48 5. Diskussion Mit dieser Arbeit wurde erstmals versucht, die Veränderungen der Milchzahnoberfläche während der Dauer von 44 Monaten näher zu beleuchten. Wir erhofften uns, dadurch den Zeitpunkt des Abschlusses der tertiären Reifung festlegen zu können. Dass die Schmelzreifung des durchbrechenden permanenten Zahnes wesentlich längere Zeiträume erfordert, als man allgemein erwartet, ist ausführlich untersucht worden (Binus et al. 1987, Binus und Stiefel 1987, Stiefel und Binus 1991). Andererseits gibt es derzeitig keine Untersuchungen, die beim Milchzahn morphologische Oberflächenveränderungen klassifizieren. Am ehesten werden sie als „Gebrauchsspuren“ ohne einen zeitlichen Bezug zur Funktionsperiode pauschalisiert oder als Nebenstrukturen mit erwähnt. Aufgrund der bestehenden Variabilität des menschlichen Zahnschmelzes erscheint die Standardisierung der Untersuchungen schwierig. Die Beurteilung der Oberflächenveränderungen musste für die vorliegende Arbeit den Entwicklungsstand widerspiegeln sowie qualitative Aussagen zulassen. Die morphologischen Voruntersuchungen der Schmelzoberfläche mit dem Auflichtmikroskop sowie von Dünnschliffen im Polarisationsmikroskop hatten wichtige Übersichts- und Kontrollfunktionen für die späteren REMDetailbeobachtungen. Die natürliche Schmelzoberflächenwölbung des Zahnes, das niedrige Auflösungsvermögen und die geringe Tiefenschärfe bilden bei auflichtmikroskopischen Beobachtungen nachteilige Barrieren, die durch rasterelektronische Untersuchungen umgangen werden können. Schon Zsigmondy beobachtete 1865, vor der Entwicklung des REM, kleine Schliffflächen an den Approximalflächen von Molaren. Die hohe Auflösung und Tiefenschärfe des REM machte die Feinstruktur der Schmelzoberfläche zugänglich. Mit 100-facher Vergrößerung war es möglich, die labiale Zahnoberfläche der Schneidezähne in neun Sektoren qualifiziert zu beurteilen. Die altersbezogene Klassifizierung von 49 Positivrepliken der Patientenabdrücke erlaubte eine fortlaufende Klassifizierung (Längsschnittuntersuchung) über die Dauer von 44 Monaten. Um eine repräsentative Beurteilung zu ermöglichen, erfolgte die Untergliederung in 11 Altersgruppen. Im Vorfeld waren auftretende Artefakte hinsichtlich Schrumpfung und Spannung von Replikations- und Ausgussmaterialien durch Anpassung der Methoden und Werkstoffe verhindert worden. Dadurch stieg die Genauigkeit für die Charakterisierung innerhalb der Kratzeranalyse. Da die Qualität der Zahnoberfläche abhängig von ihrem Reifezustand, also von der Schmelzoberflächenhärte (Mineralisationsgüte) ist, muss es Korrelationen zu Oberflächenveränderungen bzw. Kratzerhäufigkeiten geben. Die Arbeit beweist, dass diese Messung der Veränderung – wenn auch sehr aufwendig – möglich ist. Der gebildete Mittelwert jeder einzelnen Gruppe erläutert die Oberflächenveränderungen, bezogen auf die Kratzerhäufigkeit, für einen Zeitzaum von 44 Monaten. Bis zum Alter von 54 Monaten erfolgte ein geringer, aber stetiger Anstieg der Kratzerhäufigkeit insgesamt. Von einer Häufigkeitszuordnung zu Beginn der Untersuchung von 0,47, stieg dieser Wert auf 1,63 im Alter von 54 Monaten. Während dieser Zeit wird die posteruptive Schmelzreifung durch Vorgänge charakterisiert, die die Zahnoberfläche in ihrer Qualität verbessern. Im wesentlichen handelt es sich um eine steigende Mineraldichte, also eine Strukturverbesserung innerhalb der Kristallitanordnung. Der Milchzahn ist vor dem 54. Lebensmonat den an ihn gestellten funktionellen Anforderungen noch nicht gewachsen. Er bedarf noch der Optimierung seiner physikochemischen Eigenschaften. Aus den Ergebnissen ergibt sich, dass die posteruptive Schmelzreifung ähnlich prolongiert verläuft, wie das von den permanenten Zähnen beschrieben wurde. Erst ab dem 54. Lebensmonat wird ein Rückgang der Kratzerhäufigkeit auf der Zahnoberfläche sichtbar. Die Stagnation bzw. die Abnahme von der 8. bis zur 11. Gruppe signalisiert uns das Ende der Prozesse um die Ausreifung des Mineralgerüstes. 