ORIGINALBEITRAG V. Müller-Lessmann1, A. Klatt2, W.-E. Wetzel3 Therapie und Elterneinschätzung der ambulanten Gebisssanierung in ITN in einer kinderzahnärztlichen Schwerpunktpraxis Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, bei in einer kinderzahnärztlichen Schwerpunktpraxis in ITN behandelten Kindern das Ausmaß der bestehenden Gebisserkrankungen, den Umfang der erforderlichen Therapie und die Elterneinschätzung zu der vorgenommenen ITNSanierung zu eruieren. Zu diesem Zweck wurden die Behandlungsunterlagen von 226 im Zeitraum von 1991 bis 1998 sanierten Kindern im Alter zwischen einem und sechs Jahren ausgewertet und eine Elternbefragung vorgenommen. Der durchschnittliche dmf-t-Gesamtwert betrug 10,3. Die Eltern gaben vor der Sanierung in 43,6 % der Fälle gelegentliche und in 32,3 % häufige Zahnschmerzen an. Nach der Sanierung bestätigten 50 % für ihre Kinder Beschwerdefreiheit und 12,9 % weniger Beschwerden. 54,4 % bemerkten verbessertes Allgemeinbefinden und 61,5 % beobachteten bei ihren Kindern weniger Ängstlichkeit. In 41,6 % der Fälle war die Weiterbehandlung beim Hauszahnarzt problemlos möglich. Insgesamt belegen die Untersuchungen den positiven Einfluss der umfassenden Sanierung in Narkose auf Patientenverhalten und Allgemeinbefinden. Schlüsselwörter: Gebisssanierung in ITN, Elternbefragung, Milchzahnkaries 1-3 40 Poliklinik für Kinderzahnheilkunde, Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Schlangenzahl 14, 35392 Gießen 1 Einleitung 2 Material und Methode Bis vor wenigen Jahren lag die Durchführung von Gebisssanierungen unter Vollnarkose überwiegend in den Händen von ZMK-Kliniken und MKG-Praxen mit stationären Versorgungsmöglichkeiten in regionalen Krankenhäusern. Dementsprechend beschränkte sich das Sanierungsangebot nicht selten auf nur chirurgische oder chirurgisch-konservierende Maßnahmen. Begünstigt durch fachliche Schwerpunktorientierung auf zahnärztlicher Seite, aber auch durch die Entwicklung kurzwirksamer, gut steuerbarer Allgemeinanästhetika, ein verbessertes Überwachungsmonitoring und nicht zuletzt durch die Einführung des Facharztes für Anästhesiologie, hat die Fallzahl ambulanter zahnärztlicher Behandlungen in Allgemeinanästhesie in den letzten Jahren stetig zugenommen. Die ambulante Durchführung einer zahnärztlichen Therapie unter Allgemeinanästhesie umfasst inzwischen ein breites Indikationsspektrum. Neben der Betreuung zerebral behinderter Patienten mit eingeschränkter oder fehlender Kooperation und der Behandlung von Patienten mit Angststörungen, kommt der Versorgung von Kleinkindern mit extremen Gebisszerstörungszuständen bei gleichzeitig altersentsprechend unzureichender Kooperation eine zunehmende Bedeutung zu [5]. Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, bei in einer kinderzahnärztlichen Schwerpunktpraxis in ITN behandelten Kindern das Ausmaß der bestehenden Gebisserkrankungen, den Umfang der erforderlichen Therapie und die Elterneinschätzung zu der vorgenommenen ITN-Sanierung zu eruieren. Für den Zeitraum von 1991 bis 1998 wurden die Behandlungsunterlagen von 226 in einer nordhessischen Schwerpunktpraxis in ITN sanierten Kindern zwischen einem und sechs Jahren ausgewertet. Die Gebissbefunderhebung erfolgte gemäß dmf-t-Index. Darüber hinaus wurde mittels Fragebogen eine Elternbefragung vorgenommen. Hierbei waren neben Fragen zur Vorgeschichte und zum Praxiszugang Aussagen zur Elterneinschätzung der durchgeführten Maßnahmen von Interesse. Insbesondere standen Fragen zur Allgemeingesundheit und Mundsituation vor und nach der ITN-Sanierung sowie die Auswirkungen auf das Patientenverhalten im Vordergrund. Die statistische Auswertung der gewonnenen Ergebnisse erfolgte mit Hilfe von SPSS 10.0 für Windows; die ermittelten Unterschiede wurden anhand des Chiquadrat-Anpassungstestes beurteilt. © Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 3 Ergebnisse 3.1 Auswertung der Patientenunterlagen Die Entwicklung der jährlichen Gesamtzahl behandelter Klein- und Vorschulkinder lässt einen kontinuierlichen Anstieg der Patientenzahlen erkennen. Während zu Beginn der Untersuchung im Jahre 1991 die Behandlung von Kindern in ITN noch eine Ausnahme im Praxisalltag darstellte, wurden im Jahr 1997 bereits 61 und bis zum Ende des Untersuchungszeitraums im Herbst 1998 54 Kinder zahnärztlich in Intubationsnarkose behandelt. Die Alters- und Geschlechtsverteilung in Zuordnung nach Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde 26 (2004) 1 V. Müller-Lessmann et al.: Ambulante Gebisssanierung in ITN Abbildung 1a Kariöser Ausgangsbefund bei einem 3-jährigen Mädchen (ECC-Typ II) Figure 1a Initial situation in a 3-year-old girl (ECC Type II) Abbildung 2a Erosiv/kavernöse Zerstörung der Zähne 52 bis 62 (2½-jähriger Junge) Figure 2a Erosive/cavernous type of destruction of 52 to 62 (2½-year-old boy) Abbildung 1b ITN-Sanierungsbefund im Oberkiefer (55 u. 65: Fissurenversiegelungen; 54: Kompositfüllung; 64: konfektionierte Krone; Zustand nach Extraktion 51 bis 62) Figure 1b Maxillary teeth after dental treatment under general anaesthesia (55,65: fissure sealants; 54: filling (composite); 64 preformed stainless steel crown; 51 to 62: situation after extraction) Abbildung 2b Zustand nach Frasaco-Käppchen-/ Kompositrekonstruktion in ITN Figure 2b Situation after reconstruction with Frasaco-strip crowns and composite under general anaesthesia Altersgruppen wird aus Tabelle 1 ersichtlich. Am häufigsten war mit 33,2 % die Altersgruppe der 4- bis 5-Jährigen vertreten, gefolgt von den 3- bis 4-Jährigen (25,2 %). In der Altersgruppe der 1- bis 2Jährigen bedurften bereits sieben Patienten (3,1 %) einer zahnärztlichen Therapie. Der durchschnittliche dmf-t-Gesamtwert vor der Sanierung betrug 10,3 und setzte sich aus 9,9 erkrankten, 0,2 fehlenden und 0,2 gefüllten Milchzähnen zusammen (Tab.2). Als Therapie bedurfte es im Mittel pro Patient 10,9 Füllungen, 2,4 Extraktionen, 1,5 Cp-Behandlungen und 0,8 Vitalamputationen. Konfektionierte Kronen, Wurzelkanalbehandlungen und Mortalamputationen stellten mit je 0,1 pro Patient eher untergeordnete Behandlungsmaßnahmen dar (Tab. 3). 