I. Einleitung

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I. Einleitung
»Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹;
und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen,
verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen,
um so vollständiger wird unser ›Begriff‹ dieser Sache,
unsere ›Objektivität‹ sein.«
Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral.1
1.
Ausgangspunkt der Arbeit
Gesellschaftlicher Wandel, die Veränderung bisheriger sozialer Machtverhältnisse, ist mit Konflikten verbunden, die wiederum den Wandel der Gesellschaft
weitertreiben. Diese grundlegende Einsicht der zeitgenössischen Konfliktforschung gilt auch für die gesellschaftlichen und politischen Konflikte rund um die
Errichtung von Moscheen und Minaretten in den letzten Jahren in Österreich,
die den Gegenstand dieser Studie bilden.
Zu einem Thema, das mich nicht mehr los ließ, wurden diese Konflikte durch
die Organisation der Konferenz »Islam in Sicht. Moscheekonflikte in Österreich«, die ich im Jahr 2007 konzipierte und von 3. bis 4. März 2008 an der
Donau-Universität Krems in Kooperation mit der Integrationsfachstelle der
niederösterreichischen Landesakademie durchführte.2 Den Hintergrund bildeten die heftigen gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen rund
um muslimische Bauprojekte in Österreich, vor allem rund um den Minarettbau
in Telfs (2005/2006), den Neubau einer Moschee in Bad Vöslau (2006/2007) und
rund um die Erweiterung des muslimischen Zentrums in der Dammstraße in
Wien-Brigittenau (ab 2007). Diese Konferenz – die erste wissenschaftliche Tagung zu diesem Thema in Österreich – fand ungeplant gerade zu einem Zeitpunkt statt, an dem die Frage der Errichtung sichtbarer, repräsentativer Moscheen in der Öffentlichkeit besonders intensiv diskutiert wurde – nämlich kurz
nach dem Beschluss über eine Änderung der Kärntner Bauordnung am 12. Februar 2008 mit der expliziten Intention ein rechtliches Instrument zu schaffen,
um den Bau sichtbarer Moscheen in Kärnten über die Landesebene verhindern
zu können, und kurz vor dem Beschluss der Änderung der Bauordnung in
1 Nietzsche (1999) 365.
2 Website der Konferenz: http://www.donau-uni.ac.at/de/department/wbbm/veranstaltungen/
id/11243/ (Zugriff: 17. 5. 2013).
12
Einleitung
Vorarlberg am 9. April 2008, der den geplanten Moscheebau in Bludenz ursprünglich zum Anlass hatte. Durch die Teilnahme von Dr. Eva Grabherr, der
Leiterin der Vorarlberger Integrationsfachstelle »okay. zusammen leben«, des
Bludenzer Bürgermeisters Josef Katzenmayer und weiterer Mitarbeiter des
Magistrats in Bludenz an dieser Konferenz kam ich in Kontakt mit zentralen
Akteuren eines lokalen Konflikts rund um ein Moscheebauvorhaben, dessen
Politisierung, Skandalisierung und parteipolitische Instrumentalisierung kurz
vor der Konferenz, ab Jänner 2008, eingesetzt hatte und bald eine immer stärkere
politische Dynamik und überregionale Bedeutung erreichen sollte. Einer der
Referenten, der Soziologe Stefano Allievi (Universität Padua), einer der führenden Experten für den Islam in Italien und Moscheebaukonflikte in Westeuropa, stellte die Verbindung zur westeuropäischen Dimension des Themas her.
Stefano Allievi lud mich im Anschluss an die Kremser Konferenz ein, in einem
Sammelband über Konflikte rund um Moscheebauten in einigen europäischen
Ländern, die in der Hinsicht noch wenig erforscht waren, den Beitrag zu
Österreich verfassen (Fürlinger 2010). Für diesen Artikel führte ich im März
2009 eine erste Recherche-Reise zum Thema Moschee- und Minarettbau nach
Salzburg (Saalfelden), Tirol (Innsbruck) und Vorarlberg (Bludenz) durch.
Die Genehmigung eines religionswissenschaftlichen Forschungsprojekts
zum Moscheebaukonflikt in Bad Vöslau durch den »Fonds zur Förderung der
wissenschaftlichen Forschung« (FWF) ermöglichte es, einen einzelnen lokalen
Konflikt empirisch umfassend zu erforschen. Das Forschungsprojekt wurde von
mir am Institut für Religionswissenschaft der Universität Wien im Zeitraum Juli
2009 bis Juli 2012 durchgeführt. Die Entscheidung für diesen Moscheebau wurde
zunächst aus pragmatischen Gründen getroffen, weil die Nähe von Bad Vöslau
zu meinem Wohnort Wien es ermöglichte, intensive Feldforschung zu betreiben
und mich häufig in Bad Vöslau aufzuhalten. Erst im Lauf der Beschäftigung
wurde mir bewusst, dass es sich um ein historisch bedeutendes Bauprojekt
handelt: nämlich um den zweiten repräsentativen, als Moschee geplanten und im
öffentlichen Raum architektonisch als Moschee erkennbaren Sakralbau in
Österreich (nach der Wiener Moschee am Hubertusdamm von 1979) – und um
den ersten repräsentativen Neubau einer Moschee durch die ehemaligen Arbeitsmigranten muslimischer Zugehörigkeit aus der Türkei in Österreich. Im
Rahmen des Forschungsprojekts untersuchte ich weitere Moscheebaukonflikte
in Österreich (Traun, Bludenz, Freistadt, Spittal an der Drau), um den Fall Bad
Vöslau in einen größeren Kontext stellen zu können – allerdings nur in einem
begrenzten Umfang und auf einer schmäleren empirischen Basis.
Das Ergebnis dieser mehrjährigen wissenschaftlichen Beschäftigung ist die
erste monographische, forschungsbasierte, religionswissenschaftliche Arbeit zu
Moscheebaukonflikten in Österreich. Elemente dieser Studie sind der Aufriss
des historisch-politischen Kontextes dieser Auseinandersetzungen auf westeu-
Aufbau der Arbeit
13
ropäischer Ebene sowie der historischen Entwicklung der muslimischen Gebetsräume und Zentren in Österreich in den letzten 50 Jahren, weil ich davon
überzeugt bin, dass die gegenwärtigen Konflikte rund um Moschee- und Minarettbauprojekte in Österreich ohne diesen größeren Kontext nicht wirklich
verständlich sind.
2.
Aufbau der Arbeit
Die Arbeit verbindet historische, empirische und analytische Aspekte des
Themas: Nach dieser Einleitung erfolgt im zweiten Kapitel ein Abriss des größeren historisch-politischen Kontextes, in dem die Moscheebaukonflikte der
letzten Jahre stehen: globale Migration, religiöse Pluralisierung und Aufstieg
rechtsradikaler Parteien in Westeuropa. Das dritte Kapitel bildet einen Zwischenschritt, nämlich die Reflexion und sachgerechte Darstellung der Grundbegriffe Minarett und Moschee. Das vierte Kapitel enthält eine zusammenfassende Darstellung der Entwicklung von muslimischen Gebetsräumen und
Zentren in Österreich seit den 1960er Jahren, als ein wichtiges Element der
Institutionalisierung des Islam in Österreich. Dieses Kapitel betrachtet das
Thema also von der internen Entwicklung der muslimischen Gemeinschaften
her ; durch diesen historischen Rückblick können die jüngsten Neubauten von
Moscheen als bestimmte Phase in der Entwicklung der muslimischen Gemeinden und ihrer Infrastrukturen in Österreich verortet werden. Neben der Skizze
der verschiedenen Entwicklungsphasen und einem Überblick zu den jüngsten
Entwicklungen im Bereich des Moscheebaus in Österreich stehen »Porträts« der
Entwicklung einzelner, ausgewählter lokaler muslimischer Gemeinschaften und
ihrer Zentren. Das fünfte Kapitel bietet einen Überblick über die Moscheebaukonflikte in Österreich, in Form einer chronologischen Darstellung und mehrerer Fallstudien ausgewählter Konfliktfelder (Traun, Freistadt, Spittal a. d.Drau,
Bludenz). In diesem Kapitel lege ich eine Systematisierung der Entwicklung der
Moscheebaukonflikte in Österreich in Form von neun Phasen vor. Darauf folgt
im sechsten Kapitel eine ausführliche Fallstudie zum Konflikt um den Bau der
neuen Moschee in Bad Vöslau (2006 – 2007), die den Schwerpunkt des empirischen Teils bildet.
Nach diesem historischen und empirischen Teil werden abschließend im
siebten Kapitel Elemente einer Theorie der Moscheebaukonflikte entwickelt,
indem mehrere analytische Perspektiven verschiedener wissenschaftlicher
Disziplinen auf das Phänomen der Konflikte rund um muslimische Religionsbauten angewendet werden. Bei diesem Zugang berücksichtige ich sowohl die
globale, die europäische als auch die nationale Dimension dieser Auseinandersetzungen. Eine zentrale Kategorie der Analyse, die mit den empirisch erho-
14
Einleitung
benen Befunden in Beziehung gesetzt wird, bildet »Raum«: Wie der Untertitel
»Nationale Politik des religiösen Raums im globalen Zeitalter« zum Ausdruck
bringt, stehen die Moscheebauprojekte und die damit verbundenen Konflikte im
komplexen Spannungsfeld unterschiedlicher – globaler, europäischer, lokaler –
Räume und zugleich am Kreuzungspunkt unterschiedlicher Raumvorstellungen.
3.
Forschungsfragen und -probleme
Die empirische Forschung für diese Studie kann in fünf Teilprojekte gegliedert
werden:
(1) die Untersuchung des Konflikts rund um den Neubau einer Moschee in Bad
Vöslau;
(2) die Befragung von Vertreterinnen und Vertretern der ersten Generation der
Arbeitsmigranten aus der Türkei in Bad Vöslau;
(3) vier Fallstudien zu weiteren Moscheebaukonflikten in Österreich (Traun,
Spittal an der Drau, Freistadt, Bludenz);
(4) die Forschung zur historischen Entwicklung von muslimischen Gebetsräumen und Zentren seit den 1960er Jahren in Österreich;
(5) fünf Fallstudien zur historischen Entwicklung von muslimischen Zentren in
Österreich (Wien, Herzogenburg, Hohenems, Felixdorf, Ternitz).
(ad 1) Den Kern der empirischen Forschung für diese Studie bildet die Untersuchung des Konflikts rund um den Neubau einer Moschee in Bad Vöslau
(Niederösterreich) in den Jahren 2006/2007. Die Untersuchung wurde von folgenden Fragestellungen geleitet: Wie ist der Konflikt im Detail verlaufen
(Konfliktdynamik)? Wer sind die zentralen Akteure in diesem Konflikt, welche
Positionen vertraten sie und welche Strategien setzten sie ein? Wie haben Mitglieder des Moscheevereins, der den Neubau errichtete, den Konflikt erlebt?
Welche Positionen haben sie vertreten, was den politischen Umgang mit dem
Bauprojekt und die Frage der architektonischen Gestalt betrifft? Wie ist die
Mediation, in der eine neue architektonische Gestalt des Moscheebaus zwischen
Vertretern der Stadtregierung und dem Moscheeverein verhandelt wurde, verlaufen? Wer waren die Mitglieder des Mediationskreises? Welche inhaltlichen
Standpunkte haben sie jeweils vertreten, was das äußere Erscheinungsbild der
Moschee und den politischen Umgang mit dem Bauprojekt betrifft? Wie setzt
sich die Gruppe »Arbeitsgemeinschaft Europäischer Kultur« zusammen, die
gegen den Moscheebau mobilisierte? Was sind die jeweiligen Begründungen und
Motive für die Ablehnung des Moscheebaus? Welche Haltung und Rolle haben
andere gesellschaftliche Akteure – etwa Priester der örtlichen katholischen und
Forschungsfragen und -probleme
15
evangelischen Gemeinden – im lokalen Moscheebaukonflikt eingenommen, und
wie wird diese Haltung begründet? Insgesamt ging es um eine umfassende
Rekonstruktion der Konfliktdynamik, die zugleich eine Dynamik der Machtverhältnisse ist, bei der die unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen der
handelnden Personen erhoben und dargestellt werden sollten. Diese minutiöse,
»mikroskopische« Erforschung der Dynamik eines lokalen Konflikts rund um
die Errichtung eines muslimischen Sakralraums durch ehemalige Arbeitsmigranten aus der Türkei in einer niederösterreichischen Kleinstadt zu Beginn des
21. Jahrhunderts sollte die empirische Basis für ein genaueres, geschärftes
analytisches Verständnis der sozialen Prozesse, die mit der Errichtung sichtbarer Moscheebauten verbunden sind, zur Verfügung stellen.
