dem kalendarischen
Alter.
Geriatrie
Die klinische Geriatrie umfasst
Prävention, Erkennung, Behandlung und Rehabilitation
körperlicher und seelischer Erkrankungen im
biologisch fortgeschrittenen Lebensalter,
die in besonderem Maße zu dauernden Behinderungen
und dem Verlust der Selbständigkeit führen,
unter Anwendung der spezifischen geriatrischen
Methodik in stationären Einrichtungen
mit dem
Ziel der Wiederherstellung größtmöglicher
Selbständigkeit.
27
Geriatrie ?
28
Bio-psycho-soziales Modell der ICF
Gesundheitsproblem
(Gesundheitsstörung oder Krankheit, ICD)
Körperfunktionen
und -strukturen
Umweltfaktoren
• materiell
• sozial
• verhaltensbezogen
Aktivitäten
Teilhabe
persönliche Faktoren
• Alter, Geschlecht
• Motivation
• Lebensstil
Lebenserwartung in Deutschland
Durchschnittliche verbleibende
Lebenserwartung in Jahren
25
23,5
20
19,5
15
M
W
19,3
15,7
15,3
12,4
10
11,6
9,5
7,1
5
8,5
5,2
5,9
3,9 4,1
0
60 J
65 J
70 J
75 J
80 J
85 J
90 J
31
Diagnostik
Geriatrisches Assessment
Bezeichnung für den multidimensionalen und interdisziplinären
diagnostischen Prozeß.
Es ist eine Gesamterfassung und Bewertung der gesundheitlichen
Situation des Patienten.
Assessment erfaßt, gliedert und bewertet körperliche, psychische und
soziale Komponenten sowie Daten zum Umfeld.
Die Wechselwirkungen von Krankheiten, Behinderungen und
altersassoziierten Veränderungen werden herausgearbeitet mit
dem Ziel,
medizinische, pflegerische, therapeutische und soziale
Interventionen
zu planen und in ihrem Verlauf zu kontrollieren
Geriatrisches Assessment
Physikalisch - körperlicher Bereich
•
Klassische Anamnese, Körperliche Untersuchung
–
Berücksichtigung typischer Probleme: Mundhöhle, Sehen, Hören, Kraft, Schmerzen,
Decubitus, Kontrakturen, Bewegungsstörungen, Sturzfolgen, Körpergewicht
Psychischer Bereich
•
Vigilanz, Gedächtnis, Orientierung, Wahrnehmung, Denken und
Urteilsfähigkeit, Affekte, Kommunikation, Kooperation, individuelle Wertungen
personelles und materielles Umfeld
•
Sozialanamnese Biographische Daten, Tagesgestaltung, Soziale
Unterstützungssysteme, Soziale Kontakte, Juristische Regelungen
Analyse der Wohnumgebung, Finanzielle Ressourcen, Hilfsmittel-versorgung,
Medikamentöse Eigentherapie
33
Team
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Arzt
Pflege
Physiotherapie
Ergotherapie
Physikalische Therapie
Sprachtherapie
Psychologie
Sozialdienst
Seelsorge
Angehörige
Angehörige
35
Typische Syndrome
•
•
•
•
Immobilität
Instabilität
Inkontinenz
Intellektueller
Abbau
36
Typische Syndrome sind:
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Immobilität,
Sturzneigung und Schwindel,
kognitive Defizite,
Inkontinenz,
Dekubitalulcera,
Fehl- und Mangelernährung,
Störungen im Flüssigkeits- und
Elektrolythaushalt,
Depression, Angststörung,
chronische Schmerzen,
Sensibilitätsstörungen,
herabgesetzte körperliche
Belastbarkeit
Gebrechlichkeit,
starke Sehbehinderung,
ausgeprägte Schwerhörigkeit.
← Frakturen ?
←
←
Herzrhythmusstörungen ?
Normaldruckhydrozephalus?
← Sprue?
← Hormonstörung?
