SE IT E 6 · M I T T WO C H , 3 0 . A P R I L 2 0 1 4 · N R . 1 0 0 Staat und Recht F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G QUELLEN VON EBERT ZU MAAS Weimar war weiter ein lächerliches Gesetz Am Gründungstag der Weimarer Republik erschien die „Berliner Illustrierte“ mit einem Titelfoto, das in die Pressegeschichte einging. Das Bild zeigt Reichspräsident Ebert und Reichswehrminister Noske am Ostseestrand, die nicht mehr jugendlichen Körper lediglich durch knappe Badebekleidung verhüllt. Das Foto gab mit seinen obersten Repräsentanten zugleich den neuen Staat der Lächerlichkeit preis. Harry Graf Kessler notiert hierzu in seinem Tagebuch: „Nachmittags um fünf Vereidigung Eberts in der Nationalversammlung (. . .). Ullsteins ,Berliner Illustrierte‘ hat es für passend gefunden, gerade heute ein Bild von Ebert und Noske in Badehosen zu bringen (. . .). Das Bild schwebt bei der feierlichen Handlung über den Bratenröcken in der Luft.“ Obwohl das Foto seinerzeit als anstößig galt, lehnte das zuständige Schöffengericht Ahrensbök eine Verurteilung der Fotografen ab. Jede im öffentlichen Leben stehende Person trage selbst die Verantwortung dafür, wie sie sich an einem öffentlichen Ort zeige. Ginge es nach dem Bundesministerium der Justiz, so würde sich die strafrechtliche Bewertung indiskreter, peinlicher oder lächerlicher Bildaufnahmen in Zukunft einschneidend ändern. Der ministerielle Vorstoß ist eingebettet in das Reformpaket zum Kampf gegen Kinderpornographie. Mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren soll nach einem Referentenentwurf künftig bestraft werden, wer „unbefugt eine bloßstellende Bildaufnahme von einer anderen Person oder unbefugt eine Bildaufnahme von einer unbekleideten anderen Person herstellt oder überträgt“. Der bislang einschlägige § 201a StGB erfasst hingegen allein solche Aufnahmen, bei denen sich der Fotografierte oder Gefilmte in einer Wohnung oder einem anderen gegen Ein- Ahoi! Noske und Ebert auf damals erlaubter Aufnahme Foto Interfoto blick besonders geschützten Raum befindet. Gedacht war etwa an Umkleidekabinen, ärztliche Behandlungszimmer oder Toiletten. Strafbar ist nicht der Verstoß gegen ideelle Anstandsgrenzen, sondern das optische Eindringen in einen erkennbar gegen Beobachtung gesicherten Schutzbereich. Weiter einschränkend sind innerhalb des räumlichen Schutzbereichs nur solche Bildaufnahmen strafrechtlich erfasst, die den „höchstpersönlichen Lebensbereich“ des Opfers berühren, worunter vor allem Sexualität, Krankheit und Nacktheit zählen. Der Referentenentwurf verzichtet nun auf die räumliche Einschränkung ebenso wie auf die Beschränkung auf den „höchstpersönlichen Lebensbereich“. Stattdessen wird allein auf die neuartige und zudem gänzlich unbestimmte Wendung der „bloßstellenden Bildaufnahme“ rekurriert. Strafbar wären künftig indiskrete Fotos, etwa von Betrunkenen, Verletzten, Kranken oder auch von verwirrten alten Menschen. Journalisten müssten mit Strafverfahren rechnen, wenn sie Politiker oder Prominente in unvorteilhafter Pose ablichteten. Investigativer Journalismus geriete ebenso in das Visier der Strafverfolger wie harmlose Unterhaltungssendungen mit „versteckter Kamera“. Der Referentenentwurf atmet den Geist der 50er/60er Jahre, in denen die moralisch verbrämte Schaffung eines „Indiskretionstatbestands“ aus guten Gründen scheiterte. Dass sich gerade ein sozialdemokratischer Justizminister anschickt, rund ein Jahrhundert nach dem Skandal um Eberts Badehosenfotos „bloßstellende“ Bilder unter Strafe zu stellen, gibt zwar eine schöne Pointe ab, der unterbreitete Gesetzesvorschlag erweist sich indes als unausgereifter SchnellARND KOCH schuss. Der Verfasser ist Inhaber eines Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Juristische Zeitgeschichte an der Universität Augsburg. Illustration Greser & Lenz Abschied von uns selbst taatsangehörigkeitsrecht ist in der Demokratie Recht