1. Einleitung 1.1. Thema Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die erste umfassende Dokumentation und Analyse eines in der chinesischen Kunstgeschichte zahlenmäßig absolut einmaligen, nicht mehr übertroffenen Bildprogramms. Hiermit wird erstmals eine systematisch vergleichende Arbeit über das Genre des Porträts verdienter Untertanen (gongchenxiang 功臣像 bzw. gongchentu 功臣圖), womit in diesem Falle spezifisch Offiziersporträts gemeint sind, im 18. Jahrhundert vorgelegt. Bilder dieses Typs des verewigten Helden wurden – zumindest bis in die jüngste Vergangenheit – nicht ernsthaft als Kunstwerke betrachtet; immerhin hat man ihnen eine historische bzw. kulturhistorische Bedeutung zugewiesen: zum einen als die realitätsnahe Darstellung einer individuellen Person der Zeitgeschichte, zum anderen als Quelle für die damalige materielle Kultur (Kleidung, Rüstung, Waffen usw.).4 Wegen ihrer nachweislichen Einbindung in Militärrituale, die im Rahmen von Siegesfeiern und Neujahrsbanketten in der Halle des Purpurglanzes (Ziguangge 紫光閣) abgehalten wurden, werden wir uns mit der zentralen Frage beschäftigen, inwieweit die Offiziersporträts darüber hinaus als „politische Ikonen“ 5 oder sogar Kultbilder dienten. 1.1.1. Die vier Serien Die hier zu untersuchenden Kunstwerke bildeten ursprünglich vier Porträtserien von bis zu hundert Bildern, die als Ehrung für Offiziere nach siegreichen Kolonialkriegen entstanden. Neben Geldgeschenken und der Verleihung von Ehrentiteln galten sie als besondere Auszeichnung und wurden im kaiserlichen Auftrag als großformatige Hängerollen in Tusche und kräftigen Farben auf Seide angefertigt und anschließend in der Halle des Purpurglanzes westlich des Kaiserpalastes neben großformatigen Schlachtenbildern zu besonderen Anlässen 4 Walravens 1993: 308. Das zeigt sich daran, dass die Porträts nahezu ausschließlich Völkerkundemuseen und nicht Kunstmuseen zum Verkauf angeboten wurden. 5 Claudia Brown hat diese Frage bereits formuliert; vgl. Brown 1988: 167 bzw. 197, Anm. 34. 19 präsentiert. Hier empfing der Qianlong-Kaiser Gesandte aus fremden Ländern und ließ prächtige Bankette für seine loyalen Beamten und Verbündeten abhalten. Insgesamt entstanden 280 Porträts während der 60-jährigen Herrschaft Qianlongs in einem Zeitraum von 33 Jahren (1760 bis 1792): a) die XinjiangSerie (Ostturkestan) mit 100 (50/50), b) die Sichuan-Serie (Jinchuan) mit 100 (50/50), c) die Taiwan-Serie mit 50 (20/30) und d) die Nepal-Serie (Gurkha) mit 30 (15/15) Bildnissen. Die Porträts zeigen die Offiziere in ganzer Figur vor einem leeren Hintergrund, wobei das Gesicht entweder frontal oder im Halbprofil zu sehen ist und individuelle Züge aufweist. Die Dargestellten tragen verschiedene, zumeist knöchellange Gewänder, darüber Zeremonialkleidung, Rüstungen oder Kettenhemden mit dazugehörigen Waffen und präsentieren sich in mehr oder weniger bewegten, zumeist sogar martialischen Posen mit individuell verschiedenen expressiven Gesten. Die Darstellungen werden von Erläuterungstexten begleitet: Über jedem Porträt ist auf einem separaten Stück gelber Seide eine Aufschrift (shitang 詩堂, wörtl. „Gedichthalle“) angebracht, rechts in chinesischer Normalschrift (kaishu 楷書), links in manjurischer Schrift. Sie enthält Amts- und Rangbezeichnungen, Ehren- und Erbtitel (falls vorhanden) sowie den Namen des Offiziers, ein Lobgedicht, den bzw. die Namen der Gedichtverfasser und das Datum der Gedichtabfassung. Für die erste Hälfte der Serie verfasste der Kaiser die Lobgedichte persönlich, während er diese Aufgabe bei der zweiten Hälfte hochrangigen Beamten überließ. Zwischen den beiden Texten befindet sich am oberen Bildrand das ovale Siegel Qianlong yulan zhi bao 乾隆御覽之寶 (wörtl. „Schatz, auf dem der Blick des Qianlong-Kaisers geruht hat“), ein Inspizienzsiegel der kaiserlichen Sammlung. Ansonsten finden sich weder Künstlersignatur noch Künstlersiegel; die Bilder sind anonym, also nicht eindeutig einem bestimmten Maler zuzuordnen. Die Tatsache, dass die Körper der Offiziere im Gegensatz zu den äußerst lebensnahen, bisweilen stark modellierten Gesichtern seltsam ungelenk wirken, lässt darauf schließen, dass mehrere Hofmaler an der Werkgenese beteiligt waren. 1.1.2. Provenienz In den kaiserlichen Palastsammlungen in Peking und Taipei (Taiwan) ist heute kein einziges dieser Offiziersporträts erhalten.6 Von den ursprünglich 280 Hängerollen konnten bisher 56 außerhalb Pekings nachgewiesen werden. Aber wie gelangten diese Bilder in westliche Sammlungen? Es ist davon auszugehen, dass 6 Vgl. Nie Chongzheng in einem Brief an die New Yorker Privatsammlerin Dora Wong (Liu 2001: 57 und Yang 1999: 31). 20 die Bildnisse bis 1900 in der Halle des Purpurglanzes (Ziguangge) aufbewahrt wurden. In jenes und das darauffolgende Jahr fällt der Boxeraufstand mit der zweimonatigen Belagerung des Gesandtschaftsviertels durch chinesische Aufständische und die danach als Gegenreaktion erfolgende Besetzung Pekings durch die alliierten Truppen der acht Mächte.7 In dieser Zeit blieb die Halle des Purpurglanzes wie viele andere Palastgebäude nicht von Plünderungen und Bränden verschont.8 Als die deutschen Truppen unter Führung des GeneralFeldmarschalls Alfred Graf von Waldersee (1832-1904)9 im Oktober 1900 Peking erreichten, waren die Plünderungen im Kaiserpalast bereits beendet. An ihnen hatten sich nicht nur Engländer, Franzosen, Amerikaner, Japaner und Russen, sondern auch einheimische Chinesen beteiligt.10 In seinem Tagebuch vermerkt Waldersee, er habe seinen Soldaten jegliche Übergriffe strikt 7 Die Streitkräfte wurden von folgenden acht Nationen nach Zahl der Truppenstärke gestellt: Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Japan, Russland, Italien, USA und Österreich (Sharf/Harrington 2000: 211). Mit der Unterzeichnung des Friedensprotokolls von Peking am 7. September 1901 galt der Boxeraufstand offiziell als beendet; vgl. die chronologische Übersicht bei Sharf/Harrington 2000: 15-17, hier 17. 8 Laut Di Chuqing war im Sommer 1900 die Treppe zum Obergeschoss zerstört, zahlreiche Bücher lagen verstreut auf dem Boden, Schlachtenbilder mit Motiven des Sieges über die Nian und muslimische Rebellen im Nordwesten [entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts] hingen im Erdgeschoss noch an den Wänden. Ob im Obergeschoss Offiziersporträts hingen, konnte Di wegen der zerstörten Treppe nicht feststellen (Di 1900: 1/3b). Paul Pelliot schreibt, dass bei seinen zwei Besuchen – leider ohne nähere Angabe des jeweiligen Zeitpunkts – keine Bilder mehr vorhanden waren: „J’ai visité partiellement le Tseu-kouang-ko [Ziguangge] deux fois, mais n’ai vu aucune salle où se trouvassent des portraits de généraux ou des tableaux de bataille“ (Pelliot 1921b: 271, Anm. 2). Siehe Zhang 2000: 270, Anm. 25. Fleming spricht von den Plünderungen in Peking zutreffend als einer „Beschäftigung für jedermann“ (Fleming 1961: 255); vgl. auch Zhang 1999: 33. 9 Eine zeitgenössische Porträtfotografie, die Waldersee im Jahre 1900 in Peking zeigt, findet sich bei Thiriez 1993: 286, Abb. 8 bzw. Thiriez 1998: 105, Abb. 52. 10 Waldersee 1923: 292-293. Neben den Deutschen sollen sich auch weder Italiener noch Österreicher an den Plünderungen beteiligt haben (Waldersee 1923: 286). Wu Kong bestreitet die Aussage Waldersees und zitiert eine chinesische Quelle, die Plünderungen und Brandschatzungen der deutschen Truppen schildern. Zudem befänden sich nachweislich zahlreiche von den alliierten Truppen geraubte chinesische Kunstschätze, darunter auch solche aus der Ziguangge, in deutschen Museen (Wu Kong 1998: 148). Wu Kong nennt an Gegenständen u. a. Kalligraphien und Malereien, Ruyi-Szepter, Bronzevasen und Wandschirme (Wu Kong 1998: 150). Ich danke ganz herzlich Dr. Mayra Fernandez de Schäfer, die mir diese Quelle zugänglich gemacht hat. 21 untersagt.11 Wenn dies tatsächlich stimmen sollte, dann ist davon auszugehen, dass die Porträts offenbar über chinesische Händler den Weg zu ihren späteren Besitzern fanden.12 Wir wissen, dass mehrere Bilder direkt in Peking vor allem von deutschen Armeeangehörigen, aber auch von deutschen Kaufleuten erworben und in die Heimat verbracht wurden. So sind folgende deutsche Offiziere als Käufer bekannt: Oberst Graf York von Wartenburg, der zum Generalstab zählte und im November 1900 unter tragischen Umständen in China zu Tode kam,13 erwarb zwei Hängerollen, die laut Akten im Berliner Ethnologischen Museum über den ortsansässigen Kunsthändler Bercowitz im Jahre 1911 angekauft wurden.14 Oberstabsarzt Dr. Hildebrandt, ebenfalls Mitglied im Generalstab Waldersees,15 überließ dem Museum 1902 mehrere Bilder als Leihgaben, darunter mindestens drei Porträts sowie zwei Schlachtenbilder aus dem 19. Jahrhundert.16 Oberleutnant Busse, der dem Ersten Seebataillon angehörte, bot dem Museum im selben Jahr vier Bilder an, neben zwei Schlachtenbildern auch zwei Offiziersporträts; allerdings wurden laut Museumsakten nur letztere erworben.17 Von zwei weiteren Bildern haben wir ebenfalls schriftliche Zeugnisse, dass sie sich im Besitz deutscher Truppenangehöriger befanden: im einen Fall gibt eine Beschriftung auf dem Titelschild Auskunft, dass Oberfeldwebel Wuensch vom Ersten Seebataillon das Bild im Juni 1901 offenbar erworben hat;18 im anderen 11 Meisner 1967: 48. Wu Kong hält diese Aussage für nicht zutreffend und zitiert im Gegenzug eine chinesische und eine deutsche Quelle (Wu Kong 1998: 148), macht jedoch nur ungenaue bibliographische Angaben. 