Volltext - Bundesministerium für Inneres

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.SIAK-Journal – Zeitschrift für Polizeiwissenschaft
und polizeiliche Praxis
Nautz, Jürgen (2011):
Der Kampf gegen den
Frauenhandel in Österreich vor
dem Ersten Weltkrieg
SIAK-Journal − Zeitschrift für
Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis
(2), 47- 60.
doi: 10.7396/2011_2_E
Um auf diesen Artikel als Quelle zu verweisen, verwenden Sie bitte folgende Angaben:
Nautz, Jürgen (2011). Der Kampf gegen den Frauenhandel in Österreich vor dem Ersten
Weltkrieg, SIAK-Journal − Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis (2), 4760, Online: http://dx.doi.org/10.7396/2011_2_E.
© Bundesministerium für Inneres – Sicherheitsakademie / Verlag NWV, 2011
Hinweis: Die gedruckte Ausgabe des Artikels ist in der Print-Version des SIAK-Journals im
Verlag NWV (http://nwv.at) erschienen.
Online publiziert: 3/2013
2/2011
. SIAK-JOURNAL
Der Kampf gegen den
Frauenhandel in Österreich vor
dem Ersten Weltkrieg1
Der Frauenhandel entwickelte sich als Begleiterscheinung der ersten Globalisierungs­
und Migrationswelle im Gefolge der Industrialisierung seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhun­
derts. Die ärmsten Gebiete der Habsburgermonarchie waren die Hauptrekrutierungsge­
biete für die Opfer; in Altösterreich war dies vor allem Galizien. Hauptdestination war
vor 1914 Buenos Aires. Rasch stand die Problematik ganz oben auf der politischen
Tagesordnung, wozu vor allem zivilgesellschaftliche Initiativen gesorgt haben. Die Stra­
tegien gegen Frauenhandel waren fast von Beginn an geprägt durch modern anmutende
Governance-Strukturen, die auch in Österreich Erfolge verbuchen konnten. Der Beitrag
zeigt die Kooperation in Österreich am Beispiel der „Österreichischen Mädchen- und
Kinderschutz-Liga“.
T
here is not a life that this social evil
does not menace. There is not a daughter,
or a sister, who may not be in danger“
(Roe 1911, 9).
„In tausend Formen geht der moderne
Mädchenhandel durch unsere Welt (…)
Österreich-Ungarn hat nicht nur den
regsten Export, sondern auch einen lebhaften Innenhandel in lebendiger Ware. Es
hat dadurch, daß es ein Bindeglied zwischen dem Orient und dem Abendlande
ist, eine große Bedeutung als Durchgangsland“ (Baer 1908, 5; Baer 1908, 55).
EINLEITUNG
Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert geriet ein Phänomen immer stärker in das
Blickfeld des öffentlichen Interesses, das
in den zurückliegenden Jahrzehnten erneut die öffentlichen Debatten und die
Politik national wie international mitgeprägt hat: der Handel mit Frauen. Bis
JÜRGEN NAUTZ ,
Univ.-Prof. für Wirtschaftsgeschichte
am Institut für Volkswirtschaftslehre
der Universität Wien.
zum Vorabend des Ersten Weltkriegs hatte
sich diese Problematik zu einer der meist­
beachteten in Europa, Amerika und den
mit Europa verbundenen Kolonien ent­
wickelt. Mädchenhandel, wie es zunächst
hieß, oder white slave trade, wie es anfänglich im englischsprachigen Raum
hieß, nahm einen breiten Platz in der öf­
fentlichen Debatte und in der Politik ein.
Darüber hinaus fand das Thema eine brei­
te Rezeption in der Literatur und im neu
aufkommenden Medium Film (Sabelus
2009; Jazbinsek 1995; Nautz 2011).
Der Handel mit Frauen begleitet die Industrialisierung und die Globalisierung
seit dem 19. Jahrhundert. Koloniale Expansion, Industrialisierung und Globalisierung verstärkten die wirtschaftlichen
Verflechtungen und die Migrationsströme
in einem mehr oder weniger globalen Ausmaß (Held et al. 2003). Ronald Hyam
sieht die Ausweitung des Frauenhandels
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im Kontext einer neuen Mobilität der Ar­
beitskräfte aufgrund der technischen Inno­
vationen des 19. Jahrhunderts (Hyam 1992,
142–149). Es stellte sich rasch heraus,
dass Frauen sehr migrationswillig waren.
So hat Ernst Georg Ravenstein in seinen
bahnbrechenden Migrationsstudien fest­
gestellt: „Woman is a greater migrant than
man. This may surprise those who as­
sociate women with domestic life, but the
figures of the census clearly prove it. Nor
do women migrate merely from the rural
districts into the towns in search of
domestic service, for they migrate quite as
frequently into certain manufacturing
districts, and the workshop is a formidable
rival of the kitchen and scullery“ (Raven­
stein 1885, 196). Vier Jahre später formu­
lierte er auf der Basis empirischer Daten
aus über 20 Staaten: „Females appear to
predominate among short-journey mig­
rants. On the other hand long-journey
migrants appear to predominate among
females born in large towns, including
London; all the great Scotch towns, Paris,
Vienna, and many others“ (Ravenstein
1889, 288).
Die bis dahin nicht gekannten hohen
Migrationszahlen von (Unterschicht-)
Frauen vom Land und aus Kleinstädten in
die sich entwickelnden Großstädte und In­
dustrieagglomerationen, aus den Mutter­
ländern in die Kolonien sowie von Europa
und Asien nach Amerika werden als die
Hauptursache für das Aufkommen von
Frauenhandel identifiziert (Bristow 1977;
Hyam 1990, 142–145). Zudem wird der
Institutionalisierung der Prostitution
durch den Staat in der Forschung ein star­
ker Einfluss auf die Entwicklung des
Frauenhandels zugeschrieben (Limoncelli
2006, 39 ff; Doezma 2004, 66). Diese Ver­
bindung von Prostitution und Frauenhan­
del spiegelt sich auch in den Definitionen
von Frauenhandel wider (Mexin 1904;
Schrank 1904, 1; Schrank 1904, 9).
