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Albanische Frauen beweinen am 21. März 2004 im Dorf Çabër (serb.
Cabar) zwei ertrunkene Kinder. Das Gerücht, Kosovo-Serben aus der
nahe gelegenen, zwischen Albanern und Serben geteilten Stadt Mitrovicë (serb. Mitrovica) hätten die wehrlosen Opfer in den Fluss Ibër geworfen, löste eine Welle der Gewalt aus, die seit dem 16. März das Kosovo
überzog und in erster Linie serbische Wohngebiete, Kirchen und andere
Einrichtungen traf. Kosovo Force (KFOR) und United Nations Interim
Administration Mission (UNMIK) waren vom Ausmaß der Ausschreitungen vollkommen überrascht. Erst am 20. März ebbten die Auseinandersetzungen ab. Neben dem Hass zwischen den Ethnien offenbarten die
Ereignisse auch erhebliche Probleme bei der Früherkennung von Krisen
und bei der Reaktion auf gewalttätige Demonstrationen durch KFOR und
die Polizei der UNMIK. In den Medien wurde bei der Auswertung der
Märzunruhen die Frage gestellt, ob die im Kosovo beschrittenen Wege
der Konfliktlösung insgesamt zielführend seien.
Zurück in den Krieg?
Die Unruhen vom März 2004
Im Frühjahr 2004 ereigneten sich im Kosovo flächendeckende antiserbische Ausschreitungen, in deren Verlauf auf Seiten der Zivilbevölkerung 19 Tote und mehr als 1100 Verletzte, 17 zerstörte
Klöster und Kirchen, beinahe 120 demolierte Häuser und annähernd 4000 Vertriebene zu beklagen waren. KFOR und UNMIK,
die an vielen Orten in die Auseinandersetzung einbezogen wurden, verzeichneten 58 Verletzte, davon mehrere schwer. An Demonstrationen und Unruhen, die sich im Wesentlichen zwischen
dem 16. März und dem 20. März abspielten, beteiligten sich etwa
50 000 Menschen. Am 17. März mündeten die Ausschreitungen
schließlich vor allem in Prishtina, Graçanicë (serb. Gračania)
und Prizren in eine Welle der Gewalt, die nahezu alle kosovoserbischen Einrichtungen traf. Einen weltweit beachteten Höhepunkt fanden die Auseinandersetzungen mit der Zerstörung des
serbisch-orthodoxen Erzengelklosters im Bistrica-Tal bei Prizren. Die dort unter Führung eines Hauptfeldwebels eingesetzten deutschen KFOR-Krä�e konnten das Leben der bedrohten
serbischen Mönche re�en, die Vernichtung der auch historisch
bedeutsamen Klosteranlage durch einen Mob von mehr als 500
Personen jedoch nicht verhindern.
Das internationale Entsetzen über die Ausschreitungen ha�e
vor allem zwei Ursachen. Erstens offenbarte der Ausbruch von
Gewalt auf brutale Weise den zwischen Kosovo-Albanern und
Kosovo-Serben bestehenden Hass. Dieser schwelte unter der
Oberfläche der durch die Internationale Gemeinscha� vermittelten und überwachten Übergangsordnung und loderte nun
scheinbar aus heiterem Himmel wieder auf. Zu einem weltweiten Schock führte zweitens die Tatsache, dass sowohl militärische
wie zivile Akteure vor Ort vom Ausmaß der Gewalt vollständig überrascht wurden. Weder KFOR noch die UNMIK-Polizei
– durch die massenha�en Demonstrationen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und nur unzureichend für die Reaktion
auf gewal�ätige Demonstrationen ausgebildet und ausgerüstet
– waren zunächst in der Lage, den sich rasch ausbreitenden Flächenbrand einzudämmen.
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I. Historische Entwicklungen
Das Erzengelkloster (serb. Monastir Sveti Arhandjeli) liegt am Ufer
des Flusses Bistrica unweit der Stadt Prizren. Die südlich des Bistrica-Tals verlaufenden Berge des Schar-Gebirges bilden mit einer Höhe
von mehr als 2000 m eine natürliche Grenze zu Mazedonien. Aus
der Zeit des ausgehenden Großserbischen Reiches (Schlacht auf dem
Amselfeld, 1389) stammt die Kalaja-Festung oberhalb des Klosters.
