Aus vier Ausgaben der „Berichte aus Bonn“: Vom Neandertaler bis zu Karl dem Großen: 1 / 2016, 28–29 Die Vogelfigur von Andernach: 2 / 2013, 14–15 Hermann Schaaffhausen zu Ehren: 1 / 2011, 2–4 Die Spur führt nach Irland: 2 / 2014, 2–3 Vom Neandertaler bis zu Karl dem Großen Leben und Werk des Bonner Anatomen Hermann Schaaffhausen Ursula Zängl, Susanne Haendschke, Joachim Schleifring und Ralf W. Schmitz Im Gegensatz zu anderen Gelehrten des 19. Jahrhunderts ist, dass nicht Hermann Schaaffhausen, sondern der Brite ist Hermann Schaaffhausen einer breiteren Öffentlichkeit William King dem Fund seinen wissenschaftlichen Namen weitgehend unbekannt geblieben. Dies ist vor dem Hin- gab: Homo neanderthalensis. tergrund seiner engen Verbindung zum weltberühmten Neben dem Neandertaler beschäftigte sich Schaaffhau- Fund des Urmenschen aus dem Neandertal erstaunlich. sen auch mit anderen Fragen, etwa der, ob im Neuwieder Am 19. Juli 1816 als Sohn eines wohlhabenden Fabrikan- Becken bereits Menschen vor dem großen Bims-Ausbruch ten in Koblenz geboren, wuchs er in ein Jahrhundert hinein, des Laacher-See-Vulkanes gelebt hatten. Diese Frage das in Bezug auf wissenschaftliche Veränderungen seines- konnte 1883 auf das Vortrefflichste geklärt werden, denn in gleichen sucht. Studienjahre in Berlin und Bonn brachten Andernach fand sich unter dem Bims eine Station der Eis- ihn früh mit den drängendsten Fragen der sich entfalten- zeitjäger, an deren Ausgrabung er mitwirkte. Steingeräte den Naturwissenschaften in Berührung, nach der Promo- und Knochenreste erlegter Tiere traten zutage, es war eine tion 1839 erfolgte fünf Jahre später seine Habilitation mit wissenschaftliche Sensation, dass hier so früh Menschen anschließender Lehrtätigkeit an der Bonner Universität. gelebt hatten, wenngleich das Alter des Lagerplatzes, rund Im Winter 1856/57 kam es zu einer folgenschweren Begeg- 16 000 Jahre, damals noch nicht genau abzuschätzen war. nung, die nicht nur sein akademisches Leben für immer Spätere Grabungen an gleicher Stelle und an der gleich- verändern sollte: Johann Carl Fuhlrott, wissenschaftlicher alten Fundstelle Gönnersdorf brachten auch eine große Entdecker des Neandertalerfundes, besuchte mit den Ske- Zahl von gravierten Schieferplatten zu Tage. Die internatio- lettresten die Bonner Universität und gelangte durch krank- nal berühmten Kunstwerke zeigen ein breites Spektrum an heitsbedingte Vertretung an Hermann Schaaffhausen – ein eiszeitlichen Tieren. In der alten Grabung sind diese Plat- Glücksfall für die Paläoanthropologie, denn Schaaffhau- ten aufgrund der nur noch hauchdünn erkennbaren Ritzli- sen war ein progressiver, aufgeschlossener Wissenschaft- nien übersehen worden. Dennoch kann Schaaffhausen als ler, der bereits 1853, also sechs Jahre vor Darwins revolu- Entdecker der Eiszeitkunst im Rheinland gelten: die kor- tionärem Werk, einen Beitrag mit dem selbsterklärenden rekte Ansprache eines zu einer Vogeldarstellung umgear- Titel „Über Beständigkeit und Umwandlung der Arten“ pub- beiteten Stückes Rengeweih rechtfertigt diese Einstufung. liziert hatte. Der „Neandertaler Mensch“ war also bei ihm Es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, auch nur in besten Händen, und tatsächlich kämpften Fuhlrott und auszugsweise die Funde zu benennen, an denen Schaaff- Schaaffhausen in den folgenden Jahrzehnten intensiv und hausen arbeitete. Ein weiterer Punkt, der sicherlich auch letztlich erfolgreich für die Anerkennung