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§2 Lineare Algebra I/II
Ursprünglich gab es parallel zu den Analysis-Vorlesungen zu Beginn des MathematikStudiums eine Vorlesung mit dem Titel ”Analytische Geometrie”, bei der dann im Laufe
der Zeit die Namen ”Analytische Geometrie und Lineare Algebra”, ”Lineare Algebra und
Analytische Geometrie” und schließlich ”Lineare Algebra” zeigten, dass sich die Inhalte
und die Schwerpunkte allmählich veränderten. Heutzutage wird teilweise nur noch am
Rande auf geometrische Aspekte hingewiesen.
Als Begleitlektüre zu meiner Einführungsvorlesung ”Lineare Algebra und Geometrie” im
Wintersemester 1965/66 (in Tübingen) wurde u.a. das Buch ”Analytische Geometrie” (in
der 5. Auflage) von G. Pickert empfohlen. Als ich bei der Vorbereitung zu dieser Vorlesung
wegen des genauen Titels der Vorlesung mein Studienbuch zu Rate zog, warf ich einen
Blick auf die Gebührenrechnung: 80 DM Studiengebühr, 30 DM Ersatzgeld, 38,50 DM
Sozialbeitrag und 66 DM Unterrichtsgebühr, und zwar 3 DM für eine Vorlesungs- bzw.
Übungsstunde pro Semester. Darunter waren 5 SWS für die Vorlesung ”Lineare Algebra
und Geometrie I” und 2 SWS für die Übungen zu dieser Vorlesung. Im darauf folgenden
Sommersemester wurde die Unterrichtsgebühr in Tübingen abgeschafft; dafür wurde die
Studiengebühr auf 180 DM heraufgesetzt. Bis zum WS 1965/66 erhielten die Dozenten die
Unterrichtsgebühr; ab dem SS 1966 wurde die Unterrichtsgebühr in Baden-Würtemberg
ins Gehalt eingearbeitet. Bei der Fortsetzung meines Studiums an der Ruhr-Universität
Bochum waren wieder neben den Studiengebühren auch Unterrichtsgebühren von 2,50 DM
pro SWS fällig. Um die Höhe der Unterrichtsgebühr richtig einzuschätzen, muss man den
Stundenlohn in der damaligen Zeit berücksichtigen. In der vorlesungsfreien Zeit erhielt
ich als Student einen Stundenlohn zwischen 2,50 und 3 DM.
Zurück zu dem Buch von G. Pickert; es ist in 3 Kapitel unterteilt:
I. Affine Geometrie
II. Metrische Geometrie
III. Projektive Geometrie
a) Gleichungssysteme und Matrizen
Im 1.Kapitel werden Gegenstände der Linearen Algebra behandelt: Vektorräume, Lineare
Gleichungssysteme, Matrizen, Determinanten, Eigenwerte und Eigenvektoren.
Es wird bei allen Begriffen sofort eine Verbindung zur Geometrie hergestellt, zu Parallelverschiebungen oder Parallelprojektionen.
Gleichungssysteme wurden schon 1700 v.Chr. von den Babyloniern gelöst, allerdings noch
nicht systematisch. Die erste systematische Behandlung linearer Gleichungssysteme findet
man in einem chinesischen Lehrbuch ”Mathematik in neun Büchern”, das wahrscheinlich
von Chang Ts’ang (um 165 - 142 v.Chr.) verfasst wurde und von dem eine Bearbeitung
von Liu Hui (3. Jh. n.Chr.) aus dem Jahre 263 (?) n.Chr. vorliegt. Dort findet man
in Buch VIII. mit dem Titel ”Rechteckige Tabelle” ein Lösungsverfahren, in dem man
ohne Mühe den Gauß-Algorithmus erkennen kann. Dieses Verfahren ist allerdings sehr
wahrscheinlich im Westen nicht bekannt geworden.
Der Begriff des Vektors wurde 1843/44 von William Rowan Hamilton (*4.8.1805
in Dublin, †2.9.1865 im Observatorium Dunsink bei Dublin) und Siegmund Ludolf
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Robert Graßmann (*8.3.1815 in Stettin, †14.8.1901 in Stettin) in die Mathematik eingeführt. Hamilton suchte nach einem Zahlensystem für den dreidimensionalen Raum, das
das leistet, was die komplexen Zahlen in der Ebene leisten.
b) Kegelschnitte
Im 2. Kapitel geht es dann um Vektorräume mit Skalarprodukt, um symmetrische Bilinearformen und quadratische Formen, um den Begriff des Winkels und um Polarkoordinaten
im Rn . Als Abbildungen werden Translationen, Drehungen, Spiegelungen und Gleit- bzw.