Das Erzengelkloster selbst entstand zwischen 1348 und 1352, gestiftet vom vielleicht bedeutendsten serbischen Herrscher Dušan (Zar
Uroš IV.). Die Anlage umfasste die Nikolaus- und die Erzengelkirche sowie mehrere Unterkun�s- und Wirtscha�sgebäude. Sie war zu
ihrer Blütezeit Heimat für bis zu 250 Mönche. Das Kloster diente im
Mi�elalter – vergleichbar deutschen Kaiserpfalzen – den serbischen
Zaren als Aufenthaltsort bei ihren Reisen durch das Reich. 1455 zerstörten die Türken unter Sultan Mehmed II. im Zuge ihrer Eroberungen den Gebäudekomplex.
Erst 1998 wandelte sich das Erzengelkloster von einer unbewohnten
Ruine erneut zum orthodoxen Kloster, als sich sieben vom Belgrader
Patriarchen entsandte Mönche dort ansiedelten. Überwiegend moslemische Kosovo-Albaner aus Prizren zerstörten die Anlage während
der Unruhen vom 17./18. März 2004 und vertrieben deren Bewohner.
Nach der Rückkehr mehrerer Mönche unterstützte die Internationale
Gemeinscha� den Wiederau�au der Unterkun�sgebäude. Die ruinierte Klosteranlage wird nun dauerha� durch die KFOR gesichert.
Die Erzengelkirche beherbergte, Jahrhunderte lang unentdeckt, bis
1941 die Grabstä�e des Sti�ers Dušan (heute Markuskirche, Belgrad).
Das gesamte Kloster hat deshalb eine besondere symbolische Bedeutung, die aus serbischer Sicht weit über die anderer historischer Glaubensstä�en des orthodoxen Christentums hinausgeht. Entsprechend
ablehnend stehen radikale Kosovo-Albaner dem Kloster gegenüber, das
für sie die serbische »Fremdherrscha�« in der Provinz symbolisiert.
Die Auswertung der Märzereignisse in Deutschland konzentrierte sich besonders auf die Suche nach Fehlern bei der Reaktion
auf den Aufstand. Dabei gerieten neben den politischen Entscheidungsträgern auch KFOR und die Bundeswehr in die Kritik, da
sie ihren Schutzau�rag gegenüber der Bevölkerung des Kosovo
nicht erfüllt hä�en. Im Rahmen der Frage nach »lessons learned«
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SKA/IMZBw/Michael Mandt
Die Unruhen vom März 2004
Sicherung des Erzengelklosters durch KFOR, Aufnahme von 2005
ging es darum, Lehren für das operative wie strategische Krisenmanagement und vor allem für die Früherkennung ähnlicher
Entwicklungen zu ziehen. Hinzu traten andererseits jedoch auch
weit grundsätzlichere Überlegungen. In der deutschen Öffentlichkeit wurde die Frage laut, ob angesichts der März-Ereignisse
nicht die Strategien für die Konfliktbewältigung auf dem Balkan und das deutsche Engagement insgesamt in Frage gestellt
werden müssten. Die Verknüpfung lokaler Zwischenfälle mit
grundlegenden Fragen der internationalen Krisenbewältigung
verleiht den Märzunruhen bis heute eine erhebliche Bedeutung.
Einige Aspekte der Vorkommnisse sollen darum im Folgenden
analysiert werden.
Vorgeschichte und Rahmenbedingungen
Im Rückblick bilden die Märzunruhen den Höhepunkt einer
Reihe krisenha�er Ereignisse im Kosovo, die ein Spiegelbild der
komplizierten Lage in der Provinz sind. Am 16. Februar verha�ete
die UN-Polizei mehrere albanischstämmige Offiziere des KosovoSchutzkorps (Kosovo Protection Corps, KPC/Trupat Mbrojtëse
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I. Historische Entwicklungen
të Kosovës, TMK). Ranghöchster verha�eter Offizier war Brigadegeneral Selim Krasniqi, Kommandeur des Schutzkorps in Prizren.
Krasniqi und die übrigen Männer waren angeklagt, sich während
der antiserbischen Aufstände 1998 und 1999 als Kämpfer der
Kosovo-Befreiungsarmee (Ushtria Çlirimtare e Kosovës, UÇK)
Verbrechen an anderen Kosovo-Albanern schuldig gemacht zu
haben, darunter Mord und schwerer Raub. Schon einen Tag nach
der Verha�ung gingen in Prishtina die Anhänger Krasniqis auf
die Straße. Am 19. Februar organisierte die Veteranenorganisation »Freunde des Kosovo Protection Corps« eine Kundgebung
in Prizren.
