Abschied von uns selbst

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Staat und Recht
F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G
QUELLEN
VON EBERT ZU MAAS
Weimar war weiter
ein lächerliches Gesetz
Am Gründungstag der Weimarer Republik erschien die „Berliner Illustrierte“ mit einem Titelfoto, das in
die Pressegeschichte einging. Das
Bild zeigt Reichspräsident Ebert und
Reichswehrminister Noske am Ostseestrand, die nicht mehr jugendlichen Körper lediglich durch knappe
Badebekleidung verhüllt. Das Foto
gab mit seinen obersten Repräsentanten zugleich den neuen Staat der Lächerlichkeit preis. Harry Graf Kessler
notiert hierzu in seinem Tagebuch:
„Nachmittags um fünf Vereidigung
Eberts in der Nationalversammlung
(. . .). Ullsteins ,Berliner Illustrierte‘
hat es für passend gefunden, gerade
heute ein Bild von Ebert und Noske
in Badehosen zu bringen (. . .). Das
Bild schwebt bei der feierlichen Handlung über den Bratenröcken in der
Luft.“
Obwohl das Foto seinerzeit als anstößig galt, lehnte das zuständige
Schöffengericht Ahrensbök eine Verurteilung der Fotografen ab. Jede im
öffentlichen Leben stehende Person
trage selbst die Verantwortung dafür,
wie sie sich an einem öffentlichen Ort
zeige.
Ginge es nach dem Bundesministerium der Justiz, so würde sich die
strafrechtliche Bewertung indiskreter, peinlicher oder lächerlicher Bildaufnahmen in Zukunft einschneidend ändern. Der ministerielle Vorstoß ist eingebettet in das Reformpaket zum Kampf gegen Kinderpornographie. Mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren soll
nach einem Referentenentwurf künftig bestraft werden, wer „unbefugt
eine bloßstellende Bildaufnahme von
einer anderen Person oder unbefugt
eine Bildaufnahme von einer unbekleideten anderen Person herstellt
oder überträgt“.
Der bislang einschlägige § 201a
StGB erfasst hingegen allein solche
Aufnahmen, bei denen sich der Fotografierte oder Gefilmte in einer Wohnung oder einem anderen gegen Ein-
Ahoi! Noske und Ebert auf damals
erlaubter Aufnahme
Foto Interfoto
blick besonders geschützten Raum
befindet. Gedacht war etwa an Umkleidekabinen, ärztliche Behandlungszimmer oder Toiletten. Strafbar
ist nicht der Verstoß gegen ideelle Anstandsgrenzen, sondern das optische
Eindringen in einen erkennbar gegen
Beobachtung gesicherten Schutzbereich. Weiter einschränkend sind innerhalb des räumlichen Schutzbereichs nur solche Bildaufnahmen
strafrechtlich erfasst, die den „höchstpersönlichen Lebensbereich“ des Opfers berühren, worunter vor allem Sexualität, Krankheit und Nacktheit
zählen.
Der Referentenentwurf verzichtet
nun auf die räumliche Einschränkung
ebenso wie auf die Beschränkung auf
den „höchstpersönlichen Lebensbereich“. Stattdessen wird allein auf die
neuartige und zudem gänzlich unbestimmte Wendung der „bloßstellenden Bildaufnahme“ rekurriert. Strafbar wären künftig indiskrete Fotos,
etwa von Betrunkenen, Verletzten,
Kranken oder auch von verwirrten alten Menschen. Journalisten müssten
mit Strafverfahren rechnen, wenn sie
Politiker oder Prominente in unvorteilhafter Pose ablichteten.
Investigativer Journalismus geriete
ebenso in das Visier der Strafverfolger wie harmlose Unterhaltungssendungen mit „versteckter Kamera“.