(ad 2) Die Befragung von Vertreterinnen und Vertretern der ersten Generation
im Moscheeverein ATİB Bad Vöslau bildet eine eigenständige Einheit der Fallstudie Bad Vöslau. Denn im Fall dieser Gruppe bestand generell keine Bereitschaft und Erlaubnis, über den konkreten Konflikt rund um den Neubau der
Moschee mit mir zu sprechen. Es dominierten große Vorsicht, Scheu und
Ängstlichkeit, mit jemand »von außen« über die politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu reden. Es war aber möglich, ausführliche
biographisch-narrative Interviews (s. Maindok 1996) zur persönlichen Migrationsgeschichte und –erfahrung durchzuführen. Die Interviews wurden von
einem Mitglied der türkischen Community in Bad Vöslau der zweiten Generation vermittelt und organisiert, das während der Interviews auch meine Fragen
auf Türkisch übersetzte und die Antworten auf Deutsch zusammenfasste. In der
Regel wurden die Interviews rund um das Freitagsgebet in der neuen Moschee in
Bad Vöslau durchgeführt, großteils in einem Klassenzimmer, teilweise in der
Gebetshalle. Das Material dieser Interviews wurde nicht unmittelbar in der
Textfassung der Studie verwendet und zitiert, da sie sich auf den Moscheebaukonflikt konzentriert. Für mich bildeten diese Interviews eine wichtige Hilfe, die
eigentlichen Bauherren der neuen Moschee – die Mitglieder des Vorstands des
Moscheevereins und weitere Vertreter der ersten Generation im Moscheeverein
– persönlich kennenzulernen und die Bedeutung des Moscheeneubaus für die
erste Generation im Kontext ihrer Migrationsgeschichte zu verstehen. Die Fragen bei diesen Interviews richteten sich auf den ursprünglichen Herkunftsort,
die Herkunftsfamilie und ihre soziale Verortung, auf die Ausbildung, auf Migrationserfahrungen innerhalb der Türkei, auf die Art der Anwerbung, auf die
Art der Fahrt nach Österreich, auf die ersten Erfahrungen in Österreich, auf die
anfängliche berufliche Situation, auf die konkrete Art der Arbeit (z. B. in der
Kammgarnfabrik in Bad Vöslau), auf die Beziehungen zu den österreichischen
Arbeitskollegen und Nachbarn, auf die Art der Freizeitgestaltung, auf den
Stellenwert und die Möglichkeiten der muslimischen religiösen Praxis in dieser
16
Einleitung
Zeit in Österreich sowie auf die Bedeutung des Moscheeneubaus aus ihrer
persönlichen Sicht. Von allen Interviews wurde in einem zweiten Schritt von
einer Übersetzerin eine Übersetzung aus dem Türkischen ins Deutsche verfasst.
Nachdem eine Mehrzahl der 14 Interviews in der Moschee durchgeführt
waren, teilweise unter tatkräftiger Unterstützung des Imams Hizir Uzuner, kam
es zu einer Krise in den Beziehungen zwischen dem Forschungsprojekt und dem
Moscheeverein, zu einer Art »Immunreaktion« des beforschten sozialen Systems
auf die Intervention des Forschungsprojekts, wie sie beim Einstieg in Institutionen als Forschungsfeld vorkommen kann (cf. Flick 2005, 90): Vertreter des
Moscheevereins schienen ungeduldig, man wollte bereits erste konkrete Ergebnisse der Befragung sehen, und es entwickelte sich seitens einiger Vertreter
im Moscheeverein eine für mich schwer durchschaubare Atmosphäre der Unduldsamkeit und Unerwünschtheit. Die Interviewserie mit Vertretern der ersten
Generation in der Moschee selbst wurde daraufhin von mir abgebrochen und in
Privatwohnungen der Interviewpartner fortgesetzt. Letztlich bildete die neue
Interviewsituation einen Zugewinn, durch den Einblick in die Wohnungssituation der pensionierten Arbeiter und Arbeiterinnen türkischer Herkunft in
Bad Vöslau.
(ad 3) Bei den vier weiteren exemplarischen Fallstudien zu Moscheebaukonflikten in Österreich (Traun, Bludenz, Spittal an der Drau, Freistadt) stand
ebenfalls die Rekonstruktion des Konfliktverlaufs und der Konfliktdynamik im
Vordergrund. Im Unterschied zur Fallstudie Bad Vöslau basieren diese Untersuchungen allerdings auf einer schmäleren empirischen Materialbasis, da die
Ressourcen des Forschungsprojekts auf die Fallstudie Bad Vöslau konzentriert
waren und eine ebenso intensive Erforschung weiterer Fälle aus Zeitgründen
nicht möglich war. Das primäre Forschungsziel bestand bei diesen Fallstudien
darin, über den Informationsstand der medialen Berichterstattung hinaus die
Sichtweisen zentraler Akteure aus erster Hand zu erheben und auf jeden Fall die
Perspektiven von verantwortlichen Funktionären der jeweiligen Moscheevereine selbst einzuholen, die in der Medienberichterstattung häufig keine Stimme
erhalten. Die Auswahl der vier Fälle erfolgte nach folgenden Kriterien: Mit
Bludenz (Vorarlberg) und Spittal an der Drau (Kärnten) wurden jeweils die
Anfangspunkte von politischen Prozessen untersucht, die schließlich zu den
Änderungen der Bauordnungen in den beiden Bundesländern führten. Durch
die sorgfältige Rekonstruktion und empirische Untersuchung der beiden Bauprojekte wird sichtbar, dass sie zu Aufhängern einer strategischen Ethno-Politik
seitens politischer Parteien wurden, die von den konkreten Bauprojekten und
ihren Trägern letztlich völlig abgelöst war. Mit dem Beispiel Traun konnte ein
Konflikt rund um die Frage von Moscheebauten dargestellt werden, der sich
bereits über mehrere Jahre und verschiedene Etappen dahinzieht. Der Fall
Forschungsfragen und -probleme
17
Freistadt (Oberösterreich) sollte einen in der Öffentlichkeit weniger bekannten
Moscheebaukonflikt in einer ländlichen Region repräsentieren, sodass nicht nur
die überregional bekannt gewordenen, spektakulären Moscheebaukonflikte
behandelt werden. Ein weiteres Kriterium war der Zugang zu Vertretern der
jeweiligen Moscheevereine; ihre Befragung erschien mir für eine sachgerechte
Darstellung dieser Prozesse unabdingbar. Dieses Kriterium war im Fall von
Traun, Bludenz, Spittal an der Drau und Freistadt erfüllt.
(ad 4) Die Darstellung der historischen Entwicklung muslimischer Gebetsräume
und Zentren in Österreich seit den 1960er Jahren bedürfte eines eigenen Forschungsprojekts und einer eigenen Monographie. Meiner begrenzten Möglichkeiten bewusst, entschied ich mich dennoch für die Erarbeitung eines eigenständigen Kapitels zu diesem Thema, da ohne die Nachzeichnung der schrittweisen Entwicklung dieser grundlegenden Infrastrukturen für die religiöse
Praxis von Muslimen die Darstellung von Neubauten, die nun zur Sichtbarkeit
des Islam im öffentlichen Raum beitragen, vor allem ab Anfang des 21. Jahrhunderts buchstäblich in der Luft hängen würde. Um diese jüngere Phase der
Institutionalisierung des Islam und des Sichtbarwerdens der Muslime in
Österreich verstehen zu können, bedurfte es einer – zumindest groben –
Nachzeichnung der Phasen der Entwicklung der muslimischen Zentren in den
letzten 50 Jahren in Österreich. Die leitenden Fragestellungen waren: Welche
unterschiedlichen Phasen der Entwicklung der muslimischen Gebetsräume und
Zentren in Österreich können in einer systematischen Sicht identifiziert werden? Wie können sie zeitlich verortet werden? Welche sozialen Prozesse innerhalb der migrantischen Communitys spiegeln sich in ihnen wider? Inwiefern
zeigen sich regionale Unterschiede in der Entwicklung der muslimischen Gebetsräume und Zentren?
Die Erforschung der Geschichte der islamischen Zentren in Österreich seit
den 1960er Jahren erwies sich als besonders mühsam und schwierig, da fast
keine wissenschaftlichen Vorarbeiten vorliegen und weil die muslimischen
Vereine selbst keine Daten und Dokumente zu ihrer Entstehung gesammelt
haben. Die Gründer der türkischen Moscheevereine beispielsweise, die teilweise
im Besitz von Dokumenten sind, sind entweder bereits gestorben oder in der
Pension in die Türkei zurückgekehrt. Dazu kommen zwei weitere Probleme, was
die Datierung von Vereinsgründungen und der Einrichtung der ersten Gebetsräume durch die Moscheevereine betrifft: (1) Die Moscheevereine begannen ihre
Tätigkeit in einigen Fällen bereits vor einer offiziellen Registrierung im Vereinsregister – in manchen Fällen war den Arbeitsmigranten muslimischer Zugehörigkeit die Vorschrift, den Verein behördlich anzumelden, anfangs nicht
bekannt. (2) Es existiert eine Konkurrenz zwischen den großen Dachverbänden,
was den Anspruch auf die ältesten Moscheegründungen in einem bestimmten
18
Einleitung
Bundesland betrifft. Ich war dadurch mit einander widersprechenden Zeitangaben, bezogen auf die Einrichtung der ersten Gebetsräume z. B. in Niederösterreich und Vorarlberg, durch führende Funktionäre der Islamischen Föderation und der ATİB konfrontiert. Eine verlässliche empirische Datenlage zur
Anfangsphase und Geschichte der muslimischen Vereine und ihrer Zentren in
Österreich könnte nur durch ein umfangreiches historisches Forschungsprojekt
hergestellt werden. Der betreffende Abschnitt in meiner Studie bietet nur eine
Vorarbeit dafür.
(ad 5) Die Auswahl dieser vier Fallbeispiele zur historischen Entwicklung von
Moscheen beruht auf pragmatischen Voraussetzungen: dem Zugang zu Vertretern der Moscheevereine und ihrer Bereitschaft zu Interviews zu diesem
Thema. Der Schwerpunkt auf Niederösterreich ergibt sich vorwiegend durch die
Kontakte und den langsamen Aufbau vertrauensvoller Beziehungen zu einzelnen muslimischen Funktionären, die sich im Laufe des Forschungsprozesses zur
Fallstudie Bad Vöslau und im Rahmen eines weiteren Forschungsprojekts
»Muslimische Vielfalt in Niederösterreich«, das ich an der Donau-Universität
Krems leitete (Fürlinger 2012; 2013), entwickelt haben. Ternitz und Herzogenburg waren interessante Fälle hinsichtlich des Themas Moscheebaukonflikte,
weil zur Zeit der Untersuchung ein neues größeres Gebäude als Moscheezentrum
adaptiert wurde (Herzogenburg) und ein Neubau einer Moschee geplant wurde
(Ternitz). Um das Übergewicht niederösterreichischer Beispiele etwas auszugleichen, wurde der Fall Hohenems (Vorarlberg) hinzugenommen, wo der
Kontakt über die Zentrale des Dachverbands ATİB hergestellt werden konnte.
Die leitenden Fragestellungen bei diesen Fallstudien waren: Wann entstand der
erste Gebetsraum des Vereins, wie war er ausgestattet? Unter welchen Bedingungen konnte er eingerichtet werden? Welche Bedeutung nahm der erste Gebetsraum bzw. das erste Zentrum für die damaligen Migranten ein, welche
Funktionen hatte er für sie? Wie viele Gläubige nahmen in der Anfangszeit des
Zentrums an den Freitagsgebeten und an den Festen teil? Wie wurden die
Zentren weiterentwickelt, welche sozialen Prozesse spiegeln sich darin wider?
Kam es in den einzelnen Entwicklungsphasen zu Konflikten mit Anrainern bzw.
mit Teilen der Bevölkerung? Wie haben sich die Beziehungen zwischen dem
Moscheeverein und der lokalen Mehrheitsbevölkerung im Lauf der Zeit entwickelt?
4.
Forschungsmethoden
Für alle vier Teilprojekte der empirischen Forschung für diese Studie wurden
grundsätzlich folgende Grundlagen und Quellen verwendet:
Forschungsmethoden
19
(a) Auswertung von Medienberichten (Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehberichte) und Internetquellen;
(b) qualitative Experteninterviews;
(c) Erhebungen über Telefon und e-mail-Kommunikation primär bei Beamten
(v. a. Bauämter der Gemeinden, Sekretariate der Bürgermeister ; Gemeinderäte; Meldeämter der Gemeinden) und bei Funktionären muslimischer
Vereine;
(d) Auswertung von in der Regel öffentlich zugänglichen Sitzungsprotokollen
von Gemeinderäten, Landtagen und des Bundesparlaments.
Dazu kam im Fall von Bad Vöslau die Methode der teilnehmenden Beobachtung
in Form des intensiven Aufenthalts – etwa einen Tag in der Woche über einen
Zeitraum von mehreren Monaten 2009 und 2010 – in der neuen Moschee und im
Bereich der Siedlung der türkischen (und ex-jugoslawischen) Community rund
um die Moschee.
Im Kontext der Forschung in Bad Vöslau wurde ein Forschungstagebuch
geführt; für alle Interviews wurde ein Dokumentationsbogen angelegt.