Maßnahmen der Internationalen Gemeinscha� im Zusammenhang mit der UÇK heizten die Stimmung weiter an.
So begann am 27. Februar in Den Haag der Prozess des Internationalen Strafgerichtshofes (ICTY) gegen die ehemaligen
UÇK-Mitglieder Fatmir Limaj, Haradin Balaj und Isak Musliu, denen gleichfalls Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit vorgeworfen wurden. Der Prozess löste in
der kosovarischen Öffentlichkeit ein erhebliches Echo aus. Die
UÇK ha�e stets für sich in Anspruch genommen, während des
Krieges gegen das Regime von Slobodan Milošević alle internationalen Konventionen eingehalten zu haben. Nun standen
ranghohe Vertreter der UÇK als Kriegsverbrecher vor Gericht,
unter ihnen mit Fatmir Limaj sogar ein bekannter Nachkriegspolitiker und Vertrauter des Vorsitzenden der Demokratischen
Partei des Kosovo (Partia Demokratike e Kosovës, PDK), Hashim
Thaçi. Verhandelt wurde die Ermordung von mindestens 22
Gefangenen in einem Lager der UÇK. Neben Serben zählten
zu den Opfern auch Albaner, die sich geweigert ha�en, mit
der UÇK zusammenzuarbeiten und dafür im Sommer 1998 erschossen wurden.
Durch Wahlen in Serbien veränderte sich das politische Umfeld des Kosovo. Vojislav Koštunica, am 7. März 2004 zum Premierminister Serbiens gewählt, veröffentlichte neue Vorschläge
zur Au�eilung der Provinz in Kantone. Er lehnte die Entlassung
des Kosovo in die Unabhängigkeit ab und präsentierte sich dem
Westen gleichzeitig als ernst zu nehmender Verhandlungspartner, der sich an getroffene Vereinbarungen halten würde. Radikale kosovo-albanische Gruppen verweigerten die für März
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Die Unruhen vom März 2004
geplante Wiederaufnahme offizieller Gespräche mit Serbien
im Rahmen des »Belgrad-Prishtina-Dialogs« ebenso wie die in
Prishtina vorgesehenen Verhandlungen einer Arbeitsgruppe für
Energiefragen.
Auch die Bemühungen der Internationalen Gemeinscha�
zur direkten Regelung der Statusfrage des Kosovo sorgten für
Erbi�erung. Am 22. Januar ha�e der provisorische Präsident des
Kosovo, Ibrahim Rugova, vor dem Parlament in Prishtina zu den
Standards vorgetragen, die von den Behörden der Provinz als
Voraussetzung für die Statusfestlegung zu erfüllen seien. Diese
interpretierten albanische Kritiker als den Versuch der Internationalen Gemeinscha�, die endgültige Anerkennung der im
Au�au begriffenen Behörden zu verschleppen und brachten sie
mit »feindlichen« Akten der UNMIK wie der Schließung illegaler Geschä�e oder der Privatisierung kosovarischer Firmen in
Zusammenhang. Die hohe Arbeitslosigkeit und das von vielen
beklagte Fehlen von Zukun�sperspektiven verstärkten in der
Bevölkerung die Akzeptanz dafür, mit Blick auf die für Oktober
2004 angesetzten Wahlen im Kosovo »klare Verhältnisse« gegenüber den Kosovo-Serben zu schaffen. Albanische Hardliner
mögen auch die im Frühjahr in den Medien ausgetragenen Diskussionen über eine Reduzierung von KFOR als Ermunterung
verstanden haben, zu zeigen, wer Herr im kosovo-albanischen
Haus sein solle.
Das Au�reten einer neuen serbischen Regierung, international moderierte Versuche, in der Statusfrage des Kosovo
weiterzukommen, sowie subjektiv empfundenes oder tatsächlich erli�enes Unrecht von Bevölkerungsgruppen des Kosovo
bildeten die Rahmenbedingungen für die nun eskalierenden
Unruhen. Trotz internationaler Aktionen zur Demilitarisierung des Kosovo waren Waffen dort massenweise vorhanden.
Die Drahtzieher der Ausschreitungen konnten auf die starke
Präsenz der ursprünglich 25 000 Kämpfer starken UÇK in den
Veteranenverbänden, in mehreren radikalen Parteien sowie in
der Organisierten Kriminalität rechnen. Insgesamt bestanden
gute Voraussetzungen, um an seit langem als »hot spots« eingestu�en Orten wie Mitrovicë oder Prishtina die oberflächlich
ruhige aber nie stabile Lage innerhalb kürzester Zeit eskalieren
zu lassen.