← Aortenklappenstenose?
← Diabetes?
Immobilität
„Wieder gehen können“
Liegen - sich aufsetzen - frei sitzen - aufstehen - frei
stehen - sich umsetzen - gehen mit und ohne
Hilfsmittel - Treppen steigen - sich im
Strassenverkehr bewegen
• Folgen:
–
–
–
–
–
Schmerzen
- Osteoporose
Muskelabbau
- Depressionen
Dekubitalgeschwüre - kognitive Einschränkungen
Kontrakturen
Lungenentzündungen
38
Klassifikation
39
Definition eines „Stürzers“
Alle Personen, die auf dem Boden aufgefunden
werden oder berichten gestürzt, gestolpert,
ausgerutscht oder hingefallen zu sein.
40
Epidemiologie
41
42
43
6 – Monatsmortalität nach Hüftfraktur
(Gesamtmortalität 22.0%)
24.3
25
20
15
12.5
11.3
10
8
5
0
im Krankenhaus
zu Hause-zu Hause
zu Hause-Heim
Heim-Heim
Aus: Pientka, Kostenhüftgelenksnaher Frakturen, ZGG 1999; Werte in Prozent
44
Mobilität nach Hüftfraktur nach 1 Jahr
400
362
350
300
241
250
200
150
188
206
146
100
81
50
0
38
0
ohne Hilfe
Gehstock
Gehbock
Immobil
Aus: Keane et al, 1993
45
Sturzfolgen
Schmerzen
Untergewicht
Depression
Angst
Immobilität
Kontrakturen
Dekubitus
Verwirrtheit
46
Funktionelle Fähigkeiten nach Hüftfraktur
nach 6 Monaten
Gesamt
Verlust sozialer Kontakte
21%
Verlust subjektiver
Leistungsfähigkeit
85%
Schmerzfrei
36.9%
Starke, ständige
Schmerzen
10.2%
Gehunfähig
21.6%
Selbständiges Ankleiden
54.6
Aus: Becker, Unfallfolgen nach Sturz, ZGG 1999; Werte in Prozent
47
Frakturen der oberen Extremität
• Erniedrigte Überlebensrate
• Aufgabe der selbständigen Lebensführung
• Verschlechterung der Gehfähigkeit
– Arme zur Unterstützung beim Gehen
– Benutzung von Hilfsmitteln
• Erhöhte Sturzangst
– Einsiedel, Becker et al., Frakturen der
oberen Extremität, ZGG 2006
48
Risikofaktor
• Kraftdefizit der unteren Extremität
• Kraftdefizit der oberen Extremität
» Moreland er al. , Muscle weakness and falls in older
adults: a systematic review and meta-analysis,
JAGS 2007
49
Sturzprävention und Training
• “Nichtstun ist sehr viel gefährlicher als
regelmäßiges körperliches Training”
American College of Sports Medicine (1998)
• “Körperliches Training wird gegenwärtig als die
beste Investition im Gesundheitswesen
angesehen”
Yvette Cooper, UK Minister for Public Health (2000)
50
Zentrale Komponente: Training
“Many different risk factors contribute to falls, but
muscle weakness and poor balance underlie most
falls. Strength training against resistance and
dynamic balance retraining improve both
strength and balance, and in randomised
controlled trials have been shown to decrease
the risk of falls.”
Gardner et al. (2000) Exercise in preventing falls and fall related injuries in
older people: a review of randomised controlled trials. Br. J. Sports
Med. 34: 7-17
51
Training für alle, die wollen und können
52
86jährige Patientin mit SHF nach Sturz
• 18 Medikamente
• 30 Einzeldosen
• 3 Diuretika
• 3 AM mit ungesicherter Wirksamkeit
• 8 Hub DA
• 2 Sympathikomimetika (DA +oral)
• 1 unsinnige Dosierung (1/2 Tbl ACEI)
• ACE + Diuretika + NSAR
+ Kaliumsparer = NI und K
53
Medikamente als Sturzursache?
