Ausgabe No. 132 OktoberDezember 2003 Politik mit aufgeklärtem Optimismus Gibt es eine christliche Politik? NO WAR - KEIN KRIEG? Ti telf o to : p hot os. c om Gibt es einen gerechten Krieg? M i t t e i l u n g e n des A l b r e c h t -Bengel-Hauses KRIEG IM NAMEN GOTTES ? IN H A LT 2 Editorial Ro l f H i l l e Politik mit aufgeklärtem Optimismus 6 Ro l f H i l l e 11 Gibt es eine christliche Politik? J o a c h i m Ku m m e r 17 NO WAR - Kein Krieg? Vo l k e r G ä c k l e 26 Jugendmissionskonferenz Einladung Jahresfest 2003 I M PR E S S UM Die Mitteilungen des Albrecht-Bengel-Hauses erscheinen vierteljährlich. Nachdruck auch auszugsweise nur mit Einwilligung des Herausgebers. Der Bezug ist mit keinen Verpflichtungen verbunden. H e r a u s g e b e r : Dr. Rolf Hille im Auftrag des Vereins Albrecht-Bengel-Haus e.V. Ludwig-Krapf-Str. 5, 72072 Tübingen Tel 07071/7005-0 / Fax 7005-40 E-Mail: [email protected] Internet: www.bengelhaus.de Re d a k t i o n : Grafik: Druck: Re p r o : Fo t o s : Ko n t e n : ABH-Verein: ABH-Stiftung: 2 Martin Flaig, Volker Gäckle KraussWerbeagentur.de, Herrenberg Druckerei Zaiser, Nagold TBM Repro, Remseck abh/photos.com EKK Stuttgart BLZ 600 606 06 EKK Stuttgart BLZ 600 606 06 Konto 41 90 01 Konto 41 95 83 Dr. Rolf Hille - Re k t o r Liebe Leser! editorial Heute am 3. September, an dem ich Ihnen diese Zeilen schreibe, feiert der erste Studienleiter des Bengelhauses, Dekan Walter Tlach, seinen 90. Geburtstag. An dieser Stelle möchten wir ihm von Herzen gratulieren und ihm für sein neues Lebensjahr die Nähe und den Segen unseres Herrn wünschen. Walter Tlach hat gemeinsam mit seiner Frau Elfriede die erste Studentengeneration des Bengelhauses als Lehrer und Seelsorger nachhaltig geprägt. Die Studenten verliehen ihm, der besonders tief im Alten Testament verwurzelt ist, den Ehrentitel „Rabbi“. Durch seine im hebräischen Bibeltext gegründete Auslegung hat er vielen Studierenden den ganzen Reichtum des Wortes Gottes sowohl in der Einzelauslegung wie auch in seinen großen heilsgeschichtlichen Zusammenhängen erschlossen. Walter Tlach zeigte deutlich Profil und war als Theologe eine „markant prophetische Gestalt“. Er war ein Mann, der bereits in den dreißiger Jahren als Stiftsrepetent und als junger Pfarrer die Bekennende Kirche gegen den Terror des Dritten Reiches mutig unterstützte. Ihm war jede ideologische Verdrehung der biblischen Botschaft zuwider. Deshalb setzte er sich auch entschlossen gegen die neomarxistische Unterwanderung der Kirche während der späten 60er Jahre ein, in denen das Bengelhaus gegründet wurde. Für die schwierige Anfangsphase war er der richtige Mann zur rechten Stunde. Seitens der Tübinger theologischen Fakultät wurde das neue Pflänzchen der Studienbegleitung damals sehr skeptisch beargwöhnt, das Evangelische Stift machte kräftig Opposition gegen die neu entstandene Konkurrenz, und die Lokalzeitung „Schwäbisches Tagblatt“ wetterte geradezu mit vernichtender Kritik gegen die pietistische Initiative Bengelhaus. In diesen Stürmen wies Walter Tlach mit fester Glaubensüberzeugung den Weg und half den Studentinnen und Studenten biblische Positionen zu gewinnen. Mit seiner reichen Erfahrung als Lehrer am Seminar der Rheinischen Mission in Wuppertal und als Dekan in Heidenheim, hielt Walter Tlach unzählige Bibelwochen und Gemeindevorträge und gewann so viele Freunde für das Bengelhaus. Seine solide Schriftauslegung und das große Vertrauen, das er im württembergischen Pietismus genoss, schufen für den noch jungen Bengelhaus-Verein die Grundlage dafür, sich zu entfalten. Junge Leute wurden motiviert, trotz schwieriger Lage Theologie zu studieren und viele Christen in den Gemeinden erkannten, dass die Verantwortung für den Nachwuchs in der Pfarrerschaft und den Religionsunterricht nicht einfach an die