48
Die Mehrzahl der kontinentaleuropäi­
schen Opfer kam aus Italien, Russland
(Russisch-Polen) und Österreich-Ungarn,
eine geringere Zahl auch aus Deutschland
und Frankreich. Aus Österreich-Ungarn
kamen sehr viele gehandelte Frauen. Die
meisten cisleithanischen Opfer kamen aus
Galizien und aus der Bukowina sowie dem
Grenzgebiet zu Rumänien. Innerhalb der
ungarischen Reichshälfte stellte das Szek­
lerland die meisten Trafficking-Opfer. Die
primären Destinationen vor 1914 waren
Argentinien, Brasilien und die USA auf
dem amerikanischen Kontinent, Singapur,
Shanghai, Hong Kong und verschiedene
Gebiete in Indochina im kolonialen Fernen
Osten.
Im mittleren Osten galt Ägypten (Ale­
xandria) als Hauptziel, Ostafrika war eine
weitere Destination für europäische Frau­
en (Limoncelli 2006; Schrank 1904; Nautz
2008a; Nautz 2008b). Innerhalb Alt­
österreichs kamen die meisten Opfer aus
Galizien. Ein Vergleich der wirtschaftlichen
und sozialen Lage Galiziens mit anderen
Kronländern weist deutlich auf eine der
wichtigsten Ursachen für Frauenhandel:
die wirtschaftliche Schwäche und die große
Armut und Perspektivlosigkeit in der Her­
kunftsregion als Pushfaktoren und die – zu­
mindest imaginierte – Chance auf eine Bes­
serung der wirtschaftlichen Lage und der
Lebenschancen an den Destinationen als
Pullfaktoren. Abbildung 1 (siehe Seite 49)
zeigt den großen Einkommensunterschied
zwischen Niederösterreich und Galizien,
und sie zeigt auch, dass Galizien vom all­
gemeinen wirtschaftlichen Wachstum ab­
gekoppelt wird.
Diese Differenzen zwischen den Lohnhöhen in entwickelten oder boomenden
Regionen und Gegenden, die von der wirt­
schaftlichen Aufwärtsdynamik abgekop­
pelt sind, wie z.B. etwa Galizien, waren
eine der Hauptursachen für die Auswei­
tung krimineller Geschäfte. Das Sexge­
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. SIAK-JOURNAL
Quelle: Good 1993
werbe gehörte hier zu jenen Wirtschafts­
bereichen, die am stärksten boomten. Von
Vorteil war die Hoffnung der Menschen,
an einem anderen Ort die miserablen Le­
bensverhältnisse für sich und gegebenen­
falls ihre Familie verbessern zu können.
An diese Hoffnung knüpften die Händler
an. Frappierend ist, dass sich eine gegen­
wartsbezogene Analyse wie die nachfol­
gende von der OSCE genauso auf histo­
rische Tatbestände beziehen lässt. „The
steady supply of persons trying to improve
their lives, or those of their children, is
created by a climate of (relative) poverty
and political and/or social exclusion; lack
of educational or employment opportuni­
ties; discrimination and violence against
women, children or ethnic minorities; go­
vernment corruption; natural disasters and
war” (OSCE 2010, 23).
Die Hauptdestination der Auswanderung
aus der Habsburger-Monarchie war der
amerikanische Kontinent. In Südamerika
war Buenos Aires einer der bedeutendsten
Ankunftshäfen für die Einwanderer. Bue­
nos Aires (mit Montevideo) galt vor dem
Ersten Weltkrieg aber auch als das Zent­
rum des Frauenhandels in Südamerika.
Verflochten über Migrationsnetzwerke
wurden die Opfer von Galizien nach Buenos
Aires gebracht. In der Regel kamen so­
wohl die Opfer als auch die kriminellen
Akteure aus demselben Migrationsmilieu.2
In Buenos Aires bzw. Montevideo wurden
die Frauen größtenteils in Bordelle ver­
bracht, die Emigranten aus dem gleichen
Kulturkreis gehörten. Ein „Verzeichnis der
Bordelle in Buenos Aires“ des österrei­
chisch-ungarischen Konsulats in Buenos
Aires aus dem Jahre 1898 enthält eine
Aufstellung von 111 Bordellbesitze­
rInnen, deren Namen überwiegend auf
eine österreichisch-ungarische Herkunft
schließen lassen.3 Ähnliche Rückschlüsse
lassen auch die Berichte der Organisatio­
nen, die gegen Frauenhandel vorgingen,
Abb. 1: Das Pro-Kopf-Einkommen in Galizien im Vergleich
zu Niederösterreich, der Monarchie sowie der österrei­
chischen und ungarischen Reichshälfte, in int. $ (1980)
zu (Deutsches Nationalkomitee 1903;
Schrank 1904).
Wie in unseren Tagen gibt es auch für
das 19. und 20. Jahrhundert keine verläss­
lichen Makrodaten. Allerdings finden sich in
den unterschiedlichen zeitgenössischen Pub­
likationen sowie im behördlichen Schrift­
verkehr einige Zahlen (siehe Tabelle 1), die
auf entdeckten Opfern beruhen.
Quellen: Ö-U Generalkonsul Buenos Aires 1892;
Deutsche Botschaft Wien 1889; ABPD4
Periode/Datum
Zahl
Herkunft
Ziel
Jährlich
> 400
Ungarn
(Szeklerland i.
Siebenbürgen)
Buenos Aires
?
„mehrere
Tausend“
Ungarische
Grenzkomitate
Rumänien
Serbien
Jährlich
> 400
Ungarn
Montevideo
Jährlich
> 400
Ungarn
Rio de Janeiro
Jährlich
> 400
Ungarn
Pernambuco
Monatlich (1896)
117
1898
1.500
Russland
Buenos Aires
Buenos Aires
Jährlich; um 1900
8.000–10.000
Russisch-Polen
Südamerika
Jährlich
„mehrere
Tausend“
Österreich (Galizien)
u. Russland
Indien
Jährlich
<_ 1.000
Galizien
–
Tabelle 1: Aussagen über die Zahl der Opfer vor 1914
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. SIAK-JOURNAL
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DIE PROBLEMATISIERUNG DES
FRAUENHANDELS
Die Frauenhandelsproblematik war wäh­
rend des Fin de siècle, nur unterbrochen
durch die Kriegsjahre, ein prominenter
Gegenstand öffentlicher Diskurse sowie
staatlicher und zivilgesellschaftlicher Ge­
geninitiativen. Ein Kriminalhauptkommis­
sar des Reichskriminalpolizeiamts in Ber­
lin stellte Ende der 1930er Jahre fest,
nichts werde „so umfassend bekämpft
(…) wie der Mädchenhandel“ (Hauke
1939, 102–106).