Die Entscheidung für qualitative Methoden der Sozialforschung wurde aus
folgenden Gründen getroffen: Es erschien als erfolgversprechender, die zentralen Akteure der einzelnen Moscheebaukonflikte aufzusuchen und ausführlich
zu befragen, als standardisierte Fragebögen zu versenden – einerseits vom zu
erwartenden dürftigen Rücklauf her, aber vor allem von der Qualität und Detailliertheit der erhobenen Daten und Informationen, einschließlich der zusätzlichen Informationen durch den Eindruck von der jeweiligen Persönlichkeit
im Rahmen des Kommunikationsprozesses, die Art des Sprechens und Momenten der Redeverweigerung, die Gestik und Körpersprache, im Fall von Interviews in der Privatwohnung des jeweiligen Gesprächspartners durch die
Zeichensprache der Wohnumgebung usw. Die qualitative Methode ist Teil eines
prozessorientierten, explorativen Forschens im Sinne der »Grounded Theory«
von Anselm Strauss: Durch das offene Interview sollten sich Informationen und
Sichtweisen erschließen, die nicht schon vor Beginn des Forschungsprozesses
zur Verfügung gestanden sind. Überdies hat sich gezeigt, dass die Zusendung
von Fragebögen an Vertreter muslimischer Organisationen (zu baulichen Details von Moscheebauprojekten) trotz telefonischer Vereinbarungen und
mündlicher Zusagen erfolglos blieb und keine Rückantworten erfolgten – mit
der Ausnahme von ATİB Frastanz, wo Informationen zur neuen Moschee per email kommuniziert werden konnten. Zum Moscheebaukonflikt Bad Vöslau war
eine Kombination qualitativer und quantitativer Methoden vorgesehen, in Form
einer repräsentativen quantitativen Erhebung mit standardisierten Fragebögen
unter der Bevölkerung von Bad Vöslau, mit der die Einstellungen zum Moscheeneubau und zur türkisch-muslimischen Bevölkerungsgruppe empirisch
20
Einleitung
untersucht werden sollten. Die Gegner des Moscheebaus waren mobilisiert und
beriefen sich häufig auf die »Mehrheit der Bevölkerung« – die Umfrage sollte die
Haltung in der schweigenden, nicht mobilisierten Mehrheit vor Ort mit Methoden der empirischen Sozialforschung erheben und eine Einschätzung der
Mehrheitsmeinung auf eine fundierte Datenbasis stellen. Nachdem ein Mitarbeiter, der eigens für dieses Teilprojekt angestellt werden sollte, nach längeren
Vorbereitungsarbeiten für die Erhebung überraschend ausfiel, konnte diese
Umfrage leider nicht mehr rechtzeitig vor Abschluss des Forschungsprojekts
(Juli 2012) realisiert werden.
Als zentrale Erhebungsmethode wurde das Verfahren des qualitativen (nichtstandardisierten), offenen, explorativen, leitfadenorientierten ExpertInnen-Interview eingesetzt.3 Sämtliche Interviews wurden von mir als Einzelforscher
persönlich, mündlich und in der Regel in Form von Einzelinterviews organisiert,
durchgeführt, aufgezeichnet und ausgewertet. Im Rückblick sehe ich es als
Manko an, im Zuge des qualitativen Forschungsprojekts keine Forschungsgruppe eingerichtet zu haben, mit der eine kontinuierliche Kommunikation und
Reflexion zu inhaltlichen und methodischen Fragen möglich gewesen wäre.4
An einzelnen Interviews nahmen mehrere Personen teil; an den Interviews
mit Vertretern der ersten Generation von Migranten aus der Türkei und aus ExJugoslawien in Bad Vöslau wirkte ein Übersetzer (aus dem Türkischen ins
Deutsche und umgekehrt) mit. Für jedes Interview wurde ein eigener, stichpunktartiger Leitfaden anhand der jeweiligen Forschungsinteressen erstellt und
eingesetzt. In der Regel wurden die Interviews über eine Zeitdauer von 60 bis
90 Minuten durchgeführt; manche Interviews dauerten etwa zwei bis drei
Stunden, ein Interview dauerte fast fünf Stunden. Alle Interviews wurden in
digitaler Form als Tonaufnahmen aufgezeichnet und als MP3-Dateien gespeichert. Lediglich die für die im jeweiligen Teilforschungsprojekt leitenden, spezifischen Fragestellungen und Erkenntnisinteressen relevanten Teile des erhobenen Datenmaterials bzw. der aufgezeichneten Kommunikationsinhalte – nicht
die gesamte Aufzeichnung eines Interviews – wurden transkribiert, analysiert
und ausgewertet (s. Strauss 1991, 266; Meuser/ Nagel 1991, 455; Kowal/
O’Connell 2004, 443). Eine Ausnahme bilden die Interviews mit VertreterInnen
der ersten Generation von Arbeitsmigranten aus der Türkei in Bad Vöslau, die
vollständig ins Deutsche übersetzt und transkribiert wurden. Das gesamte In3 S. zum qualitativen Interview: Hopf 2004, 349 – 360; Lamnek 2005, 329 – 407; Flick 2005, 117 –
167; Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2009. Zum Experteninterview als Methode der qualitativen
Sozialforschung: Meuser/ Nagel 1991 (Internetquelle: Social Science Open Access Repository,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-24025, Zugriff: 13. 7. 2009); Bogner/ Menz
2009; Meuser/ Nagel 2009.
4 Für den Hinweis darauf danke ich Univ.-Prof. Dr. Martin Jäggle als Mitglied der Habilitationskommission.
Forschungsmethoden
21
terviewmaterial und alle weiteren Quellen der Studie sind in digitalisierter Form
auf einem Datenträger im Zentrum Religion und Globalisierung der DonauUniversität Krems nach Vereinbarung einsehbar.
Insgesamt wurden von mir für die wissenschaftliche Studie in einem Zeitraum von drei Jahren (2009 – 2012) 80 qualitative, in der Regel mindestens
einstündige Interviews geführt, aufgezeichnet und ausgewertet, sowie zusätzlich
45 unterschiedlich lange telefonische Interviews mit Expertinnen und Experten
durchgeführt. Nach den einzelnen Abschnitten bzw. Schwerpunkten der Studie
können diese Interviews folgendermaßen gegliedert und zugeordnet werden:
- III.2 »Die Entwicklung der Moscheen in Österreich«: 10 Interviews mit führenden Funktionären muslimischer Dachverbände und lokaler Vereine
- III.3 »Fallstudien zur Entwicklung von Moscheen in Österreich«: fünf Interviews (je ein Interview in Ternitz, Hohenems, Herzogenburg; zwei Interviews
in Felixdorf)
- IV.1 »Phasen der Politisierung des Moscheebauthemas in Österreich«: drei
Interviews zum Minarettbaukonflikt in Telfs
- IV.2 »Moscheebaukonflikte in Österreich – Fallstudien«: 18 Interviews (drei
Interviews zu Traun, zwei Interviews zu Freistadt, fünf Interviews zu Bludenz,
drei Interviews zu Telfs, drei Interviews zu Spittal an der Drau; ein Interview
zum Moscheebaukonflikt Wien-Rappgasse, das für die Studie nicht direkt
ausgewertet wurde; ein Interview Präsident ATIB Union)
- V »Der Moscheebaukonflikt in Bad Vöslau«: 42 Interviews (Verband ATİB: 20
Interviews, davon 14 mit Vertretern der ersten Generation der Migranten aus
der Türkei; Stadtregierung und Verwaltung Bad Vöslau: sieben Interviews;
AEK: vier Interviews; weitere Personen: 11 Interviews)
Alle durchgeführten Interviews sind im Anhang dokumentiert. Über diese faceto-face-geführten Interviews hinaus wurden telefonische Interviews mit ExpertInnen geführt, die kürzer (in der Regel 15 – 30 Minuten) gedauert haben und
deren zentrale Inhalte handschriftlich notiert wurden. Ein Verzeichnis befindet
sich im Anhang.
Im Fall der Interviews zum Moscheebaukonflikt Bad Vöslau war das Kriterium für die Auswahl der Gesprächspartner, nach Möglichkeit alle zentralen
Akteure im Konflikt und deren ExpertInnenwissen, ihre jeweiligen Perspektiven
auf den Prozess zu erfassen und gegenüber zu stellen, vor allem die Mitglieder
des Mediationskreises. Dies gelang überwiegend. Der Mediator war auf mehrmalige Anfrage explizit nicht zu einem Interview bereit. Der Projektleiter des
Moscheebaus seitens des Vereins ATİB Bad Vöslau war trotz zahlreicher Anfragen und Versuche mehr als ein Jahr lang nicht zu einem Interview bereit; erst
durch meine Anfrage deswegen direkt bei der Zentrale des Dachverbands ATİB
in Wien kam ein Interviewtermin zustande, bei dem allerdings nur ein kurzes
22
Einleitung
Interview geführt werden konnte. Ein Interview mit einem weiteren Vertreter
von ATİB Bad Vöslau im Mediationskreis wurde äußerst kurzfristig abgesagt
und kam in der Folge nicht mehr zustande. Der Kontakt zum zuständigen Beamten der niederösterreichischen Landesregierung, der das positive Gutachten
betreffend Moscheebau und Ortsbildschutz erstellt hatte und zum Zeitpunkt des
Forschungsprojektes bereits pensioniert war, kam leider trotz einer schriftlichen
postalischen Anfrage nicht zustande. Im Fall der anonymen Gruppe, die organisiert gegen den vorgesehenen Moscheeneubau mobilisierte (AEK), war das
primäre Ziel, die Mitglieder dieser Gruppe überhaupt zu identifizieren, zu finden und für ein Interview zu gewinnen; hier wurde in einem Schneeballsystem
von einem Mitglied der Gruppe zum nächsten vorgegangen.
Bezogen auf die Interviews war die methodische Reflexion wichtig, dass die
Intervention des Interviews innerhalb eines höchst konfliktiven Systems mit
einer starken Tendenz zur Polarisierung erfolgte, in das der Forscher von außen
eintritt. Die Dynamik der polarisierten Diskussionen und Haltungen zum Moscheebauprojekt in Bad Vöslau wirkte sich u. a. dahingehend auf die Interviewsituation aus, indem der Versuch seitens der Interviewpartner spürbar war,
mich von der Richtigkeit der eigenen Position zu überzeugen, mich im Konflikt
auf die eigene Seite zu ziehen und mich zu einer expliziten Äußerung meiner
Position im Konflikt zu bringen. Gerade in dieser Situation erschien es mir
unabdingbar, in der Interviewsituation eine strikt neutrale, nicht-wertende
Position einzunehmen. Damit musste ich das Risiko bzw. den Preis hinnehmen,
dass diese Haltung als Interviewer – das aktive Zuhören und die Nichtintervention auch bei radikalen Sprachhandlungen (z. B. rassistischen Äußerungen)
von islamfeindlich eingestellten Personen – bei manchen Interviewpartnern
vermutlich als Form der Zustimmung zu solchen Aussagen bzw. als Unterstützung der eigenen Position interpretiert wurde.5
Bei den weiteren Fallstudien zu Moscheebaukonflikten war es nicht möglich,
die Untersuchung in dieser Breite durchzuführen. Bei diesen Fällen bildete das
Kriterium für die Auswahl der Gesprächspartner, zumindest Interviews mit
Vertretern des jeweiligen Moscheevereins führen zu können sowie nach Möglichkeit Interviews mit Vertretern der jeweiligen Gemeinde- bzw. Stadtregierung
oder –verwaltung zu führen, um die Datenlage der medialen Berichterstattung
durch ihre jeweiligen Informationen und Sichtweisen ergänzen und die jeweiligen Darstellungen gegenüberstellen und verifizieren bzw. falsifizieren zu
können. Bei der Fallstudie Spittal an der Drau stellte der Bürgermeister trotz
5 Ich distanziere mich an dieser Stelle ausdrücklich von diskriminierenden, rassistischen oder
islamfeindlichen Aussagen, die in diesem Text – vor allem bei der wörtlichen Wiedergabe von
Interviewpassagen mit Moscheebaugegnern, Interneteinträgen, Leserbriefen usw. – zitiert
werden.
Verortung innerhalb der Religionswissenschaft
23
mehrmaliger Anfrage keinen Termin für ein Interview zur Verfügung; der
Stadtamtsdirektor war zu einem Interview bereit. Seitens eines Vertreters des
Dachverbands bosnisch-muslimischer Vereine wurde ein Interview mit dem
bosnischen Imam in Spittal an der Drau, der im betreffenden Konflikt eine
interessante Rolle spielte, untersagt. Im Fall Traun kamen geplante Interviews
mit Vertretern der Stadtregierung und des AMS aufgrund meiner damals
knappen Zeitressourcen und aus Terminproblemen der Interviewpartner leider
nicht zustande. Im Fall Bludenz waren Interviews mit dem Bürgermeister, zwei
für das Moscheebauprojekt verantwortlichen Beamten des Magistrats, der Leiterin der Integrationsfachstelle in Dornbirn sowie dem Obmann des Vereins
ATİB Bludenz und weiteren Mitgliedern möglich. Im Fall Freistadt kamen aufgrund meiner eigenen knappen Zeitressourcen nur zwei Interviews mit dem in
der Zeit des Moscheekonflikts amtierenden Bürgermeister sowie dem ehemaligen Obmann des Moscheevereins zustande, wodurch die empirische Basis der
Falldarstellung schmal geblieben ist.