staatliche Universität delegiert werden kann. Walter Tlach, immer tatkräftig von seiner Frau unterstützt, trug wesentlich dazu bei, dass sich Gemeinden und Gemeinschaften für die Theologiestudierenden mit Gebeten und Opfern engagierten und sich auch kräftig in die theologische Auseinandersetzung einmischten. So möchte ich den festlichen Anlass des 90. Geburtstags von Walter Tlach zum 3 OTTO MICHEL JOACHIM BRAUN WALTER TLACH Anlass nehmen, um ihm und Elfriede Tlach namens des Bengelhauses ganz herzlich für ihren mutigen und hingebungsvollen Einsatz zu danken. Am 2. September mussten wir von einem langjährigen Freund des Bengelhauses, Pfarrer Joachim Braun, in einem Gedenkgottesdienst Abschied nehmen. Er war am 6. August in seinem 100. Lebensjahr in Öschingen verstorben. Joachim Braun hat die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts als Zeitzeuge persönlich in all ihrem Ringen erlebt und mitunter auch erlitten. Als Gründer des Volksmissionarischen Amtes der württembergischen Landeskirche und als dessen langjähriger Leiter wusste er um den Zusammenhang von solider biblischer Theologie und erwecklicher Verkündigung. Deshalb bereitete er gemeinsam mit Synodalen, Gemeinschaftsleitern, den Theologieprofessoren Otto Michel und Peter Beyerhaus sowie mit einer Reihe von Pfarrern und Studenten die Gründung des Bengelhauses vor. Als Schüler der bedeutenden Tübinger Theologen Adolf Schlatter und Karl Heim war es dann das Anliegen von Joachim Braun im Ausschuss des ABH-Trägervereins deutlich zu machen, dass der evangelistische Auftrag der Kirche als Wurzelboden sowohl eine 4 gesunde biblische Lehre wie auch einen weiten geistigen Horizont braucht, um die Bewegungen des Zeitgeistes zu erkennen und Menschen mit ihren heutigen Fragen vom Evangelium her sachgemäß und hilfreich zu antworten. Joachim Braun war bis in seine letzten Tage hinein ein treuer Beter und Unterstützer des Bengelhauses, den wir in dankbarer Erinnerung behalten. Am Samstag, den 18. Oktober 2003, gedenken wir im Bengelhaus mit Vorträgen und Seminaren des 100. Geburtstages von Prof. Otto Michel, der als Neutestamentler an der Tübinger Fakultät vielen Theologiestudierenden die Botschaft des Evangeliums erschlossen hat. Otto Michel hat mit seiner Erfahrung als Studieninspektor am Tholuckkonvikt in Halle die Entstehung des ABH aktiv gefördert und gehört zu den Gründungsmitgliedern des Hauses. Das Tholuckkonvikt wurde in den Jahren der SED-Diktatur regelmäßig von Studierenden des Bengelhauses besucht. So konnte die Verbindung zum theologischen Nachwuchs in der ehemaligen DDR gepflegt werden. Das Tholuckkonvikt hatte die Zielsetzung, das Erbe der Erweckungstheologie an der Universität lebendig zu halten. Gerade dieser Aspekt ist durch das Engagement Otto Michels für die Arbeit des Bengelhauses maßgeblich geworden. Das theologische Ringen um die rechte Schriftauslegung erwächst aus dem lebendigen Glauben der Gemeinde und zielt darauf, dass dieser Glaube immer neu durch biblisch gegründete Verkündigung und Lehre in der Gemeinde erweckt und gestärkt wird. Walter Tlach, Joachim Braun und Otto Michel stehen beispielhaft für eine mutige und profilierte Generation, die in schweren Kämpfen des 20. Jahrhunderts für eine biblisch fundierte und missionarisch orientierte Theologie eingetreten sind. Sie haben in unterschiedlicher Weise ihre an der Schrift gewonnene Erkenntnis und Lebenserfahrung in die Gründungsphase des Bengelhauses eingebracht. Ihnen gilt im Sinne von Hebräer 13,7 unser besonderer Dank: „Gedenket an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt ihrem Glauben nach“. Mit dem Thema „Krieg im Namen Gottes? – Christlicher Glaube und politische Verantwortung“ haben wir uns für diese Ausgabe der „Theologischen Orientierung“ ein „heißes Eisen“ vorgenommen. Wie sollen