12 Dies zeigt folgender Fall eines aus dem Kaiserpalast in Peking stammenden TaipingSchlachtenbildes aus dem 19. Jahrhundert im Roemer-Museum Hildesheim. Das Bild war dem Museum von einem Anfang des 20. Jahrhunderts aus China zurückgekehrten Soldaten geschenkt worden. Das chinesische Außenministerium hatte eine Liste mit Beutekunst erstellen lassen und eine schriftliche Rückforderung an das Museum geschickt. Da der Soldat den Kauf bei einem chinesischen Händler belegen konnte, war der Anspruch hinfällig und das Museum durfte das Objekt behalten (Ohlmer/ Ohlmer 1932: 113-114). 13 Rauch 1907: 14. Graf York starb bei einer Expedition nach Kalgan nahe der mongolischen Grenze durch eine Kohlengasvergiftung. Waldersee betrauert schmerzlich den Verlust des geschätzten Offiziers in seinem Tagebuch (Meisner 1967: 62; Meisner schreibt „Yorck“). 14 Werkkatalog Nr. 3 und 6. 15 Rauch 1907: 16. 16 Müller 1903: 484; Werkkatalog Nr. 4, 38 und 45; Archivakten SMB-PK, EM 37/E 1353/02 und E 1492/02. 17 Werkkatalog Nr. 8 und 11; Archivakten SMB-PK, EM 37/E 1655/02. 18 Werkkatalog Nr. 15. 22 Fall nennt die Vorbesitzerin in einem Brief ihren Schwiegervater, einen gewissen Albert Kalkowski, der von 1900-1909 als deutscher Soldat in China war.19 Schließlich sei noch stellvertretend für gewaltsam verstümmelte Bilder auf das Schicksal des Offiziersporträts im Hildesheimer Roemer-Museum hingewiesen: Um die Herkunft aus dem Kaiserpalast zu vertuschen, wurde die Aufschrift vom Bildnis entfernt und dies zusätzlich an den oberen und unteren Enden wohl bereits von den Plünderern vor dem Verkauf abgeschnitten. Die sichtbaren Faltspuren deuten darauf hin, dass das Bild zum leichteren Transport jeweils einmal längs sowie mehrmals quer gefaltet und erst später wieder an zwei Holzstäbe montiert wurde.20 1.1.3. Bestand In der ersten systematischen englischsprachigen Studie von 1992 waren lediglich sieben Porträts aufgeführt.21 1998 hat Lothar Ledderose bereits auf die deutlich höhere Zahl von existenten Bildern hingewiesen.22 Seine eigenen Forschungen brachten ihn zu dem Schluss, dass darüber hinaus zahlreiche Bilder in mitteleuropäischen Sammlungen vorhanden sind; er schätzte ihre Zahl auf insgesamt über 20, wobei er den jeweiligen Aufenthaltsort, wenn möglich, sowie entsprechende Literaturverweise auflistete.23 In der ersten systematischen Zusammenstellung von Offiziersporträts in einem Auktionskatalog von Christie’s Hongkong aus dem Jahr 2001 wurden immerhin 20 Bilder genannt.24 Die vorliegende Studie präsentiert mit insgesamt 56 Werken, die nach dem Boxeraufstand außerhalb Pekings nachgewiesen werden konnten, eine mehr als doppelt so hohe Zahl. Davon sind 48 durch Fotos belegt, darunter 37 in Farbe. 15 ­Porträts werden 19 Werkkatalog Nr. 30; siehe insbesondere Anm. 1248. 20 Bügener 2004: 166; siehe auch Werkkatalog Nr. 55. Ein weiteres beschnittenes Porträt befindet sich im Staatlichen Museum für Völkerkunde München; vgl. Werkkatalog Nr. 56. 21 Tsang 1992. 22 Ledderose 1998: 356. 23 Ledderose 1998: 473, Anm. 1021 und 1022. 24 Christie’s Hongkong 2001a: 160, Los 580 bzw. Christie’s Hongkong 2001b: 174, Los 580. Wie wenig bekannt die Porträts in der chinesischen Forschung sind, zeigt die Tatsache, dass selbst in einer Publikation des Tianjin Museum von 2004 die Zahl der erhaltenen Porträts mit unter 20 angegeben wird (Tianjin Museum 2004: [5]). Bei einem Besuch des Museums im Oktober 2012 fand die Autorin diese Angabe unverändert auf dem Begleittext des ausgestellten Porträts des Ayusi (Werkkatalog Nr. 9) bestätigt. Nie Chongzheng listet 2008 weniger als zwei Dutzend existente Porträts auf; siehe Nie 2008a: 150-165. 23 hier zum ersten Mal veröffentlicht. Von 40 Bildnissen ist ihre Existenz erwiesen, davon sind 38 vollständig erhalten; zwei wurden leider ex­trem beschnitten, das heißt, dass die Aufschrift fehlt und daher eine namentliche Zuordnung nicht möglich ist. Insgesamt 29 Porträts wurden von der Autorin persönlich begutachtet. Von den 48 bildlich vorliegenden Porträts stammen 28, also mehr als die Hälfte, aus der ersten Serie (Xinjiang, 1760); zwölf Bilder können der zweiten Serie (Sichuan, 1776) und immerhin acht der dritten Serie (Taiwan, 1788) zugerechnet werden; aus der vierten Serie (Nepal, 1792) ist dagegen kein erhaltenes Porträt nachgewiesen. Hinsichtlich des heutigen Aufenthaltsorts der Bilder ist anzumerken, dass auffällig viele in westliche, vor allem in deutsche Sammlungen, insbesondere in den Raum Berlin/Dresden gelangt sind; weitere befinden sich in Nordamerika und in der Volksrepublik China einschließlich Hongkong. Allein mehr als 30 Bildnisse, die dem Ethnologischen Museum (vormals Museum für Völkerkunde) in Berlin gehörten oder sich dort als Leihgaben befanden, galten seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen.25 2011 wurden erstmals vier von sieben in der Eremitage in St. Petersburg befindliche, nachweislich aus dem Berliner Museum stammende Hängerollen publiziert.26 Es ist davon auszugehen, dass zumindest ca. zwei Dutzend der während des Zweiten Weltkriegs im Flakbunker am Zoo eingelagerte Bildnisse als Beutekunst im Mai 1945 von den sowjetischen Trophäenbrigaden beschlagnahmt,27 im März 1946 mit einem Sonderzug nach Russland verbracht und in die St. Petersburger Sammlung integriert wurden.28 Der möglicherweise größere Teil wurde später ins Puschkin Museum in Moskau überführt.29 Ein weiteres Porträt, das dem Ethnologischen Museum im Jahr 25 Fuchs 1959: 41-42. Die Autorin konnte in den Archivakten des Ethnologischen Museums elf Porträts nachweisen: Werkkatalog Nr. 3, 4, 6, 8, 11, 38, 40, 42, 43, 45 und 48. 26 Pang/Pchelin 2011. An dieser Stelle danke ich Niklas Leverenz, Hamburg, der mich auf diesen Aufsatz aufmerksam gemacht und mir eine englische Übersetzung zur Verfügung gestellt hat. Siehe Werkkatalog Nr. 3, 6, 10 und 14. Alle Hängerollen befanden sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in einem restauratorisch bedenklichen Zustand, hauptsächlich verursacht durch Wasser- und Brandschäden; nur vier konnten überhaupt entrollt und wissenschaftlich bearbeitet werden. 27 Zum Schicksal der Ostasiatischen Kunstsammlung während des Zweiten Weltkriegs siehe Ledderose 1998: 20-21 mit weiterführender Literatur. 28 Dafür sprechen die russischen Inventarnummern, die mindestens von VF 2801 bis VF 2821 reichen; siehe Werkkatalog Nr. 10 bzw. 6. 