Invasion aus Fernost

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WISSENSCHAFT
Aids
Invasion aus Fernost
Droht Deutschland eine zweite, aggressivere Aids-Epidemie unter Heterosexuellen? Das Bundesamt für Sera und
Impfstoffe warnt vor dem HIV-Subtyp E. Thailand ist von ihm bereits durchseucht. Sextouristen haben ihn schon vor
Jahren nach Deutschland eingeschleppt. Noch fehlt der Beweis, daß er ansteckender ist als andere HIV-Subtypen.
ch will selbstverständlich keine Panik
verbreiten“: Das schickte Reinhard
Kurth, Deutschlands oberster Aidshüter vom Bundesamt für Sera und
Impfstoffe, seiner Warnung voraus.
Plötzlich ging Angst um vor einem
„neuen Supervirus“. „500mal anstekkender“ als das bisher in Deutschland
verbreitete Aids-Virus, werde es eine
zweite Epidemie auslösen, schrecklicher
noch als die erste. Und diesmal seien die
Heterosexuellen betroffen.
Die Zukunft Europas, so die neue
Schreckvision, wird gegenwärtig in
Thailand vorexerziert, einem Land, das
sich innnerhalb eines Jahrzehnts von einer aidsfreien Zone zu einem Brennpunkt der Seuche entwickelte. In einem
weiteren Jahrzehnt droht Thailand zur
aidskranken Nation zu werden.
Noch 1985 war Aids in Thailand unbekannt. Inzwischen sind Tausende daran gestorben, 30 000 Thais sind erkrankt, mehr als 800 000 infiziert. Bis
zum Jahr 2000, so die Prognose der
Weltgesundheitsorganisation (WHO ),
wird sich diese Zahl noch einmal verfünffachen.
Vor allem aber ist das Virus in Thailand, wie in vielen Ländern der Dritten
Welt, längst aus dem Ghetto der Schwulen und Drogenabhängigen ausgebrochen. Werden in den USA oder
Deutschland nur rund 10 Prozent der Infektionen auf heterosexuellem Wege
übertragen, so sind es in Thailand 90
Prozent.
Steht demnächst auch Europa und
den USA ein ähnlicher heterosexueller
Seuchenzug bevor, ein tödlicher Flächenbrand, zu dem die Aids-Epidemie
der letzten Jahre nur ein Vorspiel war?
Max Essex, Virologe an der Harvard
University, hält das für wahrscheinlich.
Und Reinhard Kurth macht dessen Thesen in Deutschland publik: Nach dem
vor allem über Analverkehr und Spritzen übertragenen HI-Virus vom Subtyp
B breite sich nun, von Thailand ausgehend, ein aggressiverer und auch heterosexuell leicht übertragbarer Subtyp
des Virus aus: das „Supervirus“ vom
Typ E.
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DER SPIEGEL 49/1995
E. MC TRESSIN / GAMMA / STUDIO X
I
Sex-Klub in Thailand: Fünf Prozent aller Mädchen wollen „Hure in Bangkok“ werden
Seit langem dämmert den Aids-Forschern, daß die Wandlungsfähigkeit
des HI-Virus eine seiner tückischsten
Waffen ist. „Seit ich 1985 die ersten
Viren isoliert hatte“, erinnert sich die
Bayer-Virologin Helga RübsamenWaigmann, „war mir klar: Das wird eines unserer größten Probleme.“
Um die weltweite HIV-Vielfalt zu
erfassen, baute die WHO ein Forschungsnetzwerk auf. Als Zentrallabor
wurde das von Rübsamen-Waigmann
geleitete Frankfurter Georg-SpeyerHaus auserkoren. Die Wissenschaftler
stießen dabei auf ein ganzes Volk unterschiedlicher Viren, deren Erbgut um
bis zu 30 Prozent voneinander abweicht.
Zehn Subtypen des Virus (Subtyp A,
B,C,D,E,F,G,H,I und O) spürten die
Wissenschaftler in Afrika auf, dem Ur-
sprungskontinent der Seuche. Erst gelang dem Subtyp B der Sprung nach
Amerika und Europa. Dann begann der
weltweite Seuchenzug seiner Vettern.