71,9 % der Extraktionen entfielen auf die Milchschneidezähne im Oberkiefer, 17,2 % auf die ersten Milchmolaren und 7,6 % auf die zweiten Milchmolaren (Tab. 4). Bei der Einbeziehung einzelner Milchzähne in Füllungsmaßnahmen waren die zweiten Milchmolaren mit 39,6 % am häufigsten vertreten, gefolgt von den ersten Milchmolaren (34,2 %). Auf die Zähne 52 bis 62 entfielen lediglich 12,8 % der Füllungstherapien und auf die Milcheckzähne 11,7 % (Tab.5, Abb. 1 bis 2). 3.2 Auswertung der Elternfragebögen Altersgruppen Gesamt Anzahl % Jungen Anzahl % Mädchen Anzahl % I (1-2 Jahre) 7 3,1 1 0,4 6 2,7 II (2-3 Jahre) 37 16,4 18 8,0 19 8,4 III (3-4 Jahre) 57 25,2 28 12,4 29 12,8 IV (4-5 Jahre) 75 33,2 44 19,5 31 13,7 V (5-6 Jahre) 50 22,1 37 16,4 13 5,7 226 100,0 128 56,7 98 43,3 Gesamt m Anzahl 128 dmf-t 10,5 d-t 10,1 m-t 0,2 f-t 0,2 w 98 10,1 9,8 0,1 0,2 226 10,3 9,9 0,2 0,2 gesamt Therapiemaßnahmen Extraktionen Füllungen Cp-Behandlungen direkte Überkappungen Vitalamputationen Anzahl gesamt Table 1 Age and sex of the respective patient groups Tabelle 2 dmf-t- Gesamt- und Einzelwerte Table 2 Total and single dmf-t values 550 Anzahl pro Patient 2,4 2463 10,9 334 1,5 96 0,4 187 0,8 Mortalamputationen 18 0,1 Wurzelkanalbehandlungen 17 0,1 konfektionierte Milchmolarenkronen 24 0,1 Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde 26 (2004) 1 Tabelle 1 Alters- und Geschlechtsverteilung Tabelle 3 Übersicht über die durchgeführten Therapiemaßnahmen Table 3 Overview of the therapy measures Die Auswertung der Elternfragebögen ergab, dass 45,1 % der Patienten durch Überweisung den Zugang zur Praxis gefunden hatten. Zu den überweisenden Institutionen zählten überwiegend Hauszahnärzte (73,4 %) und Kinderärzte (18,8 %). Auch Hausärzte (2 %) und ZMK-Kliniken (3 %) wurden als überweisende Institutionen genannt. Die übrigen Patienten (54,9 %) wurden als Selbsteinweiser bzw. auf Empfehlung, meist von Privatpersonen, vorstellig. Weiter wurde auch die Anzahl der Vorbehandler und die Anzahl der Vorbehandlungstermine eruiert. Annähernd die Hälfte der Kinder (48,6 %) hatte einen Vorbehandler. 20,8 % waren bereits bei zwei Zahnärzten, 6,2 % bei drei und 4,9 % bei vier Zahnärzten in Behandlung. Auf die Frage nach der Anzahl der Vorbehandlungstermine gaben 49,1 % der Eltern an, dass bereits ein bis drei Vorbehandlungstermine stattgefunden hätten. 12,4 % der Kinder waren bereits vier- bis sechsmal und 10,2 % sogar mehr als sechsmal zuvor in zahnärztlicher Behandlung. Die Eltern wurden auch zur allgemeingesundheitlichen Si- 41 V. Müller-Lessmann et al.: Ambulante Gebisssanierung in ITN % Anzahl 0,9 5 4,9 27 1,1 6 16,6 91 19,1 105 19,6 108 16,6 91 1,1 6 4,5 25 0,9 5 Zahn 55 54 53 52 51 61 62 63 64 65 Zahn 85 84 83 82 81 71 72 73 74 75 Anzahl 17 22 1 2 1 1 1 0 21 15 % 3,1 4 0,2 0,3 0,2 0,2 0,2 0 3,8 2,7 Tabelle 4 Zahnbezogene Häufigkeit der Extraktionen Table 4 Number of extractions related to each primary tooth % Anzahl 10,3 167 7,6 123 4,4 71 2,8 45 3,5 56 3,1 50 3,4 54 4,7 75 8,1 131 10,3 167 65 Zahn 55 54 53 52 51 61 62 63 64 Zahn 85 84 83 82 81 71 72 73 74 75 Anzahl 151 143 20 7 7 8 7 22 155 157 % 9,3 8,9 1,2 0,4 0,4 0,5 0,4 1,4 9,6 9,7 Tabelle 5 Häufigkeit der Einbeziehung einzelner Milchzähne in Füllungsmaßnahmen Table 5 Number of primary teeth requiring one or more fillings Anzahl 85 % 43,6 Tabelle 6 Beschwerden/Befunde vor der ITN-Sanierung