Kunst und Politik Band 17/2015 KUNST UND POLITIK JAHRBUCH DER GUERNICA-GESELLSCHAFT Begründet von Jutta Held Herausgegeben von Martin Papenbrock und Norbert Schneider Wissenschaftlicher Beirat Christoph Bertsch, Innsbruck Carol Duncan, New York Andrew Hemingway, London Klaus Herding, Frankfurt am Main Annegret Jürgens-Kirchhoff, Tübingen Barbara McCloskey, Pittsburgh Frances Pohl, Claremont/California Ellen Spickernagel, Gießen Martin Warnke, Hamburg Peter Weibel, Karlsruhe KUNST UND POLITIK JAHRBUCH DER GUERNICA-GESELLSCHAFT Kunst und Politik Band 17/2015 Schwerpunkt: Weißsein und Kunst. Neue postkoloniale Analysen Herausgeberin dieses Bandes: Anna Greve V&R unipress Redaktion: Anna Greve (Leitung), Helga Lechner, Martin Papenbrock, Norbert Schneider, Elke Wüst-Kralowetz Redaktionsadresse: Guernica-Gesellschaft, Brauerstraße 17, 76137 Karlsruhe, Tel. 07 21/3 52 93 79 Erscheinungsweise: Jährlich im Herbst Abonnement: Der Preis für ein einzelnes Jahrbuch beträgt EUR 22,50 im Abonnement EUR 19,50 Gedruckt mit Unterstützung folgender Institutionen: Stiftung Kritische Kunst- und Kulturwissenschaft Ulmer Verein – Verband für Kunst- und Kulturwissenschaften Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar 1. Aufl. 2015 © 2015 Göttingen, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen Alle Rechte vorbehalten Einbandgestaltung: Tevfik Göktepe Druck: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf säurefreiem, total chlorfrei gebleichtem Werkdruckpapier. Alterungsbeständig. Printed in Germany ISBN 978-3-8471-0526-8 Inhalt WEISSSEIN UND KUNST. NEUE POSTKOLONIALE ANALYSEN Vorwort....................................................................................................................... 7 Urmila Goel Postkoloniale Perspektiven auf (museale) Repräsentationen ....................................... 9 Jihan Jasmin Dean Kritische Weißseinsforschung und Perspektiven of Color. Geschichte, Aktualität, Kontroversen ........................................................................ 19 Anna Greve weiß und Schwarz. Neue Begriffe für die Kunstgeschichte......................................... 37 Philine Helas Der Fremde beim Emausmahl. Zur Repräsentation des Schwarzen in der italienischen Kunst der Reniassance ......... 47 Anna Greve Die Macht der Farbe. Der weiße Silberschatz der Kompanie der Schwarzen Häupter ................................. 67 Annika Nasz Sklaverei, Sklavenhandel und der weiße Blick in England und Frankreich................ 77 Kea Wienand Weiße Selbststilisierung als ›Anderer‹ und/oder Versuch der Solidarisierung? Eine postkoloniale Relektüre von Wolf Vostells Collage Die Fluxisten sind… (1980) ....... 87 Rena Onat »I speak, so you don’t speak for me!« (Queer) of Color-Perspektiven als Voraussetzung für Queering und Dekolonisierung von Kunst_Wissenschaft ............ 101 Birgit Haehnel »War doch im Haushalt der Mutter alles in saubere weiße Wäsche gekleidet…« – Visuelle Kultur, deutsche Nationenbildung und Biopolitik ................................... 117 Sebastian Lemme Visuelles Othering und weiße Imaginationen des globalen Südens. Postkoloniale Analyseperspektiven auf Fair Trade-Bildwelten .................................137 Sandrine Micossé-Aikins »Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit« Antirassistischer Kulturaktivismus zwischen Protest und Widerstand .............................................................................155 Noah Sow Schwarze Wissensproduktion als angeeignete Profilierungsressource und der systematische Ausschluss von Erfahrungswissen aus Kunst- und Kulturstudien ........167 WEITERE BEITRÄGE Elke Wüst-Kralowetz The Yes Men: zeitgenössische politische Kunst der subversiven Affirmation und des Fake ..................................................................................................................179 BESPRECHUNGEN Daniela Stöppel: Visuelle Zeichensysteme der Avantgarden 1910 bis 1950. Verkehrszeichen, Farbleitsysteme, Piktogramme. München: Verlag Silke Schreiber 2014 (Nicola Hille) ..............................................................193 MATERIALIEN Kommentierte Bibliografie »Postkolonialismus, Weißsein und Kunst« ....................195 ANHANG Autorinnen und Autoren ..........................................................................................199 Abbildungsverzeichnis.............................................................................................202 Vorwort Die mit diesem Band zur Veröffentlichung gebrachten Texte gehen zurück auf die Tagung Neue postkoloniale Analysemethoden in der Kunst, die am 5. und 6. Dezember 2014 bei den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden stattfand. Mein erster Dank gilt daher Prof. Dr. Gilbert Lupfer und seinem Team, die durch logistische und finanzielle Unterstützung mit zum Gelingen einer intellektuell wie emotional anspruchsvollen und anregenden Konferenz beigetragen haben. Die Finanzierung des Bandes wurde ermöglicht durch die Stiftung Kritische Kunst- und Kulturwissenschaften sowie den Ulmer Verein. Die Reihenherausgeber und Redaktionsmitglieder des Jahrbuchs Kunst und Politik waren mir bei der Buchproduktion eine große Hilfe. Für ihre jeweils ganz besondere Unterstützung während der Entstehung dieses Bandes danke ich von Herzen Staatsrätin Carmen Emigholz, Johannes Dimpfl und Dr. Peter Plaßmeyer. Der Anspruch eines kritischen Imperativs, der die Kritische Weißseinsforschung in besonderer Weise auszeichnet, schafft erst den erforderlichen Denk_Raum für differente Standpunkte und damit die Voraussetzung für einen – nicht immer spannungsfreien, oft genug streitbaren – Dialog Schwarz und weiß positionierter und begründeter Beiträge. Es darf als ein Erfolg der Tagung betrachtet werden, dass es gelang, Vertreter_innen beider Seiten zu gewinnen. Spätestens in den Debatten im Anschluss an die Vorträge zeigte sich, dass die Kenntnis der Positionierung der Sprechenden für die Lokalisierung der Ansätze ihrer Analysen von Bedeutung war. Möge sich jede_r Leser_in ein eigenes Bild machen und sich darauf einlassen, dass Schwarze und weiße Fragestellungen von unterschiedlicher Art sind: eröffnen die einen grundsätzliche Strukturdebatten über Wissenszugänge und Machtverhältnisse, so befassen sich die anderen vornehmlich mit speziellen Themenkomplexen. Die Wahrnehmung dieser Differenz, die ein Instrument des methodischen Grundansatzes der Kritischen Weißseinsforschung ist, wird vor allem auch durch den Umstand begreifbar, dass der jeweils unterschiedliche Blick auf gesellschaftliche Hierarchien und die sich daraus ergebende Verschiedenheit individueller Betroffenheit in erster Linie historisch erklärbare Tatsachen sind. Daher möchte ich an dieser Stelle noch einmal allen Teilnehmer_innen ausdrücklich dafür danken, dass sie sich den herausfordernden Diskussionen ausgesetzt und ihre Texte für diesen Band zur Verfügung gestellt haben. Nicola al-Samarai und Peggy Piesche danke ich dafür, dass sie mir bei der Konzeption behilflich waren. Es wurde ein Denkprozess in Gang gesetzt und ein Schritt hin zu einer systematischen Anwendung der Kritischen Weißseinsforschung in der Kunstwissenschaft vollzogen. Das Schlagen von Brücken zwischen Analysen von Weißsein einerseits und Analysen der Darstellung Schwarzer Personen in der Kunst andererseits bleibt der latente Anspruch an zukünftige Tagungen und Forschungen, die unter dem Titel »Kritische Weißseinsforschung« firmieren. 