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I. Historische Entwicklungen
Eskalation der Gewalt
Am 15. März fügten Unbekannte in Çagllavicë (serb. Caglavica) bei Prishtina einem 18-jährigen Kosovo-Serben lebensgefährliche Schussverletzungen zu. Dieser keineswegs
außergewöhnliche Vorfall – am 12. März war das Haus des
Präsidenten Ibrahim Rugova selbst Ziel eines Handgranatenanschlags gewesen – führte unmi�elbar nach der Tat und am
Folgetag zu he�igen Protestkundgebungen, in deren Verlauf
150 Kosovo-Serben die Nationalstraße nach Skopje südlich
von Prishtina blockierten.
Zeitgleich fanden am 16. März an 27 Orten Demonstrationen
sta�, bei denen bis zu 18 000 Menschen gegen die Verha�ung
von UÇK-Kämpfern protestierten. In den Augen der Demonstranten waren die Festnahmen gegen die albanische Bevölkerung
des Kosovo gerichtet. Insgesamt, so die Meinung der KosovoAlbaner, zog das Vorgehen gegen die Inha�ierten fundamentale,
während des antiserbischen Aufstandes mit Blut verteidigte (kosovo-albanische) Werte in den Schmutz.
Noch während die Demonstrationen in Gang waren, meldete
die UNMIK-Polizei, in Mitrovicë seien kosovo-albanische Kinder in den Fluss Ibër (serb. Ibar) gefallen, und forderte für die
Suche einen KFOR-Hubschrauber an. Unmi�elbar nach dieser
Meldung verbreiteten sich bis heute nicht bestätigte Gerüchte,
Kosovo-Serben hä�en die wehrlosen Kinder in den Fluss geworfen. Dieses Ereignis, das rasch die Wirkung mi�elalterlicher Ritualmord-Gerüchte entfaltete, wurde zusammen mit dem bereits
erwähnten Überfall auf einen Kosovo-Serben am 15. März zum
sprichwörtlichen Funken im Pulverfass. Vom 17. März an schlugen die bis dahin überwiegend friedlichen Demonstrationen in
gewal�ätige Ausschreitungen um, an denen sich wahrscheinlich
mehr als 50 000 Personen aktiv beteiligten. Eine Welle der Gewalt nahm in Prishtina, Graçanicë und Prizren ihren Ausgang,
breitete sich explosionsartig aus und erfasste fast alle serbischen
Siedlungsorte im Innern der Provinz. Am 18. März erreichten die
Auseinandersetzungen in 18 Orten des Kosovo einen weiteren
Höhepunkt. Lediglich in Prishtina, Çagllavicë, Rahovec (serb.
Orahovac) und Suharekë (serb. Suva Reka) blieb es an diesem Tag
bei weitgehend gewaltfreien Kundgebungen, während in der
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picture-alliance/dpa/Valdrin Xhemaj
Die Unruhen vom März 2004
In die Ausschreitungen wurden auch UNMIK und KFOR einbezogen:
brennendes UN-Fahrzeug in Prishtina.
übrigen Provinz in den serbischen Enklaven orthodoxe Kirchen
und Wohngebiete brannten sowie Kosovo-Serben in Panik aus
ihren Häusern flüchteten. Die Unruhen ebbten bis zum 20. März
langsam ab, zu schweren Ausschreitungen kam es beispielsweise noch in Mitrovicë.
Die antiserbischen Pogrome waren ein Ausdruck des zwischen den Volksgruppen angestauten Hasses. Ausmaß und Ablauf der Ereignisse legten allerdings auch die zentrale Steuerung
von Seiten kosovo-albanischer Extremisten nahe. Rückblickend
sind ein hoher Organisationsgrad und fünf Operationsräume
erkennbar, in denen zum Teil sogar ein koordinierter Transfer
von Demonstranten mit Bussen sta�fand, um an Brennpunkten
eine ausreichende Präsenz gewaltbereiter Aktivisten sicherzustellen. Die Aufrufe zu den Demonstrationen seit dem 16. Februar stammten von einem als »Organisationskomitee« bezeichneten Gremium, das nach eigener Aussage von verschiedenen
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I. Historische Entwicklungen
Veteranenverbänden und deren Jugendorganisationen, aber
auch von Parteien und einer Studentenorganisation beschickt
wurde. Nach den Gerüchten um den angeblichen Kindermord
bei Mitrovicë scheint vom Organisationskomitee aus der weitere Verlauf der Demonstrationen zentral gesteuert worden zu
sein. Auch wenn nicht von einer aktiven Beteiligung des KPC
an den Märzunruhen die Rede sein kann, muss zudem doch
zumindest von guten Verbindungen zwischen den Veteranenverbänden und dem KPC ausgegangen werden.
