Technik, die an die Nerven geht

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Innovationen
Neuroprothetik und Neuromonitoring
Technik, die an die Nerven geht
Incrimp: Flexibles Mikroimplantat
mit integrierter Elektronik, Energieversorgung
sowie den Dünnschicht-Elektroden
s passiert viel auf dem Gebiet
der intelligenten Implantate“, erklärte Dr. Alfred Stett, Stellvertretender Leiter des Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Instituts an der Universität Tübingen
(NMI) anlässlich eines Netzwerktreffens der Deutschen Gesellschaft für
Biomedizinische Technik in Aachen.
„Als Herzschrittmacher, Cochlea-Implantat oder Hirnschrittmacher haben
sich elektronische Implantate längst
bewährt. Sie stimulieren myogene
und neuronale Strukturen im peripheren, spinalen und zentralen Nervensystem und gleichen so kardiale und
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neuronale Funktionsstörungen aus.“
Aktive elektronische Mikroimplantate verfügen bei geringsten Abmessungen über eine hohe Komplexität und
Funktionalität. Solche intelligente
Implantate beinhalten Sensoren und
Aktoren, Elektronik zur Datenverarbeitung sowie eine Energieversorgung. Die meisten vereinen Funktionen zur Diagnostik und zur Therapie
in einem System.
Doch als Schnittstelle zu Nerven,
Sinnes- oder Muskelzellen sind sie
längst nicht ausgereift, wie die
zahlreichen Forschungsprojekte auf
dem Gebiet der Neuroprothetik und
des Neuromonitorings belegen. „Die
Technik mit den aktiven Bauteilen,
der digitalen Datenverarbeitung und
der Energieversorgung trifft im Körper auf eine biologische Umgebung.
Das ist immer noch eine große Herausforderung bei der Entwicklung
von Neuroprothesen. Sie sollten sich
möglichst schonend im Gewebe einfügen lassen. Deshalb brauchen wir
möglichst kleine und flexible Implantate, die ohne Kabelverbindung nach
außen auskommen“, sagte Stett.
Damit Neuroprothesen dauerhaft
implantiert werden können, müssen
sie biokompatibel und auch biostabil
Foto: NMI
Die Mikrosystemtechnik mit ihrer fortschreitenden Miniaturisierung macht intelligente Implantate
möglich, die ganze Funktionalitäten ersetzen können. Neue Erkenntnisse der Materialforschung
und moderne Fertigungstechniken treiben die Entwicklung der Neuroprothesen voran.
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sein. Mikroimplantate wie beispielsweise Retina- oder Hirnimplantate
verfügen über eine hohe Zahl von
Elektroden, die den Kontakt zwischen Implantat und Gewebe herstellen. Eine vollständige hermetische
und starre Verkapselung des Implantats, um es vor der Korrosion durch
die Körperflüssigkeiten zu schützen,
ist deshalb nicht möglich. Darüber
hinaus muss das Implantat flexibel
sein, um sich an das Körpergewebe
anpassen zu können.
Das NMI in Reutlingen arbeitet an
speziellen isolierenden und bioaktiven Oberflächen, die diese Anforderungen erfüllen und eine kontrollierte
Gewebeintegration des Implantats ermöglichen. Als flexible Verpackung
verwenden die Mikrosystemtechniker
biokompatible Polymere wie Polyimide oder Parylene, auf die sie mit
modernen Vakuumkondensationsverfahren (Plasma Enhanced Chemical
Vapour Deposition und Physical Vapour Deposition) dünne anorganische
Grenzschichten aufbringen. Damit
lässt sich die Barrierefunktion der
Biopolymere um ein Vielfaches verbessern.
Ein Anwendungsbeispiel für diese
Form der speziellen Dünnschichtverkapselung ist die Neuroprothese
„Incrimp“: Das intrakranielle Implantat wird für die invasive Epilepsiediagnostik entwickelt. Incrimp soll
kabellos funktionieren und eine sichere Langzeitableitung ohne Einschränkung der Bewegungsfreiheit
der Patienten während der prächirurgischen Diagnostik ermöglichen
(www.nmi.de/projekte/projektdetail/
?id=44). Für die kontinuierliche
EEG-Messung ist eine drahtlose
Energie- und Datenübertragung vorgesehen. Dadurch soll das Komplikationsrisiko für Infektionen und Blutungen gesenkt werden. Denn bei den
bisherigen invasiven Verfahren zur
EEG-Ableitung werden Kabelverbindungen durch Schädel und Haut nach
außen geleitet.