Dass sich die Politik seit dem aus­
gehenden 19. Jahrhundert intensiv der
Bekämpfung des Mädchenhandels zuge­
wandt hat, verdanken wir der geschickten
Initiative einer Organisationsstruktur, die
wir heute ein transnationales Netzwerk
von NGOs nennen würden. Ausgehend
von der Abolitionismus-Bewegung in
England5 entstanden auf der Insel Organi­
sationen, die sich den Kampf gegen den
Frauenhandel und die (Zwangs-)Prostitu­
tion auf ihre Fahnen geschrieben hatten.6
Die in diesem Kontext entstandene „Na­
tional Vigilance Association“ konnte mit
erheblichem propagandistischem Auf­
wand den Gedanken der organisierten Ar­
beit gegen den Frauenhandel auch auf
dem europäischen Kontinent verankern
(Coote 1910) und die Gründung von
Nationalkomitees zur Bekämpfung des
Mädchenhandels in einer Reihe kontinen­
taleuropäischer Staaten initiieren. Die bri­
tische Initiative verband sich mit origi­
nären deutschen und österreichischen
Diskursen, die Themen wie Genderrollen,
Sexualität und Moral auch schon aufge­
griffen hatten (Nautz 2011).
Zur Koordinierung der Arbeit der na­
tionalen Komitees wurde in London ein
internationales Büro eingerichtet (vgl.
Bristow 1977, 112; Baer 1908, 95; Dietrich
1989, 60 f). Auf diese Weise wollte man
mit systematischer Lobbyarbeit die euro­
50
päischen Regierungen für den Kampf ge­
gen den Frauenhandel gewinnen, was
auch in beachtlichem Ausmaß gelang:
Am Beginn des 20. Jahrhunderts wurden
die ersten internationalen Abkommen er­
reicht.
DIE ERSTEN INTERNATIONALEN
ABKOMMEN ZUR BEKÄMPFUNG
DES FRAUENHANDELS
In der zweiten Hälfte der 1880er Jahre ent­
stand zunächst eine Reihe von bilateralen,
gleichlautenden Verträgen zur Behandlung
ausländischer Prostituierter. 1866 kam eine
solche Vereinbarung zwischen Belgien
und den Niederlanden zu Stande, 1888
zwischen Belgien und Österreich-Ungarn,
1889 zwischen den Niederlanden und dem
Deutschen Reich, 1890 zwischen dem
Deutschen Reich und Belgien. Vereinbart
wurde, dass Prostituierte, die die Staatsan­
gehörigkeit eines der Vertragsstaaten hatten
und in einem der anderen Vertragsstaaten
ihrem Gewerbe nachgingen, von den Be­
hörden darüber befragt werden sollten,
wer sie zur Immigration veranlasst hatte.
Frauen, die gegen ihren Willen der Prosti­
tution nachgingen und Minderjährige,
auch wenn sie dies freiwillig taten, sollten
in ihr Heimatland zurückgeführt werden
(Nautz 2008a). Eine besondere Wirkung
wird diesen Vereinbarungen nicht nachge­
sagt (Hauke 1939, 104).
Aber die Problematik rückte immer
stärker in den Mittelpunkt des Interesses.
So wurde die Thematik auch bei den Be­
ratungen von Auswanderungsgesetzen in
Deutschland und in Österreich-Ungarn
behandelt. Während 1897 im Deutschen
Reich ein solches Gesetz mit entsprechen­
den Strafbestimmungen beschlossen wurde
(Reichsgesetz über das Auswanderungs­
wesen7; de Werth 1928, 10)8, blieben die
Beratungen in der Habsburger-Monarchie
ergebnislos (Zippel 2003). Tagungen auf
nationaler, europäischer und internatio­
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naler Ebene befassten sich mit der Frauen­
handelsproblematik: z.B. 1895 der 5. In­
ternationale Gefängniskongress in Paris,
1899 die Konferenz der Internationalen
Kriminalistischen Vereinigung in Buda­
pest. Währenddessen arbeitete das Netz­
werk der nationalen Komitees gemeinsam
mit anderen Organisationen an der Durch­
setzung einer weitergehenden nationalen
und internationalen Rechtssetzung. Bei ih­
rem internationalen Kongress 1899 in
London wurde explizit von den Regierun­
gen eine offizielle Mitarbeit bei der Be­
kämpfung des Mädchenhandels gefordert.
Drei Jahre später lud der französische Au­
ßenminister interessierte Regierungen zu
einer Konferenz nach Paris ein. Delegatio­
nen aus 15 europäischen Staaten und aus
Brasilien erarbeiteten drei Empfehlungen
für gesetzgeberische und verwaltungstech­
nische Maßnahmen. Darunter findet sich
die Forderung, dass für eine wirksame Be­
kämpfung des Mädchenhandels die Dis­
krepanz der nationalen Strafgesetzgebun­
gen beseitigt und stattdessen gleich
lautende nationalstaatliche Strafbestim­
mungen eingeführt werden sollten
(Brewster Lewis 1992).
Auf der Basis dieser Vorarbeiten wurde
am 18. Mai 1904 von Belgien, Dänemark,
dem Deutschen Reich, Frankreich, Groß­
britannien, Italien, den Niederlanden, Nor­
wegen, Portugal, Russland, Schweden,
Spanien und der Schweiz in Paris das
„Abkommen über Verwaltungsmaßregeln
zur Gewährung eines wirksamen Schutzes
gegen den Mädchenhandel“9 vereinbart,
dem etwas später auch Österreich-Ungarn,
die USA und Brasilien beitraten. Mit die­
sem Abkommen verpflichteten sich die
Signatarstaaten zur Errichtung einer natio­
nalen Behörde zur Beobachtung und Be­
kämpfung des Mädchenhandels. Diese
Zentralen sollten alle Informationen über
Mädchenhandel sammeln. Ferner sah das
. SIAK-JOURNAL
Abkommen vor, polizeiliche Kontrollen
an neuralgischen Punkten (Bahnhöfen,
Hafenstädten) zu intensivieren. Außerdem
sollte eine bessere Betreuung ein- und
ausreisender Mädchen gewährleistet wer­
den. Das unter Verdacht stehende Stellen­
vermittlungsgewerbe wollte man schärfer
überwachen. Die Bestimmungen der o.g.