29 Pang/Pechlin 2011: 262. Im Juni 2014 von der Autorin bei einer Tagung auf die Bildnisse angesprochen, antwortete eine ehemalige Mitarbeiterin des Puschkin Museums sehr zurückhaltend, dass eine größere Anzahl dort vorhanden sei, wollte aber keine 24 1930 aus Privathand angeboten, aber aus Kostengründen nicht erworben wurde, könnte sich weiterhin in einer deutschen Privatsammlung befinden.30 1.2. Bildtypus 1.2.1. Zum Begriff der Heldengalerie Im Mai 1840 hielt der schottische Schriftsteller Thomas Carlyle (1795-1881) in London sechs Vorträge über das Thema „Helden, Heldenverehrung und das Heroische in der Geschichte“.31 Dabei vertrat er die Auffassung, dass die Universalgeschichte in entscheidendem Maße von Persönlichkeiten gestaltet sei und folglich einer Aneinanderreihung von Biographien gleichkomme.32 Heldenverehrung definierte er als Ehrfurcht vor großen Menschen.33 Zu den Kriterien eines Helden zählte Carlyle, der nicht von ungefähr die National Portrait Gallery in London und später in Edinburgh begründete, weniger den Tod auf dem Schlachtfeld, sondern vielmehr Aufrichtigkeit, Tapferkeit und heroischen Glauben – Tugenden, die bei anderen Menschen zu anerkennender Verehrung und Nachahmung führten.34 Als der Qianlong-Kaiser (reg. 1736-1795) im Jahre 1760, also nur 80 Jahre zuvor, im fernen China die erste Serie von Offiziersporträts in Auftrag gab, folgte er einer Jahrtausende alten Tradition, die in erstaunlicher Übereinstimmung mit Carlyles Geschichtsverständnis steht. Die traditionelle Geschichtsschreibung in China begreift das Phänomen der Geschichte ebenfalls als eine Aneinanderreihung von Biographien herausragender Persönlichkeiten. Bereits in der ersten und ältesten Dynastiegeschichte Shiji 史記 („Aufzeichnungen 30 31 32 33 34 genaue Zahl nennen. Die Bitte um Kontaktvermittlung zum Puschkin Museum blieb trotz verbaler Zusage bisher unerfüllt. Werkkatalog Nr. 50. „Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History“; vgl. Carlyle 1916. Carlyle zählt zu seinen sechs Kategorien von Helden Gottheiten wie Odin, Propheten wie Mohammed, Dichter wie Dante und Shakespeare, Priester bzw. religiöse Führer wie Luther und Knox, Schriftsteller wie Johnson, Rousseau und Burns sowie „Könige“ bzw. Herrscher wie Cromwell und Napoleon. Nigel Cameron zitiert im Vorwort seines Werks Barbarians and Mandarins Carlyles Geschichtsauffassung in dessen eigenen Worten als „the essence of innumerable biographies” (Cameron 1976: 11) und macht diese zur Grundlage seiner eigenen Ausführungen über westliche Reisende in China. Carlyle formuliert dies prägnant in dem Satz „Worship of a Hero is transcendent admiration of a Great Man“ (Carlyle 1916: 19). Brie 1948: 18. 25 des Großhistoriographen“) des Sima Qian 司馬遷 (ca. 145-90 v. Chr.) machen Biographien (liezhuan 列傳) mehr als die Hälfte des gesamten Textes aus. Sie sind integraler Bestandteil des konfuzianischen Weltbildes, in dessen hierarchischer Ordnung die wichtigste Beziehung zwischen Herrscher (jun 君) und Untertan (chen 臣), also Minister bzw. Beamter, durch Loyalität gekennzeichnet ist. In der Qing-Zeit (1644-1911) und besonders während der Regentschaft des QianlongKaisers in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden zahllose Biographien verdienter ziviler und militärischer Beamter bzw. Offiziere in Auftrag gegeben, die häufig sogar zweisprachig, das heißt in Chinesisch und Manjurisch, abgefasst waren.35 Ganz offensichtlich ist diese Form der Heldenverehrung eng verbunden mit politischen Motiven der Herrschaftslegitimation und manifestiert sich im Bildtypus des Porträts verdienter Untertanen (gongchenxiang 功臣像). Wenn in diesem Zusammenhang der Begriff der „Heldengalerie“ verwendet wird, so halten wir diese Übernahme eines westlichen Konzepts durchaus für legitim. Zum einen benutzt der Qianlong-Kaiser mehrfach in seinen persönlich verfassten Lobgedichten auf herausragende Offiziere den Ausdruck „Held“ (ying 英, manj. baturu 巴圖魯).36 Zum anderen sprechen bereits han-chinesische Quellen von Porträtgalerien bzw. Bilderhallen (huatang 畫堂) mit moralischdidaktischer Funktion, wobei es sich vornehmlich um Porträts verdienter Beamter handelte. Der enge Zusammenhang zwischen Porträt und Biographie in der chinesischen Malerei wurde von Arthur Waley bereits 1958 in die verständliche Formel gebracht: „Porträt = Biographie + Bild“.37 Peter Burke weist vier Jahrzehnte später in seinem Aufsatz „Reflections on the Frontispiece Portrait in the Renaissance“ ebenfalls auf die Verbindung zwischen Porträt und Biographie in China hin.38 Des Weiteren führt er mehrere Porträttypen an, die sowohl in China als auch in Europa vorkommen, darunter interessanterweise: „Portraits of 35 Walter Fuchs listet mehrere solcher Biographiensammlungen verdienter Offiziere (qinding gongchenzhuan 欽定功臣傳) auf, die nach den erfolgreichen Feldzügen in den verschiedenen Grenzregionen Chinas entstanden (Fuchs 1936: 82-83). Zu den Biographien im Qingshigao 清史稿 („Entwurf der Geschichte der Qing-Dynastie“) siehe Griggs 1955: 107. 36 Siehe z. B. die Gedichte über Gao Tianxi (1a22, Werkkatalog Nr. 7, Abb. 6) und Ohûi (3a11, Werkkatalog Nr. 47, Abb. 41). 37 „(…) portraiture as a composite art, an amalgam of picture-making and biography“ (Waley 1958: 159). 38 Burke 1998: 161. An anderer Stelle führt er aus: „The existence of ‚halls of illustrious men‘, celebrating the achievement of outstanding individuals, suggests connections between the rise of the portrait and what Burckhardt called ‚the modern sense of fame‘“ (Burke 1995: 395). Aus der Fülle neuerer Literatur zu Heldenkult 26 ministers (…) commissioned by emperors to hang in halls of fame, reminiscent (at least for a European) of Renaissance halls of illustrious men.“39 Diese erstaunliche Parallele mit Hallen berühmter Personen – zumeist „uomini famosi“ bzw. „uomini illustri“ genannt – im Italien des 15. und 16. Jahrhunderts ist vor allem aus ihrer Funktion zu erklären. So nennt Burke an anderer Stelle folgende Eigenschaften von Renaissancebildnissen: Die ursprünglich in Gruppen aufgehängten Porträts stellten Mitglieder einer bestimmten Familie oder Inhaber besonderer Ämter (Bischöfe, Dogen usw.) dar. Die Praxis lässt daher auf eine kollektive bzw. institutionelle statt eine individuelle Identität der Dargestellten schließen. Das Porträt repräsentiert somit eine soziale Rolle, was visuell durch Kleidung, Accessoires, Waffen usw. deutlich wird.40 Das Bildprogramm zeigt zugleich die Bedeutung des Porträts als Stellvertreter des Abgebildeten, in dem dieser von den Betrachtern wiedererkannt wird. Demzufolge spielt das Kriterium der Ähnlichkeit („likeness“) eine große Rolle, wobei es nicht nur um die Wiedergabe der physischen Merkmale geht, sondern der Versuch unternommen wird, auch den Charakter, den Geist und/oder das innere Wesen des Dargestellten sichtbar zu machen.41 Beide Aspekte sind auch, wie wir in den nachfolgenden Kapiteln zeigen werden, bei den chinesischen Offiziersporträts vorhanden. 1.2.2. Terminologie Ein besonderes Problem stellt die Definition und Kategorisierung des hier zu untersuchenden Bildnistyps dar. Spätestens in der Han-Zeit sind drei Haupttypen des Porträts literarisch nachweisbar: Neben Bildnissen von Angehörigen des Hofes und historischen Persönlichkeiten sind es Porträts von loyalen Beamten und berühmten Generälen, die den späteren Kaiser bei der Dynastiegründung unterstützt haben. Sie dienten der herrschenden Aristokratie und halfen bei der propagandistischen Glorifizierung des Staates und seiner zivilen und militärischen Vertreter.42 Der Bildnistyp wird im tang-zeitlichen Lidai ming­ huaji 歷代名畫記 („Aufzeichnungen über berühmte Maler aufeinanderfolgender 39 40 41 42 und Porträtgalerie im Europa der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert seien hier beispielhaft genannt: Völcker 2000; Herbst 2006; Gaethgens/Wedekind 2010; Kuster 2014. Burke 1998: 162. Eine umfassende Beschreibung von Bilderzyklen berühmter Personen, nämlich „neuf preux“ und „uomini famosi“ gibt Böcker-Dursch 1973. Burke 1995: 395. Stellvertretend für die allgemein anerkannte Definition des Porträts in der europäischen Malerei siehe Beyer 2002, insbesondere 16. Vgl. Vinograd 1992: 20. 27 ­ enerationen“) aus dem Jahr 847 wiederum als Subkategorie der Malerei geG nannt.43 Der Begriff gongchen 功臣 bedeutet nach Hucker „verdienstvoller Minister“ und dient ihm zufolge seit der Tang-Zeit als Bezeichnung für herausragende Zivil- und Militärbeamte bzw. Offiziere.44 Aber inwiefern entspricht der Typus des Offiziersporträts in der Qing-Zeit, vor allem in seiner besonderen Ausprägung im 18. Jahrhundert, seinen Vorläufern in den früheren Dynastien? Wo gibt es Gemeinsamkeiten, wo lassen sich Unterschiede feststellen? 1.2.3. Zur Geschichte der chinesischen Porträtmalerei Eine kritische Würdigung dieser Bildniskategorie ist nur möglich, wenn wir sie vor dem Hintergrund der Geschichte der chinesischen Porträtmalerei betrachten. Ein kurzer Überblick soll hier genügen: In der Frühzeit der chinesischen Malerei gelten Figuren und Porträts als vornehmste Gattung;45 auch wenn nur wenige Bilder überliefert sind, geben zeitgenössische Quellen doch ein beredtes Zeugnis von der Vielzahl an Werken. In der Han- und Tang-Zeit erlebt das Genre an der kaiserlichen Malakademie eine überragende Blüte; die erste Jahrtausendwende bringt mit dem Aufkommen einer selbstbewussten Beamtenschicht in der Süd-Song-Zeit (11./12. Jahrhundert) eine Verlagerung zur Landschaftsma­ lerei, die von den sog. Literatenmalern vehement propagiert wird. Die Por­ trätmalerei erfährt durch die Intellektuellen, die ihre Hobbymalerei zur einzig wahren Tätigkeit eines Künstlers erklären, eine Ächtung, da die spezialisierten Berufsmaler abschätzig zu Handwerkern degradiert werden;46 dennoch bleibt der Kaiserhof dem Genre weiterhin treu. Zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert ins Abseits gedrängt, überdauert die Porträtmalerei jenseits der künstlerischen Hauptströmung; erst durch das Entstehen einer städtischen Kultur während des 43 Zhang Yanyuan 1972, zit. n. Ledderose 1973: 8. 