Schubspiegelungen betrachtet. In diesem Kapitel wird auch angegeben, wie man den Inhalt
von Parallelotopen berechnet und wie sich der Inhalt unter bijektiven affinen Abbildungen verhält. Außerdem geht es um das vektorielle oder Kreuzprodukt von Vektoren. Wir
finden folgenden
Satz
Sind a und b linear unabhängig, so ist der Vektor c eindeutig dadurch bestimmt, dass er
zu a und b senkrecht ist, seine Länge übereinstimmt mit dem Flächeninhalt eines vom
2-Bein (a, b) aufgespannten Parallelogramms und (a, b, c) ein orientiertes 3-Bein darstellt.
In den Paragraphen 21 bis 23 geht es um Kreis und Kugel, um komplexe metrische Räume
und um Hyperflächen, das sind die geometrischen Gebilde, die sich als Nullstellenmenge
einer Gleichung der Form
n
!
ai,j xi xj + 2
i,j=1
n
!
ai xi + a = 0,
i=1
bei der nicht alle ai,j verschwinden, darstellen lassen. Dabei erhalten wir im Fall n = 2 nach
geeigneter ”Koordinatentransformation” die folgenden Gebilde, wobei wir die Variablen
mit x und y bezeichnen:
x2 y 2
+ 2 =1
a2
b
Ellipse
x2 y 2
− 2 =1
a2
b
Hyperbel
x2 y 2
+ 2 = −1 nullteilige Kurve zweiter Ordnung
a2
b
y 2 = a2 x 2
Paar sich schneidender reeller Geraden
y 2 = −a2 x2
Paar sich schneidender nichtreeller Geraden
y 2 = 2px
Parabel
y 2 = a2
Paar reeller paralleler Geraden
y 2 = −a2
Paar nichtreeller paralleler Geraden
y2 = 0
Doppelgerade
Wir wollen noch kurz auf die Namensgebung eingehen. O.B.d.A. können wir a ≥ b voraussetzen; sonst benennen wir die Variablen um. Dann erhalten wir durch Verschiebung des
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Nullpunktes in den Punkt (−a, 0) bei der Ellipse und durch Verschiebung des Nullpunktes
in den Punkt (a, 0) bei der Hyperbel die Gleichung
y 2 = 2px + (ε2 − 1)x2
√
√
a2 − b 2
a2 + b2
mit ε = 1 für die Parabel, mit ε =
< 1 für die Ellipse und ε =
>1
a
a
b2
für die Hyperbel sowie p =
für die beiden letzten Fälle. ε heißt Exzentrizität der
a
Quadrik, und die obige Gleichung wird Scheitelgleichung der Hyperfläche zweiter Ordnung
genannt. Von der Größe ε ist der Name der Quadriken abgeleitet. Parabel kommt von
dem griechischen Wort παραβαλλειν für ’gleichkommen’, Ellipse von dem griechischen
Wort ελλειπειν für ’mangeln’ und Hyperbel von dem griechischen Wort υπερβαλλειν für
’übertreffen’. Diese Namensgebung geht auf Apollonius von Alexandria (262?-190?)
zurück.
Im Fall n = 3 ergeben sich nach geeigneter ”Koordinatentransformation” mit x, y, z statt
x1 , x2 , x3 die folgenden geometrischen Gebilde:
x2 y 2 z 2
+ 2 + 2 =1
a2
b
c
Ellipsoid
x2 y 2 z 2
+ 2 − 2 =1
a2
b
c
einschaliges Hyperboloid
−
x2 y 2 z 2
− 2 + 2 = 1 zweischaliges Hyperboloid
a2
b
c
x2 y 2 z 2
+ 2 + 2 = −1 nullteilige Fläche zweiter Ordnung
a2
b
c
x2 y 2
+ 2 = z2
a2
b
Kegel mit reellen Erzeugenden
x2 y 2
+ 2 + z2 = 0
a2
b
Kegel mit nichtreellen Erzeugenden
x2 y 2
+ 2 = 2z
a2
b
elliptisches Paraboloid
x2 y 2
− 2 = 2z
a2
b
hyperbolisches Paraboloid
x2 y 2
+ 2 =1
a2
b
elliptischer Zylinder
x2 y 2
− 2 =1
a2
b
hyperbolischer Zylinder
x2 y 2
+ 2 = −1
a2
b
Zylinder mit nichtreellen Erzeugenden
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y 2 = a2 x 2
Paar sich schneidender reeller Ebenen
y 2 = −a2 x2 Paar sich schneidender nichtreeller Ebenen
x2 = 2pz
parabolischer Zylinder
x 2 = a2
Paar reeller paralleler Ebenen
x2 = −a2
Paar nichtreeller paralleler Ebenen
x2 = 0
Doppelebene
Ellipsoid
Einschaliges Hyperboloid
Kegel
Elliptisches Paraboloid
Elliptischer Zylinder
Hyperbolischer Zylinder
Zweischaliges Hyperboloid
Hyperbolisches Paraboloid
Parabolischer Zylinder
c) Determinanten
Die Form und die Schreibweise der Matrizen geht auf eine Arbeit von Arthur Cayley (*
16.8.1821 in Richmond, †26.1.1895 in Cambridge) aus dem Jahr 1855 zurück. Er schreibt
für ein lineares Gleichungssystem
→
−
−
A→
x = b ,
setzt die Existenz von A−1 voraus und verweist bezüglich der Berechnung von A−1 auf
die ”wohlbekannte” Theorie der Determinanten.