Verträge aus den 1880er Jahren wurden in
das Abkommen integriert. Um den Kampf
gegen den Mädchenhandel möglichst
effektiv zu gestalten, waren die nationalen
Zentralen berechtigt, direkt miteinander
zu kommunizieren. Sie mussten also nicht
die sonst üblichen diplomatischen Kanäle
für ihre Kommunikation benutzen. Eine
Verpflichtung zur Bestrafung des Frauenoder Mädchenhandels enthielt der Ver­
tragstext jedoch nicht (Wijers/Lap-Chew
1997, 20; Bullough/Bullough 1987, 320;
Frostell 2002).
In den folgenden Jahren arbeiteten die
staatlichen Bürokratien, die Politik und die
interessierten NGOs an einer Weiterent­
wicklung dieses ersten Abkommens. Wie­
derum in Paris konnte am 4. Mai 1910 das
„Internationale Übereinkommen zur Be­
kämpfung des Mädchenhandels“ unter­
zeichnet werden, das die Vertragspartner zur
koordinierten Verfolgung und Bestrafung
des Frauenhandels verpflichtete.10 Allerdings
galt das Anwerben und Entführen von voll­
jährigen Frauen nur dann als strafbar, wenn
es mittels Täuschung, Gewalt, Drohung,
Missbrauch des Ansehens oder eines ande­
ren Zwangsmittels praktiziert wurde. Min­
derjährige Frauen oder Mädchen zu Zwe­
cken der „Unzucht“ anzuwerben oder zu
entführen wurde unter Strafe gestellt, selbst
wenn diese eingewilligt hatten.
Das die Minderjährigkeit bestimmende
Schutzalter wurde in einem Schlussproto­
koll zu diesem Vertrag auf 20 Jahre festge­
setzt. Auch die Konvention von 1910 war
noch auf die Unterdrückung des Handels
von weißen Europäerinnen zugeschnitten.
51
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Erst die Völkerbund-Konvention von 1921
machte keinen Unterschied in Bezug auf
die Herkunft der Opfer.11
Bei der Vorbereitung, aber auch bei der
Umsetzung von Rechtsetzungen zur Be­
kämpfung des Handels mit Frauen, bildete
sich eine Kooperation, ein Netzwerk von
staatlichen und politischen Stellen, zivil­
gesellschaftlichen Organisationen und
Medien, die in der Zielsetzung, den Han­
del mit Frauen zu unterbinden, überein­
stimmten, obwohl sie in ihren Frauen- und
Männerbildern zum Teil erheblich von­
einander abwichen. Die Bekämpfung des
Frauenhandels gehört zu den ersten Ver­
brechenstatbeständen, die mittels einer in­
ternationalen Kooperation der Strafverfol­
gungsbehörden behandelt wurden (Jäger
2006). Noch interessanter ist, dass sich
auf diesem Gebiet eine frühe Kooperation
Quellen: Nautz12
1866
Belgisch-Niederländisches Abkommen zum Schutz weiblicher Personen
1888
Abkommen zum Schutz weiblicher Personen zwischen Belgien und
Österreich-Ungarn*)
1889
Deutsch-Niederländisches Abkommen zum Schutz verkuppelter
weiblicher Personen*), in Kraft 1891
1890
Deutsch-Belgisches Abkommen zum Schutz verkuppelter weiblicher
Personen*), in Kraft 1891
1904
International Agreement for the Suppression of White Slave Trade
1910
1910 International Convention for the Suppression of the White Slave
Traffic, League of Nations, Treaty Series, vol. VIII, p. 278 (Modifikation
Vertrag 1904)
1919
Friedensvertrag Versailles, Artikel 282, Nr. 17
1919
Staatsvertrag von Saint Germain, Artikel 234, Nr. 14
1919
Satzung des Völkerbundes
1919
Friedensvertrag von Neuilly-sur-Seine, Artikel 167
1920
Vertrag von Trianon, Artikel 217
1921
International Convention for the Suppression of the Traffic in Women
and Children
1923
Vertrag von Lausanne, Artikel 100
1933
International Convention for the Suppression of the Traffic in Women
of Full Age
1949
UN Convention for the Suppression of the Traffic in Persons and of
the Exploitation of the Prostitution of Others
*) Inhaltlich identisch mit dem Abkommen von 1866
Tabelle 2: Historische Staatsverträge zur Bekämpfung
des Frauenhandels
52
zwischen staatlichen, politischen und
zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie den
Medien entwickelt hat, die bereits alle
Merkmale jener Struktur aufweist, die wir
heute als Governance bezeichnen (de
Vries 2004, 22; Limoncelli 2004, 1; Nautz
2007; Nautz 2008a; Nautz 2008b). Der
Ausbruch des Ersten Weltkriegs unter­
brach diese internationale Zusammenar­
beit, beendete sie jedoch nicht. Bereits im
Rahmen der Vorbereitungen für die Frie­
densverhandlungen wurden Frauenorgani­
sationen konsultiert, die auch das Thema
Frauenhandel einbrachten. Dies führte da­
zu, dass alle Verträge mit den Kriegsver­
lierern Verpflichtungen zur Bekämpfung
des Frauenhandels enthielten. Vor allem
aber wurde der neugeschaffene Völker­
bund mit der Koordinierung des interna­
tionalen Kampfs gegen dieses Verbrechen
beauftragt.13 In die zuständigen Gremien
und Aktionen des Völkerbundes wurden
von Beginn an fachkompetente NGOs ein­
gebunden.14
DIE AKTIVITÄTEN GEGEN
FRAUENHANDEL IN
ÖSTERREICH
Die Aktivität der österreichischen Straf­
verfolgungsbehörden korrespondierte mit
dem wachen Problembewusstsein in der
österreichischen Öffentlichkeit, dass sich
im ausgehenden 19. Jahrhundert heraus­
bildete. Als Konsequenz des Abkommens
von 1904 und der zivilgesellschaftlichen
Anti-Trafficking-Kampagnen wurde 1904
in Wien die „Zentralstelle zur Bekämp­
fung des internationalen Mädchenhan­
dels“ ins Leben gerufen. Seit 1903 gab es
eine entsprechende Einrichtung in Berlin:
die „Zentralpolizeistelle (Reichszentrale)
zur Bekämpfung des internationalen Mäd­
chenhandels“.