44 Wörtl. „meritorious minister”. Die genauere Erläuterung lautet: „a generic designation of eminent civil officials and military officers; in Sung [Song], especially those who were awarded laudatory epithets in 2-character combinations (…) (Hucker 1985: 291, Nr. 3395). Hier verweist Hucker zudem auf weitere lobende Beinamen. Ein Beispiel für solche Beinamen findet sich bei Hucker 1985: 172, Nr. 1235. In der koreanischen Joseon-Dynastie (1392-1911) soll es sogar nicht weniger als 28 Beinamen für verdiente Beamte gegeben haben (Cho 2002: 1). 45 Ledderose 1973: insbesondere 8. 46 James Cahill hat die mangelnde Kunstfertigkeit dieser „Hobbymaler“ gegenüber den deutlich erfahreneren, weil geübteren Berufsmalern am Beispiel des berühmten Literatenmalers und Kunstkritikers Dong Qichang 董其昌 (1555-1636) entlarvt (Cahill 1982a). 28 16. bis 18. Jahrhunderts (Ming/frühe Qing) und einer Blüte der literarischen Biographie kommt es zu einem Wiederaufleben der Porträtmalerei, wobei zahlreiche Sondertypen entstehen.47 Schließlich wird die Gattung von den QingKaisern intensiv genutzt sowohl zur Dokumentation und Erinnerung als auch zur Legitimation und Expansion ihrer Herrschaft.48 Dietrich Seckel hat zurecht darauf hingewiesen, dass die Porträtmalerei durch die Geschichte hindurch bis heute von der chinesischen Gesellschaft in ihren zahlreichen Funktionen – insbesondere im Rahmen des Ahnenkults – künstlerisch durchaus geschätzt wurde, auch wenn die Literaten mit ihrer „anti-mimetischen Ästhetik“ diese Tatsache schlichtweg ignorierten.49 Diese Studie hat sich daher zum Ziel gesetzt, zu einem besseren Verständnis der chinesischen Porträtmalerei beizutragen. 1.3. Plan der Arbeit Im Folgenden werden wir in vier Themenkomplexen den oben gestellten und weiteren Fragen nachgehen. Nach einem ausführlichen Einblick in den Stand der wissenschaftlichen Forschung und einer kurzen Präsentation der in dieser Studie angewandten Methodik noch in dieser Einleitung wird im ersten Teil beginnend mit dem zweiten Kapitel eine historische Einordnung des Bildprogramms vorgenommen und die Tradition der Heldengalerie dargelegt. Dabei werden Ursprung und Geschichte dieses Porträttyps anhand von Vorläufern und Nachfolgern untersucht. Die entscheidende These lautet, dass das Offiziersporträt von der Zhou- bis in die späte Qing-Zeit durchgängig, also kontinuierlich auftritt und nicht, wie bisher zumeist angenommen, nach Höhepunkten in der Han- und Tang-Zeit erst vom Qianlong-Kaiser wiederbelebt wurde. Dies lässt sich durch zeitgenössische Quellen für die Song- bis Ming-Zeit belegen. Die Tradition wird noch von der Kaiserinwitwe Cixi weitergeführt, wenn auch nur mehr epigonenhaft in Form kleinerer Formate wie Querrolle und Albumblatt. Abschließend behandelt ein kleiner Exkurs die Fortentwicklung des Genres im Holzschnitt und zeigt Verknüpfungen zu Exportkunst (Chinahandel) und Fotografie auf. 47 Siehe hierzu insbesondere Cahill 1982b. 48 Vgl. Hearn 1990: 108. 49 Seckel 1993 und 2005: insbesondere 29. Ein überzeugendes Plädoyer für die Bedeutung und Vielfalt chinesischer Porträtmalerei hat Wu Yuchuang bereits in den 1950er Jahren geliefert. Für die Qing-Zeit listet er nicht weniger als 102 Namen berühmter Porträtmaler auf, darunter Xie Bin 謝彬 (1602-nach 1680) und Yu Zhiding 禹之鼎 (1647-1710) (Wu 1957: hier 16). 29 Das dritte Kapitel präsentiert die wichtigsten Personen, die an der Entstehung des Bildprogramms beteiligt waren, und entwirft einen zeitlichen Rahmen der Werkgenese. Ausführlich betrachtet wird die besondere Ausformung, die der Bildnistyp aufgrund der Stellung des Auftraggebers erhalten hat. Als Repräsentant einer Fremddynastie wusste der Qianlong-Kaiser ein einzigartiges Herrschaftskonzept zu entwickeln, das die „zivilen“ Tugenden des han-chinesischen Kaisers mit den „kriegerischen“ Eigenschaften der manjurischen Nomadentradition verband sowie die verschiedenen Ethnien des multikulturellen Imperiums an sich zu binden vermochte. Dies spiegelt sich in der Auswahl der porträtierten Personen wider: Anders als in der Han- und Tang-Zeit handelt es sich nicht um bereits verstorbene Gründungsheroen, sondern um häufig noch lebende Zeitgenossen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit, die an den Kolonialkriegen teilgenommen hatten. Der zweite Teil der Arbeit diskutiert die entscheidenden Fragestellungen des Bildkonzepts, insbesondere der Kopf-Körper-Dichotomie, und der Funktion. Bei der besonderen Gewichtung der beiden letztgenannten Punkte orientieren wir uns an der von Richard Vinograd vorgenommenen Charakterisierung des chinesischen Porträts in die drei entscheidenden Faktoren „effigy“ (Porträtähnlichkeit/Identität), „emblem“ (Status/Rolle) und „event“ (Ereignis).50 Im vierten Kapitel wird das Bildkonzept vorgestellt und die Einordnung innerhalb der bisher bestehenden Bildniskategorien besprochen. Die hier vertretene These lautet, dass das Offiziersporträt viel stärker von den Bildkonventionen der traditionellen chinesischen Malerei geprägt ist als bisher angenommen. Dabei spielt die Kopf-Körper-Dichotomie eine herausragende Rolle: Während es beim Gesicht auf die Wiedererkennbarkeit durch Verismus und Physiognomie ankommt, ist beim Körper nicht die Anatomie, sondern der Statusaspekt maßgeblich, wobei Kleidung, Accessoires und Waffen repräsentativen Charakter haben und die Persönlichkeit des Dargestellten hervorheben sollen. In diesem Zusammenhang werden die Einflüsse der Jesuitenmaler an der kaiserlichen Hofakademie auf Malstil und -technik kritisch beleuchtet. Auch wichtige Aspekte wie Bewegung, Posen und Gesten lassen sich historisch aus der traditionellen Figurenmalerei und insbesondere aus dem verwandten Genre des Holzschnitts ableiten und zeigen damit eine enge Verbindung zu Volkskunst und -theater mit ihren mitunter farbenfrohen und lebendigen Darstellungen von Göttern und Helden. Anschließend werden an ausgewählten Beispielen 50 Vinograd 1992: 10-13. Vinograd hat diese Einordnung am Typus des chinesischen Ahnenporträts entwickelt. 30 Fragen des Formats erörtert, zum einen bezüglich weiterer Formatversionen wie Ölbild und Querrolle zum anderen hinsichtlich der unterschiedlichen Serienversionen, soweit vorhanden. Das fünfte Kapitel beleuchtet die vielschichtigen Funktionen des Bildprogramms. Dabei wird zunächst die Diskussion um die Einordnung innerhalb der bisher bestehenden Bildniskategorien wieder aufgenommen und das Phänomen der Heldenverehrung in der chinesischen Geschichte geschildert, gefolgt von einer detaillierten Beschreibung des Orts, an dem die Porträts präsentiert wurden, nämlich der Halle des Purpurglanzes (Ziguangge). Die zentralen Thesen dieses Kapitels beschreiben die Porträts als Kultbilder, die in ein komplexes Militärritual in einer Art Gedächtnistempel (ci 祠) eingebunden sind. Damit werden sie als Bildnisse zur Erinnerung und Verehrung öffentlicher Ahnen interpretiert und den privaten Ahnenporträts sowohl in ihrem Bildkonzept als auch in ihrer Funktion als Pendants gegenübergestellt. Sie sind als Bestandteil eines vom Qianlong-Kaiser geförderten Staatskults zu verstehen, der bewusst über die rein politische Propaganda hinaus religiöse Dimensionen erreicht; konkret wird dies am Beispiel der Siegesfeierlichkeiten, dem Gästeritual für die Tributgesandten sowie den damit verbundenen vor und in der Ziguangge abgehaltenen Banketten verdeutlicht. Das Schlusskapitel greift nochmals die wichtigsten Thesen der Studie auf und gibt einen Ausblick auf ungelöste Fragen und mögliche weitere Forschungsansätze. Der Anhang enthält einen ausführlichen Werkkatalog der bisher nachgewiesenen Porträts sowie mehrere Tabellen und das Abbildungsverzeichnis. Die Abbildungen befinden sich in digitaler Form auf einer separaten CD. 1.4. Forschungsstand Die hier vorliegende Studie hat entscheidend profitiert von der wissenschaftlichen Forschung der vergangenen zwei Jahrzehnte, insbesondere zum ostasiatischen Porträt sowie zur Neubewertung der Qing-Dynastie. Abgesehen von frühen allgemeinen Abhandlungen wie Cohn 1922, Elisséev 1932 und Lancman 1966, galt die Bildgattung des Porträts bis in die 1980er Jahre unter westlichen Wissenschaftlern als wenig ansprechendes Forschungsgebiet, wie die Studie von Sherman E. Lee51 zum Bildnis in China und Japan unmissverständlich zeigt. Erst seit Ende der 1980er Jahre lässt sich ein zunehmendes Interesse feststellen. So erschienen im Jahr 1990 gleich zwei wegweisende Sammelbände: Zum einen eine Reihe von Vorträgen des sog. „Taniguchi“-Symposiums, das 1989 in Kyoto unter 51 Lee 1977, insbesondere 117-118. 