•
•
•
•
•
•
•
Stürze haben multiple Ursachen
Führt die AM-Therapie einer Krankheit zum Sturz oder ist die
therapierte Krankheit die Ursache?
Führt die AM-Therapie einer Krankheit zum Sturz, weil eine
parallel bestehende Erkrankung negativ beeinflußt wird?
Ist es die erwünschte pharmakodynamische Wirkung oder
die UAW eines AM, die den Sturz begünstigt?
Relativ gesunde alte Menschen versus frail elderly?
Polypharmakotherapie, AM-Kombinationen, Interaktionen?
Keine RCT zu Medikamenten als Sturzursache
54
Besonderes Risiko für Arzneimittelbedingte Stürze im Alter
•
•
•
•
•
•
Sturzanamnese
Einnahme von > 4 AM oder >12 ED
Einnahme von einem oder mehreren psychotropen AM
Einnahme von AM mit niedriger therapeutischer Breite
Multimorbidität
Compliance – Probleme
55
56
Instabilität
Beispiel: Herzerkrankungen
• Herzinsuffizienz
• Aortenklappenstenose
• Herzrhythmusstörungen
• „Herzinsuffizienz ist ein komplexes klinisches
Syndrom,
• welches durch linksventrikuläre Dysfunktion
und neurohumorale Fehlregulation
charakterisiert ist, und dementsprechend
• einhergeht mit Belastungsintoleranz,
Flüssigkeitsretention und verkürzter
Lebensdauer.“
58
59
60
Krankheitsverlauf Organversagen: Herzinsuffizienz
Hohe Funktion
Tod
Zeit
Nach Lynn und Adamson
Akute Verschlechterung einer chronischen
Herzinsuffizienz
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Nicht ausreichend behandelte Hypertonie
Absetzen benötigter Medikamente(Compliance)
Infekte
Akute Ischämie
Rhythmusstörungen
Überwässerung bei Niereninsuffizienz
Anämie bei Blutungen
Pulmonale Embolien
Myokarditis
Vaskulitis
62
Therapie der chronischen Herzinsuffizienz
• Die Therapie sollte sein:
– In Übereinstimmung mit den Werten und
Wünschen des Patienten
– Ursachen bezogen, wenn immer möglich
– Stadien bezogen
– Symptom verbessernd, Eigenständigkeit erhaltend,
Lebensqualität steigernd
– Krankenhaus-Aufnahme vermindernd/vermeidend
– Prognose verlängernd
– Gut verträglich – nebenwirkungsarm
– Kontinuierlich überprüfbar
– Evidenz-basiert
63
Erfahrungen der Patienten
64
Erfahrungen der Patienten und der Angehörigen
• Unterschiedlicher Verlauf als bei Krebserkrankungen; häufig
„unerwarteter, plötzlicher“ Tod mit nicht abgrenzbarer
terminaler Phase
• Häufig Komorbiditäten, die im Vordergrund stehen; „nicht das
Herz ist krank“
• Abnahme sozialer Kontakte
• Gefühlte Verbesserung durch die Behandlung bei unveränderter
Prognose
• „Ich weiß, dass es nicht besser wird, aber ich hoffe, dass es
nicht schlechter wird“
• Geringes Verstehen von Diagnose und Prognose
Murray et al. BMJ 2002
65
66
Supportive and palliative care
•
Verbesserte Kommunikation
Assessment:
Beurteilung der Gesamtsituation:
(Gespräch – Tests)
•
Information
•
Psychologische Unterstützung
Physisch,
Belastbarkeit (6 min Gehtest)
Psychisch,
Depression (GDS)
•
Soziale Unterstützung
•
Spirituelle Unterstützung
Sozial,
Amb.Dienst zur Entlastung
Spirituell.