8 Vorwort Dass Kritische Weißseinsforschung, die ihr Selbstverständnis definiert als Kritik der reinen europäischen Kunstwissenschaft, mehr ist als bloße Theorie und auch ›für die Praxis taugt‹, zeigt die Tatsache, dass inzwischen im Museumswesen diese neue Methode ihren praktischen Niederschlag findet – beispielsweise in der seit 2010 bestehenden Dauerausstellung des Rautenstrauch-Joest-Museums in Köln. Dort werden die Besucher_innen als Individuen zu Beginn der Ausstellung direkt angesprochen und mit auf eine Reise durch die ›Kulturen der Welt‹ genommen, bei der ein weißer Standpunkt immer wieder als Bezugsgröße thematisiert wird. Angesichts der Realität, dass Völkerkundemuseen aus weißen – europäische Identität stiftenden – Interessen heraus entstanden sind und deshalb selbstredend aufrechterhalten werden, ist dies nur konsequent. Spätestens durch die direkte Frage »Wann haben Sie zuerst bemerkt, dass Sie weiß sind?« – an der Türschwelle zum Themenkomplex »Der verstellte Blick. Vorurteile« – ist eine individuelle Reflexion über weiße Privilegien und historische Verantwortung unausweichlich. Anna Greve Urmila Goel Postkoloniale Perspektiven auf (museale) Repräsentationen Der Besuch einer Freundin führte mich ins Pergamonmuseum. Mit einem Audio Guide ausgestattet streifte ich durch die Ausstellung. Mir wurden viele Informationen über alle möglichen Details des Ästhetischen angeboten, aber nicht die Informationen, die ich suchte. Mich interessiert vor allem der sozioökonomische Kontext, in dem Kunstwerke entstanden sind, wirkten und wirken. Beim Pergamonaltar wollte ich zudem wissen, wie, wieso, durch wen und unter welchen Umständen er überhaupt nach Berlin gekommen war. Was hat dazu geführt, dass er an seinem ursprünglichen Standort abgebaut und nach Deutschland gebracht wurde? Wer hat das mit wem vereinbart? Welchen Zwecken diente das? Welche ungleichen Machtverhältnisse beförderten die Umsetzung nach Berlin? Wie wirken diese bis heute fort und was bedeuten sie für internationale Beziehungen? Was wurde und wird mit der Ausstellung des Pergamonaltars in Berlin repräsentiert? Der Audio Guide bot mir zu diesen Fragen aber so gut wie keine Informationen. Verärgert verließ ich das Museum. Meine Distanz zu Kunstausstellungen war eher größer als kleiner geworden. Wer mit einem durch postkoloniale Theorie informierten Blick durch Museen geht, wird häufig enttäuscht. Postkoloniale Verstrickungen werden selten problematisiert, Orientalismen und Rassismusreproduktionen werden häufig unkommentiert ausgestellt, eurozentrische Darstellungsformen werden selten irritiert. In diesem Essay werde ich kurz in die Grundlagen postkolonialer Theorie und ihre Bedeutung für (museale) Repräsentation einführen. Dabei gehe ich insbesondere auf die Konstruktion des Anderen, das Herstellen von Ordnung, den Eurozentrismus und das Dilemma des Sprechens für Andere ein. Anschließend gehe ich kurz auf die Schwierigkeiten im Umgang mit Rassismusreproduktionen in Kunstwerken ein und beende den Essay mit möglichen musealen Reaktionen auf Phänomene wie Pegida. 1. Postkoloniale Theorie Die koloniale Unterwerfung großer Teile der Welt durch europäische Mächte hat sowohl in den kolonisierten als auch in den kolonisierenden Gebieten über das formale Ende der Kolonialherrschaften hinweg Spuren hinterlassen. Nach María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan richten die postkolonialen Studien ihren Blick auf die Vielfältigkeit kolonialer Interventionen sowie ihre Wirkmächtigkeiten bis heute. 1 Dabei analysieren sie insbesondere auch die Rolle der Wissenschaften (und der Kunst) im Rahmen der kolonialen Herrschaftssysteme und »wie diese (neo-)koloniale Episteme und materielle Beziehungen reproduzier(t)en, die die ›Anderen‹ in der Position der ›Anderen‹ zu fixieren suchen«.2 10 Urmila Goel Die Konstruktion und Fixierungen der Anderen als Andere hat insbesondere Edward Said in seiner Analyse des Orientalismus beschrieben.3 In diesem zentralen Text der postkolonialen Theorie zeichnet Said nach, wie Orientalist_innen, insbesondere Wissenschaftler_innen, Schriftsteller_innen und Künstler_innen, im so genannten Okzident (das Abendland) durch ihre Arbeiten den Orient (das Morgenland) als das Andere des Okzidents erschufen (und immer noch erschaffen). Sie erzeug(t)en Wissen über und Bilder von dem so genannten Orient (häufig ohne jemals in der Region gewesen zu sein), (re)produzier(t)en und fixier(t)en so gesellschaftliche Vorstellungen über das Morgenland und ermöglich(t)en damit unter anderem politisches Handeln, das die Dominanz europäischer Mächte sichern soll(te). Der damit erschaffene Orient ist weniger ein Abbild der Lebenswirklichkeiten in der Region als eine Projektion der Orientalist_innen und sagt damit auch mehr über den Okzident als über die als Orient bezeichnete Region aus. Das Andere wurde (und wird) erschaffen, um sich seiner selbst zu vergewissern, die eigene Position zu sichern, Vorrechte zu rechtfertigen und auch um einen Projektionsraum für (verdrängte) Wunschvorstellungen und Sehnsüchte zu haben. Zentrales Element der postkolonialen Theorie ist daher, zu analysieren, wie Wissenschaft und Kunst Wissen und Bilder über die Anderen geschaffen und fixiert haben. Eine der Fragen postkolonialer Theorie ist dabei auch, wer überhaupt in der Lage ist, sich Gehör zu verschaffen, anerkanntes Wissen und Repräsentationen zu schaffen. Gayatri Spivak, eine weitere wichtige Vertreterin der postkolonialen Theorie, hat diese Frage unter der Überschrift »Can the subaltern speak?« verhandelt.4 Auf diese gerade auch für Museen und Kunst wichtige Frage werde ich später zurückkommen. Zuerst aber noch einmal zum Begriff postkolonial: Castro Varela und Dhawan bezeichnen ihn als »fuzzy concept«, der sich einer genauen Definition entzieht. 5 Ich benutze ihn, um darauf zu verweisen, dass auch heute noch die durch Kolonialismus erzeugten globalen Machtungleichheiten berücksichtigt werden müssen und das Geschehen, zum Beispiel in Deutschland, vor dem Hintergrund von globalen Verflechtungen6 und Machtungleichheiten betrachtet werden muss. Dabei sind durch die Kolonialgeschichte nicht nur die ehemaligen Kolonialmächte (inklusive Deutschlands) und die kolonialisierten Regionen betroffen, sondern auch alle anderen Länder und Regionen, die im Austausch mit diesen standen. So ist mir auch in Norwegen, das nach meinem Kenntnisstand keine eigenen Kolonien hatte, noch vor wenigen Jahren die Bezeichnung Kolonialwaren begegnet – und zwar in einem Laden, der die Bezeichnung Eksotisk trug und für den Lebensmittelbedarf von Zugewanderten (wie mir) sorgte. Eine postkoloniale Perspektive beschäftigt sich nicht ausschließlich mit den jeweiligen Kolonialgeschichten, sondern auch mit deren Folgen für internationalen Handel und Beziehungen, für Migration, Wissen und Repräsentation. Sie fordert, dass Analysegegenstände (global) zu kontextualisieren und Macht(ungleichheiten) zu berücksichtigen sind. 2. Ordnung herstellen Einer meiner Lehrer_innen war Sudipta Kaviraj, bei ihm habe ich viel über das politische System Indiens und über die Rolle der kolonialen Macht gelernt. 