31 internationaler Beteiligung stattfand, 52 zum anderen eine Aufsatzsammlung mit Beiträgen führender Forscher der asiatischen Kunstgeschichte in Deutschland.53 Dietrich Seckel hat in jüngster Zeit den umfassendsten Beitrag zur Systematisierung der Gattung geleistet; seine monumentale Studie zum ostasiatischen Porträt in drei Bänden gilt jetzt schon als Meilenstein für das noch in seinen Kinderschuhen steckende Genre und als großes Vermächtnis des im Februar 2007 verstorbenen Altmeisters der ostasiatischen Kunstgeschichte in Deutschland.54 In China selbst hat der Bildtypus bis auf wenige Ausnahmen bisher nur wenig Aufmerksamkeit erfahren: Neben dem bereits erwähnten Wu Yuchuang55 haben sich insbesondere Wang Bomin, Nie Chongzheng, Shu Ling und Shan Guoqiang allgemeinen Fragen zum Porträt der Ming- und Qing-Zeit gewidmet.56 Außerdem erschienen mehrere Publikationen zu Porträtsammlungen in chinesischen Museen, die jedoch lediglich deskriptiver Natur sind.57 Historische Aspekte der Figuren- und Porträtmalerei behandeln der von Thomas Lawton58 verfasste und mittlerweile zum Standardwerk avancierte Ausstellungskatalog der Freer Gallery of Art in Washington D.C. und ein zwanzig Jahre später entstandener Aufsatz von Dietrich Seckel59, in dem er eine evolutionäre Entwicklung des Genres postuliert. Besonderen Aspekten des Porträts im chinesischen Altertum (Han- und Tang-Zeit) sind u. a. Yonezawa 1939, Hou 1981, Spiro 1990, Kesner 1991 und 1995 sowie Wu/Tsiang 2005 nachgegangen; zudem hat Julia K. Murray mehrere Studien zum Konfuziusporträt vorgelegt.60 Hinsichtlich der verschiedenen Porträttypen innerhalb der chinesischen Malereigeschichte lässt sich feststellen, dass das Kaiserporträt und vor allem das Ahnenporträt die intensivste Aufmerksamkeit erfahren haben, während für das Mönchsporträt und das Literatenporträt bisher nur Einzelstudien existieren. Von Edward B. Shafer liegt die herausragende Untersuchung zum tang-zeitlichen Kaiserporträt vor.61 Kein geringerer als Wen C. Fong hat sich dagegen in mehreren Aufsätzen mit 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 32 Society for International Exchange of Art Historical Studies 1990. Kraatz/Meyer zur Capellen/Seckel 1990. Seckel 1997, 1999 und 2005. Wu 1957; vgl. 1.2.3., Anm. 49. Wang Bomin 1982a, Nie 1985, Shu 1985, Shan 1984, 1990, 1997 und 2000. Palastmuseum Peking 1935, Li 1970, Nationales Palastmuseum Taipei 1971, Chiang 1974, Liang 1993. Lawton 1973. Seckel 1993. Murray 1992, 1996 und 2001. Schafer 1962/63. Kaiserporträts der Song-, Yuan- und Ming-Zeit beschäftigt;62 ausführliche und quellenintensive Beiträge zu song-zeitlichen Kaiserporträts im Verbindung mit dem kaiserlichen Ahnenkult hat Patricia Ebrey unternommen.63 Von Anning Jing stammen Studien zu yuan-zeitlichen Porträts von Khubilai Khan und seiner Gattin Chabi.64 An Aufsätzen zum qing-zeitlichen Kaiserporträt in seinen verschiedenen Ausformungen sind u. a. Kidd 1973, Hearn 1990, Zito 1994 und Wu 1995a zu nennen. Einen Meilenstein in der Erforschung des chinesischen (und japanischen) zen-buddhistischen Mönchsporträts lieferte Helmut Brinker;65 das Pendant beim Literatenporträt in der Zeit von 1600 bis 1900 stellt die herausragende Studie von Richard Vinograd dar.66 Zum Ahnenporträt der Ming- und Qing-Zeit liegt das bisher umfangreichste Material vor. Während Stevens 1989 und 1994 Porträts (zumeist Skulpturen) auf chinesischen Altären untersucht, bieten Ebert 1989 und 1990, Kesner 1993/94, Stuart 1997, Hornby 1998, Little 1999, Johnson 2003, Kwan 2003 und Bügener 2006 Studien zu Werken in Museumssammlungen. Besonders zu erwähnen ist die Publikation Worshiping the Ancestors: Chinese Commemorative Portraits von Jan Stuart und Evelyn Rawski.67 Ausgangspunkt für diese erste umfassende Studie zum Genre ist die Sammlung von Ahnenporträts in der Arthur M. Sackler Gallery in Washington D.C., die ihre Entstehung hauptsächlich der Sammelleidenschaft von Richard G. Pritzlaff zu verdanken hat und nach zehnjähriger wissenschaftlicher Bearbeitung 2001 erstmals in einer großangelegten Ausstellung mit Symposium einem internationalen Publikum präsentiert werden konnte.68 Des Weiteren liegen mit Siggstedt 1992 und Stuart 2005 bemerkenswerte Beiträge zu Mimesis und Physiognomie am Beispiel des Ahnenporträts vor. Neben den genannten, zum Teil grundlegenden Untersuchungen zum ostasiatischen und insbesondere chinesischen Porträt konnte für diese Studie auch auf zahlreiche Arbeiten zurückgegriffen werden, die einen neuen Blick auf die manjurische Fremddynastie und ihre Rolle in der chinesischen Geschichte werfen. 62 63 64 65 Fong 1995, 1996a und 1996b. Ebrey 1997, 1999 und 2004. Jing 1994 und 1996. Brinker 1973; außerdem Brinker 1973/74 und Foulk/Sharf 1993/94. Zum besonderen Thema der Reliquienporträts, vor allem von Mönchen, in der ostasiatischen Porträtplastik vgl. Croissant 1990. 66 Vinograd 1992. 67 Stuart/Rawski 2001. 68 Siehe hierzu die ausführlichen Berichte von Dora C. Y. Ching (Ching 2001a und 2001b). 33 Welche rasante Entwicklung die Forschung zur Qing-Zeit in den vergangenen Jahren gemacht hat, lassen die folgenden Ausführungen von Wang Cheng-hua anlässlich einer Ausstellung zum Qianlong-Kaiser, die 2002 im Nationalen Palastmuseum in Taipei stattfand, deutlich erkennen: Since the mid-1990s, the new vision which has emerged in the field of Chinese history has recast the Qing dynasty as a regime very different from its Han Chinese counterparts, especially in its Manchu identity and the practice of a ‘divide and rule’ policy. From this perspective, the Qing dynasty is not merely one of the ‘Chinese’ dynasties, but begins to acquire its own historical significance and impact. The Qing emperors are thus no longer represented as alien rulers who soon became sinicized in their ruling of China proper. Much research in this direction has made the Qianlong emperor its focus, since his sixty-year reign has long been considered the turning point in Qing history.69 Die historische Neubewertung der tungusischen Manju-Fremdherrscher, die China mehr als 250 Jahre regierten, ist vor allem auf die Öffnung chinesischer Archive und damit der Zugänglichkeit manjurischsprachiger Quellen seit Ende der 1970er Jahre zurückzuführen.70 Exemplarisch kommt dies in der Kontroverse zwischen Ho Ping-ti, dem Vertreter der sog. Sinisierungsthese, und Evelyn Rawski, die diese These mit schlagkräftigen Argumenten in Frage stellt, zum Ausdruck. Sie entlarvt die „Sinicization“ als han-chinesische nationalistische Interpretation von Chinas Vergangenheit im 20. Jahrhundert.71 Vor allem in den USA hat die veränderte Quellenlage zu einem gewaltigen Aufbruch in der sinologischen Geschichtswissenschaft geführt („New Qing History“).72 In der Flut von Neuerscheinungen seit den 1990er Jahren spielt die Ethnizität („ethnicity“) bzw. ethnische Souveränität eine wichtige Rolle, was sich in dem Begriff „Manchuness“ (wörtl. „Manjutum“) manifestiert. Schließlich war auch eine radikale Neuinterpretation des qing-zeitlichen Weltbildes unumgänglich: nicht mehr 69 Wang 2002: 68. 70 Hier ist insbesondere das Erste Historische Archiv in Peking zu nennen. Eine ausführliche Beschreibung der neuen Forschungssituation in chinesischen Archiven und der daraus erwachsenen Möglichkeiten für an der Qing-Zeit interessierte Wissenschaftler gibt Elliott 2001b: 1-4 mit Verweisen auf frühere Veröffentlichungen von Beatrice S. Bartlett. 71 Rawski 1996: hier 842. Ho Ping-ti hat seine Sinisierungsthese 1967 in dem Aufsatz „The Significance of the Ch’ing Period in Chinese History“, Journal of Asian Studies 26.2: 189-195 formuliert und sie später gegen die Argumente von Evelyn Rawski zu verteidigen versucht; siehe Ho 1998. 72 Siehe hierzu insbesondere Waley-Cohen 2004. 