Für die Entwicklung von Incrimp
müssen viele Bausteine zusammen-
gefügt werden: Mikroelektroden auf
Kohlenstoffbasis, die Dünnschichtverkapselung sowie das sogenannte
Brainboard mit dem Datenmanagement, der Telemetrieeinheit und der
Energieversorgung. Im weiteren Verlauf des Projekts müssen experimentelle Untersuchungen zur Implantationstechnik, zur In-vivo-Funktionalität und zur Biokompabilität erfolgen.
Die Entwicklungsarbeit für ein solches Mikrosystem ist umfangreich
und lässt sich nur im Verbund stemmen: Bei dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Kooperationsprojekt arbeiten
NMI, die Neurochirurgie des Universitätsklinikums Tübingen sowie meh-
Verbundprojekt „Intelligente Implantate“ bis Ende Juni 2013 zwölf Projekte in verschiedenen Indikationen
(www.mstonline.de/news/pdf/Projekt
steckbriefe_Implantate.pdf).
Die
Hürden für diese technisch komplexen Systeme, sich eines Tages am
Markt durchzusetzen, sind hoch. Eine
Begleitforschung, die von vier Projektpartnern koordiniert wird, führt
deshalb die Interessen der Verbundpartner zusammen und fördert die
Nutzung von Synergien.
Neben Incrimp zählen unter anderem ein Sensor zur Diagnose und
Therapie von Herzinsuffizienz, das
Retina-Implantat, eine implantierbare Infusionspumpe sowie ein Im-
Intelligente Implantate ermöglichen spezifischere
Diagnoseverfahren, wirksamere Therapien und
alltagstaugliche Hilfsmittel für die Rehabilitation.
rere Partner aus der Industrie Hand
in Hand. „Intelligente Implantate ermöglichen spezifischere Diagnoseverfahren, wirksamere Therapien und
alltagstaugliche Hilfsmittel für die
Rehabilitation.
Damit dies keine Vision bleibt,
sind neue Materialkombinationen,
Bauformen und Energiequellen sowie
innovative Bearbeitungs- und Fertigungsmethoden der Mikrosystemtechnik gefragt. Voraussetzung dafür
ist die Kombination von Mikrosystemen mit Nano-, Bio- und modernen
Informations- und Kommunikationstechniken. Dies erfordert eine enge
Zusammenarbeit zwischen Grundlagenforschern, Entwicklern und Medizinern, aber auch den Zulassungsstellen und den Kostenerstattern“, resümierte Stett.
Innovationshürden im
Verbund überwinden
Zahlreiche elektronische Mikroimplantate für unterschiedliche Anwendungen sind derzeit in der Entwicklung und befinden sich auf dem Prüfstand. Das BMBF fördert allein im
plantat zu Energiegewinnung mittels Augenbewegungen zu den Förderprojekten.
Im Verbundprojekt MyoPlant
forscht Prof. Dr.-Ing. Klaus-Peter
Hoffmann vom Fraunhofer Institut
für Biomedizinische Technik (IBMT,
www.ibmt.fraunhofer.de) in St. Ingbert an einem implantierbaren System zur Signalerfassung für die
Steuerung von Handprothesen. „An
diesem Projekt wird deutlich, welche
Komplexität Neuroprothesen erreichen können. Damit sich eine bionische Handprothese an ihrem natürlich
Vorbild messen lassen kann, muss sie
nicht nur die motorische Funktionalität wiederherstellen. Sie sollte dem
Nutzer eine sensorische Rückmeldung geben, beispielsweise über
Griffkraft, Oberflächenstrukturen und
Temperatur. Sie sollte sich intuitiv
steuern lassen und darüber hinaus ästhetischen Ansprüchen genügen“, erläuterte Hoffmann.
Bislang werden zur Steuerung von
Handprothesen Elektromyogramme
(EMG) an der Hautoberfläche der
verbliebenen Extremität abgeleitet.
Doch dieses Verfahren hat eine be-
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ckelt, die eine kontinuierliche intraoperative Überwachung der Funktion
autonomer Beckennerven erlaubt. In
Tierexperimenten wird nun ihr Einsatz bei verschiedenen Operationsmethoden getestet. Der Chirurg erhält
dabei erstmals ein Echtzeit-Feedback
über die Gefährdung autonomer Nerven während der Dissektion. „Die klinischen Anwendungsmöglichkeiten
des IONM beschränken sich nicht nur
auf die kolorektale Chirurgie. Auch
andere Prozeduren im kleinen Becken oder beispielsweise im Bereich
der Schilddrüse, bei denen Nerven
gefährdet werden, können davon profitieren. Zurzeit wird die Anwendung
der IONM in einer klinischen Studie
unter Federführung der Universitätsmedizin Mainz bei Patienten mit kolerektalem Karzinom erprobt“, berichtete Hoffmann. Dr. rer. nat. Lisa Kempe
Glukose-Chip soll Implantate mit Energie versorgen
Foto: MIT
grenzte Kapazität und ist störanfällig.