wir als Christen unsere politische Verantwortung in der Demokratie wahrnehmen? Welche biblischen Grundlagen für die politische Ethik gibt es? Und nicht zuletzt: Wie sollen sich die christlichen Kirchen angesichts der Kriege zwischen den Staaten, der Bürgerkriege innerhalb verschiedener Länder und schließlich des international operierenden Terrors verhalten? Ausgangspunkt für die Thematik des vorliegenden Heftes war ein Artikel im Deutschen Pfarrerblatt, der im Juni dieses Jahres kräftig für Furore sorgte. Unter dem Titel „Die EKD-Kirchen angesichts der Globalisierung“ wartete der Beauftragte für Weltanschauungsfragen in der pfälzischen Landeskirche, Richard Ziegert, mit heftigen Vorwürfen gegen den Pietismus, die Deutsche Evangelische Allianz und die Studentenmission in Deutschland (SMD) auf. Er wirft den Evangelikalen pauschal vor, sie wären dunklen Machenschaften der „US-Religionswirtschaft“ auf den Leim gegangen. Die genannten missionarischen Bewegungen seien Teil einer weltweiten Strategie des amerikanischen Imperialismus, der mit bösen fundamentalistischen Zielen die deutschen Kirchen politisch, kulturell und religiös unterwandern würde. Mit dieser verqueren Weltsicht will Richard Ziegert wohl in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur allgemeinen geistigen Mobilmachung der Kirchenleitungen, der Theologen und der Pfarrerschaft gegen die evangelikale Bewegung aufrufen. Nun könnte man über solche phantastischen Verschwörungstheorien nur lachen, wenn nicht mancher Pfarrer, der dieses berufsständische Verbandsblatt liest, doch glauben würde, dass an der Geschichte etwas dran ist. So mancher Pfarrer oder manche Pfarrerin mag darin die Herausforderung sehen, die Frommen in der Gemeinde besonders kritisch zu beobachten und missionarische Ansätze entsprechend deutlich zu bekämpfen. Deshalb wollen wir in diesem Heft der „Theologischen Orientierung“ einmal nüchtern auf die Fakten sehen. Welche biblischen Leitlinien lassen sich für die politische Ethik der Christen klar benennen? Wo handelt es sich um Ermessensfragen, in denen Christen entsprechend ihrer vernünftigen Einsicht und Lebenserfahrung zu recht unterschiedlichen Bewertungen bezüglich der politischen Praxis kommen? Das Thema ist – wie gesagt – ein heißes Eisen. Aber wir sind in eine Welt gestellt, in der wir als Bürger einer Demokratie in besonderer Weise Mitverantwortung tragen. Und bei den hier geforderten Entscheidungen – mit all ihren Risiken und Unabwägbarkeiten – möchten wir mit diesem Heft zu Fragen der politischen Ethik theologische Orientierung geben. Nun wünsche ich Ihnen beim Lesen viel Freude und Gewinn und grüße Sie mit herzlichem Dank für alle Unterstützung des Bengelhauses Ihr 5 Politik mit aufgeklärtem Optimismus Ideal und Wirklichkeit des amerikanischen Traumes von individueller Freiheit Dr. Rolf Hille, Rektor 1. Die Philosophie der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung Die USA sind nach dem kalten Krieg die einzig verbliebene Supermacht. Was bestimmt das politische Denken und das Lebensgefühl der Amerikaner? Gerade angesichts der Kontroversen um den Irakkrieg stellt sich die Frage nach den Grundlagen und Zielsetzungen amerikanischer Politik, von denen heute alle Staaten auf Erden direkt oder zumindest indirekt betroffen sind. Aus christlicher Sicht geht es wesentlich darum, die philosophischen und religiösen Hintergründe, die das Leben in den USA prägen, zu verstehen und sie fair und angemessen zu beurteilen. Das soll – wenigstens in groben Strichen – in dem folgenden Beitrag versucht werden. 6 „Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass nämlich alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurden. Zu diesen Rechten gehören: Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Um diese Rechte zu sichern, sind Regierungen unter den Menschen eingerichtet worden, deren Staatsgewalt sich aus der Zustimmung der Regierten herleitet...