Für die Jahre 1910 bis 1913 weist die
Wiener Zentralstelle Zahlen über die er­
öffneten Ermittlungsverfahren wegen des
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. SIAK-JOURNAL
Quelle: Zentralstelle zur Bekämpfung des
internationalen Mädchenhandels 1914, 20
Verdachts auf Frauenhandel aus (siehe Ta­
belle 3, Seite 53). Demnach wurden 1910
und 1911 rund 320 Ermittlungsverfahren
aufgenommen, 1912 waren es deutlich
mehr, nämlich 360. In der ersten Hälfte
des letzten Friedensjahres waren es 181
Verfahren. Diese gesteigerte Tätigkeit
führte die Behörde nicht auf einen Auf­
schwung des Mädchenhandels zurück,
sondern auf die Wirkung von Informati­
onskampagnen, durch die „das Publikum
(…) aufgeklärter und vorsichtiger wurde
und daher die Behörden bei Reisen ins
Ausland, bei Antritt von Dienstposten
u.dgl. öfter als früher in Anspruch
nahm“15. Die Zentralstelle überwachte
nicht nur das Rotlichtmilieu, sondern auch
andere Gewerbezweige, die im Verdacht
standen, als Deckmantel für Frauen- und
Kinderhandel zu fungieren. Dies waren
vor allem Künstleragenturen, Stellenver­
mittlungen und Auswanderungsbüros.
Zur Bekämpfung des Frauenhandels so­
wie der Zwangsprostitution Minderjähri­
ger konnte in Österreich das Verbot der
Verführung Minderjähriger im Österrei­
chischen Strafgesetz vom 27. Mai 1852
angewandt werden (§§ 25, 97). Hatte sich
ein österreichischer Staatsbürger eines
solchen Verbrechens im Ausland strafbar
gemacht, konnte diese Tat von der öster­
reichischen Justiz geahndet werden
(§§ 36, 235). Bei der Verfolgung von
Straftaten von Nicht-Österreichern in Dritt­
staaten wurde den Behörden des Heimat­
landes des Beschuldigten Amtshilfe bei
der Verfolgung des Verbrechens gewährt
(§§ 39, 40). Eine Verordnung des Handels­
ministeriums vom 7. Mai 190816 enthielt
besondere Bestimmungen für die gewerbs­
mäßige Vermittlung von Arbeitsstellen im
Ausland. Sie erlaubte die Vermittlung auf
Arbeitsstellen im Ausland für Personen
unter 18 Jahren nur bei nachgewiesener
Zustimmung des Vormundschaftsgerichts,
nachdem man die Erfahrung gemacht hat-
1910
320
1911
321
1912
360
1913 (Januar – Mai)
181
Tabelle 3: Eröffnete Ermittlungsverfahren17
te, dass Eltern und auch Vormunde vor
dem Hintergrund materieller Not oft zu
sorglos ihre Einwilligung gaben.18
Bei ihrer Arbeit baute die Polizeidirek­
tion Wien ein umfangreiches Archiv auf,
in dem Informationen über Personen, die
im Verdacht standen, Frauenhandel zu be­
treiben, gesammelt wurden. Es gab eine
umfangreiche Sammlung von Fotografien
(von Tatverdächtigen und Opfern) sowie
von Fingerabdrücken von Personen, die
wegen Frauenhandels in Haft gewesen wa­
ren. Die Zentralstelle wurde von den ande­
ren österreichischen und österreichischungarischen Dienststellen, wie etwa den
Gesandtschaften und Konsulaten, unter­
stützt. Die gesammelten Informationen
wurden auf Anfrage auch ausländischen
Ermittlungsbehörden zur Verfügung ge­
stellt. Innerhalb Österreichs korrespon­
dierte die Wiener Zentralstelle besonders
mit den Polizeidirektionen in Czernowitz,
Krakau und Lemberg, da die wohl meisten
Opfer, aber auch viele internationale Mäd­
chenhändler, aus Galizien und aus der Bu­
kowina stammten und auch mit Lands­
leuten in Übersee eng verflochten waren.
Allerdings nahm sich die Zentralstelle
auch der Verfolgung von Frauenhandel
innerhalb der Reichsgrenzen an, wo auch
einige Verurteilungen wegen Zuhälterei
erreicht werden konnten.19
Viele private Organisationen nahmen
sich der Bekämpfung des Frauenhandels an,
wobei die Bahnhofsmissionen eine wichtige
Rolle spielten. Es bildete sich seit dem
letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein
immer umfassenderes Netzwerk von Ver­
einen und Behörden heraus, die sich dem
Kampf gegen den Frauenhandel widmeten
53
. SIAK-JOURNAL
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(Nautz 2006a; Jäger 2002). Beachtlich ist
dabei, dass es eine Zusammenarbeit über
die weltanschaulichen, religiösen Grenzen
hinweg gab, was in jenen Jahren alles an­
dere als selbstverständlich war (Berichte
der „Österreichischen Liga zur Bekämp­
fung des Mädchenhandels“; Nautz 2011;
für Deutschland: Brinkmeier 2003, 338 f).
Die Polizeistellen und die politischen
Organe arbeiteten mit den zivilgesellschaft­
lichen Akteuren, die häufig aus dem religi­
ösen Milieu kamen, zwar nicht konfliktfrei,
letztendlich jedoch erfolgreich zusammen
(Hauke 1939, 155). Dies drückte sich auch
in personellen Verflechtungen aus. So war
der Wiener Polizeiarzt Josef Schrank zu­
gleich der Präsident der Österreichischen
Liga zur Bekämpfung des Mädchenhan­
dels, die sich später in „Österreichische
Mädchen- und Kinderschutzliga“ umbe­
nannte. Die Liga war am 17. November
1902 in Wien von einigen Männern ge­
gründet worden und hielt nach der Geneh­
migung durch das Innenministerium am
29. Mai 1903 ihre erste Generalversamm­
lung ab (Österreichische Liga zur Bekämp­
fung des Mädchenhandels/Österreichische
Mädchen- und Kinderschutzliga 1913, 6).