Abschied nehmen
67
Trigger für Palliation
Wenn zwei oder mehr der folgenden
Punkte vorhanden sind:
• NYHA III oder IV
• Pflegeteam erwartet den Tod
innerhalb des kommenden Jahres
• Wiederholte
Krankenhausaufenthalte wegen
symptomatischer Herzinsuffizienz
• Symptome trotz optimaler
Therapie
• Wenn das Team übereinstimmt in
der Auffassung, dass der Patient
sterben wird
• Bettlägerigkeit
• Vigilanzminderung
• Nur noch Flüssigkeitsaufnahme
möglich
• Keine Tabletteneinnahme mehr
möglich
68
WHO 2004: Better palliative care for older people
69
Herzrhythmusstörungen
Inkontinenz
Harninkontinenz ist ein Zustand, in dem
unfreiwilliges Urinieren ein soziales und
hygienisches Problem darstellt, das
objektiv festgestellt werden kann.
Definition der International Continence Society
72
Formen der Inkontinenz
Akut - reversible Inkontinenz
Chronisch - persistierende Inkontinenz
73
Formen und Ursachen der Harninkontinenz
Quelle: Pfisterer et al., Prakt. Aspekte in Diagnostik und Therapie der Harninkontinenz bei älteren Menschen
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Ursachen der Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten
Quelle: Pfisterer et al., Prakt. Aspekte in Diagnostik und Therapie der Harninkontinenz bei älteren Menschen
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Geriatrie - Ziele
„Nicht dem Leben mehr an Jahren
geben,
sondern den Jahren mehr an Leben“
Was ist Geriatrie?
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„Umgang mit desorientierten Menschen – verstehen und wertschätzen, anerkennen, und
bestätigen“
Referat von H. Riedl, Validationslehrerin
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Umgang mit desorientierten Menschen
Verstehen und wertschätzen, anerkennen und bestätigen
Eine neue Methode im Umgang mit verwirrten Menschen
Validation nach N. Feil
Wenn alte Menschen verwirrt werden, wird ihr Alltag immer unerträglicher. Sie
spüren, sie dass sich in der Gegenwart nicht mehr zurecht finden und ziehen sich
immer mehr und mehr in die Erinnerung zurück. Die Vergangenheit wird zur
Gegenwart.
In diesem Stadium ist realitätsorientierte Psychotherapie, die den Verwirrten als
Defizitmodell sieht, praktisch aussichtslos. Seit einiger Zeit gibt es einen neuen
Ansatz, der die emotionale Befindlichkeit berücksichtigt – die Validationstheorie.
Validation nach Feil bedeutet, „für gültig erklären, bestätigen, anerkennen und
wertschätzen“. Sie respektiert die Realität des Verwirrten.
Validation nach Feil wurde in den 70er Jahren von der Gerontologin Naomi Feil
entwickelt. In dem Altenheim ihres Vaters in Cleveland (Ohio) betreute sie
verschiedene Gruppen sehr alter Menschen und erkannte, dass Verwirrtheit nicht als
Krankheit, sondern häufig als eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben zu
begreifen ist. Denn in fast jeder Biographie gibt es unvollendete Handlungen,
ungelebte Augenblicke, falsche Entscheidungen, ungesagte Worte. Der Hochbetagte
setzt sich in seiner letzten Lebensphase damit auseinander.
Körperliche, soziale und psychische Verluste ermöglichen ihm, seine letzten
Aufgaben zu erfüllen: die Vergangenheit wieder herzustellen, um unbewältigte
Lebensaufgaben aufzuarbeiten. Bestätigt man seine Gefühle und nimmt ihn dabei
ernst, gibt man ihm Sicherheit und Stärke, also seine Würde zurück.
Diese Methode vermindert Stress und gibt Geborgenheit. Denn Gefühle, die ignoriert
oder geleugnet werden, nehmen an Intensität zu; aber Gefühle, die verstanden
werden, verlieren an Stärke. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Wenn man dem alten
Menschen hilft, seine Erinnerungen und Gefühle zu ordnen, findet er noch zu
Lebzeiten seinen Frieden.