“ Mit diesen Sätzen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung gegenüber der monarchisch verfassten Kolonialmacht England hat ein einzigartiges historisches Experiment begonnen, das sich mittlerweile als das erfolgreichste der modernen Geschichte erwies. Welche Idee steckt hinter dieser von Thomas Jefferson entworfenen Unabhängigkeitserklärung? Zunächst die Verbindung von europäischer Aufklärung einerseits und christlich-biblischen Überzeugungen andererseits. Leitgedanke sind die Menschenrechte. Sie werden mit Hinweis auf die Tatsache, dass Gott alle Menschen gleich geschaffen und mit unveränderlichen Rechten ausgestattet hat, begründet. Weil jeder einzelne Mensch die Würde besitzt „Bild Gottes“ zu sein, kommen ihm diese Rechte zu. Aber diese Einsicht beruft sich nun nicht speziell auf die biblische Offenbarung, sondern auf die allgemeine und jedem Menschen unmittelbar zukommende Vernunft. Auffallend ist dabei, dass die Notwendigkeit des Staates weniger von der Erhaltungsordnung des Schöpfers als vielmehr vom Optimismus des freiheitlichen und politisch fortschrittlichen Menschen hergeleitet wird. Die Erhaltungsordnung geht stattdessen vorrangig davon aus, dass der Mensch nach dem Sündenfall immer wieder zur größten Gefährdung für sich selbst wird. Der natürliche Mensch wird für seinen Mitmenschen zur Bedrohung, weil er in egozentrischer Absicht immer wieder Leben, Eigentum, Ehe und Familie seines Nächsten antastet. Um solchen Übergriffen zu wehren, ist nach lutherischem Verständnis die Staatsgewalt von Gott legitimiert, dem Bösen Widerstand zu leisten und dadurch wenigstens halbwegs die Ordnung in dieser Welt aufrecht zu erhalten. Das Aufklärerische an der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist demgegenüber die optimistische Sicht des Menschen und seiner Zukunft. Erstmals stehen nicht die Pflichten des Staatsbürgers, sondern seine Rechte im Mittelpunkt staatsphilosophischer Erwägungen. Wenn man die Selbstentfaltungskräfte des Menschen freisetzt, so dass jeder einzelne unter dem Schutz der staatlichen Gewalt sich als Individuum entfalten kann, dann entsteht eine positive Dynamik, die ein „Land mit unbegrenzten Möglichkeiten“ hervorbringt. Das jedenfalls war die tiefe Überzeugung der Gründerväter der USA, als sie am 4. Juli 1776 in der Independence Hall in Philadelphia die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben. Die Amerikaner beschreiben gerne ihre Geschichte als Experiment demokratischer Freiheit in Konkurrenz zu anderen politischen Leitideen. Und dass ihr Versuch einer Regierung des Volkes durch das Volk gelingen würde, war in der Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts zunächst alles andere als selbstverständlich. Europa wurde damals von absolutistischen Monarchen beherrscht und bis zur Durchsetzung bür- gerlicher Freiheiten war es noch ein weiter politischer Weg. Auch die kühne Behauptung der Unabhängigkeitserklärung, „dass alle Menschen gleich geschaffen“ seien, konnte sich angesichts der Sklaverei in den Südstaaten der USA erst mühsam und nach einem furchtbaren Bürgerkrieg durchsetzen, der den jungen und ungefestigten Staat an den Rand des Scheiterns führte. Abraham Lincoln (1809-1865), der legendäre und wohl beliebteste Präsident der Vereinigten Staaten kehrte nach dem amerikanischen Bürgerkrieg zu dem Schlachtfeld in Gettysburg zurück und endete seine kurze Rede mit den inhaltsschweren Sätzen: „... dass diese Toten nicht vergeblich gestorben sein sollen, dass diese Nation unter Gott eine neue Geburt der Freiheit erleben soll und dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk auf Erden nicht ausgelöscht werden wird.