Im Abschnitt zur historischen Entwicklung der muslimischen Gebetsräume
und Zentren in Österreich sollten Interviews mit führenden Funktionären der
großen muslimischen Dachverbände aus der ersten Generation – gewissermaßen Zeitzeugen dieser Entwicklung – die Informationen aus Zeitungen und
Zeitschriften, vor allem der Auswertung der Zeitschrift »Der gerade Weg« des
Moslemischen Sozialdienstes, ergänzen. Es gelang, zwei Mitglieder des Moslemischen Sozialdienstes aus der Anfangszeit des Vereins, die noch leben, in Wien
zu finden. Mit dem einen hochbetagten Mitglied des damaligen Vorstands kam
es zu einer bewegenden Begegnung; ihm waren die historischen Details aus
dieser Zeit aber nicht mehr im Gedächtnis. Mit dem ersten Imam des Vereins,
der heute als Religionslehrer in Wien tätig ist, kam während des Zeitraums der
Erstellung der Studie trotz mehrerer Anläufe leider kein Interview zustande.
Seitens des Dachverbands Union Islamischer Kulturzentren in Österreich
(UIKZ) wurden keine Interviewtermine zur Verfügung gestellt bzw. kamen keine
Interviews zustande. Dieser Umstand erklärt, warum in der Darstellung der
historischen Entwicklung die Moscheen und Zentren dieses Verbands kaum
behandelt werden, obwohl sie zu den ältesten muslimischen Zentren in Österreich gehören.
5.
Verortung innerhalb der Religionswissenschaft
Religionswissenschaft und empirische Forschung
Mit der empirischen Erforschung eines Aspekts im Themenkomplex Migration
und Islam in Europa bzw. der religiösen Pluralisierung im Zuge von internationalen Migrationen v. a. seit den 1960er Jahren in Westeuropa und den ge-
24
Einleitung
sellschaftlichen Reaktionen auf den damit verbundenen sozialen Wandel steht
die Arbeit in einer breiten Strömung innerhalb der Religionswissenschaft, bei
der nicht die historisch-philologische Methode, sondern die religionsempirische Untersuchung zeitgenössischer Entwicklungen im religiösen und gesellschaftlichen Feld im Vordergrund steht. Die Studie reagiert auf einen Mangel an
empirischer Religions- bzw. Sozialforschung in Österreich, was die muslimischen Organisationen, die Wahrnehmung der muslimischen Präsenz durch die
Mehrheitsbevölkerung und die Konflikte und Politisierungsprozesse rund um
die wachsende Sichtbarkeit der Muslime im öffentlichen Raum betrifft. Empirischer qualitativer Forschung könnte es gelingen, den öffentlichen und politischen Diskurs rund um »den Islam«, »den Moscheebau« zu erden und die
konkreten Bauprojekte, die Menschen und Organisationen, die dahinter stehen,
klarer sichtbar und greifbar zu machen, aber auch das Profil, die Interessen und
Motive von Personen und Organisationen, die gegen Moscheebauten mobilisieren, und von Verantwortlichen in Politik und Administration, die mit diesen
neuen Fragen konfrontiert sind, für Österreich schärfer zeichnen zu können. Als
ein wichtiges Ergebnis der Studie könnte man es sehen, dass sich in der Frage der
Errichtung muslimischer Sakralbauten in einem christlich geprägten Gebiet
nicht einfach homogene Blöcke gegenüberstehen, sondern die verschiedenen
Akteurs-Gruppen – Politiker, muslimische Vereine, Gegner von Moscheeprojekten, die christlichen Kirchen usw. – in sich sehr vielfältig, heterogen, spannungsvoll sind und unterschiedliche, auch widersprüchliche, kontroverse Haltungen und Sichtweisen repräsentieren.
Religionswissenschaft und Multidisziplinarität
Die lokalen Konflikte rund um Moscheebauten können nicht isoliert, sondern
nur in einem breiten historischen und politischen Kontext verstanden werden,
der sowohl die globale, europäische als auch die nationale Dimension in die
Analyse einbezieht. Eine solche Kontextualisierung erfordert einen multidisziplinären Zugang, u. a. den Bezug auf migrationswissenschaftliche, kultur- und
sozialanthropologische, soziologische, religionsgeographische und politikwissenschaftliche Forschungen. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung
dieses Gegenstands kann sich nicht hinter die Grenzen der eigenen akademischen Disziplin zurückziehen. Um der Frage auf den Grund zu gehen, welche
komplex interagierenden Dynamiken und Prozesse bei diesen Konflikten
wirksam sind, wird ein disziplinübergreifender Dialog mit anderen Fächern
gesucht, die andere theoretische Perspektiven zur Verfügung zu stellen. Metaphorisch gesprochen, müssen die Augen der Religionswissenschaft durch andere Augen ergänzt werden, um sich einem Verständnis der Moscheebaukonflikte zu nähern. Der religionswissenschaftliche Analyserahmen muss erweitert
werden, um die Frage beantworten zu können: Warum können gesetzlich er-
Verortung innerhalb der Religionswissenschaft
25
laubte Bauten einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft in einer säkularen und weitgehend säkularisierten modernen Gesellschaft derart wuchtige
politische und gesellschaftliche Kontroversen, Reaktionen und Emotionen
auslösen?
Mit dem Fokus auf die Kategorie »Raum« im analytischen Teil (Kapitel VII)
nimmt die Arbeit den spatial turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften auf
und stellt sie sich in die Linie von theoretischen Ansätzen, die das neue Raumdenken der Sozial- und Kulturwissenschaften für religionswissenschaftliche
Fragestellungen fruchtbar machen, vor allem in einschlägigen Arbeiten der
britischen Religionswissenschaftlerin Kim Knott. Mit dem Bezug auf die Soziologie Pierre Bourdieus schließt sie an eine kritische Gesellschaftsanalyse an,
die den Zusammenhang von Raum und Machtverhältnissen systematisch analysiert und versucht, sie für das Verständnis der Moscheekonflikte anzuwenden.
Bereits der ausführliche Überblick zum Forschungsstand (I.6) zeigt die
multidisziplinäre Orientierung der Studie an und bringt das implizite Verständnis von Religionswissenschaft als empirischer Kulturwissenschaft in
engem Austausch mit anderen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen
zum Ausdruck.
Religionswissenschaft und Normativität
Ein weitgehender fachlicher Konsens besteht darüber, dass Religionswissenschaft – im Gegensatz zur Religionsphilosophie und Theologie – ihrem Selbstverständnis nach eine eigenständige nichtreligiöse, nichtnormative Wissenschaft ist (Wach 1924) und einen empirischen Standpunkt vertritt (cf. Figl 2003a,
38). Religionswissenschaft als empirische Kulturwissenschaft enthält sich
davon, religiös begründete Praktiken und Lehren normativ oder moralisch zu
bewerten. Das gilt auch für diese Arbeit: Ein wichtiger Teil des Forschungsprozesses war es, die eigenen Positionen und Hypothesen zum Gegenstand zu
reflektieren, zu überprüfen, immer wieder in Frage zu stellen und eine Haltung
der Distanz zum Forschungsgegenstand einzunehmen. Moschee- und Minarettbauten sind in vielen europäischen Ländern Gegenstand heftiger parteipolitischer und öffentlicher Kontroversen; im Kontext eines verhärteten islamskeptischen bis –feindlichen gesellschaftlichen Klimas steht die kommunale
Politik bei diesen Bauprojekten in der Regel unter erhöhter öffentlicher, medialer Aufmerksamkeit und einem enormen Handlungsdruck. Das Thema ist
hoch emotionalisiert. Die schrittweise Entwicklung eines analytischen, systematischen, theoriebezogenen Zugangs zum Gegenstand und die damit verbundene Entschleunigung der Beschäftigung sind gerade bei diesem Thema von
Vorteil.
Die notwendige Haltung wissenschaftlicher Distanz bedeutet aber nicht
einfach Standpunktlosigkeit und das Vermeiden von Werteentscheidungen:
26
Einleitung
Denn Normativität, die ethische Dimension ist in einer anderen Hinsicht für die
Religionswissenschaft – wie für die anderen Disziplinen – beim Thema Religionsvielfalt und den damit verbundenen gesellschaftlichen und politischen
Konflikten in der globalisierten Einwanderungsgesellschaft und transnationalen
Lebenswelt relevant: Als Teil der Universität in der liberalen, rechtsstaatlichen
Demokratie und der zivilen Weltgesellschaft ist sie den ethischen Normen der
Aufklärung, des Humanismus und den universalistischen Prinzipien des modernen Verfassungsstaats verpflichtet – vor allem den individuellen Menschenrechten (bei diesem Thema v. a. der Religionsfreiheit), die unabhängig von
kulturellen, religiösen, ethnischen Zugehörigkeiten und unabhängig vom Geschlecht gelten. Bei einem politisch und ideologisch gegenwärtig derart kontroversen, umkämpften Thema wie des Islam und des Moscheebaus in Europa
bieten diese Normen der Demokratie und des Verfassungsstaats der religionswissenschaftlichen Reflexion eine verlässliche, sichere Richtschnur, an der ich
mich in dieser Studie orientiere. Mit einer normativen Ausrichtung in diesem
Sinn verstehe ich die Arbeit als Teil einer engagierten, kritischen, angewandten
Religionswissenschaft (s. Figl 2003a, 42 f), die ein aktuelles Konfliktfeld in Europa im Kontext von Migration und Globalisierung als Thema aufgreift, einen
wissenschaftlichen Beitrag zu einer bedeutenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung liefert und damit seitens der Universität mit Politik und Gesellschaft
kommuniziert.
6.
Forschungsstand
Die Forschungen, die öffentliche Auseinandersetzungen um Moscheebauten in
Westeuropa zum Gegenstand haben, sind Teil eines Stranges der wissenschaftlichen Forschung zum Islam in Europa, der sich mit den öffentlichen, rechtlichen
und politischen Verhandlungen über kulturelle Diversität, mit dem Platz der
Muslime als ethnisch-religiöse Minderheit innerhalb des Nationalstaats und
ihrer symbolische Repräsentanz im öffentlichen Raum beschäftigt. Daneben
existiert der Strang der Erforschung der kulturellen und religiösen Praxis von
Muslimen in Westeuropa und jener der Erforschung der Prozesse der Institutionalisierung des Islam in Europa (cf. Maussen 2005, 5ff). Zur gleichen Forschungsperspektive können die zahlreichen Studien über die Auseinandersetzungen um das islamische Kopftuch in Westeuropa gezählt werden.
Zum Thema der Moscheebaukonflikte existieren seit Anfang der 1990er Jahre
wissenschaftliche Arbeiten in verschiedenen Ländern und in unterschiedlichen
Disziplinen, von der Soziologie über die Geographie bis zur Rechtswissenschaft.
Maussen hat einen instruktiven Forschungsüberblick über Studien zu Islam und
Moscheebau in Westeuropa verfasst (Maussen 2005). Demnach gehören zu den
Forschungsstand
27
frühesten Arbeiten über öffentliche Debatten um Moscheebau in Westeuropa die
französischen Arbeiten von Gilles Kepel über die Situation der muslimischen
Bevölkerung in Frankreich, einschließlich der Behinderung von Moscheebauten
durch die öffentlichen Behörden (Kepel 1991; 1994), der Beitrag des britischen
Soziologen und Anthropologen John Eade zu London (Eade 1996), die niederländischen Studien zu Rotterdam (Buijs 1998) und Amsterdam (Lindo 1999) und
der französische Beitrag über Strasbourg und Mulhouse des Politikwissenschaftlers Franck Fregosi (Fregosi 2001). Die Übersicht von Maussen, was die
frühesten Arbeiten zum Thema betrifft, wäre zu ergänzen wäre mit dem sehr
frühen Beitrag von Henry Hodgins zum Moscheebau in Birmingham in den
1970er Jahren (Hodgins 1981), für Deutschland mit den Arbeiten über den
Konflikt zum Moscheebau in Mannheim (Albert/ Kamran 1995; Alboga/ Albert
1996).
Der Forschungsüberblick beschränkt sich auf eine Auswahl wichtiger
deutsch- und englischsprachiger Publikationen in mehreren Disziplinen, ein
Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben.