besonderen Ranges. Es definiert den Souverän. Wie immer man die Frage, wer denn das Recht habe, den Souverän zu definieren oder umzudefinieren, beantwortet – knappe Mehrheiten jedenfalls sollten es nicht sein. Wir sind gerade dabei, den Souverän umzudefinieren. Einer großen eingewanderten Minderheit soll das vererbliche Recht verliehen werden, Deutsche zu werden und zugleich ihre Herkunftsstaatsangehörigkeit beizubehalten. Zwar wird es an einer stattlichen parlamentarischen Mehrheit für die geplante Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts wohl nicht fehlen. Aber jedermann weiß, dass es wesentlich parteipolitische und koalitionstaktische Kalküle sind, denen sich diese Mehrheit verdankt. Man modernisiere das Staatsangehörigkeitsrecht, heißt es. Wer „modern“ sagt, meint in der Regel, das Wort allein sei schon ein unwiderlegliches Argument. Und ist denn nicht die Öffnung des Staatsangehörigkeitsrechtes hin zu MehrfachStaatsangehörigkeiten tatsächlich die dem globalen 21. Jahrhundert einzig gemäße Ausgestaltung dieses Rechtsinstituts? Die Antwort lautet: Vielleicht – wenn der Pass nur noch ein Berechtigungsschein ist, wie eine Gewerbeerlaubnis oder ein Rentenbescheid. Staatsbürgerschaft, ernst genommen, bedeutet aber nicht nur, Rechte gegen das Land und in dem Land zu haben, dessen Bürger man ist. Es bedeutet im Kern, Mitverantwortung für dieses Land zu übernehmen. Das Recht, in einem Gemeinwesen über öffentliche Angelegenhei- S Die doppelte Staatsangehörigkeit ist für die Immigranten das Angebot, sich nicht entscheiden zu müssen. Deutschland definiert den Souverän um. Von Peter Graf Kielmansegg ten mitzubestimmen, das unbedingte Heimatrecht, dass das Gemeinwesen seinen Bürgern gewährt; die Schutzzusage, die es ihnen macht, können vernünftigerweise nicht ohne ein korrespondierendes Bewusstsein des Bürgers von eben dieser Mitverantwortlichkeit für das Geschick des Landes gedacht werden. Und dieses Bewusstsein setzt wiederum voraus, dass der Bürger sich dem Gemeinwesen zugehörig weiß; dass er in ihm „sein Land“ sieht. Dass sei ein altmodisches republikanisches Bürgerideal, das mit der Wirklichkeit der modernen Demokratie nichts mehr zu tun habe, mag man einwenden. Der Einwand trifft den Punkt nicht, auf den es ankommt. Natürlich sind die Staatsbürger moderner Demokratien in aller Regel keine republikanischen Musterbürger, die nur auf das Gemeinwohl bedacht sind. Aber wenn sie Bürger eines und nur eines Landes sind und in diesem Land leben, wissen sie, ohne dass es ihnen bewusst sein müsste, dass ihr eigenes Leben und das Geschick ihres Landes unauflöslich miteinander verknüpft sind. Auch wenn Demokratien nicht wirksam einfordern können, dass ihre Bürger ihre staatsbürgerlichen Rechte im republikanischen Geist verstehen, sollten sie doch wissen: Wenn sie dieses Ideal durch Gleichgültigkeit aufkündigen, es gar demonstrativ negieren, beschädigen sie sich selbst im Kern. Denn sie sind auf ein solches Leitbild elementar angewiesen. Aber kündigt denn die Mehrfach-Staatsangehörigkeit die republikanische Idee der Staatsbürgerschaft wirklich auf? In der Tendenz durchaus. Eine zweite Staatsangehörigkeit dient in der Regel allein praktischen Interessen. Dass man sich zwei Ländern als Bürger verbunden fühlt, mit dem vollen Bewusstsein der Zugehörigkeit und der Mitverantwortlichkeit, ist eher unwahrscheinlich. Schon die äußeren Umstände stehen dem in der Regel entgegen. Das bedeutet freilich nicht, dass neben dem prinzipiellen Argument kein Raum für pragmatische Überlegungen bliebe; Raum auch für die Anerkennung vernünftiger praktischer Gründe für die doppelte Staatsangehörigkeit im Einzelfall. Aber die sind bei der Entscheidung, die hierzulande ansteht, gerade nicht gegeben. Die pragmatischen Argumente weisen vielmehr in die gleiche Richtung wie die prinzipiellen. Es geht der Sache nach um die Einbürgerung der Türken, einer aus einem nichteuropäischen