“ Die Angst, das Wagnis der Freiheit könnte misslingen, saß gerade nach dem amerikanischen Bürgerkrieg tief. Aber, und das ist typisch für die Amerikaner, die verwegene Zuversicht in ihre Vision und weltgeschichtliche Sendung erwies sich als stärker. Wie soll man dieses Selbstbewusstsein und Pathos der Freiheit in den USA theologisch beurteilen? Zunächst muss man mit biblischer Nüchternheit feststellen, dass auch die neue Welt trotz aller Fortschritte die alte Welt geblieben ist. Und zwar deshalb, weil der alte Mensch in seiner Sündhaftigkeit auch durch die mitreißende Idee der Freiheit nicht in einen neuen Menschen verwandelt wird. In der Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner, in den sich bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinziehenden Befreiungskämpfen der schwarzen Amerikaner, im amerikanischen Bürgerkrieg und in vielfältiger Gewalt, die als kriminelle Energie innenpolitisch die Vereinigten Staaten immer wieder in Atem gehalten hat, zeigt sich, dass der Mensch kein Paradies auf Erden schaffen kann. Und die Tatsache, dass man die Ziele der Aufklärung mit der Leidenschaft religiöser Sprache zum Ausdruck brachte, muss auch 7 eher mit Vorsicht betrachtet werden. Dennoch sollte man bei aller gebotenen Zurückhaltung das „Kind nicht mit dem Bade ausschütten“. Theologisch gesehen ist wichtig, das gesamte biblische Spektrum zur Frage „Staat“, wie es Paulus im 13. Kapitel des Römerbriefes skizziert, im Auge zu behalten. Hier ist zwar klar von der legitimen und notwendigen Strafgewalt des Staates zur Abwehr des „Bösen“ die Rede, aber ebenso klar von der Belohnung der Guten: „Denn vor denen, die Gewalt haben, muss man sich nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes; so wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst: sie ist Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut.“ (Röm 13,3f). In der abendländischen Tradition von Augustin über Luther bis zur Gegenwart war man häufig eher geneigt, die negative Seite der Strafandrohung zu betonen und nicht wahrzunehmen, dass ein guter Staat, der im Sinne der elementaren Ordnungen Gottes handelt, auch eine zum Guten stimulierende Wirkung hat. Hier liegt sicher das Recht des amerikanischen Ansatzes, dem Menschen durch die Chance „guter Werke“, die er zum eigenen Wohl und zu dem seines Nächsten tut, etwas Positives vorzugeben. Der sündige Mensch kann auch inmitten einer gefallenen Welt im politischen Sinne Gutes bewirken. Diesen Anreiz hat in einer zuvor nicht gekannten Breitenwirkung die amerikanische Verfassung ihren Bürgern gegeben. Gerade in der Epoche des „kalten Krieges“ hat sich die Vision der Freiheit bewährt. Die Zeit des waffenklirrenden Konkurrenzkampfes zwischen den politischen Systemen in Ost und West hat man in den USA als Herausforderung verstanden, die Überlegenheit der freien Welt gegen die Staatsdiktaturen des Kommunismus zu erweisen. Und als 1989 tatsächlich der „Eiserne Vorhang“ fiel und der Ostblock 8 sich aufzulösen begann, schrieb der Amerikaner Francis Fukuyoma eine Studie, die intensiv diskutiert wurde und dann unter dem provozierenden Titel „Das Ende der Geschichte und der letzte Mensch“ als Buch erschien. Fukuyoma weist mit kühnem Selbstbewusstsein darauf hin, dass die Idee einer Universalgeschichte mit dem Sieg der westlichen Demokratie über den Sozialismus an ihr Ende gekommen ist. Im Streit der Systeme und Konzepte hat sich die von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) proklamierte Geschichte „als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ endgültig und unwiderruflich durchgesetzt. Die bürgerlich liberale Revolution hat die marxistische abgelöst. Was jetzt noch zu erwarten bleibt, ist lediglich die globale Verwirklichung menschlicher Freiheit in einer demokratischen Weltordnung, zu der es keine ideologische