Der Referentenentwurf atmet den
Geist der 50er/60er Jahre, in denen
die moralisch verbrämte Schaffung eines „Indiskretionstatbestands“ aus guten Gründen scheiterte. Dass sich gerade ein sozialdemokratischer Justizminister anschickt, rund ein Jahrhundert nach dem Skandal um Eberts
Badehosenfotos „bloßstellende“ Bilder unter Strafe zu stellen, gibt zwar
eine schöne Pointe ab, der unterbreitete Gesetzesvorschlag erweist sich
indes als unausgereifter SchnellARND KOCH
schuss.
Der Verfasser ist Inhaber eines Lehrstuhls für
Strafrecht, Strafprozessrecht und Juristische
Zeitgeschichte an der Universität Augsburg.
Illustration Greser & Lenz
Abschied von uns selbst
taatsangehörigkeitsrecht ist in der
Demokratie Recht besonderen
Ranges. Es definiert den Souverän.
Wie immer man die Frage, wer
denn das Recht habe, den Souverän zu definieren oder umzudefinieren, beantwortet – knappe Mehrheiten jedenfalls sollten
es nicht sein. Wir sind gerade dabei, den
Souverän umzudefinieren. Einer großen
eingewanderten Minderheit soll das vererbliche Recht verliehen werden, Deutsche zu werden und zugleich ihre Herkunftsstaatsangehörigkeit beizubehalten.
Zwar wird es an einer stattlichen parlamentarischen Mehrheit für die geplante
Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts
wohl nicht fehlen. Aber jedermann weiß,
dass es wesentlich parteipolitische und
koalitionstaktische Kalküle sind, denen
sich diese Mehrheit verdankt.
Man modernisiere das Staatsangehörigkeitsrecht, heißt es. Wer „modern“ sagt,
meint in der Regel, das Wort allein sei
schon ein unwiderlegliches Argument.
Und ist denn nicht die Öffnung des Staatsangehörigkeitsrechtes hin zu MehrfachStaatsangehörigkeiten tatsächlich die dem
globalen 21. Jahrhundert einzig gemäße
Ausgestaltung dieses Rechtsinstituts? Die
Antwort lautet: Vielleicht – wenn der Pass
nur noch ein Berechtigungsschein ist, wie
eine Gewerbeerlaubnis oder ein Rentenbescheid. Staatsbürgerschaft, ernst genommen, bedeutet aber nicht nur, Rechte gegen das Land und in dem Land zu haben,
dessen Bürger man ist. Es bedeutet im
Kern, Mitverantwortung für dieses Land
zu übernehmen. Das Recht, in einem Gemeinwesen über öffentliche Angelegenhei-
S
Die doppelte
Staatsangehörigkeit
ist für die Immigranten
das Angebot, sich nicht
entscheiden zu müssen.
Deutschland definiert
den Souverän um.
Von
Peter Graf Kielmansegg
ten mitzubestimmen, das unbedingte Heimatrecht, dass das Gemeinwesen seinen
Bürgern gewährt; die Schutzzusage, die es
ihnen macht, können vernünftigerweise
nicht ohne ein korrespondierendes Bewusstsein des Bürgers von eben dieser Mitverantwortlichkeit für das Geschick des
Landes gedacht werden. Und dieses Bewusstsein setzt wiederum voraus, dass der
Bürger sich dem Gemeinwesen zugehörig
weiß; dass er in ihm „sein Land“ sieht.
Dass sei ein altmodisches republikanisches Bürgerideal, das mit der Wirklichkeit der modernen Demokratie nichts
mehr zu tun habe, mag man einwenden.
Der Einwand trifft den Punkt nicht, auf
den es ankommt. Natürlich sind die Staatsbürger moderner Demokratien in aller Regel keine republikanischen Musterbürger,
die nur auf das Gemeinwohl bedacht sind.