des Skelettes als von ihm als besonders reizvoll empfunden wurde, ist die urtümliche Menschenform. Untersuchung der Gebeine Karls des Großen. Nur sehr sel- Die Vorgängerinstitution des LVR-LandesMuseums erwarb ten wird der Schrein im Aachener Dom geöffnet, im Juli des den Fund 1877 von den Erben Fuhlrotts, die das Skelett Jahres 1874 wurde Schaaffhausen als führender Anthro- ins Ausland verkaufen wollten. Lange Zeit blieb es unge- pologe hierzu eingeladen. Als man im Zuge von Restaurie- klärt, aus welcher Quelle die Kaufsumme von 1000 Gold- rungsarbeiten im Oktober 1988 den Schrein erneut öffnete, mark stammte, jüngere Recherchen belegen aber eindeu- bat man den dritten Autor dieses Beitrages als Anthro- tig, dass Schaaffhausen den Fund für das Museum kaufte. pologen mit hinzu. Im Schrein fanden sich die noch vor- Somit verdankt das Haus ihm sein unumstritten bedeu- handenen Skelettreste Karls auf einer stoffüberzogenen tendstes Sammlungsobjekt. Die weitere Beschäftigung mit Holzplatte aufgenäht. Die Sichtung, Sortierung und Bestim- dem Skelett währte bis unmittelbar vor dem Tod Schaaff- mung derselben hatte offensichtlich Schaaffhausen 1874 hausens im Januar 1893, Höhepunkt war sicherlich die angeregt und daran teilgenommen. Leider ist das Protokoll Vorlage seiner Publikation „Der Neanderthaler Fund“ fünf nicht im Schrein verblieben; es ist derzeit nicht auffindbar. Jahre zuvor, in der er den Neandertaler detailliert mit den Immerhin fanden sich mehrere kleine Säckchen, die Kno- 1886 entdeckten Skeletten von Spy vergleicht. Erstaunlich chenstücke, Zahnwurzel- und Gewebsreste enthielten. Die 28 identifiziert werden, sie tragen entweder den Besitzvermerk Schaaffhausens oder sind ihm von anderen Gelehrten handschriftlich gewidmet. Gemeinsam mit Bänden aus anderem Besitz werden nun die Titel virtuell zusammengeführt. Das LVR-LandesMuseum Bonn zeigt vom 19. Juli bis zum 16. Oktober 2016 eine Präsentation anlässlich Hermann Schaaffhausens 200. Geburtstag. In dieser Ausstellung sind Zeugnisse zu Leben und Werk Schaaffhausens ebenso zu sehen wie archäologische Funde aus seinen Ausgrabungen und virtuelle wie originale Bücher aus der Bibliothek des großen Bonner Gelehrten, in denen auch geblättert werden 1 Notizblatt aus dem Schrein Karls des Großen zu mutmaßlichem mumifiziertem Muskelgewebe Karls, unterzeichnet von Schaaffhausen. darf. aufgenähte oder beigegebene Beschriftung stammt von Schaaffhausen und ist von diesem eigenhändig unterzeich- Literatur: net (Abb. 1). J. H. Schleifring, Protokoll der Rekognoszierung der Gebeine Die beschriebenen Beispiele mögen das Tätigkeitsfeld des Karls des Großen, Aachen. Unveröffentlichtes Manuskript international renommierten Gelehrten beleuchten, der auch (1988). dem traditionsreichen „Verein von Altertumsfreunden im J. H. Schleifring, „In diesem Grab ruht Karl …“. Das Rhein. Rheinlande“ von 1877 bis 1893 zunächst als Vizepräsident, Landesmuseum Bonn. Berichte aus der Arbeit des Museums dann als Präsident vorstand. 6/89 (1989) 89–92. Schaaffhausens umfangreiche Bibliothek galt lange als U. Zängl-Kumpf, Hermann Schaaffhausen (1816–1893). verloren. In den vergangenen Jahren konnten aber bis- Die Entwicklung einer neuen physischen Anthropologie im her 171 Bände in der Bibliothek des LVR-LandesMuseums 19. Jahrhundert (Frankfurt; R. G. Fischer 1990). 2 Marmorplatte mit Inschrift zu Ehren Schaaffhausens aus dem ersten Vorläufergebäude des Landesmuseums von 1893. 