Kulturraum eingewanderten Volksgruppe in Millionenzahl also, die durch eine starke Neigung gekennzeichnet ist, in ihrem Her- kunftsmilieu zu verharren, ja ihr Herkunftsmilieu immer wieder familiär zu erneuern, einer Volksgruppe zudem, deren Herkunftsland beträchtliche Anstrengungen unternimmt, seine Emigranten dauerhaft an sich zu binden und sich dabei auch ihre politische Loyalität zu bewahren. Was bedeutet die doppelte Staatsangehörigkeit für die Integrationsbereitschaft dieser Minderheit – das ist die entscheidende Frage. Niemand kann das mit Sicherheit vorhersagen. Aber es gibt Wahrscheinlichkeiten. Die doppelte Staatsangehörigkeit ist für die Immigranten das Angebot, sich nicht entscheiden zu müssen. Wir stellen ihnen die Frage nicht, ob sie Bürger dieses Landes werden wollen. Und erwarten erst recht keine Antwort. Das aber, und hier sind wir bei den Wahrscheinlichkeiten, wird angesichts der angedeuteten Gegebenheiten wohl zur Folge haben, dass die Immigranten in ihrer überwiegenden Mehrzahl mit ihrer vererblichen doppelten Staatsangehörigkeit bleiben werden, was sie sind – Türken, ausgestattet mit den zusätzlichen Rechten der deutschen Staatsangehörigkeit. Es handelt sich um ein perfektes Szenario für die Etablierung einer dauerhaft nur halb integrierten kompakten ethnischen Minderheit, mit allen denkbaren politischen Implikationen. Ist die Entscheidung, die den Immigranten nicht abzuverlangen die Quintessenz der Mehrfach-Staatsangehörigkeit ist, unzumutbar? Der Gedanke, man solle sie der ersten Generation, den Einwanderern selbst ersparen, hat durchaus etwas für sich. Aber paradoxerweise sollen ja gerade die die Entscheidung nicht treffen müs- sen, die hier geboren sind; sie nicht, ihre Kinder nicht, ihre Kindeskinder nicht und so fort. Dafür gibt es keine vernünftigen Gründe. Man kann auch sagen: Es ist eine Absurdität. Vorgebracht wird gelegentlich, der Verzicht auf die Herkunftsstaatsangehörigkeit könne mit Nachteilen im Herkunftsland verbunden sein. Wenn es so wäre, wäre doch nur bestätigt, dass das Herkunftsland Auswanderer und ihre Nachkommen in unangemessener Weise dauerhaft an sich zu binden versucht. Dem müsste durch internationale Vereinbarungen entgegengewirkt werden, nicht dadurch, dass die Einwanderungsländer ihr eigenes Verständnis von Staatsbürgerschaft den politischen Kalkülen der Herkunftsländer anpassen. Die Dinge so zu sehen setzt offenbar mehr Selbstbewusstsein voraus, als es Deutschland hat. Aber man hilft der türkischen Minderheit hierzulande nicht, wenn man ihr die Entscheidung darüber erspart, wie sie sich selbst verstehen will. Vielmehr sind klare Erwartungen das, was sie braucht, um hierzulande heimisch zu werden. Wir neigen, jedenfalls in unserer politischen Klasse, dazu, die Bereitschaft, uns von uns selbst zu distanzieren, für unsere höchste politische Tugend zu halten. Man darf die Entscheidung, die doppelte Staatsangehörigkeit massenhaft und dauerhaft zu ermöglichen, als einen Akt eben dieser Distanzierung Deutschlands von sich selbst verstehen. Gerade ein Einwanderungsland wird mit einer solchen Einstellung nicht gut fahren. Professor Dr. Peter Graf Kielmansegg lehrte Politische Wissenschaften an der Universität Mannheim. Wächter der Erinnerung Die alten Vorwürfe gegenüber dem Verfassungsgericht gehen ins Leere – Karlsruhe steht vor neuen Herausforderungen / Von Uwe Volkmann Dem Bundesverfassungsgericht bläst wieder einmal der Wind ins Gesicht. Ein häufiger Vorwurf lautet, das Gericht maße sich eine Autorität an, die ihm nicht zustehe. Doch welche Art von Autorität steht einem Verfassungsgericht überhaupt zu, und woher bezieht es sie? Entgegen dem äußeren Anschein ist das durchaus nicht klar, und wie wenig es klar ist, zeigt sich gerade in den vier zentralen Vorwürfen, die gegen das Gericht erhoben werden. Zu den ältesten dieser Vorwürfe gehört der, das Gericht überdehne permanent seine Kompetenzen; die Antwort