Aber wenn sie Bürger eines und nur eines
Landes sind und in diesem Land leben,
wissen sie, ohne dass es ihnen bewusst
sein müsste, dass ihr eigenes Leben und
das Geschick ihres Landes unauflöslich
miteinander verknüpft sind. Auch wenn
Demokratien nicht wirksam einfordern
können, dass ihre Bürger ihre staatsbürgerlichen Rechte im republikanischen Geist
verstehen, sollten sie doch wissen: Wenn
sie dieses Ideal durch Gleichgültigkeit aufkündigen, es gar demonstrativ negieren,
beschädigen sie sich selbst im Kern. Denn
sie sind auf ein solches Leitbild elementar
angewiesen.
Aber kündigt denn die Mehrfach-Staatsangehörigkeit die republikanische Idee
der Staatsbürgerschaft wirklich auf? In
der Tendenz durchaus. Eine zweite Staatsangehörigkeit dient in der Regel allein
praktischen Interessen. Dass man sich
zwei Ländern als Bürger verbunden fühlt,
mit dem vollen Bewusstsein der Zugehörigkeit und der Mitverantwortlichkeit, ist
eher unwahrscheinlich. Schon die äußeren Umstände stehen dem in der Regel entgegen. Das bedeutet freilich nicht, dass neben dem prinzipiellen Argument kein
Raum für pragmatische Überlegungen
bliebe; Raum auch für die Anerkennung
vernünftiger praktischer Gründe für die
doppelte Staatsangehörigkeit im Einzelfall. Aber die sind bei der Entscheidung,
die hierzulande ansteht, gerade nicht gegeben. Die pragmatischen Argumente weisen vielmehr in die gleiche Richtung wie
die prinzipiellen. Es geht der Sache nach
um die Einbürgerung der Türken, einer
aus einem nichteuropäischen Kulturraum
eingewanderten Volksgruppe in Millionenzahl also, die durch eine starke Neigung gekennzeichnet ist, in ihrem Her-
kunftsmilieu zu verharren, ja ihr Herkunftsmilieu immer wieder familiär zu erneuern, einer Volksgruppe zudem, deren
Herkunftsland beträchtliche Anstrengungen unternimmt, seine Emigranten dauerhaft an sich zu binden und sich dabei auch
ihre politische Loyalität zu bewahren.
Was bedeutet die doppelte Staatsangehörigkeit für die Integrationsbereitschaft
dieser Minderheit – das ist die entscheidende Frage. Niemand kann das mit Sicherheit vorhersagen. Aber es gibt Wahrscheinlichkeiten. Die doppelte Staatsangehörigkeit ist für die Immigranten das Angebot, sich nicht entscheiden zu müssen.
Wir stellen ihnen die Frage nicht, ob sie
Bürger dieses Landes werden wollen. Und
erwarten erst recht keine Antwort. Das
aber, und hier sind wir bei den Wahrscheinlichkeiten, wird angesichts der angedeuteten Gegebenheiten wohl zur Folge
haben, dass die Immigranten in ihrer überwiegenden Mehrzahl mit ihrer vererblichen doppelten Staatsangehörigkeit bleiben werden, was sie sind – Türken, ausgestattet mit den zusätzlichen Rechten der
deutschen Staatsangehörigkeit. Es handelt sich um ein perfektes Szenario für die
Etablierung einer dauerhaft nur halb integrierten kompakten ethnischen Minderheit, mit allen denkbaren politischen Implikationen.
Ist die Entscheidung, die den Immigranten nicht abzuverlangen die Quintessenz
der Mehrfach-Staatsangehörigkeit ist, unzumutbar? Der Gedanke, man solle sie
der ersten Generation, den Einwanderern
selbst ersparen, hat durchaus etwas für
sich. Aber paradoxerweise sollen ja gerade die die Entscheidung nicht treffen müs-
sen, die hier geboren sind; sie nicht, ihre
Kinder nicht, ihre Kindeskinder nicht und
so fort. Dafür gibt es keine vernünftigen
Gründe. Man kann auch sagen: Es ist eine
Absurdität. Vorgebracht wird gelegentlich, der Verzicht auf die Herkunftsstaatsangehörigkeit könne mit Nachteilen im
Herkunftsland verbunden sein. Wenn es
so wäre, wäre doch nur bestätigt, dass das
Herkunftsland Auswanderer und ihre
Nachkommen in unangemessener Weise
dauerhaft an sich zu binden versucht.