7 Dabei hat er uns auch vermittelt, dass die Herstellung von Ordnung Teil der britischen Machtaus- Postkoloniale Perspektiven auf (museale) Repräsentationen 11 übung war. Das Wissen, das über die Kolonialisierten produziert wurde, diente auch dem Zweck, sie eindeutig einzuordnen, sie zu sortieren und damit handhabbar zu machen. Hierzu diente unter anderem die Kartografie. Das Land wurde vermessen, benannt, eingeteilt, abgegrenzt und so in einer bestimmten Topografie mit klaren Grenzen festgeschrieben. Dem gleichen Zweck dienten Volkszählungen, die die Kolonialisierten nicht nur zählten, sondern sie auch bestimmten ethnischen, religiösen, sprachlichen, etc. Kollektiven zuordneten und diese Kollektive so erst erschufen bzw. mit Bedeutung aufluden. Geografische und soziale Unschärfen des präkolonialen Indien, die gleitenden Übergänge von einer Zugehörigkeit zur nächsten wurden so aufgehoben und durch eindeutige Abgrenzungen abgelöst. So wurden Uneindeutigkeiten abgeschafft und Identitäten festgeschrieben. An dieser Festschreibung beteiligt waren auch Museen. In ihnen wurden die Ausstellungsstücke kategorisiert, zugeordnet und mit spezifischer Bedeutung aufgeladen. Durch Ausstellungen wurde definiert, was Kunst und Kultur ist und historische Entwicklungen festgeschrieben. An der Festschreibung von natio-ethno-kulturellen Konstrukten und der Geschichte waren dabei nicht nur die Kolonialmächte beteiligt. Auch für den anti-kolonialen Kampf war es wichtig, die eigene Geschichte festzulegen, die eigene Kultur zu definieren.8 Nationalistische Konzeptionen von Museen in früher kolonialisierten Ländern sind daher (auch) als Reaktion auf den Kolonialismus zu verstehen. Der Festschreibung als Andere durch die Kolonialmächte wird eine Selbstdefinition gegenüber gestellt, die sich häufig an der Fremdzuschreibung abarbeitet und dabei versucht, die Legitimation für eine Selbstverwaltung und -definition zu legen. Als ich vor ein paar Jahren Estland besuchte, konnte ich einen Teil dieses Prozesses beobachten. Unsere estnische Reiseleitung führte uns zum nationalen Kunstmuseum und berichtete uns stolz von der langen Geschichte estnischer Kunst und der Unterdrückung durch die sowjetische Besatzung. Mit Hilfe des Museums und seiner Ausstellung konstruierte die Reiseleitung die estnische Nation für uns (und vermutlich sich selbst). Dabei war ihre interpretative Leistung notwendig, damit eine bestimmte (unter anderem anti-sowjetische) Geschichtsschreibung vermittelt wurde, die uns Gästen aus anderen natio-ethno-kulturellen Kontexten so nicht notwendigerweise offensichtlich gewesen wäre. Repräsentation, egal ob in Museen, auf Landkarten, in Volkszählungen, der Wissenschaft oder in diesem Text, ist immer Interpretation, ist nie unschuldig und immer interessengeleitet.9 Sie muss immer vor dem Hintergrund ihrer Akteur_innen und deren sozialen, politischen, etc. Prägungen und Interessen verstanden werden. Gleichzeitig ist Repräsentation immer auch wirkmächtig und konstruiert das Repräsentierte.10 Das heißt, auch wenn die Repräsentation im Wesentlichen aus den Repräsentierenden entsteht, hat sie direkte Folgen für das Repräsentierte, das in dieser Form erst durch die Repräsentation entsteht und damit auch real wird. 3. Europa provinzialisieren Zum europäischen Kolonialismus (und seinen Folgen) gehört auch, dass Europa (und die USA als europäische Siedler_innengemeinschaft) als Mittelpunkt der Welt verstanden wurden und werden. Ereignisse und Entwicklungen werden erst dann als bedeutend betrachtet, wenn sie für Europa/die USA bedeutend sind, wenn Europa/die 12 Urmila Goel USA eine Rolle in ihnen spielen. Auch postkoloniale Theoretiker_innen plädieren dafür, die weltweiten Folgen des Handelns europäischer Mächte zu betrachten und zu analysieren, wie sozio-ökonomische und politische Entwicklungen in ehemals kolonialisierten Ländern durch die europäischen Mächte beeinflusst wurden und werden. Insbesondere plädieren sie dafür, globale Verflechtungen und global ungleiche Machtverhältnisse zu betrachten. Gleichzeitig kritisieren sie allerdings den Eurozentrismus, der Europa (und die USA) immer wieder zentriert und den Rest der Welt an die Peripherie verweist. Dipesh Chakrabarty fordert daher, Europa zu provinzialisieren. 11 Statt Europa ins Zentrum zu stellen, soll es als eine Provinz/Region unter anderen Provinzen/Regionen wahrgenommen werden. Als eine Region, die mit anderen verflochten ist, die aber nicht wichtiger und zentraler als die anderen ist. Europa zu provinzialisieren heißt auch, Wissen (und Kunst) aus anderen globalen Regionen nicht nur wahrzunehmen, sondern auch ernst zu nehmen. So versuche ich zum Beispiel, in meiner Lehre im europäischen Kontext auch wissenschaftliche Texte aus Indien – der Region, zu der ich außerhalb Europas den besten Zugang habe – als Grundlagentexte zu nutzen. Für die Studierenden ist es anfänglich meist schwierig, diese Texte als Quellen für einen theoretischen Zugang und nicht als Texte über Indien zu verstehen. Da sie mit eurozentrischer Wissenschaft sozialisiert wurden, braucht es einige Anstrengung (von ihnen und mir), einen Text aus Indien dazu zu nutzen, über eine Theorie und nicht über Indien zu sprechen. Diese gemeinsame Theoriearbeit stellt eine Abweichung von den eingeübten Normen von Wissen und Wissensvermittlung dar. Europa zu provinzialisieren gilt zudem auch für die Rassismuskritik. Europäische Mächte und deren Bevölkerungen dürfen nicht als die alleinigen Täter_innen von rassistischen und gewaltvollen Ausgrenzungen konstruiert werden. Auch nichteuropäische Mächte und Menschen können menschenverachtendes Wissen produzieren, menschenverachtende Praktiken ausüben, Täter_innen sein. Europa und Europäer_innen als alleinige machtvolle Akteur_innen zu konstruieren, nimmt dem Rest der Welt die Handlungsmacht, ist eurozentrisch und paternalistisch. Für Repräsentationen, egal ob in Wissenschaft, Museen oder in anderen Kontexten, bedeutet Europa zu provinzialisieren, dass sie beständig darauf überprüft werden müssen, ob und wenn ja wie sie Eurozentrismus reproduzieren. Dies machen sie sowohl durch die Ausblendung der nicht-europäischen Welt als auch durch eurozentrische Darstellungen dieses Rests der Welt. Bei eurozentrischen Darstellungen muss dies thematisiert werden. Dies gilt zum Beispiel für das Grüne Gewölbe in Dresden. Bei meinem Besuch dort war ich nicht auf einen Audio Guide angewiesen, sondern wurde von zwei kritischen Expert_innen geführt. So erfuhr ich, dass die Ausstellung im Grünen Gewölbe dazu beitragen sollte, Sachsens politische Bedeutung und koloniale Aspirationen zu fördern. Unter anderem zu diesem Zweck bearbeiteten lokale Künstler_innen Gegenstände, die aus anderen Teilen der Welt nach Sachsen geholt worden waren. An diesen Bearbeitungen genauso wie an den Ausstellungskonzeptionen zu verschiedenen Zeitpunkten, lässt sich einiges über Eurozentrismus und koloniale Machtansprüche erkennen. Die Ausstellung des Grünen Gewölbes kann so mit seiner angeblichen Ausstellung von orientalischen Kunstgegenständen viel über die Konstruktion des Okzi- Postkoloniale Perspektiven auf (museale) Repräsentationen 13 dents/Abendlandes erzählen und nur sehr eingeschränkt über das, was in der Region, die als Morgenland konstruiert wurde, passierte. 4. Sprechen über / Sprechen für Repräsentation ist immer auch ein Machtinstrument. Die Mächtigen repräsentieren die Welt durch ihre Institutionen, von ihnen geförderte Wissenschaft und Kunst so, wie sie sie haben wollen und schreiben sie so fest. Die weniger Mächtigen haben weniger Zugang zu Repräsentationsmöglichkeiten und werden mit ihren Konstruktionen der Welt weniger wahrgenommen. Bei Repräsentation geht es also auch darum, wem Gehör geschenkt wird. Wer kann wirksam sich selbst und andere repräsentieren? Wer wird dabei behindert, verfügt aber über Mittel, sich zumindest eingeschränkt Gehör zu verschaffen? Und wessen Repräsentationsversuche werden ganz verhindert? Gayatri Spivak weist darauf hin, dass es bestimmte marginalisierte soziale Positionen gibt, aus denen es nahezu unmöglich ist, Gehör zu finden.12 Deutlich macht sie dies an marginalisierten Frauen in kolonialisierten Ländern, deren Stimmen im Kampf antikolonialer Repräsentationen gegen die dominanten kolonialen Repräsentationen keinen Raum bekommen. Während es bei jenen, die sich grundsätzlich Gehör verschaffen können, darum geht, sie nicht durch Fremdrepräsentationen zum Verstummen zu bringen und ihre eigenen Repräsentationen zu fördern, kann es bei jenen, die kein Gehör finden können, durchaus darum gehen, für sie die Stimme zu erheben. Castro Varela und Dhawan diskutieren die (Un)Möglichkeit eines solchen Sprechensfür.13 Sie weisen darauf hin, dass eine solche Praxis immer zu einer MissRepräsentation der Repräsentierten führen muss und auch dazu