Einfühlungsvermögen (Empathie) ist somit eine grundlegende Voraussetzung der
Validationsarbeit.
„In die Schuhe des anderen treten“: Vertrauen und Beziehung werden so aufgebaut.
Gefühle, die ein Mensch runterschluckt und die in ihm festsitzen, tun weh. Man muss
die Gefühle rausbringen und dann gehen die Schmerzen weg. Und wenn die
Menschen sehr alt und verwirrt sind, dann kommen die Gefühle raus.
Altersverwirrte Menschen sind vom Leben selbst verwirrt, die runtergeschluckten
Gefühle haben sie sehr verletzt, ja um den Verstand gebracht.
Verwirrte Menschen denken nicht mehr logisch. Darum sind auch Erklärungen wie:
„Das ist doch gar nicht so!“ sinnlos und verletzend. Sie leben in ihren Gefühlen und
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„Umgang mit desorientierten Menschen – verstehen und wertschätzen, anerkennen, und
bestätigen“
Referat von H. Riedl, Validationslehrerin
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wollen mit ihrem Leben aufräumen. Dazu gehen sie in die Vergangenheit zurück und
suchen genau die Situation auf, in denen leidvolle Gefühle entstanden sind.
Eine wichtige Erkenntnis von Naomi Feil, in ihrer jahrzehntelangen Arbeit mit sehr
alten Menschen ist, dass nicht nur anatomische Veränderungen im Gehirn zu
Verwirrtheitszuständen und Verhaltensänderungen führen können, sondern auch
psychologisch soziale Prozesse im Leben des Menschen dabei eine wichtige
Komponente bilden. Sie begründet dies am entwicklungspsychologischen Ansatz
von Erik Erikson der davon ausgeht, dass der Mensch in jedem Lebensstadium:
Kind, Jugendlicher, Erwachsener, Lebensmitte, altersbestimmte sozial –
psychologische „Aufgaben“ zu erfüllen hat, die ihn dann befähigen, die Aufgaben des
nächsten Lebensstadiums zu erfüllen. Gelingt dies nicht, kehren die Aufgaben auf
einer nächsten Entwicklungsstufe wieder. Werden sie auch hier nicht bewältigt,
werden diese unerledigten „Aufgaben“ bis ins hohe Alter mitgenommen. Selten
erfüllen wir eine Lebensaufgabe das erste Mal ganz. Keine Aufgabe lässt sich
gänzlich abschließen. Wenn wir uns unseren unerledigten Aufgaben nicht stellen,
warten diese bis im hohen Alter unsere Kontrolle nachlässt. Wir verlieren unser
Gleichgewicht und lange Zeit begrabene Gefühle können hervorbrechen.
Der sehr alte Mensch versucht jetzt sein Leben zu ordnen, einzuordnen und
Unerledigtes aus jüngeren Tagen zu verarbeiten. Er lässt seinen Gefühlen freien
Lauf, die kognitive Kontrolle (Hirnleistung) fehlt. Gefühle aus der Vergangenheit und
der Gegenwart mischen sich. Die Aufgabe des Alters, Bilanz zu ziehen, Integrität zu
finden, sagen zu können, das war gut, das war falsch, das ist mein Leben, beruht
laut Erikson / Feil darauf, wie wir früher Vertrauen gelernt haben, wie wir in der
Pubertät Abnabelungen erfahren haben (ich bin nicht meine Eltern), wie wir gelernt
haben, Erfolge und Misserfolge anzuerkennen und überholte Rollen in unserem
Leben loszulassen. All dies ist Grundlage, im Alter mit schwindendem Seh- und
Hörvermögen und anderen Verlusten umzugehen, diese in unserem Leben zu
integrieren, um dann in Frieden sterben zu können.
