kommunikatoren der lmu der einmischer

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PROFILE
KOMMUNIKATOREN DER LMU
DER EINMISCHER
MUM 02 | 2008
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In Forschung und Lehre befasst er sich mit der
Theorie der modernen Gesellschaft, mit ethischen
Entscheidungen und mit der Realität des Sterbens in unserer Zeit – im Radio spricht er durchaus auch über den Erfolg der Pokémon-Figuren:
Professor Armin Nassehi vom Institut für Soziologie der LMU ist ein Kommunikator seines
Faches, der innerhalb und außerhalb der akademischen Grenzen wirkt. Zudem ist ihm interdisziplinärer Austausch wichtig, ob im Kompetenzzentrum Ethik der LMU oder der Bayerischen
Architektenkammer. Nassehi mischt sich ein –
und sieht sich dabei „ganz klassisch als Aufklärer“.
Das Rendezvous ist ein Reinfall: Frau B. bemerkt
nicht mal, dass Herr A. wie zufällig ihre Hand streift.
Obendrein spricht sie nur über ihren Beruf – und
scheint das Rendezvous gar nicht als solches wahrzunehmen. Immerhin erklärt das verpatzte Treffen
einige Grundbegriffe der Soziologie: die „Handlung“ und ihren „subjektiv gemeinten Sinn“. Letzterer ist bei Herrn A. und Frau B. ganz unterschiedlich – er will ihr näherkommen, sie braucht nur einen beruflichen Tipp.
Herr A. ist eine fiktive Figur in dem Buch „Soziologie: Zehn einführende Vorlesungen“ von Armin
Nassehi. Der Professor am Institut für Soziologie
der LMU erklärt am Beispiel des Herrn A. Grundbegriffe der Soziologie. „Soziale Ungleichheit“ wird
am Besuch bei den versnobten Schwiegereltern
erläutert, der Begriff der „Gesellschaft“ an einer
Vernissage.
Professor Armin Nassehi sitzt – schwarzer Pulli,
schwarze Brille, schwarze Jeans – unter dem Stuck
seinen Büros in der Konradstraße. Hinter ihm ein
geradliniges schwarzes Bücherregal, vor ihm ein
moderner Schreibtisch. Er sagt: „Ich sehe mich
ganz klassisch als Aufklärer.“
Nicht nur in seinem jüngsten Buch wirkt Nassehi
als Kommunikator, als Übersetzer der Soziologie.
Seine Freude an Sprache, an der Argumentation
zeigt sich auch in zahlreichen öffentlichen Beiträgen, ob in der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der ZEIT oder dem
Tagesspiegel: Gern wird Nassehi von Journalisten
als Experte zitiert; und nicht selten ist er selbst der
Verfasser von Texten. Auch darin versucht er, die
abstrakten Aussagen der Soziologie in „empirische
Fragen zu übersetzen“. Sich einzumischen, seine
soziologische Sichtweise einzubringen, ist Nassehi
Bedürfnis und Freude zugleich.
Zum Beispiel im Rundfunk: Er wird angefragt, wenn
es um die „Funktion von Namen im Internet“ geht
oder um den Todestag des Philosophen Ernst Bloch.
Dem BR-Radio stand er als Interviewpartner zum
Thema „Politische Streitkultur zu Zeiten der Großen
Koalition“ zur Verfügung. Und im Südwestdeutschen Rundfunk sprach er vor einigen Jahren über
die Phantasiewesen der japanischen Video- und
Elektronikspielindustrie, die Pokémon und Tamagochis. „Charakteristisch für das Pokémon-Phänomen scheint mir zu sein, dass es zweierlei verbindet: Einerseits die geradezu traditionell bürgerliche
Botschaft des autarken, des autonomen, des pflichtbewussten, des an sich arbeitenden Subjekts, das
sich selbst vervollkommnen muss und letztlich ein
instrumentelles Verhältnis zur Welt hat. Andererseits präsentiert die Pokémon-Welt eine geradezu
phantastische, geradezu beliebige Welt der Konstruktionen, der instabilen Identität, wenn man so
will: der postmodernen Dekonstruktion. Es ist eine
digitale Welt, eine Welt, die permanent im Fluss
ist.“
Vorträge hält Nassehi „leidenschaftlich gern“. Das
spüren auch die Studierenden. Im Rahmen des
„Debattierclubs“ an der LMU wurde er vor einigen
Jahren von Studentinnen und Studenten zum bes-
SERIE
Sie verstehen es besonders gut, komplexe wissenschaftliche
Themen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In
einer Serie stellt MUM Kommunikatoren aus verschiedenen
Fachbereichen der LMU vor.