50 Die zunächst angenommene Arbeitshypothese, die oberen mittleren Inzisivi würden bereits in der ersten Hälfte der Funktionsperiode (also etwa um den 30. Lebensmonat) zur Ausreifung kommen, konnte also nach den Ergebnissen nicht bestätigt werden. Der nachgewiesene vierjährige Reifungsprozess weist eindeutige Parallelen zur Dauer des verzögerten Maturationsvorgangs im permanenten Gebiss auf, wenn man die unterschiedlichen Funktionsdauern der beiden Dentitionen zueinander vergleicht. Erst nach dem 54. Lebensmonat kann die Schmelzoberfläche der untersuchten Milchschneidezähne als ausgereift bezeichnet werden. Ab diesem Zeitpunkt kommt es zu keiner darstellbaren Steigerung der Oberflächenveränderungen mehr, sondern zu einer Einebnung, d. h. zu einer Verflachung des Reliefs. Keine Berücksichtigung fand das Auftreten der Neonatallinie, welche sich bei Milchschneidezähnen im zervikalen Drittel der Zahnkrone befindet und dort auch als ringförmige Einsenkung die Oberfläche erreicht. Häufig festgestellte Grübchen auf der Zahnoberfläche frisch durchgebrochener Zähne entsprechen vertieften Prismenkernzonen und entstehen infolge frühzeitig aussetzender Matrixsekretion. Ebenso wurden Lamellen sowie präeruptive Schmelzsprünge, die später von der Oberfläche her mit organischen Einlagerungen gefüllt werden, außer acht gelassen. Solche Sprünge gehen meist von der Schmelzzementgrenze aus und verlaufen etwa 100 - 1000 µm nach koronal. Die festgestellte Forschung und lange Ausreifungszeit Zahnärzte im Hinblick im auf Milchzahngebiss die Ergebnisse muss der Kariesepidemiologie anregen, die Schwachstellen dieser Reifungsphase zu umgehen bzw. durch gezielte Manipulationen eine Verbesserung der Eigenschaften zu erreichen. Die Phase der ständigen Wechselwirkungen im Mundhöhlenmilieu muss zugunsten einer Qualitätsverbesserung der Zahnoberfläche beeinflussbarer gemacht werden. Nachfolgende Forschungsarbeiten müssen Möglichkeiten zur Beschleunigung der Reifungsvorgänge suchen und anwendbar gestalten. 51 Im Vergleich von laktaler und permanenter Dentition in bezug auf das Thema der Studie ist zu resümieren, dass die Oberflächen der Milchzähne über einen Maturationszeitraum bis etwa zur Vollendung des 4. Lebensjahres stetig neue Strukturveränderungen erfahren, bis sich endlich eine Phase einstellt, bei der die Zunahme von Usuren und exogenen mechanischen Verletzungen stagniert und durch attritive oder weitere abrasive Substanzverluste sogar eine Glättung eintritt. Jedoch ist dann die verbleibende Funktionsperiode bis zur Exfoliation leider begrenzt. Gemessen an den Milchzähnen sind die Schmelzoberflächen der permanenten Zähne um ein Mehrfaches stärker belastet. Die mechanischen Läsionen im höheren Kindesalter bis hin zum jungen Erwachsenen deuten jedenfalls auf ausgeprägte Merkmale einer prolongierten Immaturität. Die Schmelzkratzer sind wesentlich häufiger und in ihrer Intensität nach Breite und Tiefe der Hartsubstanzverletzungen mindestens mit der doppelten Zeitspanne gegenüber dem Milchgebiss zu veranschlagen. Die Maturationsdauer beim bleibenden Gebiss zieht sich über 6-8 Jahre posteruptiv hin. Gleichzeitig kann man die Schmelzreifung sowohl auf die mechanischen, strukturellen und chemischen Veränderungen der Hartsubstanzen beziehen. Das zeigt sich an zahlreichen Untersuchungen, die im Arbeitsbereich Orale Strukturbiologie der Universitätspoliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, unter Einbeziehung von Doktoranden durchgeführt wurden. Durch Überprüfung der Schmelzporosität und –dichte im Polaristionsmikroskop, mit Hilfe von Dichtemessungen, durch Bestimmungen mittels Mikroeindruckhärtemessungen, durch Strukturuntersuchungen im Rasterelektronen- mikroskop, durch Bestimmungen wichtiger an der Mineralisation beteiligter Elemente wurde für die zweite Dentition der Zeitpunkt der Erreichung der weitgehenden Ausreifung und physikochemischen Widerstandsfähigkeit beim Menschen mit etwa 20 Jahren bestimmt. Das zeigt sich auch am raschen Absinken der Kariesprogredienz zum gleichen Zeitpunkt. An einigen Gruppen der Säugetiere ließen sich gleichzeitig Anzeichen der Akzeleration im Ablauf der Mineralisation als Trend nachweisen, die jedoch noch unter der Signifikanzgrenze liegen. An der angenommenen Arbeitshypothese, dass es schon in der ersten Hälfte der Funktionsperiode, mit dem 30. Lebensmonat zu einer 52 Ausreifung der Zahnoberfläche kommen würde, kann nach den erzielten Ergebnissen nicht festgehalten werden. Der nachgewiesene vierjährige Reifungsprozess von Milchzähnen weist eindeutige Parallelen zur Dauer des Reifungsprozesses im permanenten Gebiss spezifischen Funktionsdauer der beiden Dentitionen auf. in Relation zur