Beängstigend schien den Forschern vor
allem die rasante Vermehrung des Subtyps C in Indien und des Subtyps E in
Thailand (SPIEGEL-Titel 28/1995).
Für die Impfstoff-Forscher bedeutete
die Erkenntnis der HIV-Vielfalt vor allem, daß sie sich jahrelang in einer Sackgasse befunden hatten: Virus gleich Virus, so hatte ihre Devise geheißen. Daß
ein Impfstoff gegen eine HIV-Variante
jedoch vor anderen Spielarten des Virus
kaum würde schützen können, hatten
sie dabei aus dem Auge verloren.
Schon gegen die jeweils grassierenden
Stämme der Grippeviren müssen Jahr
für Jahr neue Impfstoffe entwickelt werden. „Und bei Aids haben wir sozusa-
S. PAREKH / DAS FOTOARCHIV
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Infektionsstation mit HIV-infizierten Prostituierten in Bombay: Schon im Jahr 2000 wird Indien Aidsregion Nummer eins sein
B. BOSTELMANN / ARGUM
T. SCHMIDT / BUSINESS PICTURE
der thailändischen Gesellschaft fest
Zwar gibt es erste Untersuchungen,
gen das Problem Grippe hoch zwei“, erverankert.
die belegen, daß die Wahrscheinlichklärt die Initiatorin der HIV-Subtypenkeit einer Infektion beim Geschlechtsforschung Rübsamen-Waigmann.
Noch immer bieten nur rund fünf
verkehr in Thailand rund 50mal gröProzent aller Frauen und Männer im
Den Epidemiologen jedoch drängten
ßer ist als etwa in den USA. Doch
Sexgewerbe ihren Dienst ausländischen
sich andere Fragen auf: Ändert sich mit
dafür können, neben den unterschiedFreiern an. 95 Prozent der Kundschaft
der genetischen Ausstattung auch das
lichen Eigenschaften der Subtypen,
sind Thai-Männer. Und fünf Prozent
Verhalten des Virus? Bevorzugen die
auch andere Faktoren verantwortlich
aller Mädchen geben als Berufswunsch
Subtypen verschiedene Infektionswege?
sein.
„Hure in Bangkok“ an.
Führen die einen schneller zum Tod als
die anderen?
So könnte das Immunsystem der
Wegen dieser Bedingungen ist es
Thailänder gegen das Virus schlechter
schwierig festzustellen, welchen Anteil
Vor allem in Blutproben aus Thailand
gewappnet sein als dasjenige der Amedie Eigenschaften des Virus am Forthatte Rübsamen-Waigmann einen HIVrikaner. Vor allem aber sind Geschreiten der Epidemie haben. Für UlSubtyp mit ungewöhnlichem Verhalten
schlechtskrankheiten in Thailand häurich Marcus vom Aids-Zentrum des
aufgespürt. Inzwischen steht dieser in
fig – und damit die Ansteckungsgefahr
Berliner Robert-Koch-Instituts ist es
Thailand grassierende Subtyp E im Verdurch Aids hoch.
noch „offen, ob der Virus-Typ E wirkdacht, sich auf die Infektion Heteroselich infektiöser ist“. Und auch Simon
xueller spezialisiert zu haben. Dem ViBesonders begünstigt wurde die EpiWain-Hobson, ein HIV-Experte vom
rologen Essex gelten vor allem zwei Bedemie in Thailand durch die ProstitutiPariser Institut Pasteur, erklärt Essex’
funde als Belege dafür:
on. Lange bevor sie während des VietSchlußfolgerungen für „voreilig“.
namkriegs von den US-Soldaten und
i Subtyp E scheint leichter in die sogeVor allem ist unklar, warum sich der
später auch von Touristen aus Europa
nannten Langerhans-Zellen der Pegefährliche Subtyp E bisher nur in
und Japan entdeckt wurde, war sie in
nisvorhaut und der VaginalschleimThailand eingenistet
häute eindringen zu
und so rapide ausgekönnen.