Alternative mehr gibt. Die Begründung für diesen Optimismus ist tief in der religiösen Überzeugung der Amerikaner verankert. Weil Gott die Menschen gleich und frei geschaffen hat, setzt sich die Natur des freien Menschen gegen alle staatliche Unterdrückung und menschenverachtende Diktatur am Ende durch. Die von Francis Fukuyoma vorgetragene Konzeption des Endes der Geschichte steht in klarem Widerspruch zur biblischen Endzeitvision, die vom Antichristen redet. Deshalb gilt es gegen alle politische Utopie in Nüchternheit festzuhalten, dass der Mensch aus seiner Kraft die Vollkommenheit auf Erden nicht erreicht; weder religiös noch sozial noch politisch. Erst wenn diese Einsicht Platz greift, kann sich vernünftige Politik in dem Rahmen entfalten, den ihr Gott zugemessen hat. In diesem vorgegebenen Horizont steht dann allerdings für die geschichtliche Erfahrung außer Frage, dass Menschenrechte, Demokratie, Gewissens- und Religionsfreiheit zu den positiven Errungenschaften der politischen Kultur gehören, für die sich gerade auch Christen mit guten schöpfungstheologischen Gründen engagieren sollten. 2. Schmelztiegel der Nationen Das amerikanische Modell einer multikulturellen Gesellschaft „The American People“ wird in den Reden amerikanischer Politiker oft beschworen. Aber diese Nation ist eben gerade nicht im klassischen Sinne des Wortes ein Volk, sondern die Verschmelzung von immer neuen Wellen der Einwanderer nach Nordamerika, die in der Regel mit dem Traum der Freiheit und des Wohlstands in die neue Welt gekommen sind: Engländer, Deutsche, Skandinavier, Italiener, Franzosen, Polen, Tschechen, Russen... praktisch alle europäischen Völker haben als erste ihre kulturellen Spuren eingegraben. Die aus Westafrika verschleppten schwarzen Sklaven erwiesen sich als Testfall für die Durchsetzung der Menschenrechte und schufen eigenständige Lebensformen, die die Gesellschaft prägen. Im 20. Jahrhundert kamen Asiaten und vor allem Lateinamerikaner in großen Zahlen hinzu, die sowohl ihre Traditionen in die amerikanische Gesellschaft einbringen wie auch ihre Forderung nach Integration erheben. Aus dieser in sich höchst widersprüchlich geprägten Bevölkerung dennoch eine Nation zu formen, die einen starken Zusammenhalt und eine tragfähige Identität hat, ist nur in einem Klima der Freiheit und auf der Grundlage gemeinsamer Werte möglich. Der amerikanische Patriotismus bezieht sich auf die Verfassung als grundlegendes Dokument der Menschenrechte und ist mit tief verankertem Nationalstolz über die eigene Geschichte verknüpft. Aber es handelt sich um einen Nationalstolz, der nicht auf Geburt und Herkunft, sondern auf dem gemeinsamen Ideal individueller Freiheit gegenüber politischer Unterdrückung beruht. John F. Kennedy hat dieses Bewusstsein angesichts der Berliner Mauer in der knappen Solidaritätsaussage „Ich bin ein Berliner“ auf den Punkt gebracht. Wo immer sich der Freiheitswille eines Volkes gegen ungerechte Tyrannei manifestiert, weht jener Geist der Unabhängigkeitserklärung, die am 4. Juli gefeiert wird, und dort verwirklicht sich der amerikanische Traum. Weil in den USA ursprünglich alle Einwanderer sind, hat sich eine Mentalität der Offenheit für alles Neue und der Hilfsbereitschaft für Ausländer tief in der Mentalität eingewurzelt. Jeder, der da ist, gehört dazu, denn es ist nur eine Frage der Zeit, wie lange man schon dabei ist Amerikaner zu sein bzw. zu werden. Im Blick auf die Globalisierung, Urbanisierung (Verstädterung) und kulturelle Durchmischung unserer Welt lässt sich aus dem Weg, den das amerikanische Volk in seiner Geschichte gegangen ist, einiges lernen. Allerdings steht dazu die europäische Geschichte mit der Vielfalt von eigenständigen Völkern, Sprachen und Kulturen im Kontrast. Dieser Unterschied kann jedoch fruchtbar werden, wenn die europäischen Völker statt wie in der Vergangenheit gegeneinander Kriege zu führen, sich nun in gemeinsamer Weltverantwortung zusammenschließen und zu Amerika in einem sich ergänzenden und korrigierenden Verhältnis stehen. Globale Offenheit und konstruktive Vielfalt könnten sich dann positiv mit ihren je unterschiedlichen historischen 9 Erfahrungen bereichern. 