Der Wiener Verein fungierte als Zentral­
stelle für eine Reihe von Zweigstellen und
kooperierenden Vereinen: die „Società d’as­
sistenza e protezione femminile“, Triest,
die „Liga für Frauen- und Kinderschutz“
in Lemberg, die Sektion „Frauenschutz“
des Verbandes jüdischer Frauen in Krakau,
das Lokalkomitee in Czernowitz, die Ver­
trauensstelle in Prag, ein Nachrichtenbüro
für Ungarn, Rumänien, Serbien, Russland
und den Orient, Budapest und Wien sowie
die Vertrauensstelle für Sarajevo.
Es waren zwar auch andere Organisa­
tionen in der Bekämpfung des Frauen­
handels engagiert (etwa die von Hildegard
Burjan gegründeten Organisationen „Cari­
tas socialis“ und katholische Bahnhofs­
mission; zu Burjan: Schödl 2008), jedoch
erscheinen die Österreichische Liga mit
ihren Mitgliedsorganisationen als die zent­
ralen Ansprechpartner der staatlichen Stel­
len (siehe Tabelle 4).
Die Zahlen der an die Liga verwiesenen
Klientinnen dürfen nicht als Opferzahlen
gesehen werden. Ein großer Teil der Frau­
en wurde wegen unterschiedlicher Um­
Quelle: Liga-Berichte 1909–1914
1908
1909
1910
1911
1912
1913
Vormundschaftsbehörden
95
81
95
155
109
180
k.k. Polizeidirektion Wien
270
343
183
198
273
264
a) Bureau für sittenpolizeiliche Agenden
—
—
160
180
231
209
b) Jugendfürsorge
—
—
23
18
42
55
Polizeibezirkskommissariate
57
41
165
194
201
228
Komitee für Jugendgerichtshilfe
—
—
—
4
9
2
Wiener Rettungsgesellschaft
—
—
—
3
4
1
Wiener Waisenräte u. sonst. Vereine
36
15
20
49
41
30
Eltern, Vormünder
58
39
75
176
133
147
Von privater Seite
Aus eigenem Antrieb
a) aus Wien
b) zugereist
Gesamtzahl
97
37
40
97
60
87
126
109
190
248
185
66
—
—
173
200
—
—
—
—
17
48
—
—
739
665
768
1.124
1.015
1.005
Tabelle 4: Kooperation staatlicher Stellen mit dem Wiener Zentralsekretariat der Österreichischen Mädchen- und
Kinderschutzliga
54
2/2011
. SIAK-JOURNAL
Quelle: Liga-Berichte 1909–1914
1908
1909
1910
1911
1912
1913
314
312
390
471
458
514
223
214
170
299
245
219
30
10
15
94
94
45
Gefallen
172
129
198
260
260
227
Total
739
665
768
1.124
1.015
1.005
Bezogen auf ihr Vorleben waren
unschuldig aber mehr oder weniger
moralisch gefährdet
eines lockeren
Lebenswandels verdächtig
Vagantinnen
Tabelle 5: Charakterisierung der Klientinnen durch die Liga in Wien
stände als gefährdet angesehen, die gerin­
gere Zahl als „gefallen“.
Es war die Kernüberzeugung, dass die
jungen Frauen vor dem Abgleiten in einen
„lockeren Lebenswandel“ und schließlich
in die Prostitution geschützt werden müss­
ten. Prostitution wurde wie eine unheil­
bare Infektionskrankheit gesehen, vor der
die jungen Frauen geschützt, gegen die sie
immunisiert werden müssten. Die Groß­
stadt mit ihren vielfältigen Angeboten,
„Verlockungen“, war die Brutstätte dieser
Seuche. Warenhäuser, Konfektionsge­
schäfte, Vergnügungslokale, Bahnhöfe,
Häfen, aber auch Eiscafés galten als die
Orte, wo sich die Frauen am ehesten infi­
zieren konnten. Die Narrative zu diesem
Thema sind im gesamten transatlantischen
Raum fast identisch und greifen auf ältere
Erzählstränge zurück (Nautz 2011; Sabelus
2009).
Viele der Opfer kamen vom Land
und/oder unterbürgerlichen und -bäuerli­
chen Schichten. Die Aktiven gingen davon
aus, dass diese jungen Frauen und Mäd­
chen nicht genügend Abwehrkräfte gegen
das Virus der Lust aufbauen konnten und
daher sichere Beute des Lasters und Ver­
brechens würden. Die mangelnde Immu­
nität wurde vor allem bei einem unterbür­
gerlichen oder -bäuerlichen Hintergrund
auf Defizite im Elternhaus (mangelnde
Erziehung, schlechtes Vorbild) zurückge­
führt, bei einem anderen familiären Hin­
tergrund machte man vor allem die
schlechtere Ausbildung und die geringere
Entlohnung sowie prekäre Arbeitsverhält­
nisse für die mangelnde Widerstandsfähig­
keit verantwortlich. Daher legten die Anti­
Trafficking-Organisationen, nicht nur die
Österreichische Liga, besonderen Wert auf
die Vermittlung von zusätzlicher (beruf­
Quelle: Liga-Berichte 1909–1914
Services
1907
1908
1909
1910
1911
1912
1913
Mit Arbeitsplatz versorgt
—
552
496
608
967
746
789
Finanzierung der Heimfahrt
—
15
19
21
39
30
19
Heiratsvermittlung**)
—
3
2
3
2
—
—
Adoption
—
—
1
—
—
Andere Hilfestellungen*)
—
63
15
17
„als unverbesserlich ihrem
Schicksal überlassen“
—
106
132
119
356
739
665
768
Total
—
—
18
21
116
221
176
1.124
1.015
1.005
*) „Andere Hilfestellungen“ umfasst: finanzielle Unterstützung, Beratung, Bestellung eines Vormunds; 1909, 1910 nur finanzielle
Unterstützung
**) 1910, 1911: verheiratet und mit Aussteuer versorgt
Tabelle 6: Hilfsleistungen des Wiener Komitees
55
. SIAK-JOURNAL
2/2011
Quelle: Liga-Bericht 1913, 17
Hilfestellung
Arbeitsvermittlung
660
Juristischer Beistand
26
Unterkunft
170
Bahnhofsmission
31
Total
887
Tabelle 7: Komitees in Czernowitz, 1913
Quelle: Liga-Bericht 1913, 15
Ausweispapiere beschafft
95
Medizinische Hilfe
17
Beistand vor Gericht
19