34 sinozentrisch, sondern multiethnisch.73 Hier sei lediglich verwiesen auf die vier bahnbrechenden Studien, die R. Kent Guy nicht von ungefähr als „the Four Books of Manchu studies” bezeichnet hat: The Translucent Mirror von Pamela K. Crossley, The Manchu Way von Mark C. Elliott, The Last Emperors von Evelyn Rawski und Manchus and Han von Edward Rhoads.74 Einen nicht unerheblichen Teil hat jedoch auch die deutschsprachige Manjuristik zur Erforschung der Qing-Zeit geleistet; leider werden ihre Forschungsergebnisse im Ausland, vor allem in den USA, wegen der Sprachbarriere weiterhin zu wenig wahrgenommen. Dies gilt ebenfalls für russische und japanische Forschungen.75 Tatsächlich gibt es in Europa bereits eine lange Tradition der Manju-Studien, die bis auf die am Qing-Hof tätigen Jesuiten zurückreicht. Diese hatten manjurische Textversionen chinesischer Klassiker zur Übersetzung chinesischer Quellen genutzt. Und es war ein deutscher Wissenschaftler, Heinrich Julius von Klaproth (1783-1835), der den ersten, 1814 in Paris gegründeten Lehrstuhl für Sinologie (eigentlich „Chinesische und tartar-manjurische Sprachen und Literaturen“) besetzte. Zu weiteren Koryphäen zählen F. W. K. Müller (1863-1930) und Ferdinand Lessing (1882-1961), langjährige Kuratoren am Ethnologischen Museum (vormals Museum für Völkerkunde), Staatliche Museen Berlin; Erich Hänisch (1880-1966), Erich Hauer (1879-1936) und Walter Fuchs (1902-1979) leisteten pionierhafte Forschungen zur manjurischen Sprache und Literatur.76 Letzterer wirkte zudem als Lehrer von zahlreichen angesehenen Wissenschaftlern wie Martin Gimm, 73 Näheres dazu unter 3.1.2. 74 Guy 2002: 152; siehe Crossley 2002 (orig. 1999), Elliott 2001a, Rawski 1998 und Rhoads 2000. Siehe auch Crossley 1985, 1987, 1990a, 1990b, 1992, 1997, Crossley/ Raws­ki 1993; Elliott 2001b, 2009. Einen Überblick zur westlichen Manju-Forschung bis Ende der 1970er Jahre gibt Clark 1979, ein Stand zur Jahrtausendwende bei Sen 2002; amerikanische Manju-Forschung aus chinesischer Sicht findet sich bei Ding 2002. Zu den führenden amerikanischen Qing-Historikern zählen außerdem u. a. James A. ­Millward (Millward 1994, 1998, 1999, 2002, 2004), Susan Naquin (Naquin/ Rawski 1987, Naquin 2000, 2004), Peter C. Perdue (Perdue 1996, 2005) und Joanna Waley-Cohen (Waley-Cohen 1991, 1993, 1996, 1998, 1999, 2002, 2004, 2006). 75 Carsten Näher kritisiert die allgemeine Aussage von Pamela K. Crossley (Crossley 1997: 11), dass die herausragende Bedeutung manjurischsprachiger Quellen für die Erforschung der Qing-Zeit erst in den letzten Jahren erkannt worden sei und die meisten Qing-Historiker über nur unzureichende Kenntnisse des Manjurischen verfügten. Dies gelte wohl für die US-amerikanische Sinologie, aber nicht für die europäische und japanische Forschung (Näher 1998: 166). 76 Noch heute gelten die Manju-Grammatik von Erich Hänisch (Hänisch 1961) und das Manju-Wörterbuch von Erich Hauer (Hauer 1952-55; siehe auch Hauer 2007) als 35 Giovanni Stary, Michael Weiers, Hartmut Walravens und Erling von Mende.77 So waren insbesondere die Aufsätze von Hartmut Walravens für die vorliegende Untersuchung zu den Offiziersporträts der Qianlong-Ära absolut unverzichtbar.78 Nicht nur hat Walravens erstmals Namenslisten der porträtierten Offiziere vorgelegt und die Einbindung der Werke in ihren historischen Kontext herausgestellt, sondern auch die Bedeutung der manjurischen Sprache betont und auf die Wichtigkeit der manjurischen Transkription für nicht han-chinesische Namen hingewiesen.79 Dementsprechend hat er – ebenfalls erstmalig – Transkriptionen der manjurischen Aufschriften vorgelegt. Vielfach ist festzustellen, dass in der Literatur, vor allem in Auktionskatalogen, bei den Offiziersporträts inkorrekte Namen angegeben wurden, weil man die falschen Schriftzeichen in der chinesischen Aufschrift als Eigenname interpretierte. Solche Fehltranskriptionen sind dann von Kunsthistorikern häufig kritiklos, also ohne gründliches Studium der gesamten Aufschrift, übernommen worden. Giovanni Stary hat dies exemplarisch am Porträt des Janggimboo (1a49)80 gezeigt, der in der Literatur zumeist als Hu-er-cha, Hu-er-cha-ba und Hu-erh-cha-a auftaucht.81 Diese 77 78 79 80 81 36 unverzichtbare Nachschlagewerke. Weitere Hilfsmittel bieten inzwischen u. a. Norman 1978, Li 2000 und Gorelova 2002. Vgl. Bauer 1995: 422-434. Biographische Informationen finden sich in den jeweiligen Nachrufen: F. W. K. Müller (Lessing 1930), Ferdinand Lessing (Rudolph 1962) und Erich Hänisch (Benl/Franke/Fuchs 1968). Von den zahlreichen Publikationen zur Manjuristik seien stellvertretend genannt: Weiers/Stary 1982, Weiers 1983, Stary 1987, 1990, 1995, 2000, Näher 1998, Vogelsang 1998/99 und Bieg/Mende/Siebert 2000. Ausführliche Informationen zu qing-zeitlichen Archiven in China geben Fuchs 1932, 1936, Gimm 1981, Elliott 2001b und Zhu 2003; zu den umfangreichen Manjurica-Sammlungen in russischen Archiven, vor allem in St. Petersburg, siehe Näher 2001 und Volkova 2003. Walravens 1993 und 1997. Walravens 1993: 308. Siehe Werkkatalog Nr. 27 und Abb. 26. Vgl. u. a. Hearn 1990: Tafel 6 (Hu-er cha); Sotheby’s New York 1986: Los 90 und Beurdeley 1997: 121 (Hu Er Cha Ba bzw. Huerchaba); Seckel 1999: Abb. 9 (Hu Erh Cha A). Ein aktuelles Beispiel mit mehreren inkorrekten Offiziersnamen liefert die Publikation von Erich Zettl (Zettl 2011; die überarbeitete englische Kurzfassung: Zettl 2012): u. a. Banninga statt Baningga (S. 61); Hamtu statt Hamtukû (S. 63). In der Buchrezension zu Zettl 2011 bemängelt Hartmut Walravens einzig die Fehlschreibung „Huerchaba Yanyimboo“ (S. 68), verschlimmbessert allerdings mit der Schreibung „Janyimboo“, die ebenfalls inkorrekt ist (Walravens 2011: 569). Zettl 2012: 100 bleibt weiter irrtümlich bei „Yanyimboo“. Die Rezensionen (Walravens 2011 und Olivová 2012) sind in dieser Hinsicht als wohlwollend bis unkritisch zu bewerten. Silben sind eigentlich Teil des Ehrentitels hûrca baturu, der Eigenname folgt erst danach.82 Dementsprechend werden in dieser Studie, wo möglich, die Offiziersnamen vorrangig in ihrer manjurischen Lesung angegeben, da diese zudem bei nicht-chinesischen Namen der ursprünglichen Lautung näher kommt als die chinesische. Was schließlich die Erforschung der Offiziersporträts der Qianlong-Ära betrifft, wurden erst seit Beginn der 1990er Jahre ausführlichere Studien veröffentlicht. Vorher fanden einzelne Bildnisse in Erwerbungsberichten, Auktions-, Bestands- und Ausstellungskatalogen sowie historischen Abhandlungen, wenn überhaupt, dann nur kurze Erwähnung.83 Neben Hartmut Walravens unternehmen Nie Chongzheng84 und Ka Bo Tsang85 erstmals den Versuch, sowohl bisher bekannte, noch erhaltene Werke vorzustellen als auch diese in einen historischen und kunsthistorischen Zusammenhang zu bringen. Außerdem erhalten einzelne, in öffentlichen und privaten Sammlungen vorhandene Bildnisse kürzere oder längere Würdigungen.86 Einen entscheidenden Schritt weiter geht Ma Ya-chen87, indem sie formale und stilistische Bezüge zu früheren Heldendarstellungen in Malerei und Holzschnitt überzeugend nachweist. Zuletzt seien die bisherigen Veröffentlichungen der Autorin erwähnt, in denen bereits einige Ergebnisse der hier vorliegenden Untersuchung in gekürzter Form präsentiert wurden.88 Das wachsende Interesse chinesischer wie westlicher (vor allem nordamerikanischer) Kunsthistoriker an ming- und qing-zeitlicher Malerei der kaiserlichen Hofakademie steht in einem engen Zusammenhang mit der zunehmenden Präsenz der „Schätze aus der Verbotenen Stadt“ auf dem internationalen 82 Stary 2000: VIII. Als weitere Beispiele wären zu nennen: (kesike baturu) Uksiltu statt Keshiki Batu Luwuke Shier (Christie’s New York 1996: Los 101), Tanibu statt Te Gu Si Ba (Sotheby’s New York 1993: Los 53), Ohûi statt Abatolu (Sotheby’s Amsterdam 1994: 74, Los 493). 83 Z. B. Royal Ontario Museum 1972, Jungmann 1985, Hearn 1987, Moss 1988, Brentjes/ Brentjes 1991, Royal Ontario Museum 1992. Zu den wenigen Ausnahmen gehören das undatierte und unveröffentlicht gebliebene Manuskript von Gijsbertus Bouquet (Bouquet 1975) sowie der Aufsatz von Giovanni Stary (Stary 1982a) zu drei Offiziersporträts in der Ostasiatischen Kunstsammlung, Museum für Asiatische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin. 84 Nie 1990, 1993, 1996g, 2007, 2008a-c. 85 Tsang 1990, 1992, 1993. 86 Fujita 1993; Schlombs 1995a und 1995b, Ledderose 1998, Zeng 1998, Yang 1999, Liu 2001 und Seckel 2005: 300-302. 87 Ma 2000. 88 Bügener 2003, 2004, 2005a-c, 2007. 