29 Die Vogelfigur von Andernach – Hermann Schaaffhausen und die Entdeckung der eiszeitlichen Kunst im Rheinland Ralf W. Schmitz Betrachtet man einen Bildband zur Archäologie des Eiszeit- Namen Hermann Schaaffhausen verbunden. Schaaffhau- alters in Europa, so fällt unmittelbar ein breites Spektrum an sen (1816 – 1893) lehrte als Anatom und Prähistoriker an der altsteinzeitlichen Kunstwerken ins Auge. Dieses reicht von Bonner Universität, seine attraktiven Vorlesungen erfreuten der figürlichen Kunst des Aurignacien vor rund 35 000 Jahren sich großer Beliebtheit. Als Vorstandsmitglied des Vereins über die etwa 10 000 Jahre später auftretenden Frauensta- von Altertumsfreunden im Rheinlande war er nicht nur dem tuetten des Gravettien bis hin zu den über 15 000 Jahre alten Verein, sondern auch dem institutionellen Vorläufer des Lan- Höhlenmalereien des Magdalénien von Lascaux oder Alta- desmuseums in besonderer Weise verbunden. Seine Gra- mira und den nachfolgenden Objekten der späten Altsteinzeit. bungsfunde gelangten als Eigentum des Altertumsvereines Während andere Regionen Europas, wie etwa die Schwä- in unser Haus, auch der Ankauf des bedeutendsten Objektes bische Alb oder die frankokantabrische Höhlenprovinz, aus fast 200-jähriger Sammeltätigkeit, des namengebenden mit derartigen Schätzen reich gesegnet sind, steht es um Neandertalers von 1856, geht auf seine Initiative zurück. Als das Mittel- und Niederrheingebiet diesbezüglich deutlich Wissenschaftler mit hervorragenden Kontakten im In- und ungünstiger: Kunstwerke aus dem ältesten Abschnitt der Ausland ist er zumeist als Begründer der Paläoanthropo- Anwesenheit des Cro-Magnon-Menschen sind gar nicht logie und als wissenschaftlicher Erstbearbeiter des „Nean- bekannt, und die Kunst des Gravettien ist mit den beiden derthaler-Fundes“ bekannt. Dass diesem bedeutenden For- Frauenstatuetten aus Mainz-Linsenberg und den Elfenbein- scher, dessen 200. Geburtstag wir in drei Jahren feiern, auch armringen aus der Magdalena-Höhle bei Gerolstein trotz der die Ehre der Entdeckung der eiszeitlichen Kunst im Rhein- Güte dieser Funde überschaubar. land zukommt, ist hingegen weniger geläufig. Schaaffhau- Wesentlich günstiger ist die Quellenlage für die Funde des sens eigentliches Ziel war es, mit der Andernacher Grabung Magdalénien. Während viele der älteren Fundplätze längst den Nachweis zu führen, dass Menschen bereits vor dem der Erosion zum Opfer gefallen sind, kennen wir eine Reihe großen Ausbruch des Laacher-See-Vulkans im Rheinland aussagekräftiger Fundstellen des Magdalénien in unserer gelebt hatten. Wie wir heute wissen, fand die gewaltige Erup- Region. Basierend hierauf war es auch für das Mittel- und tion im Jahr 10 966 vor Christus statt. Die Fundschicht des Niederrheingebiet möglich, das Siedlungssystem dieser Magdalénien fand sich in Andernach unter den Bims-Abla- Jäger und Sammler zu verstehen: Ein zentrales Basisla- gerungen des Vulkans, damit war der Nachweis gelungen. ger, bewohnt während einer Jahreszeit, wird von einer Reihe Die aus späteren Grabungen bekannten, in verschmutztem kleinerer, kurzlebiger Satelliten-Camps mit Jagdbeute, Zustand kaum zu erkennenden, hauchfeinen Gravierun- gesammelter Nahrung, Steingeräten oder anderen Ressour- gen der Schieferplatten blieben dem frühen Forscher noch cen beliefert. Diese Camps weisen zumeist ein relativ enges weitgehend verborgen, hierzu findet sich nur die Bemer- Spektrum an Feuersteingeräten auf, was ihre spezielle Funk- kung „…eines ist durchbohrt, ein anderes hat unregelmäs- tion unterstreicht. Die Basislager hingegen zeigen als Wohn- sige Kritze, die wie von einem Kinde mit dem Feuerstein stätte der gesamten Gruppe ein breites Werkzeugspektrum eingekratzt sind.