häufige Zahnschmerzen 63 32,3 Entzündungen des Zahnfleisches 40 20,5 Table 6 Complaints/findings before dental treatment under general anaesthesia Schmerzen beim Kauen 73 37,4 Fisteln / Abszesse 33 16,9 Gesichtsschwellungen 16 8,2 Allgemeinbefinden nach der Sanierung besser Anzahl 123 Beschwerden/Befunde gelegentliche Zahnschmerzen schlechter 2 0,9 unverändert gut 90 39,8 unverändert schlecht 2 0,9 keine Angaben 9 4,0 gesamt Allgemeinbefinden nach der Sanierung weniger ängstlich 226 Anzahl 139 % 61,5 14 6,2 unverändert ängstlich 54 23,9 gesamt 19 226 tuation und zu Beschwerden in der Mundhöhle vor und nach der ITN- Sanierung befragt. 43,6 % gaben für ihre Kinder gelegentliche Zahnschmerzen und 32,3 % sogar häufige Zahnschmerzen vor der ITN- Sanierung an. 37,4 % der Kinder hatten Schmerzen beim Kauen. Entzündungen des Zahnfleisches wurden von 20,5 % der Eltern beobachtet. 16,9 % vermerkten, dass ihre Kinder unter Fisteln und Abszessen litten und in 8,2 % der Fälle lagen sogar Gesichtsschwellungen vor (Tab. 6). Nach der ITN- Sanierung bestätigten 50 % der Eltern für ihre Kinder Beschwerdefreiheit. In 12,9 % der Fälle lagen weniger Beschwer- Tabelle 7 Elterneinschätzung des Allgemeinbefindens nach der ITNSanierung Table 7 Parents’ assessment of the childrens´ general condition after dental treatment under general anaesthesia 100,0 ängstlicher keine Angaben 42 % 54,4 8,4 Tabelle 8 Elterneinschätzung des Patientenverhaltens nach der ITNSanierung Table 8 Parents’ assessment of the children´s behaviour after dental treatment under general anaesthesia 100,0 den als vor der Sanierung vor. 51,3 % der Kinder konnten nach der Behandlung besser kauen und in 24,1 % der Fälle wurden weniger Entzündungen des Zahnfleisches beobachtet. Bei der Frage nach dem gesundheitlichen Allgemeinbefund ihrer Kinder vor der ITN- Sanierung bezeichneten 34,7 % der Eltern diesen als unauffällig. Hingegen berichteten 56 % über häufige Erkältungen und Atemwegsinfekte, 19,9 % über Ohrenbeschwerden und 11,6 % über häufige Fieberschübe. 11,6 % bezeichneten ihre Kinder als schlapp oder quengelig und 15,7 % notierten Appetitlosigkeit sowie 16,7 % Sprachprobleme. Nach der ITN- Sanierung gaben 42,2 % der Beantworter weniger Erkältungen und Atemwegsinfekte an. 19,5 % der Kinder hatten seltener Ohrenbeschwerden und 8,4 % keine Fieberschübe mehr. 42,9 % der Eltern bestätigten einen verbesserten Appetit der Kinder. 24,0 % beobachteten schließlich besseres Sprechen und 14,3 % eine größere psychische Ausgeglichenheit. Insgesamt berichteten 54,4 % der Mütter und Väter von einem verbesserten Allgemeinbefinden nach der Sanierung. In 39,8 % der Fälle wurde das Allgemeinbefinden als unverändert gut bezeichnet und nur in 0,9 % der Fälle als schlechter bzw. als unverändert schlecht (Tab. 7). Die Frage nach den Veränderungen des Patientenverhaltens wurde wie folgt beantwortet: 61,5 % beobachteten weniger Ängstlichkeit bei ihren Kindern, während 23,9 % angaben, dass ihr Kind unverändert ängstlich sei. 6,2 % meinten sogar, dass ihr Kind noch ängstlicher geworden sei (Tab.8). Die Weiterbehandlung beim Hauszahnarzt war für 41,6 % der Kinder problemlos möglich, für 34,9 % auch jetzt noch problematisch. Nur bei 2,7 % war keine Weiterbehandlung beim Hauszahnarzt möglich. 