Kleidung
36
Unterkunft
40
Heimreise
10
Beratung
450
Auskünfte
199
Quelle: Liga-Berichte 1909–1914
Jahr
Personen
Nächtigungen
1908
301
—
1909
358
1.293
1910
434
1.423
142
1911
516
1.485
Arbeitsvermittlung
1.012
1912
409
1.506
Total
2.020
1913
601
1.520
Interventionen bei
Behörden oder Privaten
56
Frauen Unterschlupf finden konnten. In
Wien wurde die „Schutzstation“ der Liga
am 3. Dezember 1907 im V. Bezirk, Grün­
gasse 15, eröffnet (Österreichische Liga
zur Bekämpfung des Mädchenhandels/
Österreichische Mädchen- und Kinder­
schutzliga 1908, 14). Diese Wohnmöglich­
keit wurde gut angenommen und die Nut­
zungsfrequenz nahm beständig zu (siehe
Tabelle 8). Auch an den anderen Stand­
orten entwickelte sich dieses Service in
ähnlicher Weise (Österreichische Liga zur
Bekämpfung des Mädchenhandels/Öster-
Tabelle 8: Hilfestellungen der Società d’assistenza
e protezione femminile (Triest 1913)
Tabelle 9: Unterbringungen in der Wiener Schutz­
station 1909–1914
licher) Bildung, die Vermittlung ordent­
lich bezahlter Arbeitsstellen, die Bereit­
stellung einer sicheren Unterkunft, die
Einbindung in stabile Familienstrukturen
und gemeinsame Freizeitaktivitäten, die
die Frauen von den Angeboten der Groß­
stadt fernhalten sollten. Der Stellenwert
der Arbeitsvermittlung wird in den Tabel­
len 6 bis 8 sichtbar.
Die Wohnungsfrage war für viele Frauen
problematisch: Junge Frauen, die vom
Land in die Stadt kamen, wurden gerne
von FrauenhändlerInnen und ZuhälterIn­
nen mit dem Versprechen auf Unterkunft
angelockt, um sie der Prostitution zuzu­
führen. Andere kamen in Schwierigkeiten,
wenn sie ihre Stellung verloren und die
Miete nicht mehr aufbringen konnten.
Daher richteten die Mitgliedsorganisa­
tionen der Liga Schutzhäuser ein, in denen
wohnungslose und anderweitig bedrohte
reichische Mädchen- und Kinderschutz­
liga 1909–1914).
Die Anerkennung der Arbeit der Öster­
reichischen Liga zeigte sich auch darin,
dass sie jährliche Zuwendungen von der
Stadt Wien und von Ministerien erhielt,
hinzu kamen Spenden von Privatpersonen
und von Unternehmungen (Österreichische
Liga zur Bekämpfung des Mädchenhan­
dels/Österreichische Mädchen- und Kin­
derschutzliga 1918–1913).
SCHLUSS
Der moderne Frauenhandel entwickelte
sich parallel zu den Industrialisierungs­
und Modernisierungsprozessen seit der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die
im Bereich der Habsburger-Monarchie oft
in Netzwerken agierenden Frauenhändler
unterhielten Geschäftsverbindungen in alle
Teile der Welt, wobei bis 1914 die Region
2/2011
. SIAK-JOURNAL
Quelle: Liga-Berichte 1909-1914
Buenos Aires/Montevideo herausragte,
wohin engmaschige Verflechtungen zum
Prostitutionsgewerbe bestanden.
Nur wenig zeitversetzt entwickelte eine
sich formierende Koalition von zivilge­
sellschaftlichen und staatlichen Akteuren
eine Vielzahl von Aktivitäten gegen den
Frauenhandel. Justizbehörden und Poli­
tiker schätzten die Zusammenarbeit mit
den zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie dies am Beispiel der Kooperation
mit der Österreichischen Liga exempla­
risch gezeigt wurde. Diese spezifische
Form der Zusammenarbeit und Vernetzung zwischen politischen Institutionen,
staatlichen Stellen und Zivilgesellschaft,
die wir heute wohl Governance nennen
Das Datenmaterial basiert u.a. auf der
Arbeit des Autors im Projekt W.E.S.T (Wo­
men East Smuggling and Trafficking) und
im Networking-Projekt Gendered Migra­
tion, Sex Work and Exploitation: Traffi­
cking in Women and Prostitution. Es wur­
den in der Hauptsache Quellen aus
österreichischen Archiven verwandt. Be­
sonderen Dank schuldet der Autor dem
Archiv der Bundespolizeidirektion Wien
für die Unterstützung seiner Recherchen.
2
Zur Netzwerkstruktur im Frauenhandel
ausführlich: Nautz 2007.
3
Bericht Zl. 116.039 ex 1898, 12. Januar
1899, BPD Wien, Prostitution – Mäd­
chenhandel 1897–1899.
4
Wien Karton 1887–1890/2 (Prostitution –
Mädchenhandel); Schrank 1904, 45, 74, 77.
5
Der Begriff Abolitionismus hat eine ähn­
liche Entwicklung wie jener der White Sla­
very genommen: Zunächst stand die Bewe­
gung des Abolitionismus für den Kampf zur
Abschaffung der Sklaverei. Der Rückgriff
auf die Kampagnen gegen Sklaverei war
auch hier gewollt und sollte entsprechende
Assoziationen auslösen (McPherson 1964).
6
Starken Auftrieb erhielt diese Bewegung
durch eine Artikelserie des Londoner
1
Abb. 2: Unterbringungen in der Wiener Schutzstation
1909–1914
würden, konnte durchaus Erfolge aufweisen. In ihrer Ausprägung ist die his­
torische Kooperation durchaus mit ak­
tuellen Formen der Zusammenarbeit
vergleichbar.
Journalisten William Thomas Stead mit
dem Titel „The maiden tribut of modern
Babylon“, die in der Londoner „PallMall Gazette“ 1885 erschienen war. Sie
erregte erhebliches Aufsehen und war
Vorbild für den aufkommenden investiga­
tiven Journalismus in Kontinentaleuropa.