“ (Schaaffhausen 1888: 27). Blieb auch die und intensive Spuren des Kunstschaffens. Diese manifes- Fülle der Gravierungen seinerzeit unentdeckt, so darf Her- tieren sich in den berühmten Camps von Gönnersdorf und mann Schaaffhausen durch die Identifizierung und Beschrei- Andernach am Mittelrhein in besonderer Weise: Frauenfi- bung der 10 Zentimeter messenden Vogelfigur von Ander- guren aus Knochen, Geweih und Elfenbein, weiterhin detail- nach dennoch als Entdecker der Eiszeitkunst im Rheinland getreue, auf Schieferplatten gravierte Tiere zählen zu den gelten: „Das schönste Schnitzwerk unter den bearbeiteten beeindruckendsten Funden eiszeitlicher Kunst in Europa. Knochen ist ein unteres Geweihstück vom Rennthier, wel- Die Andernacher Fundstelle weist jedoch noch ein weite- ches zu einem Vogel geschnitzt ist und die Handhabe eines res, einmaliges Kunstwerk auf, das den Bogen zur Über- Steinmessers war, wie die Höhlung unten zeigt. Es sind zwei schrift des Beitrages schließt: die Vogelfigur von Andernach. Perlen der Krone des Geweihs benützt, um die Augen des Ihre Entdeckung datiert in das Jahr 1883 und ist mit dem Vogels darzustellen, dessen Schnabel an der Wurzel breit, 14 gerade und spitz ist, die Federn des Kopfes sind wie zu einer Literatur: Haube aufgerichtet. Flügel und Schwanz sind mit Längsstrichen deutlich angedeutet“ (Schaaffhausen 1888: 27). Schaaffhausen, H. 1888: Die vorgeschichtliche Ansiedelung Auch 130 Jahre nach der ersten Ausgrabung ist die Vogelfi- in Andernach.- Bonner Jahrbücher 86: 1-41 + Tafel 1-3. gur von Andernach in ihrer Art einzigartig. Sie ist seit 2006 Symbol und in Kopie exklusives Geschenk für den jeweiligen Zängl-Kumpf, U. 1990: Hermann Schaaffhausen (1816- Referenten des jährlichen Hermann-Schaaffhausen-Vortra- 1893). Die Entwicklung einer neuen physischen Anthropolo- ges zu Ehren des großen Gelehrten. gie im 19. Jahrhundert.- Frankfurt. 1 Zeichnung der Vogelfigur aus Schaaffhausen 1888. 2 Foto der Vogelfigur 2013. 15 Hermann Schaaffhausen zu Ehren: Eine neue Vortragsreihe Ralf W. Schmitz Im Jahr 2006, anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Umwandlung der Arten“ verfasst, worin er auch auf die Entdeckung des Neandertalers, begründete das Landesmu- Mechanismen der Veränderung, insbesondere Umweltfak- seum eine neue Vortragsreihe zu Ehren des Bonner Gelehr- toren, einging. Eine Entwicklung des Menschen von urtüm- ten Professor Dr. Hermann Schaaffhausen (1816–1893) (Abb. lichen Formen hin zum heutigen Erscheinungsbild hielt er 1). In jährlichem Abstand wird eine Person aus den Fach- ebenfalls für möglich: „Was die Erschaffung des Menschen gebieten Archäologie des Eiszeitalters oder Paläoanthro- betrifft, soll es seiner unwürdig sein, wenn wir ihn als die pologie, die besondere Verdienste um die Erforschung des höchste und letzte Entwicklung des thierischen Lebens be- eiszeitlichen Menschen und seiner Kultur erworben hat, als trachten, und jeden Vorzug seiner Natur aus der Vollendung Referent eingeladen. seines Organismus herleiten; ist er darum weniger gut aus Hermann Schaaffhausen, wissenschaftlicher Erstbearbeiter der Hand seines Schöpfers hervorgegangen, wenn dieser in des Neandertalers und Begründer der Paläoanthropologie in dem dunkeln Schoosse ungezählter Jahrtausende die Thier- Deutschland, wurde international vorrangig durch seine Ar- gestalt nach und nach veredelte, bis das menschliche Gebil- beiten zum Neandertaler-Fund von 1856 bekannt (zu Leben de, das man sein Ebenbild genannt hat, erreicht war?