Als Validationsanwender habe ich gelernt:
An dem Ergründen der schmerzhaften Ereignisse selbst haben die alten Menschen
kein Interesse, diese Art der Vergangenheitsbewältigung übersteigt ihre Kräfte. Aber
die schmerzhaften Gefühle dieser Vergangenheit wollen sie loswerden. Dies ist von
Interesse und nicht die einzelnen Ereignisse im Leben.
Ich will herausfinden: Wie weit ist ein verwirrter Mensch in seiner Lebensbilanz? Und:
Wie sehr ist er verletzt?
Diese Lebensbilanz versucht Naomi Feil mit Stadien zu beschreiben.
STADIUM I
Mangelhafte Orientierung – unglückliche Orientierung an der Realität
Diese Menschen haben das Bedürfnis alte Konflikte in verkleideter Form zu äußern,
in dem sie Menschen der Gegenwart als Symbol für Menschen der Vergangenheit
verwenden. „Jemand vergiftet mein Essen“ – Essen ist ein Symbol für Liebe!
Sie fühlen sich zu Hause oder im Heim alleine, sie fühlen sich alt und überflüssig und
halten dies für eine Strafe für ihr früheres Verhalten. Sie sind zu Zeit, Ort und Person
orientiert, können aber keine Einsicht in die Ursache ihrer Situation zeigen.
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„Umgang mit desorientierten Menschen – verstehen und wertschätzen, anerkennen, und
bestätigen“
Referat von H. Riedl, Validationslehrerin
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STADIUM II
Zeitverwirrtheit – Verlust der kognitiven Fähigkeiten
Zeitverwirrte Menschen haben ein hohes Maß an körperlichen und sozialen
Verlusten. Das bringt das Fass zum überlaufen. Sie können diese Verluste nicht
mehr leugnen und sich nicht mehr an der Realität klammern. Sie ziehen sich immer
mehr in die Vergangenheit zurück und erleben Situationen aus früheren Tagen im
Hier und Jetzt. Ein Ding oder eine Person der Gegenwart ist das Symbol – die
Fahrkarte in die Vergangenheit.
STADIUM III
Sich wiederholende Bewegungen – sie ersetzen die Sprache
Der alte Mensch verfällt in vertraute Bewegungen und Geräusche aus früheren
Zeiten z. B. Kindheit, Beruf. Sie ersetzen die Sprache. Menschen, die sich gefesselt
fühlen, ziehen sich an und aus, um sich freier zu fühlen.
STADIUM IV
Vegetieren – totaler Rückzug nach innen
Der sehr alte Mensch zieht sich ganz auf sich selbst zurück und liegt meist in
Embryonalhaltung ohne Mimik und Gestik im Bett.
Für jedes Stadium der Aufarbeitungsphase hat Naomi Feil in der Validation
Techniken der verbalen und nonverbalen Kommunikation entwickelt.
Dies sind z. B. Zentrieren, Einschätzen, Berührung, Stimme, Musik, Spiegeln,
Polarität, Mehrdeutigkeit, Wiederholung, bevorzugtes Sinnesorgan.
Der Schlüssel für Validation ist Empathie. Das heißt Einfühlungsvermögen,
würdevoller Umgang mit altersverwirrten Menschen. Sympathie muss nicht sein,
denn diese Menschen sind in ihrer Verwirrtheit auch anstrengend. Sympathie kommt
dann schnell an ihre Grenzen. Wer mit Empathie auf den alten Menschen zugeht,
wird ihm nicht seine Fehler oder Schwächen vorhalten. Er wird ihn damit auch nicht
ablehnen oder „abschreiben“. Er diskutiert nicht. Er hört zu. Und er kommt wieder
zum Zuhören.
Empathie ist zusammengefasst die Fürsorge, das Sich – Kümmern, das Zuhören. So
verstanden ist Validation mehr als Gesprächsführung: sie ist ein Menschenbild. Und
zwar ein zutiefst menschliches.
Fragen zur Anwendung und Wirkung von Validation beantworte ich ihnen gerne:
Hildegard Riedl, Validationslehrerin
E-Mail: [email protected]
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