Früherkennung von Krisen?
Ziel der antiserbischen Übergriffe war das Schaffen von Fakten
durch Zerstörung und Vertreibung als Voraussetzung für ein
ethnisch »reines« Kosovo. Der Volksaufstand richtete sich mit
dem Erzengelkloster gegen ein Kernstück nationaler serbischer
Identität und sollte gleichzeitig die Unfähigkeit der Internationalen Gemeinscha� wie der kosovarischen Übergangsverwaltung demonstrieren, die Probleme der Provinz zu lösen. Damit
brachten die Aktionen das Prinzip politischer Konfliktlösung
insgesamt in Misskredit. Daneben waren die Ereignisse auch als
Versuch ehemaliger UÇK-Führer zu sehen, dem Wegbrechen der
eigenen Machtbasis entgegenzuwirken.
KFOR und UNMIK erkannten frühzeitig das Potenzial zur
Gewalteskalation, da viele Kosovo-Albaner grundsätzlich Bereitscha� zeigten, spontan und gewaltsam gegen Serben vorzugehen. Der harte Kern organisierter Demonstranten war eingebunden in ein diffuses Massenumfeld, das sich durch politische
Parolen und den Appell an die allgemeine Unzufriedenheit
rasch und leicht mobilisieren ließ. Die Vorhersage exakter Eskalationspunkte mit den Mi�eln der operativen und strategischen
Au�lärung erwies sich unter solchen Umständen allerdings als
extrem schwierig. Die Täter konnten auf nur schwer aufzuklärende und kaum störbare Netzwerke zurückgreifen, deren Basis
neben modernen Kommunikationsmi�eln auch feste großfamiliäre Strukturen waren. Diese führten teilweise bis in die Kreise
der Organisierten Kriminalität.
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Die Unruhen vom März 2004
Während der Ausschreitungen wurde die problematische
Lage der internationalen Einsatzkrä�e am deutlichsten sichtbar. Sie zeigte sich im wiederholt angewandten Verfahren der
Unruhesti�er, die KFOR zunächst durch gewaltbereite Demonstrationszüge zu binden, um zeitgleich gut ausgebildeten Kommandos die Möglichkeit zu geben, zuvor erkundete Objekte wie
serbische Klöster, Kirchen oder Wohnhäuser zu zerstören. Die
Angreifer agierten äußerst flexibel, wobei Chancen für handstreichartige Aktionen unter den Augen der KFOR kaltblütig genutzt wurden. Militärische Führer der KFOR – häufig auf Ebene
der Zugführer – mussten vor Ort in einer unklaren Lage binnen
Minuten die Entscheidung treffen, ob sie durch den Einsatz von
Gewalt bis hin zum Schusswaffengebrauch Opfer unter den teils
aus Frauen und Kindern bestehenden Demonstranten in Kauf
nehmen wollten.
Lassen sich Krisen wie die Märzunruhen vorhersagen? Rückblickend sind Ereignisfolgen zu erkennen, die auf die Ausschreitungen hinwiesen. Auf der Liste unmi�elbarer Warnindikatoren
ganz oben steht beispielsweise das Gerücht vom angeblichen
Kindermord in Mitrovicë. Die Sensibilität der internationalen
Einsatzkrä�e für derartige »key indicators« – so lautet neben der
Verbesserung von Ausbildung und Ausrüstung für die »crowd
and riot control« eine zentrale Schlussfolgerung aus den Ereignissen – ist ein entscheidender Faktor für angemessenes Handeln. Gemeinsam mit den Versuchen, in einem komplexen Umfeld schon im Vorfeld entsprechende planerische Aktivitäten
zu erkennen, kann das Herausfiltern von Schlüsselsignalen aus
dem ständigen Grundrauschen der Warnmeldungen dabei helfen, den Ausbruch von Krisen besser vorherzusehen. Dabei sind
sowohl Erfahrung als auch Glück notwendig. Die exakte Bestimmung von Eskalationspunkten wird auch zukün�ig o� nur aus
der bequemen und sicheren Rückschau möglich sein.
Bernhard Chiari
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