3. Ein einzigartiges kirchengeschichtliches Experiment Als am 4. Juli 1776 mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ein politisches Experiment der modernen Geschichte anfing, da hatte ein kirchengeschichtliches Experiment bereits 150 Jahre zuvor begonnen. Die berühmte Mayflower brachte 1620 die erste Gruppe europäischer Auswanderer an die nordamerikanische Küste, die ihrer Heimat in England den Rücken kehrten, weil sie dort aus religiösen Gründen benachteiligt und zum Teil um ihres Glaubens willen unterdrückt worden waren. Nun suchten sie neue Ufer, um in der Freiheit des Gewissens und mit dem Recht zu freier Versammlung ihren Glauben zu leben. Denn auf dem alten Kontinent galt nach der Reformation der Grundsatz: „Wes das Land, des der Glaube“ (lat. cuius regio, eius religio), d.h. der mehr oder weniger absolutistisch regierende Landesfürst bestimmt über das Glaubensbekenntnis seiner Untertanen. Um dieser europäischen Zustände willen brach der Zustrom religiös motivierter Emigranten in die USA über zwei Jahrhunderte hinweg niemals ab. Und als Thomas Jefferson und Benjamin Franklin mit der amerikanischen Verfassung im Geist der europäischen Aufklärung den ersten modernen demokratischen Staat aufbauten, da konnten sie vom erklärten Freiheitswillen eines Volkes ausgehen, das sich nicht zuletzt aus 10 Gründen der Gewissensfreiheit in Nordamerika angesiedelt hatte. Die aufklärerische Idee der Menschenrechte und Toleranz verwirklichte sich in einem Staatsvolk, das zutiefst aus dem Willen und der Tradition zur Religionsfreiheit lebte und deshalb sehr früh die strikte Trennung von Staat und Kirche verfassungsrechtlich verankerte. Was bei diesem kirchengeschichtlich einmaligen Experiment herausgekommen ist, kann sich nicht nur sehen lassen, sondern erwies sich auch missionarisch betrachtet als eine besondere Segensgeschichte. Denn zahllose Christen, die ihren Glauben bewusst praktizierten, füllten den freiheitlichen Rahmen, den ihnen ihr junger Staat bot, mit geistlichem Leben. Aus christlicher Sicht lässt sich der amerikanische Traum durchaus als kirchengeschichtlich gelungenes Experiment eines missionarisch vitalen, in der Bibel verwurzelten Freikirchentums beschreiben. Dieses sicherlich pauschale Urteil ist auch dann noch gerechtfertigt, wenn man einräumt, dass besonders in den Bundesstaaten entlang der Atlantikund Pazifikküste der theologische Liberalismus kräftig blüht und der westliche Säkularismus deutliche Spuren hinterlässt. Zudem hat der amerikanische Sinn für freien Wettbewerb auch zu einer unübersehbaren Aufsplittung christlicher Denominationen geführt. Der zupackende Optimismus lässt die Verkündigung weit weniger problem- und sehr viel mehr verheißungsorientiert erscheinen. Die allgemeine Bereitschaft öffentlich und offen über sich selbst zu reden, hilft auch zu einem mutigen christlichen Glaubenszeugnis in der Gesellschaft. Das Wissen der amerikanischen Pioniere, dass man die Ärmel hochkrempeln und selbst anpacken muss, erleichtert Eigeninitiative beim Gemeindeaufbau. So färbt sich der „American way of life“ mit seinen Licht- und Schattenseiten auch auf das Verständnis Gibt es eine christliche Politik? Versuch einer Antwort anhand einer Schrift Martin Luthers Joachim Kummer, Studienassistent die unheilvolle Verquickung von kirchlichen und staatlichen Interessen bei Kreuzrittern, Ketzerjägern und Konquistadoren, d.h. den portugiesischen Eroberern