37 Ausstellungsparkett. Auch wenn die chinesische Regierung bereits seit 1974 Kunstwerke aus dem Palastmuseum Peking auf Auslandstournee schickte, so markiert das Jahr 1985 doch einen besonderen Wendepunkt in der chinesischen Museumspolitik: Gleich mehrmals dürfen Kulturgüter aus kaiserlichen Sammlungen in besagtem Jahr in Übersee gezeigt werden und sind damit einem internationalen Fach- wie Laienpublikum, das China bisher nahezu ausschließlich aus Büchern und Spielfilmen kannte, zugänglich.89 Eine ausführliche Übersicht von Ausstellungen mit Werken aus der Verbotenen Stadt bzw. dem Kaiserpalast in Peking (Palastmuseum Peking und Nationales Palastmuseum Taipei) im Zeitraum von 1974 bis 2004 hat Susan Naquin vorgelegt.90 Daraus geht hervor, dass seit 2002 die mittlere Qing-Dynastie, vor allem die Regierungszeit des Qian­longKaisers, einen besonderen Schwerpunkt bildet. Hier sind vor allem zu nennen für das Jahr 2002 The Qianlong Emperor91 in Edinburgh mit Werken aus dem Palastmuseum Peking sowie Emperor Ch’ien-lung’s Grand Cultural Enterprise92 im Nationalen Palastmuseum Taipei, ergänzt durch die Eternal Vigilance93 betitelte Sonderausstellung zu qing-zeitlichen militärischen Dokumenten und Waffen; für 2004/2005 Splendors of China’s Forbidden City: The Glorious Reign of Emperor Qianlong94 im Field Museum Chicago und Dallas Art Museum sowie für 2005/2006 China – The Three Emperors, 1662-179595 über Kangxi, Yong­ zheng und Qianlong in der Royal Academy of Arts in London. Die beiden letztgenannten Ausstellungen fanden in Zusammenarbeit mit dem Palastmuseum Peking statt. Ergänzend sei schließlich erwähnt, dass, angelehnt an die Londoner Präsentation, das Musée Guimet in Paris im Sommer 2006 unter dem Titel Les Très Riches Heures de la Cour de Chine96, erstmals eine Ausstellung mit qingzeitlicher Kunst, vor allem Hofmalerei der besagten drei Kaiser, aus eigenem 89 Neben den spektakulären Ausstellungen Palastmuseum Peking (Ledderose 1985c) in Berlin und Wien sowie China und Europa (Berliner Festspiele 1985) in Berlin gaben folgende zwei Ausstellungen maßgebliche Anstöße für den „neuen Blick“ auf die chinesische Hofmalerei: Im Schatten hoher Bäume (Ledderose 1985a) mit Malereien der Ming- und Qing-Zeit aus kaiserlichen Sammlungen in Baden-Baden, Köln und Hamburg sowie The Elegant Brush (Chou/Brown 1985) mit Bildwerken aus der Regierungszeit Qianlongs in Phoenix, Arizona. 90 Naquin 2004. 91 Zhang 2002; siehe auch Caldwell 2002. 92 Feng 2002; siehe auch Wang 2002. 93 Li 2002a; siehe auch Li 2002b. 94 Ho/Bronson 2004. 95 Rawski/Rawson 2005; siehe auch Rawson 2005. 96 Rey 2006; siehe auch Finlay 2006. 38 Bestand organisierte.97 Seitdem zeichnet sich zudem ein Trend ab, neben den Werken chinesischer Palastkultur die eigene Hofkunst des 17. und 18. Jahrhunderts im Gegenüber zu präsentieren. Beispielhaft sei hier die Ausstellung Golde­ ner ­Drache – Weißer Adler: Kunst im Dienste der Macht am Kaiserhof von China und am sächsisch-polnischen Hof (1644-1795) in Dresden von 2008 genannt.98 Vor diesem skizzierten Hintergrund lässt sich die aktuelle Bedeutung der vorliegenden Untersuchung erst richtig ermessen. Denn bisher führten die Offiziersporträts, von wenigen Ausnahmen99 abgesehen, ein Schattendasein in Magazinräumen; sie wurden selten langfristig ausgestellt, und viele Bilder befinden sich gegenwärtig in einem restauratorisch bedenklichen Zustand. Umso erfreulicher ist die Tatsache, dass historische Aufnahmen existieren, die belegen, dass in der Vergangenheit durchaus einige Porträts in Ausstellungsräumen deutscher Museen präsentiert wurden: So waren drei Bildnisse in den 1960er Jahren im Ethnologischen Museum Berlin zu sehen (Abb. 49) und das Museum für Ostasiatische Kunst in Köln zeigte ein Porträt kurz nach dessen Erwerbung Anfang der 1990er Jahre (Abb. 50). Ein drittes Beispiel, diesmal aus den USA, betrifft die New Yorker Sammlerin Dora Wong, die Mitte der 1990er Jahre bereits zwei ihrer drei Offiziersporträts auf Auktionen bei Sotheby’s in New York und Amsterdam erworben und zeitweilig im Empfangsraum ihrer Wohnung aufgehängt hatte, wo sie den Besucher quasi nach dem Eintreten begrüßten (Abb. 51). Welche sich wandelnde Rezeption die Offiziersporträts in den vergangenen zwei Jahrzehnten erfahren haben, lässt sich geradezu symbolhaft anhand von drei Bildnissen, die als Titelbilder für verschiedene Publikationen dienten, eindrucksvoll demonstrieren. Beginnen wollen wir mit dem Porträt des Janggimboo (1b49, Werkkatalog Nr. 27, Abb. 26) als Titelbild für den 1961/62 entstandenen autobiographischen Roman Sperber über Peking100 von Lao She 老舍 (1899-1966) (Abb. 52). Die 97 Weitere Ausstellungen zur Kunst am Qing-Hof in Frankreich nennt Rey 2006: 46. Wiederholt hat auch das Museu de Arte de Macau seit 1999 Kunst der Qing-Zeit präsentiert; siehe u. a. Macao Museum of Art 2002. 98 Bischoff/Hennings 2008 mit Literaturhinweisen u. a. zu weiteren Ausstellungen dieses Trends in Kopenhagen (2006) und Brüssel (2007). 99 So wird das Porträt des Ayusi (1a33, Werkkatalog Nr. 9, Abb. 8) als besonderes Kulturgut (wenwu jingpin 文物精品 bzw. zhenpin 珍品) in der Dauerausstellung des im Dezember 2004 eröffneten Neubaus des Tianjin Museum präsentiert (Tianjin Museum 2004: [5]). Herzlicher Dank gebührt Professor Susan Naquin, Princeton University, die mich auf diesen Tatbestand aufmerksam gemacht und mir freundlicherweise die zitierte Museumspublikation zeitweilig zur Verfügung gestellt hat. 100Lao 1992. Der Titel der chinesischen Originalausgabe lautet Zhenghong qi xia 正紅旗下 („Unter Glattem Rotem Banner“). 39 Übersetzerin des Romans, Silvia Kettelhut, wählte das Motiv des manjurischen Kriegers aufgrund der Biographie Lao Shes. Der bedeutende Schriftsteller war selbst manjurischer Abstammung; sein Vater hatte als kaiserlicher Gardeoffizier während des Boxeraufstands im Jahre 1900 bei der Verteidigung des Kaiserpalastes gegen die ausländischen Armeen sein Leben verloren.101 Das Bildnis des Janggimboo verdient besondere Beachtung aufgrund seiner nicht alltäglichen Erwerbungsumstände. Als es im Juni 1986 auf einer Auktion bei Sotheby’s New York vom Metropolitan Museum of Art für 115 500 US-Dollar gekauft wurde, was dem vier- bis fünffachen Schätzwert (20 000 bis 25 000 US-Dollar) entsprach, sorgte dies für eine kleine Sensation. 102 Bis in die 1980er Jahre hatten die vereinzelt im Kunsthandel angebotenen Porträts für verhältnismäßig geringe Beträge, umgerechnet 1000 bis 25 000 Euro, den Besitzer gewechselt. Die Erwerbung und damit Anerkennung eines Offiziersporträts als Kunstwerk durch ein weltweit führendes Kunstmuseum brachte den Umschwung. Mittlerweile haben die Bildnisse, insbesondere der ersten Serie von 1760, auf dem internationalen Kunstmarkt stetig wachsendes Interesse und damit verbunden eine rasante Wertsteigerung erfahren.103 Das Porträt des Janggimboo wird seit den 1990er Jahren vom Metropolitan Museum of Art als Postkarte und Poster vermarktet und ist das am meisten publizierte und reproduzierte Offiziersporträt überhaupt.104 Inzwischen zu ähnlicher Berühmtheit gelangt ist das Porträt des Uksiltu (1b29, Werkkatalog Nr. 23, Abb. 22) aus dem Besitz der oben genannten New Yorker Sammlerin Dora Wong. Es schmückt als Titelbild die bereits erwähnte, 2001 erschienene Monumentalstudie The Manchu Way105 von Mark C. Elliott (Abb. 53), in welcher der Autor die Bedeutung der militärischen Bannerorganisation und des damit verbundenen martialischen Kampfgeistes für das Herrschaftsideal der 101 Dabei griff sie auf die Abbildung im Katalog zur im Museum Rietberg in Zürich gezeigten Ausstellung Mandat des Himmels: Kaiser und Künstler in China: Chine­ sische Malerei und Schriftkunst aus dem Metropolitan Museum of Art, New York (Barnhart/Fong/Hearn 1996: 181, Kat. Nr. 37) zurück. Persönliche Mitteilung bei einem Besuch in Berlin im Jahr 2003. Hier danke ich Dr. Silvia Kettelhut und Dr. Wolfgang Röhr für die gewährte Gastfreundschaft und zahlreiche anregende Gespräche. 102 Chang 1986: 118. 103 Bügener 2004: 167, Anm. 7; siehe auch Bügener 2005c: 42. Am 9. Oktober 2007 wurden bei Sotheby’s Hongkong zwei Hängerollen mit Offiziersporträts für umgerechnet jeweils über eine Million Euro verkauft. Vgl. dazu Markbreiter 2008: 116. 104 Diese Einschätzung erfolgte aufgrund der Menge an Abbildungsnachweisen. 