Signale von eng beieinander oder tiefer im Gewebe liegenden Muskeln
können nicht registriert werden. Implantierbare Elektroden, die intramuskuläre EMG ableiten, könnten
diese Probleme überwinden.
„Unsere Aufgabe bei MyoPlant ist
die Entwicklung eines myogengesteuerten intelligenten Implantats. Im
Fokus steht hier ebenfalls die biologisch-mikrosystemtechnische Schnittstelle zur Ableitung der myogenen
Signale. Aber auch die Kapselung des
Implantats, die Telemetrieschnittstelle
sowie die kabellose Energieversorgung
werden am IBMT weiterentwickelt“,
berichtet Hoffmann. „Erste Versuche
im Tiermodel, bei dem das gesamte
MyoPlant-System über mehrere Wochen evaluiert wurde, zeigen vielversprechende Ergebnisse.“
Ableitung an autonomen
Nerven
Ein weiteres Anwendungsfeld, dem
sich Hoffmann neuerdings widmet,
ist das kontinuierliche intraoperative
Neuromonitoring (IONM) autonomer Beckennerven. Die Entwickler
am IBMT nutzen dabei ihr Knowhow in Sachen biokompatibler Elektroden, um die Funktion einzelner
Nerven im Verlauf eines chirurgischen Eingriffs zu überwachen. Die
Totale Mesorektale Exzision hat in
den vergangenen Jahren die Prognose bei kolorektalem Karzinom deutlich verbessert. Obwohl bei dieser
Operationstechnik das autonome
Nervengeflecht des kleinen Beckens
weitgehend erhalten bleibt, treten
bei Patienten immer wieder Störungen der Blasen- und Sexualfunktion
auf. Eine neurogene Inkontinenz
scheint auf die intraoperative Denervation des inneren analen Sphinkters
zurückzuführen zu sein.
In dem von Hoffmann koordinierten BMBF-Projekt IKONA haben die
Forscher in Zusammenarbeit mit klinischen und industriellen Partnern eine tripolare Mikroelektrode entwi-
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Forscher des Massachusetts Institute
of Technology (MIT, http://mit.edu)
haben eine Brennstoffzelle entwickelt,
die aus Glukose Energie gewinnt.
Diese könnte künftig in das Gehirn
implantiert und unter Verwendung der
zerebrospinalen Flüssigkeit für den
Antrieb von Prothesen und anderen
Hilfsmitteln genutzt werden.
Der Ansatz, den Zuckergehalt von
Flüssigkeiten im menschlichen
Körper zur Stromerzeugung zu verwenden, wurde bereits in den 1970er
Jahren genutzt, um auf Basis einer
Glukose-Brennstoffzelle einen Herzschrittmacher zu betreiben. Mit dem
Aufkommen der Lithium-Ionen-Akkus wurde diese Idee jedoch für längere Zeit nicht mehr weiterverfolgt.
Nun haben Wissenschaftler am
MIT die Idee auf Basis herkömmlicher Halbleitertechnik wieder aufge-
griffen. Sämtliche Komponenten befinden sich auf
einem Siliziumchip. Ein
Platin-Katalysator zieht,
ähnlich wie verschiedene
Zellenzyme, Ionen aus der
Glukose. Platin gilt als biokompatibel. Der Prototyp
der Brennstoffzelle kann bereits
einige Hundert Mikrowatt an Strom
erzeugen, was für den Betrieb von
Low-Power-Gehirnimplantaten
bereits genügt.
Berechnungen der Forscher zufolge ist die Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit die ideale Umgebung für die
Brennstoffzelle. Denn sie zirkuliert
ständig und verfügt über einen hohen
Glukosegehalt. Gleichzeitig befinden
sich in ihr nur wenige Zellen, was eine Immunreaktion unwahrscheinlich
macht. Weil nur ein geringer Teil des
Zuckergehalts verwendet wird, ist
nach Ansicht der Forscher zudem
kein nennenswerter Einfluss auf die
Hirnaktivität zu erwarten.
Das Paper zur Studie ist im Journal
„PLoS ONE“ veröffentlicht: www.
plosone.org/article/info%3Adoi%2F
10.1371%2Fjournal.pone.0038436. pte
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