Online sind Steads Artikel nachzulesen
unter: http://www.attackingthedevil.co.uk/
pmg/tribute/index.php (02.03.2011).
7
Deutsches Reichsgesetzblatt (RGBl.)
1897, 404.
8
„§ 48. Wer eine Frauensperson zu dem
Zwecke, sie der gewerbsmässigen Un­
zucht zuzuführen, mittelst arglistiger Ver­
schweigung dieses Zweckes zur Auswan­
derung verleitet, wird mit Zuchthaus bis
zu fünf Jahren bestraft. Neben der Zucht­
hausstrafe ist der Verlust der bürgerlichen
Ehrenrechte auszusprechen; auch kann
zugleich auf Geldstrafe von einhundert­
fünfzig bis zu sechstausend Mark sowie
auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht er­
kannt werden. Dieselben Strafvorschrif­
ten finden auf denjenigen Anwendung,
welcher mit Kenntniss des vom Thäter in
solcher Weise verfolgten Zweckes die Aus­
wanderung der Frauensperson vorsätz­
lich befördert; sind mildernde Umstände
vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht
unter drei Monaten ein, neben welcher
auf Geldstrafe von einhundertfünfzig bis
zu sechstausend Mark erkannt werden
kann. § 22. Der Unternehmer darf Aus­
wanderer nur befördern auf Grund eines
vorher abgeschlossenen schriftlichen Ver­
trags. Den Auswanderern darf nicht die
Verpflichtung auferlegt werden, den Be­
förderungspreis oder einen Theil dessel­
ben oder ihnen geleistete Vorschüsse nach
ihrer Ankunft am Bestimmungsorte zu
zahlen oder zurückzuerstatten oder durch
Arbeit abzuverdienen; ebensowenig dür­
fen sie in der Wahl ihres Aufenthaltsorts
oder ihrer Beschäftigung im Bestim­
mungslande beschränkt werden“ (Gesetz
über das Auswanderungswesen vom
09. Juni 1897, RGBl., 463).
9
Österreichisches RGBl. 1905, 695.
10
Österreichisches RGBl. 1913, 31.
Artikel 1: „Wer, um der Unzucht eines an­
deren Vorschub zu leisten, eine minderjäh­
rige Frau, selbst mit deren Einwilligung,
zu unsittlichem Zweck anwirbt, ver­
schleppt oder entführt, soll bestraft wer­
den, auch wenn die einzelnen Tatsachen,
57
. SIAK-JOURNAL
2/2011
welche die Merkmale der strafbaren Handlung
bilden, auf verschiedene Länder entfallen.“
Artikel 2: „Ferner soll bestraft werden, wer, um
der Unzucht eines anderen Vorschub zu leisten,
eine volljährige Frau oder ein volljähriges Mäd­
chen durch Täuschung oder mittels Gewalt, Dro­
hung, Missbrauch des Ansehens oder durch ir­
gend ein anderes Zwangsmittel zu unsittlichem
Zweck anwirbt, verschleppt oder entführt, auch
wenn die einzelnen Tatsachen, welche die Merk­
male der strafbaren Handlung bilden, auf ver­
schiedene Länder entfallen.“
11
Internationale Übereinkunft zur Unterdrü­
ckung des Frauen- und Kinderhandels, österrei­
chisches RGBl. 1924, 180.
12
Fundstellen Vertrags- u. Gesetzestexte: BelgischNiederländisches Abkommen zum Schutz weib­
licher Personen und Abkommen zum Schutz
weiblicher Personen zwischen Belgien und Ös­
terreich-Ungarn: Hauke 1939, 104. Übereinkom­
men zwischen dem Deutschen Reich und den
Niederlanden zum Schutze verkuppelter weib­
licher Personen: (Deutsches) Reichsgesetzblatt
Band 1891, Nr. 23, 356–358; Übereinkommen
zwischen dem Deutschen Reich und Belgien zum
Schutze verkuppelter weiblicher Personen: Deut­
sches Reichsgesetzblatt Band 1891, Nr. 25, 375–
377; Trianon: http://www.versailler-vertrag.de/
trianon/index.htm; Versailles: http://www.dhm.de/
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Germain: http://www.versailler-vertrag.de/svsg/
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Treaty Series, vol. 1, 83; 1910 International Con­
vention for the Suppression of the White Slave
Traffic: League of Nations, Treaty Series, vol. VIII,
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58
Children 1921: http://treaties.un.org/doc/
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Age, Oct. 11, 1933, 150 L.N.T.S.: http://www1.
umn.edu/humanrts/instree/women-traffic.html.
13
http://www.versailler-vertrag.de/vv1.htm.
14
Bundeskanzleramt, Dienstanweisung, Zahl
50.091–16/1925, in: AdR, BKA, BMI 4768;
Fischer 2006).
15
Zentralstelle zur Bekämpfung des internationa­
len Mädchenhandels 1914.
16
RGBl. Nr. 97.
17
Zentralstelle zur Bekämpfung des internatio­
nalen Mädchenhandels wegen Verdachts auf
Frauenhandel.
18
Zentralstelle zur Bekämpfung des internatio­
nalen Mädchenhandels 1914, 21; Bundeskanz­
leramt, Rundschreiben an alle Landesregierungs­
ämter und an die Bundespolizeibehörden, Zl.
83034 – 9. Bedenkliche Anwerbungen ins Aus­
land, in: AdR, 14/HP 844; zu Fällen in Deutsch­
land: I HA Rep. 77. Ministerium des Inneren Titl.
423, Nr. 31 Acta betr. die polizeilichen Maßregeln
und Strafen wegen Entführung und Raub von
Kindern und jungen Mädchen.
19
Zentralstelle zur Bekämpfung des internationa­
len Mädchenhandels 1914.
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Der Bestand ist in Jahrgangsschachteln ver­
wahrt, beginnend mit dem Jahr 1884 und endend
mit 1936. Bei der Quellenangabe wird jeweils
das Jahr angegeben.
Geheimes Preussisches Staatsarchiv Berlin:
I HA Rep. 77 Ministerium des Inneren.
Titl. 423, Nr. 31 Acta betr. die polizeilichen Maß­
regeln und Strafen wegen Entführung und Raub
von Kindern und jungen Mädchen.
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