wird dann darin gesehen, diese wieder zu begrenzen, wie es derzeit in der Tat auch erwogen wird. Indessen hängt die Autorität eines Verfassungsgerichts weniger von den äußeren Kompetenzen als vielmehr von der Art und Weise ab, wie sie genutzt werden. In diesem Sinne haben sich Verfassungsgerichte ihre eigene Bedeutung immer auch selbst geschaffen: der US Supreme Court über die Inanspruchnahme des richterlichen Prüfungsrechts in der Rechtssache Marbury versus Madison, das Bundesverfassungsgericht in seiner Frühphase über die Erstreckung der Verfassungsbindungen auf immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens oder später in europarechtlichen Fragen über die Umfunktionierung der Wahlgrundsätze des Artikel 38 Absatz 1 GG zu einer Art Grundrecht auf Demokratie. Auf europäischer Ebene arbeiten der EuGH mit dem von ihm selbst formulierten Vorrang des Unionsrechts und der EGMR über die aktive Entfaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention als „living instrument“ seit geraumer Zeit mit ähnlichen Strategien. Die Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit ist deshalb immer auch eine Geschichte der Selbstautorisierungen. Aber Autorität kann nicht einfach nur beansprucht, son- dern muss stets auch an- und hingenommen werden. Und gerade hierzulande hat sich die Politik bereitwillig darauf eingelassen, weil sie den Nutzen des Verfassungsarguments für sich erkannt hat; es entlastet von den Zwängen eigener Meinungs- und Entscheidungsbildung, es ist ein Trumpf, mit dem sich Positionen durchsetzen und andere verhindern lassen, und genauso wird es auch eingesetzt. Ein zweiter, damit zusammenhängender Vorwurf lautet, das Gericht betreibe immer weniger Verfassungsauslegung und begebe sich mehr und mehr in die Gefilde eines bloß politischen Räsonnements hinein. Aber wenn die methodische Diskussion der letzten Jahre eines ergeben hat, dann dies, dass es keinen festen Punkt gibt, an dem das eine endet und das andere beginnt, und schon gar nicht kann er in jenem Viererkanon aus Wortlaut, Historie, Systematik und Regelungszweck gesehen wer- den, wie er schon den Erstsemestern als Summe der juristischen Weltweisheit eingetrichtert wird. Gerade die Verfassung mit ihren fragmentarischen und skizzenartigen Bestimmungen ist auf permanente Anreicherung, auf produktive Fort- und Weiterbildung angewiesen, durch die ihre einzelnen Sätze und Aussagen überhaupt erst Sinn gewinnen. Jede Verfassung ist deshalb immer auch das, was im Laufe ihrer Anwendung aus ihr gemacht wird. Und gerade Verfassungsgerichte, die anders als andere Gerichte ihre Entscheidungen nicht zwangsweise durchsetzen können, legitimieren sich nicht nur durch das juristische Handwerk, sondern müssen sich für die ganze Vielfalt der Richtigkeitsmaßstäbe öffnen: für die Anschlussfähigkeit an die realen Gegebenheiten, für Gesichtspunkte der Sachgerechtigkeit und Problemangemessenheit, für die Akzeptanz und Akzeptabilität der Entscheidungen bei den Bürgern. Rechtsanwälte kämpfen gegen eigene Schwächen Wert von 15 000 Euro. Damit will die Anwaltschaft selbst dafür sorgen, dass Spannungen und Verärgerung im Verhältnis zwischen Anwalt und Mandant abgebaut werden. „Ein guter Ruf ist rasch beschädigt. Vertrauen aufbauen ist mühsam, noch mühsamer ist es, verlorengegangenes Vertrauen wiederherzustellen“, so beschreibt Schlichterin Renate Jaeger die Aufgabe der Berliner Einrichtung. Es gehe darum, Schwachstellen der Anwaltschaft abzubauen. In dem Fall, in dem der Anwalt tätig geworden ist, obwohl der Mandant das nicht wollte, bot sich als Kompromiss an, dass der Mandant die Hälfte der üblichen Vergütung zahlte. Im vergangenen Jahr sind etwa 1000 Fälle bei der Stelle eingegangen. 