breitet hat. Warum
i Bei
Schimpansen
blieb er in Afrika, seilassen
sich
die
ner
Heimat,
verVaginalschleimhäugleichsweise unbedeute vergleichsweise
tend? Warum löste in
leicht mit dem SubBrasilien und der Karityp E infizieren.
bik auch der Subtyp B
Ob diese Laborereine
heterosexuelle
gebnisse jedoch auf
Epidemie aus? Und
den Menschen überwie gefährlich ist Subtragbar sind, ist unter
typ C, der in Indien
den Wissenschaftlern
wütet?
noch heftig umstritDort ist die Situatiten. Die von Essex beon noch dramatischer
hauptete Zahl einer
als in Thailand. Zwar
500fach erhöhten Ansind vom Subtyp C keisteckungsgefahr
zune Eigenschaften bemindest gilt als drastiAidsforscher Rübsamen-Waigmann, Kurth: Tödlicher Flächenbrand?
kannt, die seine Aussche Übertreibung.
DER SPIEGEL 49/1995
247
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WISSENSCHAFT
„Der Erreger ist hier“
Interview mit Minister Seehofer über den neuen HIV-Typ
Sie nach dem Auftauchen des HI-Virus vom Subtyp E eine neue AidsEpidemie unter den Heterosexuellen in Deutschland?
Seehofer: Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand nicht. Wir analysieren
das neue Problem aber noch.
SPIEGEL: Halten Sie die Warnungen
vor dem „Supervirus“ für überzogen?
Seehofer: Nein. Die Fachleute sagen: Es kann sein, daß wir es jetzt
mit einem aggressiveren und infektiöseren Typus in
Deutschland zu tun haben, es muß aber nicht
sein. Doch wenn es so
ist, dann ist das eine
neue Dimension. Man
muß Vorsorge treffen
und kann nicht auf
stichhaltige Beweise
warten.
SPIEGEL: Sind die gebräuchlichen
AidsTests geeignet, auch
das neue Virus zu
identifizieren?
Seehofer: Nach Meinung der Fachleute ja.
Es wird allerdings in Seehofer
der Regel nicht gezielt
nach dem Subtyp E gefahndet. Ob
man es zukünftig tun muß, wird zur
Zeit geprüft.
SPIEGEL: Birgt das neue Virus neue
Risiken bei der Blutübertragung?
Seehofer: Nein.
SPIEGEL: Kann das Virus vom Subtyp E beim Küssen übertragen werden?
Seehofer: Beim Küssen sehen die
mich beratenden Wissenschaftler
keine neue Übertragungsmöglichkeit. Beim Sexualverkehr ändert sich
im Grunde auch nichts: Schutz bieten Kondome und ein verantwortlicher Umgang mit der Sexualität.
SPIEGEL: Seit Jahren ist bekannt,
daß sich der Subtyp E in Thailand
und der Subtyp C in Indien bedrohlich ausbreiten. Wieso jetzt die plötzliche Aufmerksamkeit in Deutschland?
Seehofer: Anlaß ist der Hinweis des
Präsidenten des Paul-Ehrlich-Instituts, das Virus sei möglicherweise
ansteckender.
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DER SPIEGEL 49/1995
SPIEGEL: Hat die Invasion der neuen
Erreger in Deutschland nicht längst
stattgefunden?
Seehofer: Der Erreger ist in
Deutschland, das ist unbestritten. Es
ist nur die Frage: Ist er so viel aggressiver, gibt es eine neue Dimension bei der Aids-Ansteckung?
SPIEGEL: Haben Sie Warnungen vor
dieser Gefahr in der Vergangenheit
überhört?
Seehofer: Nein, im Moment überwiegt bei Wissenschaftlern die Einschätzung, es sei unnötig dramatisiert worden. Das
glaube ich nicht. Es ist
normal, daß Wissenschaftler Risiken unterschiedlich
bewerten.
SPIEGEL: Muß sich an
der Art der Aufklärung etwas ändern?
Seehofer: Wir müssen
wieder intensiver aufklären, wir müssen die
Aufklärung in den
Köpfen der Menschen
auffrischen. Im Moment sehe ich aber
noch keinen Grund,
Strategie oder Inhalte
zu ändern.