“. und Werk siehe Zängl-Kumpf 1990). Es darf als Glücksfall Mit Fuhlrott trat er für ein hohes Alter der Entdeckung ein gewertet werden, dass der Entdecker des Fundes, der Elber- und sah sich daher heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Bei- felder Naturforscher Johann Carl Fuhlrott, auf Schaaffhau- spielsweise vertrat der berühmte Berliner Pathologe Rudolf sen traf und ihm die Untersuchung übertrug. Schaaffhausen Virchow die Fehlmeinung, die vom heutigen Menschen ab- stand dem Evolutionsgedanken aufgeschlossen gegenüber weichenden Skelettmerkmale seien durch Krankheit ver- und hatte bereits 1853, also sechs Jahre vor Veröffentlichung ursacht und eben keine anatomischen Charakteristika. Der der Theorie der Evolution durch Charles Darwin, einen Auf- „Homo neanderthalensis“ wurde in der zweiten Hälfte des satz mit dem vielsagenden Titel „Ueber Beständigkeit und 19. Jahrhunderts zum Kristallisationspunkt der Kontroverse um die Existenz urtümlicher Vorfahren des Menschen, 1 Hermann Schaaffhausen. die bald alle Gesellschaftsschichten erfasste. Die Einladung des berühmten britischen Geologen Charles Lyell in das Neandertal durch Schaaffhausen im Jahr 1860 war ein geschickter Schachzug, denn wenige Jahre zuvor hatte sich die britische Urgeschichtsforschung durch Aufsehen erregende Grabungen als ernst zu nehmendes Fach etabliert. Schaaffhausen, der französischen Sprache mächtig, verstand es auch, das Mutterland der Urgeschichtsforschung einzubeziehen. Selbst in den extrem schwierigen Jahren rund um den Deutsch-Französischen Krieg rissen diese Kontakte nicht ab. Einer der berühmtesten Prähistoriker dieser Zeit, Gabriel de Mortillet aus Paris, hatte wesentlichen Anteil an der Gliederung der Altsteinzeit in verschiedene Kulturstufen. Im hier erstmals veröffentlichten Schreiben von 1867 bittet Schaaffhausen den französischen Kollegen, seinen kurzen Beitrag über den Neandertaler-Schädel trotz verspäteter Abgabe doch noch für den Nachfolge-Band eines internationalen Kongresses in Paris zu berücksichtigen (Abb. 2). Mit derartigen Publikationen erfuhr der Neandertalerfund auch im Mutterland der Vorgeschichtsforschung eine zunehmende Diskussion. Schaaffhausens besonderes Augenmerk galt stets der Ent- 2 wicklung des eiszeitlichen Menschen und seiner Kultur. Wiederholt setzte er sich dabei auch für die Erforschung der einheimischen Höhlen ein: „Man kann nicht laut genug den Wunsch aussprechen, dass, wie es jetzt in Frankreich und Belgien geschieht, auch in den an Höhlen reichen Gegenden unserer beiden westlichen Provinzen eine jede solche Aufgrabung planmässig unter Aufsicht eines Sachverständigen geschehen möge.“ (1866: 48). Er führte auch entsprechende Grabungen durch, so z. B. 1883 an der späteiszeitlichen Freilandfundstelle Andernach-Martinsberg (1888a). Hier gelang ihm der Nachweis, dass Menschen bereits vor dem Ausbruch des Laacher See-Vulkans im Rheinland lebten. Der an dieser Fundstelle entdeckte, aus Rengeweih geschnitzte Vogelkopf ist eines der bedeutendsten altsteinzeitlichen Exponate des Landesmuseums und dient als Logo der neuen Vortragsreihe (Abb. 3). Drei Jahre nach dem Erfolg von Andernach entdeckte man im belgischen Spy