Im Bereich der Religionswissenschaft im deutschsprachigen Raum beschäftigt sich vor allem Martin Baumann (Religionswissenschaftliches Seminar,
Universität Luzern) mit dem Thema der gesellschaftlichen und politischen
Konflikte um religiöse Bauten, Symbole und Praktiken in Europa, u. a. mit
Konflikten rund um Moschee- und Minarettbauten und den Gebetsruf. In einem
frühen Aufsatz (Baumann 1999) analysierte er die Konflikte um den Muezzinruf
in Duisburg-Laar in den Jahren 1996/97 sowie um die religiösen Aktivitäten
eines Hindu-Tempels der ISKCON (International Society for Krishna Consciousness) in Großbritannien in den 1980er und frühen ’90er Jahren. Baumann
bezog sich dabei auf einen soziologischen Konfliktbegriff: Unter Bezug auf Max
Weber versteht er Konflikte als soziale Auseinandersetzungen, in denen es »…
um Forderungen nach und Teilhabe an gesellschaftlich knappen Ressourcen,
Status, Repräsentanz und Macht« geht (Baumann 1999, 190). Bei den betreffenden Konflikten, in denen religiöse Symbole, Bauwerke und Aktivitäten im
Zentrum stehen, gehe es primär um die Frage der Teilhabe am bzw. des Ausschlusses aus dem öffentlichen Raum. In der Folge bezieht sich Baumann auf die
Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Raum beim britischen
Soziologen John Rex; unter »öffentlichem Raum« versteht dieser die politischen,
ökonomischen, juristischen und edukatorischen Bereiche der Gesellschaft, im
weiten Sinn die nationale Kultur, den »way of life« einer bestimmten Gesellschaft
(cf. Baumann 1999, 192). Unter Bezug auf John Rex, Talal Asad und Steven
Vertovec betont Baumann, dass der öffentliche Raum keineswegs eine neutrale
Sphäre bilde, vielmehr durchzogen sei von bestimmten Wertvorstellungen, die
von den dominanten Gruppen der Gesellschaft bestimmt werden – der öffentliche Raum als normiertes, zensiertes und verteidigtes Terrain (cf. Baumann
28
Einleitung
1999, 193 f). Die Widerstände gegen die Symbole und Bauten religiöser Minderheiten und Neuankömmlinge könnten von daher »als eine Verteidigung des
Überkommenen und der hergebrachten Normierung des öffentlichen Raumes«
interpretiert werden (cf. Baumann 1999, 194). Aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft müsse die bisherige »normative Besetzung« des öffentlichen Raums
geschützt und verteidigt werden. Darin werde der religionssoziologisch wichtige
Sachverhalt deutlich, dass auch in den weitgehend säkularisierten europäischen
Gesellschaften der gesellschaftliche Zusammenhalt nach wie vor »mittels Rekurs
auf Religion und religiös begründete Normen« erfolge (cf. Baumann 1999, 203).
In der Monographie Migration – Religion – Integration (Baumann 2000) behandelt er auch Konflikte um religiöse Stätten und vergleicht dabei gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Bauten verschiedener Religionsgemeinschaften in Deutschland (Baumann 2000, 179 – 182). Bereits zu den Konflikten
um Moscheebauten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in Deutschland
(Beispiel: Yavuz Sultan-Moschee in Mannheim, errichtet 1993 – 95) stellt Baumann fest, dass sie sich durch den Grad der Emotionalität der Auseinandersetzungen und des öffentlich-medialen Interesses von Konflikten rund um
Bauten buddhistischer und hinduistischer Gemeinschaften unterscheiden (cf.
Baumann 2000, 181).
Baumann greift das Thema später erneut auf, nicht zuletzt vor dem aktuellen
Hintergrund der Lancierung der Minarett-Kampagne in der Schweiz im Jahr
2008 (Baumann 2009). Baumann schärfte nun den Begriff des öffentlichen
Raums, indem er sich absetzt von einem Verständnis der Stadt- und Sozialgeographie, die den urbanen öffentlichen Raum als soziale Arena auffasst, in der
sich verschiedene Menschen treffen (Märkte, Straßen, Einkaufszentren, Parks,
Schwimmbäder, Restaurants, Bahnhöfe, Postämter usw.). Das Interesse gilt nicht
konkreten Plätzen, sondern – unter Bezug auf raumtheoretische Reflexionen der
britischen Religionswissenschaftlerin Kim Knott (Knott 2005) – der symbolischen Konfiguration von Raum bzw. den semantischen Eigenschaften von Raum
(Baumann 2009, 143). Baumann verwendet einen Begriff von »öffentlicher
Raum«, der diesen als metaphorisches Terrain auffasst, dem Bedeutungen eingeschrieben sind:
»Public space is not void and neutral; rather it is ›filled‹ with attributed meanings and
semantics, hard-won rights and claims for partaking by competing social groups.«
(Baumann 2009, 143)
Die sozialen Konflikte rund um den Bau von Moscheen und Minaretten in der
Schweiz wie in anderen westeuropäischen Ländern könnten aus dieser Sicht
verstanden werden als Zusammenprall zwischen der Inanspruchnahme von
Rechten durch neue religiöse Akteure und der Verweigerung des Rechts auf
Zugang zum öffentlichen Raum und des Rechts auf Anerkennung durch ein-
Forschungsstand
29
flussreiche etablierte Akteure der Gesellschaft. Baumann stellt fest, dass bis zum
Jahr 2000 die Errichtung neuer religiöser Gebäude – selbst wenn sie in der
typischen architektonischen Gestalt der jeweiligen Religion erfolgte – in der
Schweiz keine Kontroversen ausgelöst habe. Erst nach dem 11. September 2001
sei die Errichtung von Moscheen und Minaretten im Kontext einer hitzigen,
stereotypen Debatte über »den Islam«, die sich mit der »Ausländer«-Debatte
vermengte, zu einem politischen Thema geworden (cf. Baumann 2009, 147).
Nach einer Darstellung der betreffenden politischen Debatten in der Schweiz
schließt Baumann mit einem historischen Vergleich, nämlich mit dem Bau repräsentativer, monumentaler Synagogen im späten 19. Jahrhundert, die den
sichtbaren Ausdruck der politischen Emanzipation der Juden darstellten. Er
illustriert damit die Bedeutung von kontextuellen Faktoren wie Politik und das
gesellschaftliche Bild von einer bestimmten Religion, die einen starken Einfluss
hätten auf die gesellschaftliche Inklusion oder Exklusion einer nichtchristlichen
Minderheit.
In einem jüngeren Beitrag (Baumann/ Tunger-Zanetti 2010) beschreiben die
Autoren zunächst die Pluralisierung der Religionslandschaft in der Schweiz und
illustrieren sie mit dem Dokumentationsprojekt »Kuppel – Tempel – Minarett«.6
Schließlich greifen sie im dritten Teil des Beitrags den Begriff des »öffentlichen
Raums« als umkämpftes Terrain aus systematischer Perspektive auf:
»Religiöse Symbole von neu hinzutretenden Religionsgemeinschaften im öffentlichen
Raum stellen etablierte Verhältnisse auf die Probe. Sie sind Zeichen der Neuverhandlung gesellschaftlicher Repräsentanz und Teilhabe.« (Baumann/ Tunger-Zanetti 2010,
154)
Der öffentliche Raum wird als gesellschaftlich konstruiert verstanden, als Ergebnis von Verhandlungen zwischen verschiedenen Ansprüchen und Interessen,
das nun aber von den etablierten Bevölkerungsgruppen entgeschichtlicht werde
und als etwas verstanden wird, das »immer so gewesen« sei, als »Normalität«.
Die Veränderungen des öffentlichen Raumes würden im Normalfall unbemerkt,
graduell, »fließend« erfolgen. Wenn der gesellschaftliche Wandel (z. B. in Form
von Prozessen der Zuwanderung) beschleunigt erfolge, dann komme es zu
einem krisenhaften Ablauf der Aushandlungen über den öffentlichen Raum:
»Erst dadurch rückt der öffentliche Raum ins Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung
und wird als sensibel und als ›verteidigenswertes Terrain‹ wahrgenommen. Es gelte,
6 Das Projekt wird seit 2007 vom Zentrum Religionsforschung der Universität Luzern (Schweiz)
durchgeführt. Die Prozesse rund um die Errichtung neuer religiöser Bauten im Gefolge von
Zuwanderungen in der Schweiz (nach 1945) werden dabei dokumentiert und erforscht.
Zentrum Religionsforschung der Universität Luzern: Website »Kuppel – Tempel – Minarett.
Religiöse Bauten zugewanderter Religionen in der Schweiz«. Internetquelle: www.religion
enschweiz.ch/bauten.
30
Einleitung
Vorhandenes zu bewahren und dem bedrohenden Neuen und Fremden Einhalt zu
gebieten.« (Baumann/ Tunger-Zanetti 2010, 172)
Die Autoren illustrieren diese These mit zwei Beispielen aus der jüngeren
Schweizer Geschichte, nämlich dem Bau des Goetheanums in Dornach durch die
anthroposophische Bewegung Rudolf Steiners um 1920 und dem Minarettbauantrag in Wangen 2005. Sie machen auf diese Weise Kontinuitäten zwischen
diesen Fällen, die mehr als 80 Jahre auseinander liegen, sichtbar : die Vorwürfe
an neue religiöse Gruppierungen, dass sie »fremd« seien und nicht in die
Schweiz passen würden, dass sie das Land schleichend unterwandern wollten,
die Vermengung mit ausländerfeindlichen Ressentiments, die Errichtung öffentlich sichtbarer Bauten und Symbole als Kristallisationspunkt von gesellschaftlichen Kontroversen, usw.
Im Kontext der Schweizer Volksabstimmung über die Aufnahme eines Minarettverbots in die Bundesverfassung (29. November 2009) erschienen mehrere
wissenschaftliche Veröffentlichungen, nicht zuletzt aus religionswissenschaftlicher Sicht. Samuel M. Behloul, Dozent am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Luzern, wählte in seinem Beitrag Minarettinitiative. Im
Spannungsfeld zwischen Abwehr-Reflex und impliziter Anerkennung neuer gesellschaftlicher Fakten den Zugang, diese politische Initiative und die dadurch
ausgelöste öffentliche Debatte im historischen Kontext – der longue dur¦e europäischer Wahrnehmungen des Islam einerseits und des westlichen Islamdiskurses nach 9/11 andererseits – zu betrachten (Behloul 2009). Er identifiziert
mehrere Analogien zwischen den historischen und den aktuellen Thematisierungen des Islam: Die Dynamik der (negativen) Thematisierung des Islam
korrespondiere jeweils (1) mit einschneidenden »Schlüsselereignissen«, wie der
Eroberung Konstantinopels, der Belagerung Wiens, der Islamischen Revolution
im Iran und der Anschläge des 11. September 2001, (2) mit sozialen und politischen »Umbruchs- und Krisenphasen Europas«, wie die Expansion des Osmanischen Reichs oder heute die Prozesse der Zuwanderung aus muslimisch
geprägten Ländern, und (3) mit der Wahrnehmung eines »Systemkonfliktes«
zwischen zwei homogenen Blöcken »Islam« und »Westen« (cf. Behloul 2009,
117 f). Ein weitere Überlegung lautet, dass sich in der Minarett-Debatte ein
sozialer Umbruch artikuliere: Die Errichtung von repräsentativen Moscheen
und Minaretten werde als Indikator wahrgenommen, dass die Migranten muslimischer Zugehörigkeit keine »Gäste auf Zeit« seien, sondern bleiben werden,
ein Teil der Gesellschaft werden (cf. Behloul 2009, 119ff). Wie durch den Untertitel seines Beitrags deutlich wird, stellt Behloul das Argument in den Vordergrund: Die Minarett-Initiative anerkenne dieses Faktum gerade durch ihre
Bekämpfung des Aufbaus einer religiösen Infrastruktur durch muslimische
Organisationen. Er arbeitet jedoch nicht heraus, wie diese Prozesse gesell-
Forschungsstand
31
schaftlichen Wandels und die Moscheebaukonflikte aus einer konflikttheoretischen Sicht genau zusammenhängen.
Der Schweizer Religionswissenschaftler und Soziologe Oliver Wäckerlig, der
im Rahmen des Schweizerischen Nationalen Forschungsprogramms »Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft« (NFP 58) an einer Masterarbeit zum
Minarettkonflikt in der Schweiz arbeitet, hat einen Beitrag zum Ausgangskonflikt der Schweizer Minarettabstimmung im Jahr 2009 verfasst, zum Minarettkonflikt in Wangen (Solothurn). Analytisch bezieht er sich auf die Arbeiten des
Geographen Thomas Schmitt (s. u.), wenn er die Auseinandersetzungen um den
Minarettbau als »lokalen Rangordnungskonflikt« einordnet, bzw. auf die Arbeiten des Soziologen Jörg Hüttermann (s. u.), wenn er als Konfliktkomponente
den sozialen Aufstieg der ehemaligen Gastarbeiter von »unsichtbaren peripheren« zu »sichtbaren avancierenden Fremden« betont (Wäckerlig 2011).