SPIEGEL: Werden Sie die SubtypenForschung verstärken?
Seehofer: Wenn die Wissenschaftler
mir dafür plausible Konzepte vorlegen – ja. Aber das kann ich nicht aus
einer Stimmung heraus entscheiden.
SPIEGEL: Sehen Sie die Möglichkeit,
den Sextourismus zu kontrollieren,
um die Einschleppung von aggressiveren Virus-Varianten einzudämmen?
Seehofer: Nein. Mehr als Aufklärung ist nicht drin.
SPIEGEL: Gibt es Hinweise auf unterschiedliche Krankheitsverläufe?
Seehofer: Da streiten sich die Fachleute. Offensichtlich sind die Virologen besorgter als die Epidemiologen. Da ist es schwierig für einen Politiker, die notwendigen Schlußfolgerungen für die Gesundheitsvorsorge zu ziehen. Die Virologen sagen
mir, daß nicht nur die Ansteckungsgefahr größer ist, sondern auch der
Krankheitsverlauf schwerer und die
Frist bis zum Tode kürzer.
J. H. DARCHINGER
SPIEGEL: Herr Seehofer, befürchten
breitung besonders begünstigen. Sicher
aber ist, daß er sich ebenso rasant vermehrt wie der Subtyp E in Thailand.
Die große Zahl der Wanderarbeiter
hat in den Metropolen Kalkutta und vor
allem Bombay die Zahl der Prostituierten sprunghaft ansteigen lassen – Katalysatoren der Seuche, die sich inzwischen überall im Land ausbreitet.
Schon heute wird die Zahl der HIVInfizierten auf 1,6 Millionen geschätzt.
Bis zum Jahr 2000 wird Indien, noch vor
Afrika, Aidsregion Nummer eins in der
Welt sein.
Doch wenn die einzigartige Mischung
aus Armut, Prostitution, sozialer Entwurzelung und Unkenntnis die Epidemie in Indien und Thailand auch schürt
– ein Grund, in Deutschland die Gefahr
einer Einschleppung neuer Viren aus
dem Osten zu ignorieren, ist dies nicht.
Denn der Tourismus ist zum wichtigsten Einfallstor der Seuche geworden.
Die Zahl der Sextouristen in Thailand
wird auf jährlich 900 000 geschätzt. Jeder zehnte kommt aus Deutschland.
Mindestens zehn Prozent aller Neuin-
Der Tourismus ist zum
wichtigsten Einfallstor
der Seuche geworden
fektionen in der Bundesrepublik, zu diesem Schluß kommt eine Studie der Freien
Universität Berlin, ist schon heute auf
Sextourismus zurückzuführen.
„Bei der hohen Durchseuchung von
Ländern wie Thailand und Indien ist eine
Infektion eine pure Frage der Wahrscheinlichkeit“, sagt Helga RübsamenWaigmann. „Da ist es fast egal, ob es sich
um Subtyp A,B,C oder E handelt. Heterosexuell übertragbar sind sie alle.“
Sicher ist zudem, daß die neuen Virustypen Deutschland längst erreicht haben.
Bisher wurden Subtypen des HI-Virus in
Blutproben deutscher Patienten nur in
wenigen Einzelfällen bestimmt. Dabei
stießen die Wissenschaftler am GeorgSpeyer-Haus erstmals vor zwei Jahren
auf den Subtyp E. Am letzten Montag
veröffentlichten die Frankfurter HIVForscher das Ergebnis einer neuen Stichprobe. Sie gibt eine Ahnung davon, wie
weit die Viren aus Fernost sich auch hierzulande bereits ausgebreitet haben.
Neun kürzlich HIV-infizierte Patienten aus zwei Praxen in Aachen und München waren untersucht worden. Bei drei
von ihnen fand sich der Subtyp E, bei einem der Subtyp C.
Daß aber die Epidemie vom Typ E in
der deutschen Bevölkerung bereits umläuft, ließ sich bisher nicht nachweisen:
Noch lassen sich alle diagnostizierten Infektionen auf denselben Ursprung zurückverfolgen – eine Reise in die Dritte
Welt, meist nach Fernost.
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