105 Elliott 2001a. 40 Qing-Kaiser im 18. Jahrhundert herausstellt.106 Zudem wurde das Bildnis des Uksiltu als einziger Vertreter seiner Gattung in der im selben Jahr stattfindenden Ausstellung Worshiping the Ancestors in Washington D.C. gezeigt.107 Den vorläufigen Höhepunkt markiert stellvertretend das Berliner Porträt des Baningga (1b21, Werkkatalog Nr. 20, Abb. 19) als Titelbild des 2003 zur gleichnamigen Ausstellung erschienenen Katalogs Bilder für die „Halle des Purpurglanzes“: Chi­ nesische Offiziersporträts und Schlachtenkupfer der Ära Qianlong (1736-1795)108 (Abb. 54). Diese im Museum für Asiatische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, präsentierte Ausstellung brachte erstmals acht Offiziersporträts im Hängerollenformat aus deutschen Sammlungen (Berlin, Heidelberg, Köln) unter einem Dach zusammen.109 106 Zur Begründung der Motivwahl siehe Elliott 2001a: 390, Anm. 119. 107 Stuart/Rawski 2001: 66, Nr. 2.12. Für weitere Ausstellungsbeteiligungen in letzter Zeit siehe unten, Anm. 109. 108 Butz 2003c; siehe auch Butz 2003a und 2003b. Diese Präsentation begleitete die Blockbuster-Ausstellung Schätze der Himmelssöhne (Kunst- und Ausstellungshalle Bonn 2003) mit Werken aus dem Nationalen Palastmuseum Taipei, die im Alten Museum auf der Museumsinsel und später in Bonn gezeigt wurde. 109Seither sind wiederholt Offiziersporträts in Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt worden: So dienten das Porträt des Meningca (1b39, Werkkatalog Nr. 24, Abb. 23) sowie das Porträt des Giyamz’an Namk’a (2b44, Werkkatalog Nr. 44, Abb. 39) als optischer Blickfang in der Sonderausstellung Im Zeichen des Drachen: Chinesische Textilien und Gewänder vom 28. Mai 2004 bis 30. Januar 2005 im Völkerkundemuseum der Josefine und Eduard von Portheim-Stiftung in Heidelberg. Das Porträt des Uksiltu war 2004/2005 in der Schau Splendors of China’s Forbidden City (Ho/Bronson 2004: 58, Abb. 50) in Chicago und Dallas sowie vom 23. September 2006 bis 25. März 2007 in der Sonderausstellung The Emperor Looks West im Peabody Essex Museum, Salem, Massachusetts zu sehen. Und das Porträt des Baningga (1b21) wurde nach 2003 ein weiteres Mal dem Berliner Publikum vom 9. Juli 2009 bis 17. Januar 2010 präsentiert; und zwar in der Ausstellung Anders zur Welt kommen. Das Humboldt-Forum im Schloss im Alten Museum; vgl. die Abbildung bei Nedo 2009: 214 und nochmals zusammen mit den drei weiteren Bildnissen der Sammlung in der Wechselausstellung Menschen und Götter. Figurenmalerei in China vom 21. September 2010 bis 23. Januar 2011 im Museum für Asiatische Kunst. Regelmäßig wird das Porträt des Mingliyang (2a3) im Museum für Ostasiatische Kunst in Köln dem Publikum gezeigt, so während der Sonderausstellungen Der Perfekte Pinsel: Chinesische Malerei 1300-1900 vom 16. Oktober 2010 bis 20. Februar 2011 mit Werken aus eigenem Bestand (Spee 2010: Kat. Nr. 29) und Glanz der Kaiser von China: Kunst und Leben in der Verbotenen Stadt vom 20. Oktober bis 20. Januar 2013 in Zusammenarbeit mit dem Palastmuseum Peking (Museum für Ostasiatische Kunst Köln 2012: 199, Nr. 5). 41 1.5. Methodik Was Peter Burke an dem eingangs zitierten Beispiel des Renaissanceporträts als „comparative approach“ formuliert hat, nehmen wir als Ausgangspunkt für diese interdisziplinär angelegte Untersuchung, die aus so verschiedenen Forschungsfeldern wie der europäischen Kunstgeschichte, der Sinologie und den Zentralasienwissenschaften sowie der Geschichte und der Ethnologie reichlich Erkenntnisse geschöpft hat. Nur durch den Rückgriff auf solche Hintergrundinformationen ist es überhaupt möglich, dem Anspruch einer Kontextanalyse gerecht zu werden. Sie orientiert sich in ihrem Verständnis an Hans Beltings Auffassung vom „Werk im Kontext“.110 Belting selbst lehnt die Bezeichnung „Methode“ ab und will seinen Ansatz eher als „Spektrum der Möglichkeiten“ verstanden wissen, „die es erlauben, das Werk in dem Kontext zu sehen, in dem es entstand und für den es bestimmt war.“111 Aufschlussreich sind vor allem seine Ausführungen über die rezeptionsästhetische Funktion des Galeriebildes im 17. Jahrhundert, das mit dem Konzept der Offiziersporträts typologisch durchaus vergleichbar ist.112 Dieser Ansatz vereint demnach Fragen zu Ikonographie, Form und Stil mit solchen der Rezeption, des Auftraggebers und des Betrachters sowie der Funktion, also des sozialen, religiösen und politischen Umfelds.113 Dabei werden besonders Studien zur emotionalen Wirkung von Bildern/­Bildnissen berücksichtigt, die auf der Wahrnehmungspsychologie beruhen, wie sie Ernst H. Gombrich114 am Beispiel von Maske und Gesicht demonstriert hat. Hier 110 An dieser Stelle soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass dieser Ansatz auch seine Schwächen hat. Charles Lachman hat mit seiner vehementen Kritik an einem Artikel von Angela Zito über das Doppelporträt des Qianlong-Kaisers (Zito 1994) auf die Problematik interdisziplinärer Methodik hingewiesen. So konnte er der Religionshistorikerin mangelnde kunsthistorische Kenntnisse nachweisen, die zu entsprechend falschen Schlussfolgerungen geführt hätten, beispielsweise, dass Seide in China der bevorzugte Malgrund für Malerei und Kalligraphie gewesen sei, was als allgemeine Aussage nicht zutreffend ist (Lachman 1996, hier 743). 111 Belting 1985: 187. 112„In seiner künstlerischen Gestalt und in seiner Präsentation (Rahmen, Format, manchmal Vorhang) appelliert es an den Besucher der Galerie in einer unerwartet direkten Weise. Außerdem rechnet es mit dessen Bildungswissen und dessen Selbstverständnis als Literaturkenner“ (Belting 1985: 191). 113Wu Hung hat diesen neuen kunsttheoretischen Ansatz bereits beispielhaft am Format des Stellschirms und seiner verschiedenen Rollen als Bild und Medium innerhalb der chinesischen Malerei systematisch verfolgt und dementsprechend formuliert (Wu Hung 1996: hier 9). 114 Gombrich 1972. 42 seien stellvertretend Norman Brysons Vision and Painting: The Logic of the Gaze (1983), David Freedbergs The Power of Images (1989) sowie Hans Beltings Studien Bild und Kult (1990) und Bild-Anthropologie (2001) genannt. Die Verlagerung von Ikonographie- und Stilfragen hin zur Erforschung der Wirklichkeiten der Sozialwelt, in der Kunst produziert wird, hat sich Mitte der 1980er Jahre im kunsthistorischen Diskurs unter dem markanten Begriff „New Art History“115 etabliert. Nach Norman Bryson116 hat sie zwei Aufgaben zu erfüllen: Erstens soll sie einen global aufgefassten Kontext der Werkgenese (hier Kap. 3) liefern, das heißt nicht nur die Umstände der Patronage oder Werkproduktion untersuchen, sondern auch die komplexe Interaktion mit vielen Bereichen der Kultur (Wissenschaft, Militär, Literatur, Religion, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft usw.) hinterfragen; zweitens, angelehnt an die Semiotik, die visuelle Kultur einer Gesellschaft aufzeigen. Dabei geht es um den Versuch einer Dekodierung, also einer Entschlüsselung von Zeichen und Motiven, wobei sich die hermeneutische Interpretation des Bildes an der Literaturkritik orientiert. Um die Bedeutung des Auftraggebers und des zeitgenössischen Betrachters/Rezipienten ins rechte Licht rücken zu können, sind dementsprechend vermehrt Originalquellen einzubeziehen. Bei dieser kontextgebundenen Analyse kommen somit andere, aus der Ethnologie entlehnte Parameter zum Tragen: Statt der etischen Sicht (des Forschers bzw. von außen) wird eine emische Betrachtung (des/der Betroffenen von innen) postuliert.117 Dieser Forderung haben wir im Folgenden vor allem bei der Behandlung der Porträtfunktionen (Kap. 5) Rechnung getragen, indem auf Studien zum Ritual im Allgemeinen und zur Ritualdynamik im Besonderen zurückgegriffen wurde.118 115 Rees/Borzello 1986, Bryson 1988; vgl. Belting 1995. 116 Bryson 1988: xxvii-xxix. Bryson betont in diesem Zusammenhang den zeichenhaften Aspekt des Bildes und weist damit entschieden Gombrichs These vom Bild als (subjektiver) Wahrnehmung zurück (Bryson 1988: xi-xiv). 117 Dieser neue kunsthistorische Ansatz, die Bedeutung eines Kunstwerks aufgrund seiner Werkgenese und Rezeption zu untersuchen, hat inzwischen auch in der chinesischen Museumswelt zu einem Wandel der Ausstellungskonzeption geführt, wie Wang Cheng-hua am Beispiel von zwei Ausstellungen im Nationalen Palastmuseum Taipei über die mongolische Yuan-Dynastie (2001) und den Qianlong-Kaiser (2002) aufzeigen konnte (Wang 2002: hier 60-61). 118 Hobsbawm/Ranger 1983, Wilentz 1985, Kertzer 1988, Cannadine/Price 1992, Bell 1992 und 1997, Belliger-Krieger 2003. An dieser Stelle sei ausdrücklich auf die bahnbrechenden Studien von Joanna Waley-Cohen zum Militärritual in der Qing-Zeit (u. a. Waley-Cohen 1996, 2002 und 2006) verwiesen. 43