Die Determinante kann man als Funktion auf dem Vektorraum der quadratischen (n × n)Matrizen


a11 . . . a1n

.. 
An =  ...
. 
an1 . . . ann
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mit reellen oder komplexen Zahlen als Einträgen rekursiv definieren. Ist n = 1, so definiert
man
det(a11 ) = a11 ;
Ist für (n − 1) × (n − 1)-Matrizen die Determinante schon definiert, so setzt man für eine
(n × n)-Matrix An die Determinante durch
det An =
n
!
j=1
(−1)j+1 a1j · det A"1j
Dabei ist A"1j die (n − 1) × (n − 1)-Matrix, die aus An dadurch hervorgeht, dass man die
erste Zeile und die j-te Spalte streicht. Dann erhält man z.B.
(
)
a11 a12
det
= a11 · a22 − a12 · a21
a21 a22
und

= a11 · det
(
a22 a23
a32 a33
a11 a12
det  a21 a22
a31 a32
)
(
a21
− a12 · det
a31

a13
a23 
a33
)
(
)
a23
a21 a22
+ a13 · det
a33
a31 a32
= a11 (a22 a33 − a23 a32 ) − a12 (a21 a33 − a23 a31 ) + a13 (a21 a32 − a22 a31 )
= a11 a22 a33 + a12 a23 a31 + a13 a21 a32 − (a13 a22 a31 + a11 a23 a32 + a12 a21 a33 )
Die Determinantenschreibweise mit Indizes geht wohl auf Leibniz zurück, obwohl viele Eigenschaften schon früher bekannt waren. Die erste zusammenfassende Darstellung findet
man 1770 in einer Arbeit von Alexandre Theòophile Vandermonde (*28.2.1735 in
Paris ,†1.1.1796 in Paris), allerdings ohne die Leibniz’sche Schreibweise. Der Determinantenmultiplikationssatz und der Entwicklungssatz von Pierre Simon Laplace (*28.3.1749
in Beaumont-en-Auge, †5.3.1827 in Paris) gehen wohl auf Arbeiten von Augustin-Louis
Cauchy (21.8.1789 in Paris, †22.5.1857 in Sceaux (bei Paris)) zurück. Der Entwicklungssatz besagt, dass man bei der rekursiven Berechnung der Determinante statt der ersten
Zeile irgendeine Zeile auswählen kann und dass es auch möglich ist, statt einer Zeile eine
Spalte als ”Entwicklungsspalte” zu wählen, d.h. es gilt (bei festem i):
det An =
n
!
j=1
(−1)i+j aij · det A"ij .
Dabei ist A"ij die (n − 1) × (n − 1)-Matrix, die aus An dadurch hervorgeht, dass man die
i-te Zeile und die j-te Spalte streicht. Bei der Entwicklung nach einer Spalte erhält man
(bei festem j):
n
!
det An =
(−1)i+j aij · det A"ij .
i=1
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Es gibt auch eine explizite Definition der Determinante einer (n × n)-Matrix, die wohl auf
Leibniz zurückgeht:
n
*
!
det An =
sign σ
aiσ(i)
σ∈Sn
i=1
Dabei ist Sn die Gruppe aller Permutationen der Zahlen 1, 2, . . . , n und sign σ das Vorzeichen der Permutation σ. Da Sn aus n! Elementen besteht, wird die Anzahl der Summanden
bei wachsendem n sehr schnell groß.
Die Interpretation der Determinante als orientiertes Volumen eines Parallelflachs findet
man ebenfalls bei Cauchy.
Für Kegelschnitte wollte man das Koordinatensystem so wählen, dass die zugehörige Gleichung eine möglichst einfache Form hat. Dies ist genau dann der Fall, wenn die Koordinatenachsen mit den Hauptachsen des Kegelschnitts übereinstimmen. Um die zugehörige
Koordinatentransformation durchzuführen, benötigt man die Eigenwerte von geeigneten
(2×2)-Matrizen. Für den Fall n = 3 wurden die entsprechenden Fragestellungen zwischen
1800 und 1830 an der Ecole Polytechnique in Paris gelöst. Es wurde gezeigt, dass eine
reelle symmetrische (3 × 3)-Matrix reelle Eigenwerte besitzt.
Zugehörige Unterlagen
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