Im Rahmen des NFP 58 wurde in den Jahren 2007 – 2011 das Forschungsprojekt »Sichtbar gemachte religiöse Identität, Differenzwahrnehmung und
Konflikt« unter der Leitung von Dorothea Lüddeckens, Christoph Uehlinger und
Rafael Walthert (Religionswissenschaftliches Seminar der Universität Zürich)
durchgeführt. Neben »Kleidung« bestand das Teilprojekt »Bauten«, das nach
den Identitäts- und Differenzkonstruktionen in den Diskursen um gegenwärtige
religiöse Bauten in der Schweiz fragte. Zwei der sechs Fallbeispiele behandelten
die Errichtung eines Minaretts in Wangen und in Langenthal. Die Beispiele
belegen, dass nicht nur islamische Bauwerke auf lokaler (und später auf nationaler) Ebene Opposition erfahren, sondern ebenso der Bau einer serbisch-orthodoxen Kirche und eines Hindu-Tempels in Belp (Kanton Bern). Die AutorInnen des Schlussberichts reflektieren die Frage, warum in der Schweiz Bauten,
die die Identität einer fremden Religion sichtbar machen, im öffentlichen Diskurs problematisiert werden, aber nicht religiöse Kleidung. Sie stellen die These
auf, dass Kleidung in den Bereich der individuellen Wahlfreiheit falle, religiöse
Bauten jedoch an der Ebene der Gemeinschaft ansetzen und diese als Gefahr
betrachtet würden. Sie betonen die hohe Bedeutung der symbolischen Dimension religiöser Pluralität sowohl aus der Innenperspektive der Bauherren religiöser Bauten wie der Außenperspektive der Umgebung. Welche Bedeutungen
den polysemischen religiösen Symbolen von außen bzw. im öffentlichen Diskurs
zugeschrieben werden, könne dabei von den Bauherren nicht kontrolliert werden. Die Autoren kommen zu dem Befund, dass die öffentlichen Konflikte nicht
an der religiösen Dimension der Bauten ansetzen würden, sondern dass diese als
Verkörperung einer fremden Kultur und fremden politischen Ordnung negativ
klassifiziert werden (Lüddeckens/ Uehlinger/ Walthert o. J.). Beiträge von Religionswissenschaftlern sind im Band Mosques in Europe. Why a solution has
become a problem enthalten, der vom Soziologen Stefano Allievi (Universität
Padua) herausgegeben wurde (Allievi 2010): neben dem Beitrag des Autors über
32
Einleitung
Moscheebaukonflikte in Österreich (Fürlinger 2010) der Beitrag von Maria
Bombardieri über Moscheekonflikte in Italien und Göran Larsson über diese Art
sozialer Konflikte in Schweden. Die Beiträge konzentrieren sich auf die Darstellung von einzelnen Fallbeispielen, repräsentieren also der Aufgabenstellung
des Herausgebers entsprechend einen deskriptiven, keinen analytisch-systematischen Zugang.
2003 legte Thomas Schmitt mit Moscheen in Deutschland die erste monographische Studie zu Moscheebaukonflikten im deutschsprachigen Raum vor
(Schmitt 2003), die disziplinär im Bereich der Geographie verortet ist. Es handelt
sich um die gekürzte und überarbeitete Fassung seiner Dissertation an der
Technischen Universität München 2002. Sie ist zu Unrecht im Forschungsfeld
weniger bekannt als das Buch von Hüttermann Das Minarett, vermutlich weil
das Buch im Selbstverlag erschienen und etwas schwerer zugänglich ist.7 Von
seiner Verortung in der Sozial- und Politischen Geographie aus sucht Schmitt für
ein Verstehen der Moscheebaukonflikte v. a. den Austausch mit Ansätzen in der
Konfliktforschung. Den Kern bilden fünf Fallstudien der Prozesse rund um die
Errichtung und Nutzung von Moscheebauten in Deutschland, und zwar in
Gladbeck, Lauingen, Bobingen, Lünen und Duisburg. Methodisch wählte
Schmitt für die Untersuchung der Fallbeispiele den Zugang der qualitativen
Sozialforschung. Im Sinne eines qualitativ-explorativen Vorgehens entwickelte
er aus dem empirischen Material der Fallstudien einen konflikttheoretischen
Rahmen, der u. a. zwischen drei Konfliktdimensionen unterscheidet: raumbezogene, ethnisch-kulturelle und religionsbezogene (Schmitt 2003, 109 – 148). Sie
lassen sich zwar theoretisch trennen, gehen jedoch in den konkreten Konfliktfällen ineinander über, z. B. wenn sich negative Erfahrungen mit türkischen
Jugendlichen (ethnische-kulturelle Ebene) in einer Abwehr der Moschee (religionsbezogene Ebene) niederschlagen (cf. Schmitt 2003, 347). Für die Differenzierung von Konfliktarten bezieht er sich zunächst auf die Unterscheidung
von Bernhard Giesen zwischen Rangordnungskonflikten, Verteilungs- und
Ressourcenkonflikten sowie Regel- und Wertkonflikten und ergänzt diese
Konfliktarten um die Kategorie von Identitäts- und Anerkennungskonflikten (cf.
Schmitt 2003, 94 f). Auch hier hält er fest, dass ein bestimmter Konfliktfall rund
um Moscheebau und -nutzung nicht einer einzigen Konfliktart zugeordnet
werden sollte, sondern dass diese Konflikte gleichzeitig Elemente verschiedener
Konfliktarten aufweisen können und bestimmte Konfliktarten unterschiedliche
Phasen des Konfliktverlaufs dominieren können (ibid.). Auf der ethnisch-kulturellen Ebene des Konflikts siedelt Schmitt Ängste vor einer Veränderung der
7 Mittlerweile ist das Buch im Internet verfügbar : Website Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften Göttingen. Internetquelle: www.
mmg.mpg.de/fileadmin/user_upload/…/Moscheen_in_Deutschland.pdf (Zugriff 30. 5. 2013).
Forschungsstand
33
vertrauten Umgebung, vor einem Verlust des bisherigen Charakters oder des
Rufs des Ortes, einer »Türkisierung« der eigenen Lebenswelt, verbunden mit
Formen offener Fremdenfeindlichkeit, die sich vor allem gegen die türkischstämmige Bevölkerung richte (cf. Schmitt 2003, 348). Dazu trete der Anspruch
von Vorrechten der »etablierten« Bevölkerung gegenüber den »Fremden«. Auf
der religionsbezogenen Ebene der von ihm untersuchten Moscheekonflikte ortet
Schmitt eine Ablehnung des Islam, der als homogener Block, von einem Teil der
Akteure als »antichristliche Religion« wahrgenommen werde (cf. Schmitt 2003,
349). Die raumbezogene Ebene der Konflikte umfasse Anrainerinteressen, z. B.
die Angst vor Ruhestörung durch den Moscheebetrieb, oder städtebauliche
Einwände – die aber auch vorgeschoben werden könnten, um die eigentliche,
ethnisch-kulturelle oder islambezogene Ablehnung zu kaschieren (ibid.). Insgesamt besticht die Studie durch ihr sorgfältiges, systematisches Vorgehen und
die klare Gliederung. Vor allem seine Bezugnahme auf Giesens Modell von
Rangordungs-, Verteilungs- und Wertkonflikten für die Erklärung der Konfliktdynamik um Moscheebauten sollte sich in der Folge als einflussreicher
theoretischer Rahmen erweisen (z. B. bei Hohmann 2007). Seine wichtige Einsicht, dass die Moscheebaukonflikte nicht auf eine Konfliktart reduziert werden
sollten, wird dabei manchmal übersehen. Als Mangel könnte man reklamieren,
dass Schmitt zwar die hohe Bedeutung der symbolischen Ebene in den Konflikten um die Errichtung und Nutzung von Moscheen erwähnt (cf. Schmitt 2003,
354), aber nicht theoretisch darauf eingeht, und dass er neuere raumwissenschaftliche Zugänge nicht berücksichtigt. Aufbauend auf die Dissertation von
2003 hat Schmitt weitere Arbeiten zum Thema Moscheebaukonflikte in
Deutschland vorgelegt (u. a. Schmitt 2004; Kraft/ Schmitt 2008), zuletzt eine
Zusammenfassung der Ergebnisse der Dissertation, ergänzt durch eine aktuelle
Darstellung neuerer Entwicklungen, u. a. einem Vergleich zwischen den völlig
verschieden ablaufenden Moscheebauprozessen in Duisburg-Marxloh und in
Köln-Ehrenfeld (Schmitt 2013).8
Im Bereich der Soziologie im deutschsprachigen Raum ist Jörg Hüttermann
mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten zu Moschee- und Minarettbaukonflikten
hervorgetreten. Er ist seit 1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für
interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, das
von Wilhelm Heitmeyer geleitet wird. Zwischen November 2000 und Oktober
2002 führte Hüttermann das Forschungsprojekt Konflikte um religiöse Symbole:
Moscheebau und Muezzinruf in deutschen Städten durch. Es handelte sich um
die Erforschung von zwei Fallbeispielen: um den Konflikt um den Minarettbau
in Halle (Westfalen) und um den Verlauf des Baus einer repräsentativen Moschee
in Duisburg-Marxloh, bei dem es zu keinem Konflikt kam. Methodisch wurde
8 Ich danke Herrn PD Dr. Thomas Schmitt für die Zusendung dieses Artikels.
34
Einleitung
die Erhebung auf Basis narrativer Interviews, ethnographischer Feldforschung
sowie der Auswertung von Archivdokumenten und Medienberichten durchgeführt. Die Ergebnisse wurden in Form eines Artikels (Hüttermann 2003), der
Monographie Das Minarett. Zur politischen Kultur des Konflikts um islamische
Symbole (Hüttermann 2006) und in weiteren Artikeln (Hüttermann 2007a;
2007b) veröffentlicht.
Hüttermann stellt in diesem Buch einleitend fest, dass die Konflikte um
muslimische Symbole im öffentlichen Raum erst jetzt, Jahrzehnte nach der
Zuwanderung der Arbeitsmigranten aus der Türkei, auftreten,
»…weil sich die Figurationen, die impliziten und expliziten Machtbeziehungen zwischen Menschen beziehungsweise zwischen sozialen Großgruppen im öffentlichen
Raum, erst jetzt deutlich verändern. Es ist der durch das Kristallisationsereignis Islam
schlagartig beleuchtete und zugleich verdunkelte Figurationswandel, der den Konflikt
erzeugt, und häufig … ist der Konflikt um islamische Symbole das Medium, in dem sich
der Figurationswandel realisiert.« (Hüttermann 2006, 15)
In den Konflikten rund um die Errichtung von Moscheen und Minaretten durch
die muslimische Minderheit gehe es nicht nur um Regel- und Ressourcenkonflikte, sondern um Rangordnungskonflikte: In ihnen werde die gesellschaftliche
Rangordnung, die Hierarchie zwischen den »Etablierten« und den »Außenseitern«, zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern verhandelt (cf. Hüttermann
2006, 15 f). Hüttermann nimmt hier eine Kategorisierung von Konflikttypen
durch Bernhard Giesen (Giesen 1993) auf, auf die sich bereits Thomas Schmitt in
seiner Analyse von Moscheekonflikten in Deutschland bezogen hatte (Schmitt
2003).9
Hüttermanns analytischer Zugang stützt sich u. a. auf den Begriff der »Figuration«, den Norbert Elias Anfang der 1970er Jahre einführte. Nun ist der
Figurationswandel für Elias ein langfristiger Prozess, der mindestens drei Generationen umfasse (cf. Elias 2006, 109).10 Hüttermann müsste also, wenn er das
Konzept als zentralen Begriff der Analyse von Moscheebaukonflikten einsetzt,
die Dynamik der Veränderungen der Position der Arbeitsmigranten im »sozialen Raum« in ihrer Verflechtung, ihrer wechselseitigen Abhängigkeit mit der
deutschen Mehrheitsgesellschaft über einen längeren Zeitraum hinweg herausarbeiten. Tatsächlich wird der »Figurationswandel« von Hüttermann in
dieser Publikation nur erwähnt, aber nicht dargestellt.
Ein weiterer zentraler Begriff in Hüttermanns Analyse ist das Gastrecht. Er
stützt sich dabei auf den Anthropologen Julian Pitt-Rivers, der für seine Forschungen zum Thema Ehre und Scham in traditionellen Gesellschaften bekannt
geworden ist. Hüttermanns interessante Überlegung lautet: Unterhalb der
9 Hüttermann erwähnt an dieser Stelle die Arbeit von Schmitt nicht.
10 Hinweis: Treibel 2009, 140 f.
Forschungsstand
35
Ebene des modernen Rechts im demokratischen Staat sei es in der lebensweltlichen Wirklichkeit in Wahrheit das traditionelle Gastrecht, das in den Moscheeund Minarettbaukonflikten den normativen Bezugsrahmen für die Konfliktparteien – die »Alteingesessenen« und die »Zugewanderten« – bilde. Die muslimische Konfliktpartei würde dem Gastrecht entsprechend z. B. akzeptieren,
dass man sich den Regeln des Gastgebers zu fügen habe. In der Bezugnahme auf
das Gastrecht, die in den Moscheebaukonflikten wirksam sei, werde die soziale
Asymmetrie zwischen den sozialen Gruppen, zwischen »Gast« und »Gastgeber«,
bekräftigt (Hüttermann 2006, Kap. 3; vgl. Hüttermann 2003). Ein Defizit dieses
Zugangs lag in der Begrenztheit der empirischen Daten, die Hüttermann anhand
eines einzigen Fallbeispiels (Minarettbau in Halle) erhoben hat, und den generalisierenden Schlussfolgerungen, die er daraus zog. Dieser Befund bestätigt die
Kritik von Matthias Koenig, dass »es den Befunden der überwiegend deskriptiv
vorgehenden mikroorientierten Forschung häufig an Generalisierbarkeit«
(Koenig 2010, 145 f) mangelt. Als Beispiel nennt Koenig das Buch von Hüttermann Das Minarett.