20,8 % der Eltern machten zu dieser Frage allerdings keine Angabe. Bei gleicher Ausgangssituation würden sich 85,9 % der Eltern erneut für eine Behandlung in ITN entscheiden. 3,1 % würden hingegen von der ITN- Behandlung Abstand nehmen. 10,6 % waren sich schließlich nicht sicher, ob sie sich erneut für die ITN- Sanierung entscheiden würden. Bezüglich der Positiv-/Negativbewertungen der Eltern zu den Punkten Allgemeinbefinden, Ängstlichkeit, Weiterbehandlung beim Hauszahnarzt und erneute ITN- Behandlung bei gleicher Ausgangssituation ergaben sich jeweils hochsignifikante Werte (p < 0,001) zugunsten der positiven Einschätzungen. 4 Diskussion 4.1 Indikation Die Indikation für eine Zahnsanierung in Intubationsnarkose bei Kindern ist gegeben, wenn Milchzahnkaries oder Karies der bleibenden Zähne besteht und sich eine reguläre Behandlung als unmöglich erwiesen hat. Dies setzt voraus, dass es in mehreren Sitzungen und ohne Zeitdruck nicht gelungen ist, Teilsanierungen, ggf. in Lokalanästhesie, durchzuführen [6, 10]. Erst Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde 26 (2004) 1 V. Müller-Lessmann et al.: Ambulante Gebisssanierung in ITN SUMMARY Therapy and parents’ assessment of dental treatment performed under outpatient general anaesthesia at a private practice specialised in pediatric dentistry. The aim of this study was to establish the current extent of carious status, the scope of therapy necessary and the attitude of parents towards complete dental treatment under outpatient general anaesthesia. For this purpose the records of 226 children aged one to six years who had undergone dental treatment from 1991 to 1998 were analysed and the parents of the children questioned. The average dmf-t value was 10.3. Parents reported occasional toothache in 43.6 % and frequent toothache in 32.3 % of cases prior to dental treatment. After reconstruction, 50 % of parents claimed that their children no longer suffered from any form of toothache and 12.4 % had less toothache. 54.4 % of parents observed an improvement in the general condition of their children and as many as 61.5 % said that their children were generally less anxious. In 41.6 % of the cases, it was possible for the family dentist to continue treatment without any major problems. All in all, the study reveals the positive influence of extensive dental reconstruction under general anaesthesia on the behaviour and general well-being of the patient. Keywords: dental treatment under general anaesthesia, parents’ questioning, early childhood caries wenn zuvor alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, kann also die Indikation zur Behandlung in Narkose gestellt werden. In vielen Fällen gelingt es, behandlungsunwillige Kinder schrittweise an die zahnärztliche Behandlung zu gewöhnen. So berichten Staehle und Hoppe [11], dass sie wegen Behandlungsunwilligkeit überwiesene Vorschulkinder zu mehr als 65 % an die normale Behandlung im Stuhl heranführen konnten. In der vorliegenden Untersuchung belegen die Elternangaben über die Anzahl der Vorbehandler bzw. Vorbehandlungstermine, dass lediglich in 9,7 % der Fälle kein Vorbehandlungstermin stattgefunden hatte. In allen anderen Fällen waren mindestens ein bis drei oder sogar mehr als drei Vorbehandlungstermine vorausgegangen. Die Berücksichtigung der Altersstruktur des untersuchten Pa- tientengutes zeigt aber auch, dass nahezu 20 % der Patienten das 4. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten und somit allein aufgrund ihrer psychomentalen Entwicklung noch keiner adäquaten Patientenbehandlung zugänglich waren [13]. Über die Komplikationen bei der Zahnsanierung in ITN gibt es in der Literatur unterschiedliche Angaben. Bezüglich der Mortalität berichtet Goldman [3] von einer Komplikationsrate mit Todesfolge von 1:137000, Tomlin [12] von 1:130000. Beide Autoren beziehen sich auf die Behandlung von Erwachsenen, wobei sich das Risiko bei der Behandlung von Kindern, die älter als zweieinhalb Jahre sind, davon nur unwesentlich unterscheidet [6]. Andere Autoren berichten nach aktuellen Vergleichen von einer Mortalitätsrate von 1:853050 [1]. Dabei muss bei jeder umfassenden Sanierung in ITN die Einhaltung der Richtlinien zur Durchführung ambulanter Operationen und Narkosen sichergestellt sein [9]. Hierzu zählt nicht nur die Beachtung der patientenbezogenen Voraussetzungen, sondern auch die Gewährleistung der apparativen, räumlichen, hygienischen und organisatorischen Gegebenheiten. 4.2 Ausmaß der Gebisserkrankung, Therapieumfang Der Vergleich der dmf-t- Werte der sanierten Kinder mit denen repräsentativer Vergleichsgruppen unterstreicht die Negativselektion des untersuchten Patientengutes. So wurde vor der ITN- Sanierung ein dmf-t- Wert von 10,3 dokumentiert, während Untersuchungen an 3- bis 6-jährigen mittelhessischen Kindergartenkindern einen durchschnittlichen dmf-t von nur 1,5 ergaben [7]. Ähnlich hohe dmf-t- Werte konnten nur noch in den Untersuchungen von Schulte und Ott [10] sowie Wetzel [14] und Wetzel et al. [15] bei Kindern mit Nursing-Bottle-Syndrom nachgewiesen werden. Auch in der vorliegenden Untersuchung folgt die Verteilung der durchgeführten Therapiemaßnahmen in Zuordnung nach Zahngruppen überwiegend dem charakteristischen Zerstörungsmuster des Nursing- Bottle- Syndroms. An die kariöse Zerstörung der Oberkieferschneidezähne, die mit 71,9 % am häufigsten extrahiert werden mussten, schließt sich die der ersten Milchmolaren, zunächst im Oberkiefer, dann im Unterkiefer an. Erst danach folgen die zweiten Milchmolaren und die Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde 26 (2004) 1 Milcheckzähne [8]. Dieses Verteilungsmuster deckt sich allerdings nicht mit den Ergebnissen von Jöhren [4], in dessen Untersuchung lediglich 33 % der Extraktionen im Oberkieferfrontzahngebiet durchgeführt werden mussten. Generell wurden aber Therapiemaßnahmen gewählt, die der Forderung nach einem möglichst stabilen Behandlungsergebnis nachkommen [6]. 