beiträgt, dass die Repräsentierten noch weiter zum Verstummen gebracht werden. Gleichzeitig führen sie aus, dass die Verweigerung des Sprechens-für-sie dazu führt, dass solche marginalisierten Stimmen weiter nicht gehört werden. Diejenigen, die das Privileg haben, gehört werden zu können, stecken damit in einem Dilemma. Sie können ihr Privileg nutzen, um Anderen Gehör zu verschaffen, und festigen damit gleichzeitig ihr Privileg. Wenn sie ihr Privileg nicht dazu nutzen, festigen sie es aber möglicherweise noch mehr. Mit dieser (Un)Möglichkeit des Sprechens-für müssen jene mit dem Privileg des GehörtWerdens verantwortungsvoll umgehen. Das heißt, zum Beispiel, für Museen, dass sie zum einen Selbst-Repräsentationen von wenig Gehörten Raum geben sollten, damit diese für sich selbst sprechen können. Zum anderen heißt es auch, Repräsentationen über die nicht Gehörten anzubieten und dabei den Prozess der Miss-Repräsentation und des Verstummen-Machens zu reflektieren. Wenn den weniger Mächtigen der Raum dafür gegeben werden soll, sich selbst zu repräsentieren, muss nach Castro Varela und Dhawan auch genau darauf geachtet werden, wie dies erfolgt.14 Wem wird das Recht gegeben, für marginalisierte Positionen zu sprechen und wem nicht? Wem wird zugehört und wem nicht? Wer eignet sich dazu, gesellschaftlich/institutionell als authentische Stimme anerkannt zu werden und wer nicht? Castro Varela und Dhawan zeigen auf, wie die Zuschreibung der legitimen authentischen Stimme dazu dienen kann, dominante Perspektiven zu legitimieren und zu stabilisieren.15 So zeigen sie, wie dominante antimuslimische Perspektiven dadurch gerechtfertigt werden, dass Personen, die als muslimisch definiert werden und die die antimuslimische Perspektive stützen, zu authentischen Sprecher_innen erklärt werden, 14 Urmila Goel während jenen Stimmen, die der dominanten Perspektive widersprechen, kaum Raum geboten wird. Daher müssen sich Museen auch immer wieder kritisch fragen, wem sie den Raum für Repräsentation geben und wem nicht. Und welche Folgen dies für dominante Perspektiven hat. Zudem weisen Castro Varela und Dhawan darauf hin, dass durch das Konstrukt einer authentischen Stimme, die für die Anderen sprechen kann, die Anderen als Andere festgeschrieben werden.16 Denn nur wenn die Anderen existieren und in sich als homogen verstanden werden, macht das Konstrukt der authentischen Stimme Sinn. Daher ist auch kritisch zu betrachten, wenn Vertreter_innen ausgewählt werden, die durch (Selbst)Repräsentation die Anderen darstellen sollen. Wichtig ist hierbei insbesondere, wer diese Vertreter_innen zu authentischen Stimmen ernannt hat und wessen Interessen sie vertreten. 5. Re-Präsentation von Rassismusreproduktionen Eine zentrale Feststellung der postkolonialen Theorie ist, wie bereits zu Beginn festgestellt wurde, dass unter anderem durch Wissenschaft und Kunst die Anderen überhaupt erst erschaffen und festgeschrieben wurden und werden. Wissenschaft und Kunst haben immer auch dazu gedient und dienen noch heute dazu, ungleiche Machtverhältnisse wie Rassismus oder Sexismus zu rechtfertigen. Wissenschaftliche und künstlerische Werke wie auch andere museale Ausstellungsstücke tragen dabei Reproduktionen dieser Machtverhältnisse in sich. Zum Teil sind diese Reproduktionen wenig offensichtlich, da sie kaum gegen die heute gängigen Normen verstoßen und daher erst ein normkritischer Blick ermöglicht, ihre Einbettung in ungleiche Machtverhältnisse zu erkennen. Zum Teil sind die Reproduktionen aber auch offensichtlicher, da sie mehr gegen gegenwärtige Normen verstoßen. Diesen offensichtlicheren Formen will ich mich im Folgenden zuwenden und dabei besonders auf historische Werke und Gegenstände eingehen, die Rassismen reproduzieren. Die Frage ist dabei (wie auch für Werke und Gegenstände, die weniger offensichtliche Ungleichheiten repräsentieren), wie mit diesen Werken und Gegenständen umgegangen werden kann. Kürzlich gab es eine hitzige öffentliche Diskussion über das von Otfried Preussler verfasste Kinderbuch Die kleine Hexe. Preussler benutzte in diesem Buch bei der Beschreibung einer Faschingsszene unter anderem das N-Wort. Mit dem N-Wort wird Menschen, denen bestimmte physiognomische Eigenschaften zugeschrieben werden, nicht nur eine bestimmte (eigentliche) regionale Herkunft (in Sub-Sahara-Afrika) zugeschrieben, sie werden zudem in einer postkolonialen Tradition mit bestimmten abwertenden Eigenschaften ausgestattet.17 Aus einer rassismuskritischen Perspektive gibt es daher die Forderung, das N-Wort zu vermeiden. Konkret wurde gefordert, das Wort in Die kleine Hexe zu entfernen, damit Kinder nicht mit dieser Rassismusreproduktion konfrontiert werden und sie als Normalität lernen. Als der Verlag die Forderung aufgreifen wollte, kam es zu einer öffentlichen Debatte darüber. Gegen das Streichen des N-Wortes wurde eingewendet, dass es keinen Eingriff in die Kunst geben dürfe und Literatur nicht umgeschrieben werden dürfe. Beide Positionen halte ich grundsätzlich für berechtigt. Ich halte sowohl die Vermeidung von Rassismusreproduktionen als auch die Wahrung der Kunstfreiheit und des Erhalts von historischen Texten für wichtig. Da ich keiner Position einen grund- Postkoloniale Perspektiven auf (museale) Repräsentationen 15 sätzlichen Vorrang einräumen würde, plädiere ich dafür, dass in jedem Einzelfall geprüft wird, worum es konkret geht, welche spezifischen Ziele mit den jeweiligen Interventionen verfolgt werden und wer betroffen ist. Ich halte es nicht für sinnvoll, Auflagen für künstlerische Produkte zu machen, um bestimmte gewünschte Positionen durchzusetzen. Künstler_innen sollten zu ihren Werken, inklusive ihrer Reproduktionen von ungleichen Machtverhältnissen, stehen. Wenn Preussler die Verwendung des N-Wortes für unproblematisch hielt oder sogar bewusst den Rassismus, der in dem Wort steckt, aufrufen wollte, dann sollte das in seinem Werk auch sichtbar bleiben und es nicht reingewaschen werden. Dies heißt aber nicht, dass er dafür nicht angegriffen werden sollte. Ganz im Gegenteil. Künstler_innen (wie auch Wissenschaftler_innen) stellen sich mit ihren Werken in die Öffentlichkeit und müssen dann auch mit Widerspruch umgehen. Da es sich bei Preusslers Buch um ein Kinderbuch handelt, reicht mir diese Abwägung allerdings nicht aus. Während man bei Erwachsenen hoffen kann, dass sie sich kritisch mit künstlerischen Werken auseinandersetzen, kann man dies von Kindern nicht erwarten. Kinder lernen über Bücher Sprache und die Welt kennen. Sie übernehmen aus Kinderbüchern Normvorstellungen und Begriffe. Daher halte ich einen Verweis auf die Kunstfreiheit oder das Erhalten des historischen Originals bei Kinderbüchern für problematisch. Eine historisch kritische Ausgabe ist für Erwachsene und vielleicht noch Jugendliche sinnvoll, aber nicht für Kinder. So erscheint mir die Forderung, das N-Wort aus Die kleine Hexe zu streichen, sinnvoll. Sie kann dazu beitragen, dass Kinder das Wort gar nicht erst als Normalität kennen lernen und (später) dann mühsam lernen müssen, diese Norm zu hinterfragen. Durch die Vermeidung des N-Worts wird Die kleine Hexe allerdings nicht zu einer unproblematischen Lektüre. Das Buch enthält andere Worte, die Abwertungen enthalten, und reproduziert neben Rassismus auch Heterosexismen, auch wenn sein Ziel ist, Mädchen zu stärken. Viel davon ist aber weniger offensichtlich als das N-Wort und hat daher nicht eine solche Aufregung produziert. Zudem ist Die kleine Hexe ein schönes Buch, das auch ich als Kind gerne gelesen habe, und stellt nicht wirklich eine Ausnahme dar. Die meisten Bücher und Filme reproduzieren zumindest implizit Rassismen, Heterosexismen, etc. Dies stellt die schwierige Frage, wie damit umzugehen ist. Im Falle von Kinderbüchern kann eine Strategie sein, neue Bücher zu verfassen, die