PROFILE
KOMMUNIKATOREN – DIE NEUEN AUFKLÄRER
ten Redner der Universität gewählt. „Im Wiegeschritt, hin und her“,
schrieb die Süddeutsche Zeitung über seinen Wettbewerbsvortrag,
„bewegt sich der Soziologe zur Dialektik der Gedanken: ein akademischer Rapper.“
Auch in der Lehre an der Universität versucht Nassehi, die Soziologie
an konkreten Beispielen greifbar zu machen – zum Beispiel im Hauptseminar „Pragmatik des Sterbens“, in dem er die verschiedenen
professionellen Perspektiven auf das Sterben beschreibt, etwa von
Ärzten, Psychologen, Bestattern oder Juristen. Denn eine Hauptaufgabe der Soziologie sei es, so Nassehi, „die verschiedenen Perspektiven auf ein Thema, die freilich alle ihre Berechtigung haben, nicht
nur differenziert nebeneinander darzustellen, sondern auch ihr
Zusammenspiel zu untersuchen“.
Abstrakte, theoretische Inhalte der Soziologe – wie den Streit der
verschiedenen Theorien oder die Empirisierung der kommunikationstheoretischen Systemtheorie – dienen ihm vor allem dazu, sie auf
konkrete empirische Forschungsthemen zu beziehen. Zudem gibt er
gemeinsam mit den LMU-Soziologen Ulrich Beck und Norman Braun
die soziologische Fachzeitschrift „Soziale Welt“ heraus.
Sein Verständnis der Soziologie trägt Armin Nassehi auch in andere
Disziplinen: An der LMU tauscht er sich als Vorstandsmitglied sowohl
des Münchner Kompetenzzentrums Ethik (MKE) als auch des Humanwissenschaftlichen Zentrums (HWZ) mit Vertretern anderer Disziplinen aus. Und in der Diskussionsreihe „Kalt und heiß“ der Bayerischen
Architektenkammer debattiert er mit Architekten, Chemikern und
Schriftstellern über „Klima und Politik. Der Stillstand des Wandels“.
Ihm kommt es vor allem darauf an, abstrakte soziologische Inhalte in
eine für Nicht-Soziologen verständliche Sprache zu bringen. Das
meint er mit der „aufklärerischen“ Kraft der Soziologie: der Gesellschaft etwas zu sagen zu haben.
Als Berater hält der Soziologe nebenbei Vorträge und Workshops in
Firmen unterschiedlichster Branchen. In den Kliniken, Versicherungen und IT-Firmen, die er besucht, versuche er gar nicht erst, den
Betriebswirt zu mimen. „Ich trete selbstbewusst als Soziologe, als
Wissenschaftler auf.“ Den Mitarbeitern erklärt er, „welches Wissen,
aber auch welches Nichtwissen sie brauchen, um Entscheidungen zu
treffen“. Nichtwissen? „Zu viel, zu genaues Wissen kann Entscheidungen auch erschweren“, sagt Nassehi. In Rollenspielen stellt er mit
den Firmenmitarbeitern Situationen nach, ermöglicht es ihnen,
„Selbstreflexion zu üben, andere Perspektiven einzunehmen“.
Wenn Armin Nassehi abends die Universität verlässt, lässt sein Fach
ihn nichts los. „Natürlich ist alles, womit man im gesellschaftlichen
Alltag zu tun hat, auch wissenschaftlicher Gegenstand der Soziologie.“ Diese „Dauerreflexion“ sei das Faszinierende an der Soziologie,
sagt Nassehi, der seine Freizeit am liebsten beim Tennisspielen oder
beim Genuss klassischer Musik verbringt.
„Die Soziologie bietet schräge Beschreibungen“, sagt Armin Nassehi.
Mit ihrer Hilfe könne der Einzelne Alltagserfahrungen auf andere
Weise beschreiben. Manchmal sind allerdings schon die Themen an
sich schräg – wie die „unglaublichen Anfragen“, mit denen vor allem
private Rundfunksender zuweilen an den Soziologie-Professor herantreten. Zum Beispiel zur Frage, warum Jugendliche Eis lieber am Stiel
statt in Waffeln essen, oder worauf der Erfolg der TV-Sendung
„Germany’s Next Topmodel“ zurückzuführen sei. „Dann“, so Nassehi,
„muss ein guter Kommunikator auch einfach mal schweigen
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können.“
ARMIN NASSEHI
wurde 1960 in Tübingen geboren und wuchs in Deutschland und
Teheran auf. Nach dem Abitur in Gelsenkirchen 1979 studierte er
Erziehungswissenschaften, Philosophie und Soziologie in Münster und Hagen. 1992 wurde er in Soziologie mit dem Thema „Die
Zeit der Gesellschaft“ promoviert, 1994 folgte die Habilitation.
Anschließend wirkte Nassehi als Oberassistent und Privatdozent
an der Universität Münster. Nach Lehrstuhlvertretungen in Münster und München wurde er 1998 zum Professor für Soziologie in
München berufen. Armin Nassehi arbeitet mit den theoretischen
und empirischen Mitteln der soziologischen Systemtheorie. Deren
Potenzial möchte er im Hinblick auf die soziologische Beschreibung einer „Gesellschaft der Gegenwarten“ weiterentwickeln.
Schwerpunkte seiner Arbeit sind Kultursoziologie, Politische Soziologie, Religionssoziologie sowie Wissens- und Wissenschaftssoziologie. Er ist verheiratet und hat einen Sohn.
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