in Höhlenablagerungen eiszeitliche Tiere, Steingeräte und zwei Skelette vom Neandertal-Typus. Bereits zwei Jahre später veröffentlichte Schaaffhausen sein zusammenfassendes Werk zum Neandertaler „Der Neanderthaler Fund“ (1888b), in dem er das Skelett mit den Neufunden von Spy vergleicht. Auf Betreiben Schaaffhausens, aktiv im Verein von Altertumsfreunden im Rheinlande, bewahrte das Landesmuseum den originalen Neandertaler nach Fuhlrotts Tod im Jahre 1877 vor einem Verkauf in das Ausland. Zeitlebens blieb Schaaffhausen der Erforschung des bedeutendsten Exponates unseres Hauses verbunden. 2 Bislang unveröffentlichter Brief Schaaffhausens an Gabriel de Es ist nur konsequent, dass der erste Hermann Schaaffhau- Mortillet. sen-Vortrag am 19. 7. 2006, dem Geburtstag Schaaffhausens, sich inhaltlich mit dem Schicksal der Neandertaler Es handelt sich dabei um Symbole, deren Bedeutung den beschäftigte. Der an der Illinois State University lehrende Zeitgenossen bekannt war. Anthropologe Prof. Fred H. Smith Ph.D. referierte in gutem Tief in die Welt der Molekularbiologie führt der dritte Vortrag, Deutsch die derzeit diskutierten Modelle von der Entstehung den Dr. Matthias Krings 2008 präsentierte. Der Referent ge- und Ausbreitung des anatomisch modernen Menschen und hörte zum Team des bedeutendsten Paläo-Genetikers, Prof. dem Verschwinden der Neandertaler. Dabei sprach Fred Dr. Dr. Svante Pääbo, heute Max-Planck-Institut für Evolu- Smith sich gegen eine Abtrennung der Neandertaler als ei- tionäre Anthropologie, Leipzig. Krings gelangen im Rahmen gene Art “Homo neanderthalensis“ aus und plädierte für die des Forschungsprojektes Neandertal (www.rlmb.lvr.de/mu- Neandertaler als Unterart „Homo sapiens neanderthalen- seum/forschung/neandertaler.htm) 1996 die weltweit ersten sis“ unserer eigenen Spezies. genetischen Untersuchungen an einem Neandertaler. Den zweiten Vortrag im Folgejahr hielt Prof. Dr. Dr. Gerhard Im Rahmen des vierten Vortrages im Jahre 2009 ließ Prof. Bosinski, langjähriger Dozent für Urgeschichte an der Uni- Dr. Hansjürgen Müller-Beck, langjähriger Ordinarius für Ur- versität zu Köln und Leiter des Forschungsbereiches Alt- geschichte an der Universität Tübingen, das Auditorium an steinzeit des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in den Ergebnissen seiner Forschungsarbeit in Europa, Sibirien Neuwied-Monrepos. Er berichtete über die Frauendarstel- und der kanadischen Arktis teilhaben. Der Referent belegte lungen in der Kunst des Magdalénien vor rund 15 500 Jah- die Herkunft der arktischen Eskimo-Kulturen und der frühe- ren. Während die Tiere in dieser Zeit sehr lebendig und mit sten Ur-Bevölkerung Amerikas aus den eurasischen Jäger- vielen anatomischen Details dargestellt wurden, sind Frauen Kulturen der späten Eiszeit. ohne Kopf und Füße abgekürzt und schematisch abgebildet. Im vergangenen Jahr stellte Prof. Dr. Sabine Gaudzinski- 3 Windheuser, Dozentin an der Universität Mainz und Leiterin Literatur: des Forschungsbereiches Altsteinzeit des Römisch-Germanischen Zentralmuseums, Neuwied-Monrepos, ihre aktu- H. Schaaffhausen, Ueber Beständigkeit und Umwandlung ellen Forschungen zur Kultur der Neandertaler vor. Dabei der Arten.- Verhandlungen des naturhistorischen Vereines zeichnete sie das Bild der Neandertaler als äußerst effizi- der Preussischen Rheinlande und Westphalens 10, 1853, ente und geschickte Großwildjäger mit ausgeprägtem Sozi- 420–451. alverhalten. H. Schaaffhausen, Vortrag über europäische Funde von Steinartefakten sowie menschlichen und tierischen Ske- Insgesamt belegen die Vorträge eindrucksvoll den Fort- lettresten.