weniger ungleiche Machtverhältnisse stabilisieren. Das alleine kann es aber nicht sein. Die kleine Hexe und andere Bücher sind ja nicht nur problematisch, sie sind auch schöne Bücher. So bedarf es immer wieder gesellschaftlicher Aushandlungen darüber, was geht und was nicht. Wo eingegriffen werden sollte und was toleriert wird. Dabei gibt es keine einfachen Antworten, außer dem Hinweis, dass alleine schon die Auseinandersetzung an sich ein wichtiger Schritt ist, um sich über die Reproduktion von ungleichen Machtverhältnissen bewusster zu werden und Veränderungen einzuleiten. Auch Museen müssen sich ähnliche Fragen stellen. In der Regel beherbergen sie viele Gegenstände, die mehr oder weniger offensichtlich ungleiche Machtverhältnisse reproduzieren. Bei meinem Gang durch die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden sind mir viele rassistische Darstellungen und Bezeichnungspraxen aufgefallen. Das NWort wurde mehrfach verwandt sowie andere Synonyme, die ähnliche Bedeutungen transportieren. Die als Andere porträtierten Menschen wiesen oft abwertende Merkmale auf, während die Darstellungen des Eigenen tendenziell heroisierend waren. Hier 16 Urmila Goel bieten sich viele Möglichkeiten, die Form der Repräsentation dieser Gegenstände zu überdenken. Der Eurozentrismus, Orientalismus und Rassismus, der den Kunstwerken zugrunde liegt, könnte thematisiert werden. Dies könnte in der Form von erklärenden Texten oder einem Audio Guide sowie durch eine andere Konzeption der Ausstellungen geschehen. Insbesondere könnte die auf Schildern fixierte Bezeichnungspraxis hinterfragt und überdacht werden. Mir wurde beim Gang durch die Ausstellungen nicht klar, ob es sich bei den Bezeichnungen um die Originalbezeichnungen durch die Künstler_innen oder Bezeichnungspraxen durch andere Akteur_innen zu anderen Zeitpunkten handelte. Dass es sich nicht durchweg um Originalbezeichnungen handeln konnte, wurde mir bei der Bezeichnung »Sogenannte Schwarze Venus« im Historischen Grünen Gewölbe deutlich. Wozu wurde hier das »Sogenannte« hinzugefügt? Waren nicht alle Gegenstände so genannt? Es wirkte, als ob hier eine Distanzierung von dem Begriff »Schwarze Venus« vorgenommen werden sollte (anders als bei all den anderen mit dem N-Wort oder ähnlichen Begriffen bezeichneten Gegenständen), aber trotzdem nicht auf die Bezeichnung verzichtet werden sollte. Dies suggerierte für mich, dass der Gegenstand von der Künstler_in als »Schwarze Venus« bezeichnet worden war, das Museum diese Bezeichnung nicht ändern, aber auch nicht zu seiner eigenen machen wollte. Als mich eine meiner Begleitungen darauf hinwies, dass die Bezeichnung keine Originalbezeichnung war, sondern erst einige Zeit nach der Herstellung der Statue aufgekommen war, war ich vollkommen verwirrt. 18 Warum wurde diese Bezeichnung dann beibehalten, aber als problematisch markiert? Warum gab es keine Erklärung zu der Bezeichnungspraxis und dem »Sogenannt«? Postkoloniale Theorie kann dazu beitragen, (museale) Repräsentationen kritisch zu hinterfragen und alternative Formen der Darstellung zu überlegen. Beim Pergamonaltar gäbe es die Möglichkeit für Besuchende wie mich, einen alternativen Audio Guide anzubieten, der postkoloniale Aspekte der Ausstellung berücksichtigt. So gibt es für die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums online einen alternativen Audio Guide »Kolonialismus im Kasten«, der allerdings nicht vom Museum selbst zur Verfügung gestellt wird.19 6. Die Staatlichen Kunstsammlungen, Pegida und das Abendland Als ich im Dezember 2014 durch die Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden ging und später meinen Vortrag zu postkolonialen Perspektiven auf Repräsentation hielt, war Pegida gerade ein neues Phänomen. Die selbsternannten »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« mobilisierten und bekamen immer mehr Zulauf. Institutionen wie die Staatlichen Kunstsammlungen überlegten sich, wie sie sich gegen diese populistische und rassistische Kampagne positionieren konnten. Mein Gang durch die Ausstellungen zeigte mir, dass das Museum der ideale Ort wäre, um das Thema Abendland und die Behauptung der Islamisierung desselben kritisch aufzugreifen. All die orientalistischen Ausstellungsstücke und die Geschichte der Ausstellung(en) hätten genutzt werden können (und können noch immer), um die Konstruktion des Morgen- und Abendlandes zu ergründen. Es könnte dargestellt werden, welche historischen Konstruktionen des Morgenlandes es gegeben hat, welche Rolle dem Islam dabei zugeschrieben wurde und wie dadurch das Abendland erschaffen wurde. Zudem könnten die Einflüsse aus der als Orient bezeichneten Region und Postkoloniale Perspektiven auf (museale) Repräsentationen 17 aus islamischen Kontexten auf das Abendland und seine Entwicklung, zum Beispiel, in der Wissenschaft herausgearbeitet werden. So könnten die Konstrukte Morgen- und Abendland sowie die klare Trennung der beiden Regionen hinterfragt werden. All dies könnte sowohl kurz- und mittelfristig durch Veranstaltungen und Führungen sowie langfristig durch neue Ausstellungskonzepte und Audio Guides geleistet werden. Damit könnte insbesondere die bildungsbürgerliche Mitte der Gesellschaft angesprochen werden, die musealen Repräsentationen besonders nahe steht. In diesem Segment der Gesellschaft werden Rassismen meist weniger krude reproduziert als bei den Anhänger_innen von Pegida, dafür aber weit wirkmächtiger. Daher ist es wichtig, diese Menschen zu erreichen, um eine rassismuskritische Transformation der Gesellschaft zu fördern. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan: »Feministische Postkoloniale Theorie: Gender und (De-)Kolonialisierungsprozesse« In: Femina Politica 18/2 (2009), S. 9–18, hier: S. 9. Ebd. Vgl. Edward W. Said: Orientalism. New York 1979. Vgl. María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld 2005, S. 68–77. Castro Varela/Dhawan 2009 (wie Anm. 1), S. 9. Vgl. Andreas Eckert/Shalini Randeria: »Geteilte Globalisierung« In: Dies. (Hg.): Vom Imperialismus zum Empire. Frankfurt a.M. 2009, S. 9–36. Vgl. Sudipta Kaviraj (Hg.): Politics in India. Delhi 1997. Vgl. Partha Chatterjee: Empire & Nation. Essential Writings 1985–2005. Ranikhet 2010. Vgl. María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan: »Migration und die Politik der Repräsentation« In: Anne Broden/Paul Mecheril (Hg.): Re-Präsentationen. Dynamiken der Migrationsgesellschaft. Düsseldorf 2007, S. 29–46. Ebd. Vgl. Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton 2000. Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005 (wie Anm. 3), S. 74–77. Vgl. Castro Varela/Dhawan 2007 (wie Anm. 8). Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Grada Ferreria: »Die Kolonisierung des Selbst – der Platz des Schwarzen« In: Hito Steyerl/Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Münster 2003, S. 146–165. Zu diesem Werk und seiner Benennungspraxis vgl. weiterführend: Anna Greve: »die N[…]Venus« In: Dies.: Farbe – Macht – Körper. Kritische Weißseinsforschung in der europäischen Kunstgeschichte. Karlsruhe 2013, S. 134–138. Alternativer Audio-Guide für das Deutsche Historische Museum: Kolonialismus im Kasten, http://www.kolonialismusimkasten.de/(09.05.15). Jihan Jasmin S. Dean Kritische Weißseinsforschung und Perspektiven of Color. Geschichte, Aktualität, Kontroversen Die Debatten seit dem Erscheinen des Sammelbandes Mythen, Masken und Subjekte1 kreisen nicht nur um Fragen der Anwendung der Kritischen Weißseinsforschung, sondern auch grundsätzlicher darum, wozu wir diese Forschungsrichtung überhaupt brauchen. Handelt es sich dabei um einen ›Theorie-Import‹ aus den USA oder ein Anknüpfen an die Kämpfe von People of Color2 in Deutschland? Was ist ›neu‹ an dieser Forschung und welche Anwendungsbereiche gibt es für sie? In welchem Verhältnis stehen Postkoloniale Theorie und Kritische Weißseinsforschung zueinander? Dieser Beitrag handelt auch von Kontroversen, die sich an zentraler Stelle um Fragen der Identitäts- und Sprachpolitik drehen. Um die Relevanz und Aktualität dieses Ansatzes zu verdeutlichen, wird in diesem Beitrag ein Bild-Beispiel analysiert, das im Kontext des antimuslimischen Rassismus zu verorten ist. Dies scheint mir gerade deshalb auch wichtig, weil die Tagung »Neue postkoloniale Analysemethoden in der Kunst« Anfang Dezember 2014 in Dresden stattfand – einer Stadt, die zu jener Zeit jeden Montag zum Schauplatz einer Demonstration gegen die angebliche »Islamisierung des Abendlands« wurde. 