Dem müsste durch internationale Vereinbarungen entgegengewirkt werden, nicht
dadurch, dass die Einwanderungsländer
ihr eigenes Verständnis von Staatsbürgerschaft den politischen Kalkülen der Herkunftsländer anpassen.
Die Dinge so zu sehen setzt offenbar
mehr Selbstbewusstsein voraus, als es
Deutschland hat. Aber man hilft der türkischen Minderheit hierzulande nicht, wenn
man ihr die Entscheidung darüber erspart, wie sie sich selbst verstehen will.
Vielmehr sind klare Erwartungen das, was
sie braucht, um hierzulande heimisch zu
werden. Wir neigen, jedenfalls in unserer
politischen Klasse, dazu, die Bereitschaft,
uns von uns selbst zu distanzieren, für unsere höchste politische Tugend zu halten.
Man darf die Entscheidung, die doppelte
Staatsangehörigkeit massenhaft und dauerhaft zu ermöglichen, als einen Akt eben
dieser Distanzierung Deutschlands von
sich selbst verstehen. Gerade ein Einwanderungsland wird mit einer solchen Einstellung nicht gut fahren.
Professor Dr. Peter Graf Kielmansegg lehrte
Politische Wissenschaften an der Universität
Mannheim.
Wächter der Erinnerung
Die alten Vorwürfe gegenüber dem Verfassungsgericht gehen ins Leere – Karlsruhe steht vor neuen Herausforderungen / Von Uwe Volkmann
Dem Bundesverfassungsgericht bläst wieder einmal der Wind ins Gesicht. Ein häufiger Vorwurf lautet, das Gericht maße sich
eine Autorität an, die ihm nicht zustehe.
Doch welche Art von Autorität steht einem Verfassungsgericht überhaupt zu, und
woher bezieht es sie? Entgegen dem äußeren Anschein ist das durchaus nicht klar,
und wie wenig es klar ist, zeigt sich gerade
in den vier zentralen Vorwürfen, die gegen
das Gericht erhoben werden.
Zu den ältesten dieser Vorwürfe gehört
der, das Gericht überdehne permanent seine Kompetenzen; die Antwort wird dann
darin gesehen, diese wieder zu begrenzen,
wie es derzeit in der Tat auch erwogen
wird. Indessen hängt die Autorität eines
Verfassungsgerichts weniger von den äußeren Kompetenzen als vielmehr von der Art
und Weise ab, wie sie genutzt werden. In
diesem Sinne haben sich Verfassungsgerichte ihre eigene Bedeutung immer auch
selbst geschaffen: der US Supreme Court
über die Inanspruchnahme des richterlichen Prüfungsrechts in der Rechtssache
Marbury versus Madison, das Bundesverfassungsgericht in seiner Frühphase über
die Erstreckung der Verfassungsbindungen auf immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens oder später in europarechtlichen Fragen über die Umfunktionierung der Wahlgrundsätze des Artikel 38
Absatz 1 GG zu einer Art Grundrecht auf
Demokratie. Auf europäischer Ebene arbeiten der EuGH mit dem von ihm selbst
formulierten Vorrang des Unionsrechts
und der EGMR über die aktive Entfaltung
der Europäischen Menschenrechtskonvention als „living instrument“ seit geraumer
Zeit mit ähnlichen Strategien. Die Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit ist
deshalb immer auch eine Geschichte der
Selbstautorisierungen. Aber Autorität
kann nicht einfach nur beansprucht, son-
dern muss stets auch an- und hingenommen werden. Und gerade hierzulande hat
sich die Politik bereitwillig darauf eingelassen, weil sie den Nutzen des Verfassungsarguments für sich erkannt hat; es entlastet
von den Zwängen eigener Meinungs- und
Entscheidungsbildung, es ist ein Trumpf,
mit dem sich Positionen durchsetzen und
andere verhindern lassen, und genauso
wird es auch eingesetzt.
