PROFILE KOMMUNIKATOREN DER LMU DER EINMISCHER MUM 02 | 2008 14 In Forschung und Lehre befasst er sich mit der Theorie der modernen Gesellschaft, mit ethischen Entscheidungen und mit der Realität des Sterbens in unserer Zeit – im Radio spricht er durchaus auch über den Erfolg der Pokémon-Figuren: Professor Armin Nassehi vom Institut für Soziologie der LMU ist ein Kommunikator seines Faches, der innerhalb und außerhalb der akademischen Grenzen wirkt. Zudem ist ihm interdisziplinärer Austausch wichtig, ob im Kompetenzzentrum Ethik der LMU oder der Bayerischen Architektenkammer. Nassehi mischt sich ein – und sieht sich dabei „ganz klassisch als Aufklärer“. Das Rendezvous ist ein Reinfall: Frau B. bemerkt nicht mal, dass Herr A. wie zufällig ihre Hand streift. Obendrein spricht sie nur über ihren Beruf – und scheint das Rendezvous gar nicht als solches wahrzunehmen. Immerhin erklärt das verpatzte Treffen einige Grundbegriffe der Soziologie: die „Handlung“ und ihren „subjektiv gemeinten Sinn“. Letzterer ist bei Herrn A. und Frau B. ganz unterschiedlich – er will ihr näherkommen, sie braucht nur einen beruflichen Tipp. Herr A. ist eine fiktive Figur in dem Buch „Soziologie: Zehn einführende Vorlesungen“ von Armin Nassehi. Der Professor am Institut für Soziologie der LMU erklärt am Beispiel des Herrn A. Grundbegriffe der Soziologie. „Soziale Ungleichheit“ wird am Besuch bei den versnobten Schwiegereltern erläutert, der Begriff der „Gesellschaft“ an einer Vernissage. Professor Armin Nassehi sitzt – schwarzer Pulli, schwarze Brille, schwarze Jeans – unter dem Stuck seinen Büros in der Konradstraße. Hinter ihm ein geradliniges schwarzes Bücherregal, vor ihm ein moderner Schreibtisch. Er sagt: „Ich sehe mich ganz klassisch als Aufklärer.“ Nicht nur in seinem jüngsten Buch wirkt Nassehi als Kommunikator, als Übersetzer der Soziologie. Seine Freude an Sprache, an der Argumentation zeigt sich auch in zahlreichen öffentlichen Beiträgen, ob in der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der ZEIT oder dem Tagesspiegel: Gern wird Nassehi von Journalisten als Experte zitiert; und nicht selten ist er selbst der Verfasser von Texten. Auch darin versucht er, die abstrakten Aussagen der Soziologie in „empirische Fragen zu übersetzen“. Sich einzumischen, seine soziologische Sichtweise einzubringen, ist Nassehi Bedürfnis und Freude zugleich. Zum Beispiel im Rundfunk: Er wird angefragt, wenn es um die „Funktion von Namen im Internet“ geht oder um den Todestag des Philosophen Ernst Bloch. Dem BR-Radio stand er als Interviewpartner zum Thema „Politische Streitkultur zu Zeiten der Großen Koalition“ zur Verfügung. Und im Südwestdeutschen Rundfunk sprach er vor einigen Jahren über die Phantasiewesen der japanischen Video- und Elektronikspielindustrie, die Pokémon und Tamagochis. „Charakteristisch für das Pokémon-Phänomen scheint mir zu sein, dass es zweierlei verbindet: Einerseits die geradezu traditionell bürgerliche Botschaft des autarken, des autonomen, des pflichtbewussten, des an sich arbeitenden Subjekts, das sich selbst vervollkommnen muss und letztlich ein instrumentelles Verhältnis zur Welt hat. Andererseits präsentiert die Pokémon-Welt eine geradezu phantastische, geradezu beliebige Welt der Konstruktionen, der instabilen Identität, wenn man so will: der postmodernen Dekonstruktion. Es ist eine digitale Welt, eine Welt, die permanent im Fluss ist.“ Vorträge hält Nassehi „leidenschaftlich gern“. Das spüren auch die Studierenden. Im Rahmen des „Debattierclubs“ an der LMU wurde er vor einigen Jahren von Studentinnen und Studenten zum bes- SERIE Sie verstehen es besonders gut, komplexe wissenschaftliche Themen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In einer Serie stellt MUM Kommunikatoren aus verschiedenen Fachbereichen der LMU vor. PROFILE KOMMUNIKATOREN – DIE NEUEN AUFKLÄRER ten Redner der Universität gewählt. „Im Wiegeschritt, hin und her“, schrieb die Süddeutsche Zeitung über seinen Wettbewerbsvortrag, „bewegt sich der Soziologe zur Dialektik der Gedanken: ein akademischer Rapper.