3 Doch diese Demonstrationen bilden nur eine ›Spitze des Eisbergs‹ und sind nicht denkbar ohne den allgemeinen, auch von Seiten der staatlichen Politik befeuerten antimuslimischen Diskurs. Darum wurde für die Bildanalyse ganz bewusst ein Beispiel aus einer Fotostrecke der Deutschen Islam Konferenz ausgewählt, einer staatlichen Institution, die den ›Dialog‹ zwischen ›Muslimen‹ und ›Deutschen‹ fördern soll. Wie sind in diesem Repräsentationsregime Weißsein, Deutschsein, Geschlecht und Religion miteinander verwoben? Zuletzt möchte ich den Zusammenhang zwischen dem genannten Repräsentationsregime und dem Feld der Wissensproduktion aufzeigen. Dieser ist auch besonders relevant, wenn es um die Form der akademischen Etablierung dieser Forschungsperspektive geht. Hierbei wird immer wieder die Frage aufgeworfen: Wem ›gehört‹ die Kritische Weißseinsforschung? Wer soll sie betreiben? Wie werden in der Praxis oft Perspektiven of Color erneut marginalisiert? 1. Was ist ›neu‹ an der Kritischen Weißseinsforschung? Wenn davon ausgegangen wird, dass Rassismus nicht lediglich Teil rechter Ideologien oder eines menschenfeindlichen Weltbildes ist, sondern ein gesellschaftliches Machtverhältnis bzw. ein Diskurs, dem niemand vollständig entrinnen kann, dann ist es folgerichtig, die dadurch diskursiv und sozial hergestellten Positionen zu benennen. Mit dem Begriff ›Weißsein‹ wird die dominante Position innerhalb des Rassismus benannt. Wie der Name bereits sagt, richtet sich die zuerst im englischsprachigen 20 Jihan Jasmin S. Dean Raum als Critical Whiteness Studies bekannt gewordene Forschungsrichtung auf die kritische Analyse von Weißsein. Vertreter_innen dieser Theorierichtung sind sich darin einig, dass Weißsein ebenso wie ›Rasse‹ als soziale und diskursive Konstruktion betrachtet werden muss – anders als in den historischen Rassentheorien, die von angeblichen biologischen Tatsachen ausgingen. Dass biologische ›Rasse‹-Konzepte unhaltbar sind, ist inzwischen eine weitgehend anerkannte Tatsache. Trotzdem hat die Konstruktion von ›Rassen‹ »soziale, ökonomische, politische, psychologische Fakten geschaffen« sowie »nachhaltig und bis in die Gegenwart unsere Wahrnehmung der Welt strukturiert«.4 Ein häufig vorgebrachter Einwand gegen die Einführung dieser Forschungsperspektive im deutschen Wissenschaftsbetrieb ist, es handele sich dabei um einen ›TheorieImport‹ aus den USA. Dieser Einwand bezieht sich auf zwei unterschiedliche Aspekte: Zum einen wurde verlautbart, die Kategorie ›Weißsein‹ sei im deutschen Kontext weniger oder gar nicht relevant. Auf diese akademische Debatte gehe ich in Abschnitt 2 ein. Zum anderen wurde kritisiert, dass Critical Whiteness nicht an die antirassistischen Kämpfe und Bewegungen in Deutschland anknüpfe. 5 In der Tat gibt es schon seit langem Kritik am Überlegenheitsdenken und Paternalismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber Migrant_innen, Schwarzen Deutschen sowie Roma und Sinti. Als Beispiel hierfür möchte ich Fatima Hartmann, langjährige Vorsitzende des Rom e.V. Köln und selbst Romni, zitieren: »Ich fühle mich immer wieder entmündigt, wenn Gadže6 mir womöglich auf Romanes erklären wollen, wie es weitergeht – ihr wisst, dass ich dagegen auch in unserem Verein allergisch bin […] Da gibt es doch wirklich Gadže, die mir vorwerfen, ich wäre ja gar keine ›echte‹ *** mehr, weil ich mein ›Dirndl‹ nicht trage […] oder weil ich bestimmte Traditionen in meinem Volk kritisiere.«7 Hartmann nimmt hier viele Kritikpunkte vorweg, die auch Teil der Kritischen Weißseinsforschung sind. Sie thematisiert die Entmündigung, die sie durch die Besserwisserei weißer Deutscher oft erfährt. Auch gegen Formen der Kulturalisierung – der Festschreibung auf eine vermeintlich ›authentische‹ Kultur, die Kleidungsgewohnheiten ebenso umfasst wie soziales Verhalten – verwehrt sie sich. Im Rahmen ihrer politischen Zusammenarbeit mit weißen Deutschen hatte sie ausführlich dazu Gelegenheit, die unter ihnen vorherrschenden Motivationen zu beobachten: »[…] es ist vielleicht auch eine Mode […] Man glaubt nicht mehr an die eigene Kultur, man sucht bei anderen, die man für ›ursprünglicher‹ hält, irgendwelchen Lebenssinn oder Heilendes […] Aber wir sind kein Hobby. Wir sind ein Volk, das vor allem Menschenrechte einfordert […] Wir wollen nicht bloß interessant sein, wir wollen auch nicht, dass Gadže uns ausbeuten und schlaue Bücher über uns schreiben und sich profilieren. Wir können verzichten auf Leute, die sich heute begeistern und morgen abwenden, wenn es ihnen zu anstrengend wird.«8 Damit verortet Hartmann die temporäre Begeisterung für Roma und ihre Kultur im Kontext eines allgemeinen gesellschaftlichen Trends hin zu ›alternativen Lebensentwürfen‹. Sie lehnt Formen der Unterstützung ab, die nur von kurzer Dauer sind. Weiter spricht sie die Frage der hegemonialen Repräsentation an: Eine Forschung über Roma in der Tradition der klassischen Ethnologie, Anthropologie oder ›Tsiganologie‹, die Roma selbst höchstens als ›native informants‹9 betrachtet, verhindert aktiv, dass diese selbst über sich, ihre Geschichte und Kultur sprechen und dabei auch gehört Kritische Weißseinsforschung und Perspektiven of Color 21 werden. Doch wie Hartmann zutreffend bemerkt, geben weiße Deutsche ihre Expert_innen-Rolle nicht gerne auf, da sie ihnen Profilierung verspricht. Auf die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, dass Gadže-Mitarbeiter_innen des Rom e.V. Romanes lernen, damit sie in Beratungssituationen nicht hilflos und auf Übersetzung angewiesen sind, antwortet sie: » Das ist es ja gerade! Warum sitzen da keine Roma-MitarbeiterInnen auf den ABM-Stellen? […] sorgt dafür, dass unsere Leute in unseren Vereinen als bezahlte Kräfte arbeiten können, dass ihnen die Fördermittel zugute kommen, dann braucht ihr kein Romanes zu lernen […] Seit Jahrhunderten wollen uns Gadže-Lehrer, Priester, Sozialarbeiter erziehen. Ihr lasst uns unsere Ehre nicht. Unsere Leute sollen selbst ihre Sprache, ihre Tradition erforschen, sollen selbst Studien treiben können […]«10 Hier verdeutlicht Hartmann, wie sich das Repräsentationsproblem auch in der Verteilung materieller Ressourcen niederschlägt. Die Einstellung von RomaMitarbeiter_innen wird bis heute oft durch bürokratische Hürden verhindert. Die beständige Wahrnehmung von Roma als ›soziales Problem‹, ebenso wie anderer Gruppen von People of Color, trägt dazu bei, dass weiße Deutsche stets als besser qualifiziert für die pädagogische Arbeit mit Roma gelten. Ganz zentral für die Kritische Weißseinsforschung ist die Umkehr der Blickrichtung: weg vom hegemonialen, westlichen, weißen Blick auf rassifizierte ›Andere‹ und hin zum Zurück-Blicken, zur Analyse des hegemonialen Subjekts selbst. Diese war auch schon Teil der Politik von Kanak Attak Köln in ihrem Projekt Kanak TV: »Wir lassen den Blick nicht länger auf uns richten – wir richten den Blick.