Ein zweiter, damit zusammenhängender
Vorwurf lautet, das Gericht betreibe immer weniger Verfassungsauslegung und begebe sich mehr und mehr in die Gefilde eines bloß politischen Räsonnements hinein.
Aber wenn die methodische Diskussion
der letzten Jahre eines ergeben hat, dann
dies, dass es keinen festen Punkt gibt, an
dem das eine endet und das andere beginnt, und schon gar nicht kann er in jenem
Viererkanon aus Wortlaut, Historie, Systematik und Regelungszweck gesehen wer-
den, wie er schon den Erstsemestern als
Summe der juristischen Weltweisheit eingetrichtert wird. Gerade die Verfassung mit
ihren fragmentarischen und skizzenartigen
Bestimmungen ist auf permanente Anreicherung, auf produktive Fort- und Weiterbildung angewiesen, durch die ihre einzelnen Sätze und Aussagen überhaupt erst
Sinn gewinnen. Jede Verfassung ist deshalb
immer auch das, was im Laufe ihrer Anwendung aus ihr gemacht wird. Und gerade Verfassungsgerichte, die anders als andere Gerichte ihre Entscheidungen nicht zwangsweise durchsetzen können, legitimieren
sich nicht nur durch das juristische Handwerk, sondern müssen sich für die ganze
Vielfalt der Richtigkeitsmaßstäbe öffnen:
für die Anschlussfähigkeit an die realen Gegebenheiten, für Gesichtspunkte der Sachgerechtigkeit und Problemangemessenheit, für die Akzeptanz und Akzeptabilität
der Entscheidungen bei den Bürgern.
Rechtsanwälte kämpfen
gegen eigene Schwächen
Wert von 15 000 Euro. Damit will die Anwaltschaft selbst dafür sorgen, dass Spannungen und Verärgerung im Verhältnis
zwischen Anwalt und Mandant abgebaut
werden. „Ein guter Ruf ist rasch beschädigt. Vertrauen aufbauen ist mühsam,
noch mühsamer ist es, verlorengegangenes
Vertrauen wiederherzustellen“, so beschreibt Schlichterin Renate Jaeger die
Aufgabe der Berliner Einrichtung. Es gehe
darum, Schwachstellen der Anwaltschaft
abzubauen. In dem Fall, in dem der Anwalt tätig geworden ist, obwohl der Mandant das nicht wollte, bot sich als Kompromiss an, dass der Mandant die Hälfte der
üblichen Vergütung zahlte. Im vergangenen Jahr sind etwa 1000 Fälle bei der Stelle eingegangen. 212 Schlichtungsvorschläge wurden unterbreitet. (bub.)
Manche Anwälte werben im Internet damit, kostenlos eine rechtliche Anfrage zu
beantworten. Im Anschluss an das Gespräch gibt es zuweilen Missverständnisse:
Der Anwalt arbeitet weiter an dem Fall,
während der Mandant sich die Sache noch
einmal überlegen will – und schließlich einen anderen Rechtsanwalt beauftragt. Es
fehlt an einer konkreten Absprache, und
daher kommt es zum Streit über die Vergütung. Solche Fälle landen nicht immer vor
staatlichen Gerichten. Die Rechtsanwaltschaft unterhält in Berlin eine eigene
Schlichtungsstelle für Streitigkeiten zwischen Anwalt und Mandant bis zu einem
Gerade hier setzt freilich ein dritter, tiefer liegender Vorwurf an: Das Gericht vermische als in mehrfacher Hinsicht „entgrenztes Gericht“ zunehmend Recht und
Moral, es spiele sich nicht nur als Ersatzgesetzgeber, sondern zunehmend auch als
ein allgemeiner Vernunft- und Gerechtigkeitshof, als moralische Instanz und oberster Präzeptor der Gesellschaft auf. Aber
Verfassungen verkoppeln entgegen einer
geläufigen Auffassung eben nicht nur
Recht und Politik, sondern immer auch
Recht und Moral: Ihre grundlegenden Sätze – Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit – fundieren zugleich den ethischen
Grundkonsens moderner Gesellschaften.