4.3 Elternbefragung Allgemeingesundheit: In der Literatur sind die negativen Auswirkungen tiefzerstörter Gebisse auf die Allgemeingesundheit mehrfach beschrieben [10, 16, 17]. So muss jede periapikale Erkrankung eines tief zerstörten Milchzahnes als potenzieller dentaler Fokus betrachtet werden, der gerade im Zusammenhang mit der Zunahme von Nieren-, Harnwegs- und Atemwegserkrankungen (chronische Bronchitis) bei kleinen Kindern nicht unterschätzt werden darf [16, 17]. Die Aussagen der Eltern unterstreichen den positiven Einfluss der umfassenden Sanierung auf die Allgemeingesundheit. Nach ITN- Sanierung beobachteten immerhin 42,2 % weniger Erkältungen und Atemwegsinfekte bei ihren Kindern. Auch Fieberschübe und Ohrenbeschwerden waren rückläufig. Patientenverhalten: Gentz [2] weist darauf hin, dass die Behandlung in Narkose das Problem der Behandlungsunwilligkeit nicht lösen kann. Auch Jöhren [5] beschreibt, dass erwachsene Phobiker nach Behandlung unter Allgemeinanästhesie genauso ängstlich wie vorher seien und der Angstpatient durch die Narkose in seinem Vermeidungsverhalten sogar unterstützt würde. Bei Kindern hingegen bietet die vollständige konservierende und chirurgische Gebisssanierung in Narkose eine gute Chance, anschließend einen Neuanfang zu machen [10]. Durch die Behandlung wird Zeit für eine schrittweise Heranführung an die zahnärztliche Behandlungssituation gewonnen. So bestätigten 61,5 % der befragten Mütter und Väter für ihre Kinder nachher weniger Ängstlichkeit. In 41,6 % der Fälle war die Weiterbehandlung beim Hauszahnarzt problemlos möglich. Dass speziell bei der Frage nach der Weiterbe- 43 V. Müller-Lessmann et al.: Ambulante Gebisssanierung in ITN handlung beim Hauszahnarzt 20,8 % der Eltern keine Angaben machten, lässt jedoch die Vermutung zu, dass bis zum Zeitpunkt der Befragung noch keine weitere zahnärztliche Vorstellung erfolgt war. Gerade bei dieser selektierten Gruppe mit ungewöhnlich hoher Kariesaktivität ist es jedoch von großer Wichtigkeit, die Eltern davon zu überzeugen, dass die Gebisssanierung in Narkose nur einen Teil des gebotenen Behandlungskonzeptes darstellt. Jedoch nicht nur die Heranführung an die zahnärztliche Behandlung, sondern auch der Übergang zu einer kontrolliert zuckerarmen und kauaktiven Ernährungsweise [18] sowie effizienter Mundhygieneund Fluoridierungsmaßnahmen sind von entscheidender Wichtigkeit. Insgesamt belegen die Ergebnisse dieser Untersuchung aber den positiven Einfluss einer umfassenden Sanierung in Narkose auf Allgemeingesundheit, Allgemeinbefinden und Patientenverhalten und somit auch deren Durchführung im ambulanten Rahmen der kinderzahnärztlichen Schwerpunktpraxis. 44 Literatur 1. D´Eramo EM, Bookless SJ, Howard JB: Adverse events with outpatient anesthesia in Massachusetts. J Oral Maxillofac Surg 61, 793-800 (2003) 2. Gentz A: Behandlung und Führung behinderter Patienten, Kinder und Jugendlicher. Zahnärztl Mitt 64, 232-236 (1974) 3. Goldman V: Deaths under anaesthesia in the dental surgery. Br Dent J 105, 160-165 (1958) 4. Jöhren P, Landmesser H, Jackowski J, Jordan AR: Kariesbefall bei unkooperativen Kindern. Oralprophylaxe 19, 141-145 (1997) 5. Jöhren P, Tarsaev O, Jackowski J, Buschmann F: Die Therapie der Zahnbehandlungsangst und der Zahnbehandlungsphobie. Behandlung unter Allgemeinanästhesie (Teil 3b). Zahnärztl Welt 109, 99105 (2000) 6. 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