212 Schlichtungsvorschläge wurden unterbreitet. (bub.) Manche Anwälte werben im Internet damit, kostenlos eine rechtliche Anfrage zu beantworten. Im Anschluss an das Gespräch gibt es zuweilen Missverständnisse: Der Anwalt arbeitet weiter an dem Fall, während der Mandant sich die Sache noch einmal überlegen will – und schließlich einen anderen Rechtsanwalt beauftragt. Es fehlt an einer konkreten Absprache, und daher kommt es zum Streit über die Vergütung. Solche Fälle landen nicht immer vor staatlichen Gerichten. Die Rechtsanwaltschaft unterhält in Berlin eine eigene Schlichtungsstelle für Streitigkeiten zwischen Anwalt und Mandant bis zu einem Gerade hier setzt freilich ein dritter, tiefer liegender Vorwurf an: Das Gericht vermische als in mehrfacher Hinsicht „entgrenztes Gericht“ zunehmend Recht und Moral, es spiele sich nicht nur als Ersatzgesetzgeber, sondern zunehmend auch als ein allgemeiner Vernunft- und Gerechtigkeitshof, als moralische Instanz und oberster Präzeptor der Gesellschaft auf. Aber Verfassungen verkoppeln entgegen einer geläufigen Auffassung eben nicht nur Recht und Politik, sondern immer auch Recht und Moral: Ihre grundlegenden Sätze – Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit – fundieren zugleich den ethischen Grundkonsens moderner Gesellschaften. Auf das für ihre Anwendung zuständige Gericht richten sich deshalb notwendig auch moralische Erwartungen, die es über Argumentationsfiguren wie Verhältnismäßigkeit und Güterabwägung oder eine entsprechend aufgeladene Sprache subtil auch bedient. Die Entwicklung dürfte letztlich viel zu weit vorangeschritten sein, als dass man sie einfach zurückdrehen könnte; wenn sich hierzulande Zehntausende als Beschwerdeführer gegen die Vorratsdatenspeicherung oder den Euro-Rettungsschirm nach Karlsruhe wenden, vermittelt das einen Eindruck davon, welche Art von Richtungsweisung man sich auch von einem Verfassungsgericht verspricht. Gerade aus dieser Veränderung resultiert dann allerdings ein vierter Einwand: Das Gericht bediene gerade in solchen Verfahren zunehmend ein Ressentiment des Unpolitischen, das den ebenso unspezifischen wie populären Verdacht gegen die Politik, gegen „die da oben“ nähre. In der Tat: Oft, vielleicht zu oft, hält das Bundesverfassungsgericht der Politik den Spiegel der besseren, der idealen Lösung vor, unverzerrt von den Zwängen der Kompromiss- und Mehrheitsfindung, von den Ge- setzmäßigkeiten des politischen Prozesses, der dagegen notwendig alt aussieht. Aber auch hier gibt es eine andere Seite. Der französische Historiker Pierre Rosanvallon hat dazu jüngst in einer vielbeachteten Studie ein komplexeres Modell demokratischer Legitimation vorgestellt. Den Verfassungsgerichten kommt darin die Aufgabe zu, über das aktuelle Tagesgeschehen hinaus die Erinnerung an die geschichtsbildenden Elemente wachzuhalten, die Grundprinzipien des gesellschaftlichen Lebens in periodischen Abständen in den politischen Diskurs einzuspeisen und dadurch dazu beizutragen, die Dinge noch einmal aus einem grundsätzlichen Blickwinkel zu beleuchten; zugleich verlangsamen sie so die Entscheidungen und führen eine Art „Bedenkzeit“ ein. Gerade die Kette der Urteile zur europäischen Integration fügt sich in dieses Muster: Gegen die traditionelle Exekutivlastigkeit des Unionshandelns erinnern diese Entscheidungen in Zeiten kurzfristiger Krisenbewältigung an die Notwendigkeit parlamentarischer Beteiligung wie an die allgemeinen Rechtsbindungen öffentlicher Gewalt. So dürfte es alles in allem weniger die derzeitige Kritik sein, die die Autorität des Bundesverfassungsgerichts untergräbt. Eher schon ist es eine neuartige Herausforderung von außen: von globalen Grundrechtsgefährdern, gegen die auch mit so kunstvollen Neukreationen wie dem Recht auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme nichts mehr auszurichten ist von den europäischen Gerichten, die zunehmend in Bereiche vordringen, für die Karlsruhe einst das Monopol hatte. Vielleicht wird über kurz oder lang der Sitz der Autorität dort zu finden sein. Professor Dr. Uwe Volkmann lehrt Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.