In einem jüngeren Artikel (Hüttermann 2011) analysiert er die Soziogenese
der Moscheekonflikte aus figurationssoziologischer Sicht, indem er sich wie
schon in Das Minarett auf die Gastrechtsideologie in der Einwanderungsgesellschaft bezieht. Er unterscheidet dabei idealtypisch vier Phasen des Figurationswandels in Deutschland:
(1) Den Fremden (»Gastarbeitern«) wurde von den Etablierten (»Gastgebern«)
ihr Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie, am Rand der Gesellschaft
zugewiesen; diese Rollenverteilung wurde vom Gastrecht legitimiert. In
dieser frühen Phase waren die Neuankömmlinge als »periphere Fremde« im
öffentlichen Raum nicht sichtbar.
(2) Es traten ab den 1970er Jahren »soziale Anwälte« im Bereich der Gewerkschaften, der Kirchen usw. auf, die für die Neuankömmlinge eintraten und
für sie sprachen. Dadurch kam es zu einer minimalen Verschiebung der
Machtbalance zugunsten der Zugewanderten.
(3) In den 1990er Jahren begannen die Migranten der zweiten Generation, ihre
Interessen selbst zu vertreten und an den öffentlichen Diskussionen als
Anwälte in eigener Sache mitzuwirken. Aus dem Gast wurde der »avancierende Fremde«, der in der Öffentlichkeit mit seinen Ansprüchen und seinem Protest sichtbar und hörbar wird. Diese Überschreitung der von der
Mehrheit festgelegten Grenzen, die Veränderung der Machtbeziehungen
löst Rangordnungskonflikte aus.
(4) Spätestens seit 9/11 wird der avancierende Fremde als »muslimisches Kultursubjekt« konstruiert und kulturalistisch verfremdet. Das geschieht vor
allem auf der visuellen Ebene, wenn Medienberichte über Migranten aus
islamischen Ländern überwiegend mit Bildern betender Männer oder
36
Einleitung
Frauen mit Kopftuch illustriert werden, aber auch durch akademische
Diskurse, die ein essentialistisches Verständnis muslimischer Identität,
Kultur und Religion vertreten.
Erst in den letzten beiden Phasen (»Sequenzen« 3 und 4) seien Konflikte um die
Errichtung von Moscheen manifest geworden.
Hüttermann vertritt nun die These:
(a) Die ehemaligen Zuwanderer stellen wegen ihres sozialen Aufstiegs, ihres
Selbstbewusstseins, ihrer Einforderung von Rechten (z. B. des Baus repräsentativer Moscheen) die überkommenen gesellschaftlichen Rangordnungsgrenzen in Frage.
(b) Gerade deshalb werden sie zu »gefährlichen Fremden« und Kultursubjekten
stilisiert (cf. Hüttermann 2011, 50). M.a.W.: Die Stigmatisierungen der
muslimischen Minderheit wurzeln in einem innergesellschaftlichen Rangordnungskonflikt, den diese zugleich vorantreiben (cf. Hüttermann 2011,
60).
Die zeitgenössischen Konflikte rund um islamische Symbole versteht Hüttermann also dezidiert nicht als Kultur-, Religions- oder Wertekonflikte (cf. Hüttermann 2011, 58): Es handle sich vielmehr um ein soziales Problem, das sozial
erklärt werden müsse (cf. Hüttermann 2011, 60).
»Die soziale Natur des Konflikts um islamische Symbole in der deutschen Einwanderungsgesellschaft besteht in dem sich als Intergruppenkonflikt vollziehenden Rangordnungskampf zwischen Alteingesessenen und Zugewanderten, der schon in den
1960er Jahren einsetzt.« (Hüttermann 2011, 75)
In einem weiteren Schritt ordnet er bestimmte Moscheebauprojekte den vier
Phasen des Figurationswandels zu. In der Phase 1 und 2 konnten vorgesehene
Moscheebauprojekte einfach aufgrund der Machtposition der einheimischen
Eliten und der mangelnden Kenntnisse der Rechtslage durch die Moscheevereine verhindert werden, wie Hüttermann am Beispiel von Espelkamp (Nordrhein-Westfalen) veranschaulicht. Er schildert aber auch den Fall der Errichtung
einer Moschee in Lauingen (Bayern) in den Jahren 1993 – 96, in dem der Paternalismus des örtlichen Bürgermeisters das entgegengesetzte Ergebnis hervorbrachte: Der muslimische Verein hatte ein neutrales Gebäude ohne äußere
Kennzeichen einer Moschee vorgesehen, der Bürgermeister forderte jedoch den
Bau einer repräsentativen, »richtigen« Moschee mit Minarett und Kuppel und
unterstützte den Verein bei der Durchsetzung des Bauprojekts (cf. Hüttermann
2011, 64 f; Kraft 2002, 116ff). Der Phase 3, in der die »avancierenden Fremden«
ihre Anliegen selbst in die Hand nehmen und Rechtsansprüche geltend machen,
ordnet er den Konflikt um den Antrag (Ende des Jahres 1995) eines türkischen
Forschungsstand
37
Moscheevereins auf den lautsprecherverstärkten Gebetsruf in Duisburg-Laar zu.
Für die Phase 4 bringt Hüttermann das Beispiel des überregional bekannt gewordenen Konflikts um die DİTİB-Moschee in Köln-Ehrenfeld. Wortmeldungen
von intellektuellen Gegnern des Projekts wie Ralph Giordano und Dieter Wellershof werden von ihm als Beispiel für einen kulturalistisch gewendeten öffentlichen Diskurs über Zugewanderte muslimischer Zugehörigkeit gebracht.
Kritisch anzumerken ist, dass Hüttermann die vier »Sequenzen des Figurationsprozesses« selbst als idealtypisch einschränkt, dann aber der Suggestivität
des vereinfachenden Schemas zu erliegen scheint. Konflikttheoretisch reduziert
Hüttermann meines Erachtens die Komplexität von Moscheebaukonflikten,
wenn er sie allein als soziale Rangordnungskonflikte einordnet, dabei aber die
bedeutende Rolle von (möglichen) genuin religiösen und kulturellen Faktoren in
der Konfliktdynamik ausblendet bzw. kategorisch ausschließt. Damit fällt er
hinter die Differenzierung ethnisch-kultureller, raumbezogener und religionsbezogener Konfliktdimensionen zurück, die Schmitt in seiner Studie eingeführt
hatte (Schmitt 2003).
Im Bereich der Soziologie in Italien ist Stefano Allievi (Universität Padua) der
führende Experte für das Thema der Konflikte rund um muslimische Bauten und
Symbole in Europa. In seinen Beiträgen stellt er diese in den allgemeinen
Kontext der Kritik, Ablehnung und Infragestellung des Islam (cf. Allievi 2009,
12; 2010, 38 f). Wie Baumann unterstreicht er in mehreren Beiträgen (Allievi
2003; 2009) aber auch spezifische Aspekte, nämlich die Bedeutung des öffentlichen Raumes und seiner symbolischen Ladung: Bei den Moscheebauprojekten
gehe es nicht allein um architektonische und städtebauliche Fragen, vielmehr
berühren sie »… die Wahrnehmung der Kontrolle über das Territorium, seine
symbolische Prägung« als »… ein sehr konkretes und materielles Zeichen von
Herrschaft und Macht« (Allievi 2003, 7 f; cf. Allievi 2009, 38 f). Der Streit um den
europäischen öffentlichen Raum im Falle von Moscheebauten drehe sich um die
Frage der »symbolischen Aneignung von Territorium« (ibid.; cf. Allievi 2009,
13). Allievi erklärt von daher die heftigen gesellschaftlichen Reaktionen auf die
Errichtung von Moscheen, die Auslösung einer »Wir/Sie«-Dynamik, eines
Identitätsreflexes, der im Fall anderer umstrittener Bauwerke in der Regel nicht
erfolge (cf. Allievi 2009, 39). Er vertieft jedoch diesen Erklärungsansatz auf der
Achse »Raum – Symbol – Macht« theoretisch nicht, sondern konzentriert sich
auf die deskriptive Darstellung von Fallbeispielen aus verschiedenen europäischen Ländern.
Im Bereich der Architektur ist die Dissertation der Architektin und Kunsthistorikerin Sabine Kraft erschienen, in der sie sechs Moschee-Neubauten in
Deutschland analysiert, und zwar in Aachen, Hamburg, Lauingen, Mannheim,
München und Pforzheim (Kraft 2002). Für die architekturtheoretische Einordnung der Bauten wendet sie drei Kategorien von Moscheen in der westlichen
38
Einleitung
Diaspora an, die der Architekturkritiker Omar Khalidi (Khalidi 2000) entwickelt
hat:
(a) ein rein traditioneller Moschee-Stil: die direkte Übernahme von architektonischen Vorbildern aus islamischen Ländern, die ohne Änderungen in
den europäischen Kontext verpflanzt werden – ohne »auf die Umgebung,
also den städtebaulichen Zusammenhang oder die regionale Bauweise
einzugehen oder diese sogar zu ignorieren« (Kraft 2000, 204);
(b) eine neue Interpretation der traditionellen Moscheearchitektur, u. a. durch
eine Kombination oder Synthese von traditionellen Moschee-Elementen
mit Elementen europäischer Architektur ; als gelungene europäische Beispiele dafür führt Kraft die große Moschee in Rom (»Islamic Centre Mosque«) an (cf. Kraft 2000, 207), ebenso die in den 1960er Jahren entstandene
Bilal-Moschee in Aachen (cf. Kraft 2002, 88);
(c) die architektonische Innovation, die Neuinterpretation des islamischen
Sakralbaus, die sich von einem ethnisch-nationalen Geschmack und historischen Stil löst; das Problem dabei stelle aber dar, dass solche Moscheen
von den Nutzern oft abgelehnt würden (cf. Kraft 2000, 207).
Anhand der Beispiele der Moscheen in Pforzheim und Mannheim arbeitet sie die
Homogenität in der Architektursprache der Moscheen heraus, die in den 1990er
Jahren durch türkisch-muslimische Institutionen in Deutschland gebaut wurden und die einen rein historistischen Zugang repräsentieren, nämlich den
Rückgriff auf einen neo-osmanischen Moscheebaustil. Sie interpretiert diese
architektonischen Entscheidungen, die sie kritisch »verpflanzte Traditionsmoschee« (Kraft 2000, 208) nennt, als Versuch der türkischen Migranten, mittels
traditioneller architektonischer Elemente einen heimatlich-vertrauten Ort inmitten der als fremd erlebten Gesellschaft zu schaffen, der für die zugewanderten Menschen eine identitätsstärkende Funktion hat:
»Als Symbol geben sie emotionalen Halt und verschaffen ihnen ein Gefühl der Heimat,
indem sie die architektonische Erinnerung an die Sakralbauten des Herkunftslandes
wachrufen.« (Kraft 2000, 221; vgl. 217)
Konflikthafte Auseinandersetzungen, die mit den Neubauten verbunden waren,
sind Teil der Darstellung der sechs Moscheebauprojekte, werden aber nicht
vertiefend analysiert. Ihr Fokus liegt auf der architektonischen Gestalt der
Moscheebauten, die allerdings einen nicht unwesentlichen Faktor für die Konflikte mit der Umgebung bildet: Eine Moschee, die als exotischer »Fremdkörper«
wahrgenommen werde, könne unter Umständen negative Wirkungen erzeugen
(cf. Kraft 2000, 203). Sie berücksichtigt allerdings zu wenig, dass auch neutrale
Gebäude muslimischer Organisationen ohne klassische bauliche Elemente einer
Moschee heftige Widerstände hervorrufen, wie zum Beispiel die Fälle der Er-
Forschungsstand
39
richtung eines islamischen Zentrums in Wiener Neustadt (2011/12) oder der
geplante Ausbau des islamischen Zentrums in Wien-Brigittenau (Dammstraße)
durch den Dachverband ATİB zeigen.