«11 In diesem Sinne drehte die Gruppe 2002 den Videoclip Weißes Ghetto, in dem ›bio-deutsche‹ Bewohner_innen des Stadtteils Köln-Lindenthal über ihre mangelnde Integrationsbereitschaft und ihre Abschottung in einem überwiegend weißen Stadtteil befragt werden.12 Diese Strategie der ironischen Umkehrung und die Bezeichnung als ›weiß‹ und ›bio-deutsch‹ war für die Passant_innen offensichtlich ungewohnt und wurde z.T. als offene Provokation verstanden. Schließlich gilt im Rahmen des politisch-liberalen Diskurses die Leugnung der Differenz, das ›Nicht-Sehen‹ von Unterschieden als politisch korrekte antirassistische Haltung. 13 Es gibt also durchaus Traditionen der Kritik am hegemonialen Subjekt im deutschen Kontext. Diese hat schon in den 1980er Jahren vereinzelt Eingang in die Universitäten gefunden.14 Allerdings standen People of Color aus dem deutschsprachigen Raum immer im Austausch mit Bewegungen in anderen geografischen Kontexten, z.B. den Bürgerrechtsbewegungen in den USA und Südafrika. 15 Demnach wäre es sinnlos, eine ›reine‹ Herleitung aus politischen Kämpfen im deutschen Kontext zu verlangen. So kann auch Critical Whiteness neue Impulse in eine bereits stattfindende Diskussion einbringen. Dies muss nicht unbedingt als ›Überstülpen‹ einer Theorie aus einem anderen Kontext betrachtet werden, sondern kann zu einem produktiven Austausch führen. Das Verdienst der Kritischen Weißseinsforschung kann darin gesehen werden, die Normativität von Weißsein systematisch und umfassend zum Gegenstand der Analyse gemacht zu haben. Weißsein wurde als ›unmarked marker‹16 analysiert. Damit ist gemeint, dass Weißsein heutzutage als unmarkierte Norm fungiert, als eine soziale Position, die nicht benannt werden muss, weil sie durch eine Negation erschaffen wird: 22 Jihan Jasmin S. Dean Nur die rassifizierten ›Anderen‹ werden mit besonderen Begriffen belegt und so als Abweichung von dieser Norm gekennzeichnet. Weißsein gilt als irrelevante Information und kommt in der Selbstbeschreibung der meisten weißen Personen nicht vor, während People of Color ganz selbstverständlich durch rassifizierte Marker gekennzeichnet werden.17 Als Gegenstrategie setzt die Kritische Weißseinsforschung die konsequente Benennung von Weißsein ein – überall dort, wo auch People of Color markiert werden. Einige Autor_innen, die der Kritischen Weißseinsforschung skeptisch gegenüberstehen, haben darauf hingewiesen, dass die Kategorie Deutschsein wesentlich größere Bedeutung habe als Weißsein.18 Zwar trifft zu, dass Ein- und Ausschlüsse zu einem wesentlichen Teil entlang der Staatsbürgerschaft stattfinden, doch sowohl die Konzeption deutscher Staatsbürgerschaft selbst und der Zugang zu ihr, als auch die symbolische Bedeutung von Deutschsein sind engstens mit Weißsein verknüpft. Diese beiden Kategorien wurden vom deutschen Nationalstaat seit seiner Gründung 1871 als identisch vorausgesetzt, Deutschland als ›rassisch‹ homogene Nation entworfen und über das ›ius sanguinis‹ ebenso wie durch soziale Abgrenzungs- und Exklusionsmechanismen immer wieder neu herzustellen versucht.19 Seit der Aufweichung des Abstammungsprinzips im Rahmen der Gesetzesänderung 1999 wurde religiöse und kulturelle Identität für die Aushandlung von Zugehörigkeit umso wichtiger. Mit der Vorstellung einer ›Leitkultur‹ kann die Fiktion der homogenen Nation aufrechterhalten werden. 20 Auf diese diskursive Verschiebung werde ich in Abschnitt 3 zurückkommen. Anwendungsbereiche für die Kritische Weißseinsforschung finden sich grundsätzlich überall da, wo weißes, westliches Überlegenheitsdenken Diskurse und Praktiken, manchmal offensichtlicher, manchmal subtiler, geprägt hat. Der Sammelband Mythen, Masken und Subjekte analysiert Weißsein u.a. in den folgenden thematischen Bereichen: Geschichte der europäischen Aufklärung, deutscher Kolonialismus, Erinnerungspolitik, die enge Verknüpfung von Weißsein und Deutschsein, Visual Culture Studies, Kultur- und Sprachpolitik, Geschichte der Wissenschaften. Es sind Beiträge aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen versammelt, wobei die meisten der gerade genannten Problemstellungen ein interdisziplinäres Vorgehen erfordern: Geschichtswissenschaften, Politologie, Soziologie, Kulturwissenschaften, Pädagogik, Psychologie, Ethnologie, Linguistik, Literaturwissenschaften und Jura. Inzwischen sind weitere Anwendungsbereiche hinzugekommen, so auch die Kunstgeschichte. 21 Der Titel der Dresdener Tagung lautete »Neue postkoloniale Analysemethoden in der Kunst« und verwies damit nicht etwa auf die Kritische Weißseinsforschung, sondern auf die Postkoloniale Theorie. 22 In welchem Verhältnis stehen diese Forschungsperspektiven zueinander? Beide sind Projekte der Hegemoniekritik und überschneiden sich in vielen inhaltlichen Punkten. Aber sie haben verschiedene Entstehungskontexte, aus denen sich auch Spannungen und Dissonanzen ergeben. Während die Postkoloniale Theorie als Kritik von Menschen aus dem ›Globalen Süden‹ an internationaler Arbeitsteilung und Repräsentationsregimen entstand, haben sich Critical Whiteness Studies im Kontext diasporischer ›communities of color‹ in den USA als Äquivalent zu Black Studies bzw. allgemein Ethnic Studies herausgebildet. So gibt es auch Anwendungen der letztgenannten Forschungstradition, die gegenwärtige Nord-SüdProblematiken ausblenden und so z.B. zu einem essentialisierenden und viktimisierenden Blick auf ›die unterdrückte Migrantin‹ gelangen.23 Postkoloniale Kritische Weißseinsforschung und Perspektiven of Color 23 Theoretiker_innen wie Gayatri C. Spivak und Homi K. Bhabha haben wichtige Kritiken an Essentialismus und Identitätspolitik formuliert. Aus meiner Sicht ist daher zentral, die Kritische Weißseinsforschung in den Kontext der Postkolonialen Theorie zu setzen bzw. einen postkolonialen Referenzrahmen zu wählen.24 Die Relevanz dessen wird noch deutlicher vor dem Hintergrund der in den letzten zehn Jahren geführten Kontroversen. 2. Akademische / politische Kontroversen um die Kritische Weißseinsforschung Der bereits mehrfach angeführte Sammelband Mythen, Masken und Subjekte gilt als Meilenstein in der Entwicklung einer Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland – nicht nur wegen der Setzung der Begrifflichkeiten im Deutschen, sondern auch, weil er das Thema vielstimmig aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Allerdings war bereits die Entstehung des Bandes von Kontroversen begleitet. So lehnten Nikita Dhawan und María do Mar Castro Varela die Einteilung des Buches in zwei Hauptteile nach Schwarzen und weißen Perspektiven sowie die Praxis der Zuordnung zu diesen ab. Ihr Beitrag fand in der dritten Kategorie ›Übergänge‹ in der Buchmitte Platz, die eigens für ›uneindeutige‹ Artikel geschaffen worden war.25 Dies verdeutlicht, wie umstritten erstens die politische Kategorie ›Schwarz‹ und zweitens die identitätspolitische Einteilung überhaupt ist. Andere inhaltliche Differenzen mit potentiellen Autor_innen hatten zur Folge, dass ein Jahr später ein weiteres Buch mit dem Titel Weiß – Weißsein – Whiteness26 erschien, das fast ausschließlich Beiträge weißer Frauen aus der Genderforschung versammelt. Es unterscheidet sich u.a. dadurch von Mythen, Masken und Subjekte, dass kein Wert darauf gelegt wurde, die Zentralität weißer Perspektiven aufzubrechen, und dass der englische Terminus ›whiteness‹ nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Gabriele Dietze schlug darin erstmals als Ergänzung das Konzept des Kritischen Okzidentalismus vor. Sie argumentiert, die Kritische Weißseinsforschung beziehe sich – entsprechend ihres Entstehungskontextes USA, in dem die ›Erbschaft der Sklaverei‹ zentral sei – ausschließlich auf eine Weiß-Schwarz-Hierarchie und klammere den so genannte ›kulturalistischen‹ und ›differentialistischen‹ Rassismus aus.27 Sie gesteht allerdings zu, dass ein umfassender Begriff von Weißsein, der nicht ausschließlich auf ›Farbe‹ rekurriert, sondern auch metaphorische Dimensionen einbezieht, Ähnliches leisten kann wie ihr Konzept des Kritischen Okzidentalismus. 