Auf das für ihre Anwendung zuständige
Gericht richten sich deshalb notwendig
auch moralische Erwartungen, die es über
Argumentationsfiguren wie Verhältnismäßigkeit und Güterabwägung oder eine entsprechend aufgeladene Sprache subtil
auch bedient. Die Entwicklung dürfte letztlich viel zu weit vorangeschritten sein, als
dass man sie einfach zurückdrehen könnte; wenn sich hierzulande Zehntausende
als Beschwerdeführer gegen die Vorratsdatenspeicherung oder den Euro-Rettungsschirm nach Karlsruhe wenden, vermittelt
das einen Eindruck davon, welche Art von
Richtungsweisung man sich auch von einem Verfassungsgericht verspricht.
Gerade aus dieser Veränderung resultiert dann allerdings ein vierter Einwand:
Das Gericht bediene gerade in solchen Verfahren zunehmend ein Ressentiment des
Unpolitischen, das den ebenso unspezifischen wie populären Verdacht gegen die
Politik, gegen „die da oben“ nähre. In der
Tat: Oft, vielleicht zu oft, hält das Bundesverfassungsgericht der Politik den Spiegel
der besseren, der idealen Lösung vor, unverzerrt von den Zwängen der Kompromiss- und Mehrheitsfindung, von den Ge-
setzmäßigkeiten des politischen Prozesses,
der dagegen notwendig alt aussieht. Aber
auch hier gibt es eine andere Seite. Der
französische Historiker Pierre Rosanvallon hat dazu jüngst in einer vielbeachteten
Studie ein komplexeres Modell demokratischer Legitimation vorgestellt. Den Verfassungsgerichten kommt darin die Aufgabe
zu, über das aktuelle Tagesgeschehen hinaus die Erinnerung an die geschichtsbildenden Elemente wachzuhalten, die
Grundprinzipien des gesellschaftlichen Lebens in periodischen Abständen in den politischen Diskurs einzuspeisen und dadurch dazu beizutragen, die Dinge noch
einmal aus einem grundsätzlichen Blickwinkel zu beleuchten; zugleich verlangsamen sie so die Entscheidungen und führen
eine Art „Bedenkzeit“ ein. Gerade die Kette der Urteile zur europäischen Integration fügt sich in dieses Muster: Gegen die traditionelle Exekutivlastigkeit des Unionshandelns erinnern diese Entscheidungen
in Zeiten kurzfristiger Krisenbewältigung
an die Notwendigkeit parlamentarischer
Beteiligung wie an die allgemeinen Rechtsbindungen öffentlicher Gewalt.
So dürfte es alles in allem weniger die
derzeitige Kritik sein, die die Autorität des
Bundesverfassungsgerichts
untergräbt.
Eher schon ist es eine neuartige Herausforderung von außen: von globalen Grundrechtsgefährdern, gegen die auch mit so
kunstvollen Neukreationen wie dem Recht
auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme
nichts mehr auszurichten ist von den europäischen Gerichten, die zunehmend in Bereiche vordringen, für die Karlsruhe einst
das Monopol hatte. Vielleicht wird über
kurz oder lang der Sitz der Autorität dort
zu finden sein.
Professor Dr. Uwe Volkmann lehrt Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
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