Im Bereich der Politikwissenschaft ist 2004 ein Beitrag über Diskurse zu
Moscheebau in den Niederlanden in den Jahren zwischen 1980 und 2002 von
Marcel Maussen erschienen, der die öffentlichen Diskussionen über Moscheebau am Beispiel von Rotterdam untersucht (Maussen 2004). Er zeigt darin, wie
sich die Interpretation großer, repräsentativer Moscheen parallel zur Veränderung des politischen und gesellschaftlichen Klimas gegenüber den muslimischen Zuwanderern wandelt: Wurden die Moscheebauten in den Niederlanden
in der Mitte der 1990er Jahre positiv als Zeichen der kulturellen und religiösen
Diversität betrachtet und in Programme der Stadtplanung und Stadterneuerung
integriert, so wurden sie nach 2001 und nach dem Erfolg der anti-muslimisch
agierenden Partei von Pim Fortuyn als Symbol der rückwärtsgewandten Haltung
der Migranten und ihrer Integrationsunwilligkeit kritisiert und in der Öffentlichkeit heftig debattiert. 2009 publizierte er die vergleichende Studie Constructing Mosques. The governance of Islam in France and the Netherlands
(Maussen 2009). Es handelt sich um eine Dissertation, die Maussen im gleichen
Jahr an der »Amsterdam School for Social Science Research« einreichte. Er
vergleicht darin die öffentlichen Diskussionen um die Errichtung von Moscheebauten in Frankreich und den Niederlanden, verstanden als Teil der sozialen Prozesse, mit denen die Integration des Islam in den westeuropäischen
Gesellschaften zu regulieren versucht wird. Diese Diskussionen werden vor dem
Hintergrund der jeweiligen nationalen Modelle der Regulierung der institutionellen Beziehungen zwischen Staat und Religion, besonders der Regelungen zur
staatlichen Finanzierung von Gotteshäusern, betrachtet. Ein zentrales Element
bilden die empirischen Fallstudien zu den über dreißig Jahre andauernden
Diskussionen über Moscheebauprojekte in Rotterdam und Marseilles. Maussen
analysiert sie im Kontext des jeweiligen kolonialen Regimes des Islam durch
Frankreich und die Niederlande.
Die Religionswissenschaftlerin Bärbel Beinhauer-Köhler (Universität
Frankfurt am Main) legte zusammen mit dem Politikwissenschaftler Claus
Leggewie eine Monographie Moscheen in Deutschland vor (Beinhauer-Köhler/
Leggewie 2009). In ihrem Beitrag stellt sie im ersten Teil die Geschichte des
Moscheebaus in Deutschland dar, wobei sie auch die Frage der zeitgenössischen
Moscheearchitektur kurz behandelt, im zweiten Teil die traditionellen Funktionen der Moschee. Das Thema Moscheekonflikte wird in diesem Buch von
Leggewie behandelt, aufbauend auf eine frühere Publikation (Leggewie/ Joost/
Krech 2002) sowie auf die Tagung »Sakralbauten und Moscheekonflikte. Zur
Formgebung religiöser Freiheit« von 5. bis 6. Mai 2008 des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, dessen Direktor Leggewie ist. Er konzeptualisiert
40
Einleitung
Moscheekonflikte als »hochbrisante symbolische Anerkennungskonflikte«
(Leggewie 2009, 122), in denen es um weit mehr geht als um Auseinandersetzungen um Lärm, Parkplätze und die konkrete Funktion der Moschee. Im Unterschied zu Nachbarschaftskonflikten, die teilbar sind, in denen ein Dissens in
der Sache besteht und Kompromisse (z. B. Entschädigungen) ausgehandelt
werden können, würden Moscheekonflikte als unteilbare Konflikte erscheinen,
in denen es um zentrale Prinzipien und um die Identität von sozialen Gruppen
gehe (cf. Leggewie 2009, 122) und die deshalb schwieriger zu lösen sind. Die
Aufgabe bestehe darin, »… unteilbare in teilbare Konflikte zu verwandeln, also
aus dem ›Entweder-oder‹ ein ›Mehr oder Weniger‹ zu machen.« (Leggewie 2009,
123) Er nimmt hier die Unterscheidung von zwei Konfliktarten auf, die von
Albert O. Hirschman stammt: Dieser behandelt »… teilbare Konflikte des Mehroder-Weniger im Gegensatz zu den kategorischen Konflikten des EntwederOder beziehungsweise des Unteilbaren« (Hirschman 1994, 301).11 Als Beispiele
für letztlich teilbare Konflikte nennt er den gesellschaftlichen Streit um die
Verteilung des Sozialprodukts, als Beispiel für unteilbare Konflikte den Streit um
den Multikulturalismus oder um die Abtreibung. Man könnte die beiden Konfliktarten auch als Interessenskonflikte versus Anerkennungs- und Identitätskonflikte charakterisieren. Nach diesen analytisch allgemeinen Bemerkungen
von Leggewie folgen mehrere Fallbeispiele von Moscheebaukonflikten in
Deutschland (u. a. Essen, Frankfurt, Köln, München, Berlin) sowie pragmatische
Handlungsempfehlungen zugunsten eines konstruktiven Verlaufs von Moscheebauprojekten (cf. Leggewie 2009, 202 – 218).
2010 erschien die politikwissenschaftliche Dissertation von Farid Hafez, die
öffentliche Aussagen der politischen Parteien rund um die Moschee- und Minarettbauverbote durch die Länder Kärnten und Vorarlberg untersucht (Hafez
2010). Im Kern handelt es sich um eine diskursanalytische Untersuchung von
Presseaussendungen der politischen Parteien sowie der entsprechenden Landtagsdebatten in Vorarlberg und Kärnten in den Jahren 2007 und 2008. Die Bedeutung des Buches liegt in einer breiten Dokumentation des parteipolitischen
Diskurses rund um die Änderungen der Bau- und Raumordnungen in Kärnten
und Vorarlberg. Eine kurz gefasste Darstellung der Diskurse rund um die Änderungen der Bau- und Raumordnung in Kärnten und Vorarlberg bietet der
Artikel von Farid Hafez und Richard Potz (Hafez/ Potz 2009).
Neben diesen umfassenden Studien sind zahlreiche Fallstudien zu einzelnen
Moscheebaukonflikten in einzelnen Ländern, Regionen und Städten aus der
Perspektive verschiedener Disziplinen erschienen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen einige wichtige Publikationen angeführt werden. Die Grenzen
11 Diese Unterscheidung wurde bereits von Schmitt für die Analyse von Moscheebaukonflikten
aufgegriffen (cf. Schmitt 2003, 96).
Forschungsstand
41
werden allein sprachlich gezogen, wodurch mir z. B. die wissenschaftliche Literatur in Französisch und Niederländisch zum Thema nicht zugänglich ist.
Österreich: Für Österreich existiert ein kurzer Beitrag zum Konflikt rund um
den geplanten Ausbau eines ATİB-Zentrums in Wien, 20. Bezirk (Dammstraße)
aus politikwissenschaftlicher Sicht (Kübel/ Pfeffer/ Stöbich 2008). Im gleichen
Jahr erschien die politikwissenschaftliche Diplomarbeit von Jana Kübel zum
gleichen Fall (Kübel 2008); im analytischen Teil (84 – 97) übernimmt sie zur
Erklärung der Konfliktdynamik hauptsächlich das anthropologische Konzept
des »Gastrechts« auf Basis von Hüttermann (Hüttermann 2006). In einem jüngeren Beitrag vergleicht sie die Konflikte rund um den Ausbau des ATİB-Zentrums Dammstraße in Wien-Brigittenau und um den DİTİB-Moscheebau in
Köln-Ehrenfeld (Kübel 2012).
Deutschland: Für Deutschland liegen u. a. die frühen Untersuchungen zu den
Konflikten rund um den Moscheebau in Mannheim 1993 – 95 vor (Albert/
Kamran 1995; Alboga/ Albert 1996; Spuler-Stegemann 1998, 17 – 27).12 Einzelne
Fälle von Moscheebaukonflikten untersuchen auch die sozialgeographische
Arbeit zum Moscheekonflikt in Wächtersbach im Bundesland Hessen (R.
Schmitt 2003), der sozialanthropologische Beitrag zu einem Moscheebaukonflikt in Berlin (Jonker 2005) sowie soziologische Diplom- bzw. Magisterarbeiten
zum Moscheebauprojekt in Schlüchtern im Bundesland Hessen (Brunn 2006;
Hohmann 2007). In einer religionswissenschaftlichen Magisterarbeit an der
Universität Heidelberg untersucht Hanna L. Bauschke den Konflikt um den
Moscheebau in Köln-Ehrenfeld (Bauschke 2010).
Niederlande: Für die Niederlande liegen u. a. die Studie zum Bau einer türkischen Moschee in Tilburg durch Hermann Beck (Beck 2002), die Fallbeispiele
zu den drei Städten Deventer, Driebergen und Utrecht (Landman/ Wessels 2005),
die die überraschend geringe Intensität und den begrenzten Umfang der Moscheekonflikte in diesen Fällen belegen, sowie die beiden Fallbeispiele zu
Driebergen und Rotterdam (Landman 2010) vor. Wichtige Publikationen zum
Thema hat Thijl Sunier (Universität Amsterdam) vorgelegt, unter anderem eine
theoretisch anspruchsvolle und sorgfältige Analyse der Entwicklungen rund um
den Moscheebau in den letzten 25 Jahren in Rotterdam (Sunier 2005).
Großbritannien: Eine Pionierarbeit geht auf die Verhandlungen zu Moscheebauten zwischen muslimischen Organisationen und lokalen Behörden am
Beispiel von Birmingham ein; bei der Planung von Moscheebauten wurde durch
die 1970er Jahre hindurch von den Behörden Druck ausgeübt, dass die Gebäude
nicht wie Moscheen aussehen sollten. Zahlreiche Einreichungen wurden abgelehnt, weil sie als zu »orientalisch« befunden wurden (Hodgins 1981). In einem
12 Hinweis: Baumann 2000, 181, Fn. 7.
42
Einleitung
späteren Beitrag stellte Nielsen fest, dass Birmingham eine neue Politik eingeschlagen und sich die Situation für die muslimischen Organisationen verbessert
habe (Nielsen 1988). Gale (2004; 2007) schließt an diese frühen Arbeiten zu
Birmingham an, indem er die Interaktion zwischen den lokalen Bau- und Planungsbehörden und muslimischen Organisationen beim Bau von Moscheen
untersucht. Die Artikel stehen in einer Reihe instruktiver Beiträge zur Rolle der
Stadtplanung und der Baubehörden bei der Errichtung von Religionsbauten
ethnisch-religiöser Minderheiten in Großbritannien (Gale 1999; Gale/ Naylor
2002; Peach/ Gale 2003); sie zeigen u. a. den Widerstand der lokalen Stadtplanungsbehörden bei der Errichtung von kleinen Arbeiter-Moscheen auf.
Naylor und Ryan untersuchen die Geschichte des Baus der ersten Moschee in
London; sie interpretieren die öffentlichen Debatten über die Errichtung von
Moscheen als Verhandlungen über den ethnischen und religiösen Ausdruck des
Rechtes zur Stadt zu gehören (Naylor/ Ryan 2002). Ein Beitrag über die Planung
und Errichtung von Moscheen in Bradford untersucht die Umstände, warum es
im Fall von Bradford zu keinen Moscheebaukonflikten gekommen ist
(McLoughlin 2005). Ein politikwissenschaftlicher Beitrag beschäftigt sich mit
der Verhinderung eines Moscheebaus in Dudley (West Midlands) im Jahr 2007
(Reeves/ Abbas/ Pedroso 2009). Eine kurze Studie der Sheffield Hallam University untersucht die Errichtung einer großen Moschee in der nordenglischen
Stadt Sheffield (Bashir/ Flint 2008).
Italien: Moscheebaukonflikte in Norditalien untersuchen Saint-Blancat und
Schmidt di Friedberg aus politikwissenschaftlicher Sicht (Saint-Blancat/
Schmidt di Friedberg 2005).
Slowenien: Die Kontroversen rund um die Planung der ersten repräsentativen
Moschee in Slowenien in Ljubljana behandelt ein Artikel von Srečo Dragoš
(Dragoš 2005).
Griechenland: Zu den politischen Debatten und Kontroversen rund um die
Einrichtung einer repräsentativen großen Moschee in Athen sind u. a. Beiträge
von Anna Triandafyllidou und Ruby Gropas erschienen (Triandafyllidou/ Gropas 2009; Anagnostou/ Gropas 2010) erschienen.
Frankreich: Einen Überblick über die Situation des Moscheebaus in Frankreich bietet der Beitrag von Jocelyne Cesari (Cesari 2005b).
Spanien: Der Soziologe Avi Astor vergleicht die Region Katalonien mit anderen Regionen Spaniens und geht der Frage nach, warum im Umraum von
Barcelona die Opposition gegenüber Moscheebauten besonders stark ist, während sie um Umraum von Madrid nicht existiert (Astor 2009). Im August 2011
legte er an der Universität Michigan in Ann Arbor (USA) die Dissertation
»Mobilizing against Mosques: The Origins of Opposition to Islamic Centers of
Worship in Spain« vor. Aus der Dissertation ging eine Fallstudie zum Mo-
Forschungsstand
43
scheekonflikt in Badalona (Katalonien) hervor, wo die größte Kampagne gegen
einen Moscheebau organisiert wurde (Astor 2012).
Finnland: Im Rahmen seines Überblicks über Muslime in Turku beschreibt
der finnische Religionswissenschaftler Tuomas Martikainen den Konflikt um
den Bau eines islamischen Zentrums in Turku, der die nationalen Medien erreichte und auf lokaler Ebene über mehrere Monate debattiert wurde (Martikainen 2000).
Der von Stefano Allievi herausgegebene Sammelband Mosques in Europe
(Allievi 2010) bietet einen Überblick über Moscheebaukonflikte in verschiedenen europäischen Ländern, u. a. in Österreich (Fürlinger 2010).
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