- Verhandlungen des Naturhistorischen Vereines schritt der Erforschung des eiszeitlichen Menschen und der Preussischen Rheinlande und Westphalens 23, 1866, 46- seiner Kultur in den vergangenen Jahrzehnten. Dabei hat 58. insbesondere die Menschenform Neandertaler noch längst H. Schaaffhausen, Die vorgeschichtliche Ansiedelung in An- nicht alle Geheimnisse preisgegeben. Dies gilt trotz 155 Jah- dernach.- Bonner Jahrbücher 86 (Bonn 1888), 1–41. ren Forschung auch für den namengebenden Fund, jenem H. Schaaffhausen, Der Neanderthaler Fund.- (Bonn 1888). Fossil, das Schaaffhausens Leben so nachhaltig prägte und U. Zängl-Kumpf, Hermann Schaaffhausen (1816–1893. Die das er nicht nur im Brief an de Mortillet als „mein spezielles Entwicklung einer neuen physischen Anthropologie im 19. Untersuchungsobjekt“ bezeichnete. Jahrhundert.- (Frankfurt 1990). Anm.: Für die Übersetzung des Schaaffhausen-Briefes danke ich Herrn Luc Moreau, Universität Tübingen. 3 Vogelkopf aus Rengeweih, Andernach, Grabung Schaaffhausen. 4 Die Spur führt nach Irland – Wie der Neandertaler zu seinem wissenschaftlichen Namen kam Ralf W. Schmitz und Ursula Zängl Im Mai 2014 richtete die National University of Ireland in Gal- 1849 Professor in Galway, erfolgte, fand in jeder Ansprache way eine internationale Tagung aus, um das 150. Jubiläum und in den Vorträgen ihren Niederschlag. der wissenschaftlichen Benennung des ersten erkannten, Doch wie war es dazu gekommen, dass ein britischer Geo- heute im LVR-LandesMuseum Bonn ausgestellten Nean- loge, der sich bis dahin kaum mit menschlichen Überres- dertalers gebührend zu würdigen. Die mehrtägige Veran- ten beschäftigt hatte, dem heftig umstrittenen Fund aus dem staltung mit renommierten Experten aus den Fachbereichen Neandertal seinen wissenschaftlichen Namen gab und ihn Geologie / Paläontologie, Archäologie, Anthropologie, Klima- damit zum Typusexemplar einer neu entdeckten, fossilen forschung und Genetik fand in Anwesenheit des Präsiden- Menschenform erhob? ten der Republik Irland und unter hohem medialen Interesse Seit seiner Entdeckung durch Steinbrucharbeiter im Som- statt. Die Tatsache, dass die Benennung „Homo neandertha- mer 1856 hatten es weder der Neandertaler-Fund noch lensis“ im Jahr 1864 durch den Geologen William King, seit seine wissenschaftlichen Befürworter in Europa leicht gehabt. Die Diskussion um die berühmten 16 Knochen aus 1 William King (1809 – 1886). der Kleinen Feldhofer Grotte war durchsetzt von Polemik und Anfeindungen. Während sich der wissenschaftliche Entdecker des Fundes, Johann Carl Fuhlrott, und der Bonner Anatom Hermann Schaaffhausen um eine Versachlichung der Diskussion bemühten, erfolgten zahlreiche, teils völlig absurde „Deutungen“ des Skelettes aus dem Kreise in- und ausländischer Wissenschaftler. Die viel zitierte Fehlinterpretation Rudolf Virchows der knöchernen Merkmale als krankhafte Veränderungen spielte im Streit der frühen Jahre aber noch keine Rolle, sie erfolgte erst 1872. Insgesamt war die Situation um 1860 relativ verfahren: Die Gegner des Neandertalers ersannen immer neue „Belege“ für das geringe Alter der Knochen, ohne aber letztlich einen Nachweis führen zu können. Den Befürwortern des fossilen Menschen stand noch keine der heutigen Datierungsmethoden zur Verfügung, um das vermutete hohe Alter des Fundes zu belegen; auch