“ Auch in der Lehre an der Universität versucht Nassehi, die Soziologie an konkreten Beispielen greifbar zu machen – zum Beispiel im Hauptseminar „Pragmatik des Sterbens“, in dem er die verschiedenen professionellen Perspektiven auf das Sterben beschreibt, etwa von Ärzten, Psychologen, Bestattern oder Juristen. Denn eine Hauptaufgabe der Soziologie sei es, so Nassehi, „die verschiedenen Perspektiven auf ein Thema, die freilich alle ihre Berechtigung haben, nicht nur differenziert nebeneinander darzustellen, sondern auch ihr Zusammenspiel zu untersuchen“. Abstrakte, theoretische Inhalte der Soziologe – wie den Streit der verschiedenen Theorien oder die Empirisierung der kommunikationstheoretischen Systemtheorie – dienen ihm vor allem dazu, sie auf konkrete empirische Forschungsthemen zu beziehen. Zudem gibt er gemeinsam mit den LMU-Soziologen Ulrich Beck und Norman Braun die soziologische Fachzeitschrift „Soziale Welt“ heraus. Sein Verständnis der Soziologie trägt Armin Nassehi auch in andere Disziplinen: An der LMU tauscht er sich als Vorstandsmitglied sowohl des Münchner Kompetenzzentrums Ethik (MKE) als auch des Humanwissenschaftlichen Zentrums (HWZ) mit Vertretern anderer Disziplinen aus. Und in der Diskussionsreihe „Kalt und heiß“ der Bayerischen Architektenkammer debattiert er mit Architekten, Chemikern und Schriftstellern über „Klima und Politik. Der Stillstand des Wandels“. Ihm kommt es vor allem darauf an, abstrakte soziologische Inhalte in eine für Nicht-Soziologen verständliche Sprache zu bringen. Das meint er mit der „aufklärerischen“ Kraft der Soziologie: der Gesellschaft etwas zu sagen zu haben. Als Berater hält der Soziologe nebenbei Vorträge und Workshops in Firmen unterschiedlichster Branchen. In den Kliniken, Versicherungen und IT-Firmen, die er besucht, versuche er gar nicht erst, den Betriebswirt zu mimen. „Ich trete selbstbewusst als Soziologe, als Wissenschaftler auf.“ Den Mitarbeitern erklärt er, „welches Wissen, aber auch welches Nichtwissen sie brauchen, um Entscheidungen zu treffen“. Nichtwissen? „Zu viel, zu genaues Wissen kann Entscheidungen auch erschweren“, sagt Nassehi. In Rollenspielen stellt er mit den Firmenmitarbeitern Situationen nach, ermöglicht es ihnen, „Selbstreflexion zu üben, andere Perspektiven einzunehmen“. Wenn Armin Nassehi abends die Universität verlässt, lässt sein Fach ihn nichts los. „Natürlich ist alles, womit man im gesellschaftlichen Alltag zu tun hat, auch wissenschaftlicher Gegenstand der Soziologie.“ Diese „Dauerreflexion“ sei das Faszinierende an der Soziologie, sagt Nassehi, der seine Freizeit am liebsten beim Tennisspielen oder beim Genuss klassischer Musik verbringt. „Die Soziologie bietet schräge Beschreibungen“, sagt Armin Nassehi. Mit ihrer Hilfe könne der Einzelne Alltagserfahrungen auf andere Weise beschreiben. Manchmal sind allerdings schon die Themen an sich schräg – wie die „unglaublichen Anfragen“, mit denen vor allem private Rundfunksender zuweilen an den Soziologie-Professor herantreten. Zum Beispiel zur Frage, warum Jugendliche Eis lieber am Stiel statt in Waffeln essen, oder worauf der Erfolg der TV-Sendung „Germany’s Next Topmodel“ zurückzuführen sei. „Dann“, so Nassehi, „muss ein guter Kommunikator auch einfach mal schweigen ■ ajb können.“ ARMIN NASSEHI wurde 1960 in Tübingen geboren und wuchs in Deutschland und Teheran auf. Nach dem Abitur in Gelsenkirchen 1979 studierte er Erziehungswissenschaften, Philosophie und Soziologie in Münster und Hagen. 1992 wurde er in Soziologie mit dem Thema „Die Zeit der Gesellschaft“ promoviert, 1994 folgte die Habilitation. Anschließend wirkte Nassehi als Oberassistent und Privatdozent an der Universität Münster. Nach Lehrstuhlvertretungen in Münster und München wurde er 1998 zum Professor für Soziologie in München berufen. Armin Nassehi arbeitet mit den theoretischen und empirischen Mitteln der soziologischen Systemtheorie. Deren Potenzial möchte er im Hinblick auf die soziologische Beschreibung einer „Gesellschaft der Gegenwarten“ weiterentwickeln. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Kultursoziologie, Politische Soziologie, Religionssoziologie sowie Wissens- und Wissenschaftssoziologie. Er ist verheiratet und hat einen Sohn. MUM 02 | 2008 15