28 Ich halte eine Trennung zwischen Weißsein und Okzidentalismus aus verschiedenen Gründen nicht für sinnvoll: Auch in den USA gibt es verschiedene Rassismen und auch dort wird die Fixierung auf eine Schwarz-Weiß-Binarität problematisiert.29 Andererseits kann der Diskurs des so genannte ›kulturalistischen Neorassismus‹ nicht auf Europa begrenzt werden, sondern muss ebenso in den USA verortet werden. Wie Dietze selbst zugesteht, kann eine kritische Analyse von Weißsein, die in einem postkolonialen Referenzrahmen verortet wird, auf Überlegenheitsfantasien und Dominanzverhalten gegenüber allen rassifizierten Communities angewandt werden. In allen Rassismen findet eine Vermischung von biologischen und kulturellen Differenzkonstruktionen statt.30 Diese verlaufen immer parallel, auch wenn einmal die einen, dann wieder die 24 Jihan Jasmin S. Dean anderen mehr Konjunktur haben. Abschnitt 3 dieses Artikels verdeutlicht, wie auch im Kontext des antimuslimischen Rassismus eine Analyse von Weißsein relevant ist. Eine weitere Kontroverse hat sich im Bereich der Linguistik zugetragen, die sich bereits seit längerem mit der Frage beschäftigte, wie Rassismus durch Sprache reproduziert oder verändert werden kann. Im Zuge der Neukonzeptualisierung des lexikalisch gestalteten Bandes Afrika und die deutsche Sprache31 kam es zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung um den zugrunde liegenden Rassismusbegriff. Das Projekt wurde auf getrennten Wegen fortgesetzt und mündete in der Veröffentlichung von zwei Büchern mit unterschiedlicher Ausrichtung. Während Wie Rassismus aus Wörtern spricht32 von Rassismen im Plural ausgeht, die je spezifisch und genau zu benennen sind, grenzt Rassismus auf gut Deutsch33 das Phänomen auf einen ›kolonialistischen Rassismus‹ im Sinne eines weißen Rassismus gegen Schwarze ein, wobei mit ›Schwarz‹ Menschen aus Afrika und der afrikanischen Diaspora gemeint sind. Zur Erfassung anderer Formen der rassistischen Diskriminierung werden Neologismen eingeführt, um die Bedeutung des ›kolonialistischen Rassismus‹ nicht zu verwässern: Migratismus, Ethnizitismus und Religiosizismus. Diesen statischen Rassismusbegriff hat Chandra Milena Danielzik in ihrer Rezension für die Zeitschrift Peripherie deutlich kritisiert: »Als kritikwürdig erachte ich, dass […] Rassismus auf eine invariable kolonialistische Größe einer als Weiß markierten Überlegenheit und damit als Herrschaftsanspruch über als Schwarz definierte Menschen eingegrenzt wird. Die Neologismen erscheinen so als Diskriminierungsformen jenseits eines ›wahren‹ Rassismus konzeptualisiert.«34 Insbesondere ein Buchbeitrag propagiert die analytische Unterscheidung zwischen Rassismus und Migratismus mit dem Argument, es gebe auch weiße Migrant_innen und diese könnten aufgrund ihres Weißseins nicht rassistisch diskriminiert werden. 35 Danielzik bemerkt hierzu: »Diese Bemühungen scheinen einer sich selbst ad absurdum führenden kritischen Weißseinsperspektive geschuldet, die u.a. ein simplifizierendes Weiß/SchwarzRaster anlegt […] Ein solches Rassismusverständnis ignoriert die Wirkmacht gegenwärtiger rassistischer Diskriminierung gegen Menschen, die sich jenseits des dualistischen Weiß/Schwarz-Bildes im Weder-Noch wiederfinden bzw. sich für dieses entscheiden – nicht zuletzt weil Migration diversifizierte Biographien erzeugt, die dem Wunsch nach Eindeutigkeit entgegenstehen. Der durch den Migratismusbegriff eingeführte Eindeutigkeitsimperativ bzgl. Identität geht über erkämpfte Räume der Selbstermächtigung von Menschen (of Colour) mit Migrationsgeschichte hinweg […] Auf diese Weise schafft das Bedürfnis nach Eindeutigkeit Positionierungszwänge in Hinblick auf ›nicht-biodeutsche‹ Identitäten.«36 Es dürfte deutlich geworden sein, dass im Bereich der Wissenschaft sehr unterschiedliche Anwendungen der Kritischen Weißseinsforschung kursieren. Parallel dazu hat Critical Whiteness Einzug in die politische Bildungsarbeit und antirassistische Kontexte gehalten, wurde mehr oder weniger interessiert aufgegriffen und weiter verbreitet. Es ist als positive Entwicklung zu sehen, dass es inzwischen viele Multiplikator_innen zu diesem Thema gibt. Die Vielfalt der akademischen Ansätze spiegelt sich aber auch auf dieser Ebene der Diskussion wider. Problematisch ist folglich, dass die- Kritische Weißseinsforschung und Perspektiven of Color 25 jenigen, die Critical Whiteness rezipieren und damit arbeiten, häufig als monolithischer Block wahrgenommen werden. Ein prominentes Beispiel für diese Form der Wahrnehmung ist der Artikel Decolorise it! einiger Autor_innen aus dem Umfeld von Kanak Attak, die dem Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung angehören. 37 Sie machen ihre pauschale Kritik der Rezeption von Critical Whiteness an den moralisierenden identitätspolitischen Praktiken einer aktivistischen Gruppe auf dem ›No-border-Camp‹ 2012 in Köln fest. Ihre Kritik an Positionierungszwängen und -ritualen, an essentialistischen Anwendungen der Kategorien weiß und of Color sowie an der Zerstörung antirassistischer Bündnisse ist eine wichtige Intervention in die politische Praxis, die von vielen geteilt wird. Sie hat aber in der vorliegenden Form zur Diskreditierung der Kritischen Weißseinsforschung insgesamt geführt. In der Folge bezogen sich weiße Kritiker_innen dieser Forschungsperspektive immer wieder auf den Decolorise it!-Artikel, um ihre ablehnende Haltung zu legitimieren. Die Autor_innen wurden als ›authentische Stimmen‹ herangezogen, die aus der Innenperspektive antirassistischer Bewegungen heraus etwas formulieren, was ›man‹ angeblich schon immer wusste. Das war nicht die Absicht der Autor_innen, wie Vassilis Tsianos ein Jahr später im Gespräch mit Mitgliedern der Schwarzen Community verdeutlicht: »Eine Sache ist mir heute klar geworden. Ihr sagt, unsere Argumente werden von denjenigen benutzt, die nur darauf gewartet haben, endlich vom Rassismusvorwurf befreit zu werden. Dazu möchte ich denen sagen, die sich durch unseren Text ermächtigt fühlen, im Namen der kritischen Rassismusanalyse den Ort der schwarzen Erfahrung im rassistischen Kontinuum Deutschland zu missbrauchen oder zu negieren: Wir weisen das absolut zurück!«38 Trotz seiner ungeschickten Inszenierung enthält der Decolorise it!-Artikel ebenso wie die oben zitierte Rezension von Danielzik wichtige Kritikpunkte, die sich nicht auf die Kritische Weißseinsforschung als solche beziehen, sondern auf eine essentialistische Anwendung derselben. Da Rassismus nicht statisch, sondern historisch spezifisch und gleichzeitig flexibel ist, lassen sich die Kategorien weiß, Schwarz oder of Color nicht eindeutig definieren und aus einer übergeordneten Position heraus auf konkrete Personen oder Gruppen anwenden.39 Sie sind nicht als festgelegte Identitäten, sondern vielmehr als strategische Hilfsmittel zur Benennung und Beschreibung rassistischer Machtverhältnisse zu betrachten. Im folgenden Abschnitt möchte ich zeigen, warum sie bei der Analyse hegemonialer Repräsentationen hilfreich sind, um die Normativität von Weißsein zu dekonstruieren. Auch ist Identitätspolitik manchmal aus strategischen Gründen notwendig. Dies wird in Abschnitt 4 duetlich, wenn es um die Frage der akademischen Etablierung der Kritischen Weißseinsforschung geht. 3. Analyse visueller Repräsentationen im Kontext antimuslimischen Rassismus Ein wichtiger Teil der Kritischen Weißseinsforschung bewegt sich im Bereich der Visual Culture Studies. Im Rahmen meines Vortrags bei der Tagung »Neue postkoloniale Analysemethoden in der Kunst« habe ich gemeinsam mit dem Publikum zwei Bild-Beispiele im Hinblick auf die Konstruktion von Weißsein, Deutschsein, Geschlecht und Religion analysiert, die einem Flyer der Deutschen Islam Konferenz (DIK) entnommen waren. Diese Institution wurde 2006 vom deutschen Staat gegrün-