hatte die unsachgemäße Bergung durch Steinbrucharbeiter dazu geführt, dass es keine eiszeitlichen Tierknochen oder Steingeräte als Begleitfunde des Neandertalers gab. Wie wir aus unseren Nachgrabungen der Jahre 1997 und 2000 wissen, hätte eine sorgfältige Grabung den Neandertaler mit typischen Feuersteingeräten und den Knochen von Wildpferd, Ren und Mammut vergesellschaftet – die weitere Diskussion wäre mit Sicherheit günstiger verlaufen. Somit war der Neandertaler bei seiner Interpretation auf wissenschaftliche Fairness angewiesen – und diese kam mit den britischen Gelehrten ins Spiel. Am 24. Juli 1860 besuchte der berühmte britische Geologe Sir 2 Charles Lyell das Neandertal. Auf Einladung Schaaffhausens und in Begleitung Fuhlrotts besichtigte er die bereits weitgehend abgebaute Kleine Feldhofer Grotte. Lyells Besuch leitete eine wissenschaftliche Wende ein: Ausgestattet mit seiner eigenen Anschauung der originalen Schädelkalotte und ihrer Fundstelle sowie Fuhlrotts Publikation von 1859 und mit einem Abguss der Kalotte im Gepäck reiste er heim und gewann zunächst den Zoologen Thomas Henry Huxley für eine faire Diskussion. Beide stellten den Fund auch in ihren richtungweisenden, jeweils 1863 erschienenen Büchern vor. Da der Neandertaler-Fund auf den Britischen Inseln bereits großes Aufsehen erregt hatte, bestellte William King, zugleich Kurator des Geologischen Museums der Universität, einen Abguss der Schädelkalotte bei der seit 1850 in Bonn angesiedelten Mineralien- und Fossilienhandlung von Adam August Krantz. Das Ergebnis seiner Studien stellte King bereits 1863 auf 2 Abguss der Schädelkalotte des Neandertalers im Geologischen der Tagung der British Association im englischen New- Museum der Universität Galway. castle-Upon-Tyne vor: Nach seiner Auffassung handelte es sich um eine urtümliche Menschenform, der er den wissenschaftlichen Namen „Homo neanderthalensis“ gab. Da die Benennung erst im Folgejahr in gedruckter Form vorlag, gilt das Jahr 1864 offiziell als Zeitpunkt der Benennung. Mit ihr Literatur: wurde der Fund aus dem Neandertal zum Typusexemplar der J. C. Fuhlrott, Menschliche Ueberreste aus einer Felsen- ersten erkannten fossilen Menschenform; die Kleine Feldho- grotte des Düsselthals. Ein Beitrag zur Frage über die Exis- fer Grotte im Neandertal ist seitdem die Typus-Lokalität. tenz fossiler Menschen.- Verhandl. Naturhist. Ver. Preuss. Damit war der Weg frei für eine sachliche internationale Dis- Rheinlande u. Westphalen 16, 1859, 131-153 u. Taf. 1. kussion. Nach dem Tode Fuhlrotts 1877 zeigten mehrere W. King, On the Neanderthal Skull, or Reasons for belie- Museen in England und Frankreich Interesse am Ankauf des ving it to belong to the Clydian Period, and to a Species dif- Skelettes. Schließlich gelang es aber dem Vorläufer unseres ferent from that represented by Man. Report of the Thirty- Hauses auf Vermittlung Schaaffhausens, den Fund für die Third Meeting of the British Association for the Advancement stattliche Summe von 1000 Goldmark zu erwerben. Seither of Science; held at Newcastle-Upon-Tyne in August and Sep- ist der Neandertaler als wichtigstes Fundstück des Landes- tember 1863, 81-82; London 1864. museums im Original ausgestellt, seit einigen Jahren berei- U. Zängl-Kumpf, chert durch zuvor fehlende Skelettelemente aus den Nach- Die Entwicklung einer neuen physischen Anthropologie im grabungen im Neandertal. 19. Jahrhundert; Frankfurt 1990. Hermann Schaaffhausen (1816–1893). 3