Lateinamerikas. Weltliches Schwert und kirchliches Wort marschierten im Gleichschritt über alle Erdteile. Die Kirchen sind längst zu einer differenzierten Beurteilung der eigenen Geschichte gelangt. Allerdings wird von Ideologen allzu häufig das Kind mit dem Bad ausgeschüttet, indem Mission unter Generalverdacht gestellt und grundsätzlich als Vorhut kolonialer Machtentfaltung diffamiert wird. >Nein< zur christlichen Politik? Wer die Frage nach einer christlichen Politik mit „einem Wörtlein“ beantwortet, ist in der öffentlichen Meinung bereits „gefällt“. >Ja< zur christlichen Politik? Ein „Ja“ zieht die Frage nach sich: Was unterscheidet das Christentum dann noch vom Islam, der erst im islamischen Gottesstaat seine im Koran angelegte Bestimmung verwirklicht? Wir denken an verschleierte Frauen, die alle Lebensbezüge reglementierende Scharia und Zwangsamputationen. Doch erinnern wir uns: Die Vermischung von Religion und Politik ist auch in der Geschichte des Abendlandes sehr wohl anzutreffen. Man denke etwa an Ein „Nein“ zur Frage nach einer christlichen Politik wäre jedoch ebenso gefährlich. Auch hier steht uns ein bedrückendes Beispiel vor Augen: Die Trennung von Glaube und Politik ermöglichte erst – so eine beliebte These – die absolute Staatshörigkeit der deutschen Christen im Dritten Reich. Luther habe das Fundament zum deutschen Obrigkeitsstaat gelegt, das im NS-Staat seinen furchtbaren Ausdruck fand (Ernst Niekisch). Sebastian Haffner äußert sich in seinen „Anmerkungen zu Hitler“ sehr kritisch über diese Art von Geschichtsschreibung: „Einige englische Historiker haben im Krieg zu beweisen versucht, daß Hitler das sozusagen vorbestimmte Produkt der ganzen deutschen Geschichte gewesen sei; daß 11 von Luther über Friedrich den Großen und Bismarck eine gerade Linie auf Hitler zulaufe. Das Gegenteil ist richtig.“ Obwohl diese These längst als Geschichtsfälschung entlarvt ist, wird das Klischee des obrigkeitshörigen Luther von interessierten Kreisen immer wieder aus der Mottenkiste gezogen. rechte selbst Anteil an staatlicher Macht. Er trägt aktiv zur politischen Gestaltung des Landes bei, indem er seine gesellschaftliche Verantwortung in Vereinen, Parteien, Bürgerinitiativen, Kirchen, Stiftungen, etc. wahrnimmt. Wenn Luther also vom Fürsten spricht, so ist, auf unsere Situation übertragen, der Politiker und bis zu einem gewissen Grad auch der verantwortungsbewusste Staatsbürger mit angesprochen. Tagespolitik als Anstoß zur politischen Ethik Martin Luther 1522/1524 Bleibende Wahrheit und geschichtliche Entwicklung des Politischen Es ist offensichtlich: Wer sich auf die Frage einlässt, ob christliche Politik möglich und berechtigt ist, der begibt sich – so oder so – auf vermintes Gelände. Dennoch soll eine Antwort hier gewagt werden. Und zwar ausgehend von einer Schrift Martin Luthers. Nicht weil Luthers Ehrenrettung angezeigt wäre, sondern weil seine Position – in der konkreten geschichtlichen Situation aufgebrochen – an der Schrift gewonnen ist. Dabei wird deutlich werden, dass eine politische Ethik auf biblischem Fundament ebenso aktuell in die Situation des feudalen Ständestaat der frühen Neuzeit hinein spricht wie in die der westlichen Demokratien des beginnenden 21. Jahrhunderts. Es gilt, die uneinholbaren biblisch-reformatorischen Erkenntnisse in die heute gegebenen Verhältnisse hinein zu übersetzen. Stellt sich staatliche Gewalt für Paulus in der Person des römischen Kaisers dar, für Luther im Landesherrn, so sieht sich der heutige Staatsbürger einer vielfältig ausdifferenzierten Gewaltenteilung gegenüber. Er hat durch Wahlen und andere Bürger- 12 Die historische Situation ist folgende: Georg von Sachsen untersagte 1522 in seinem Herzogtum die Verbreitung des Neuen Testamentes in der Übersetzung Martin Luthers. Damit war akut die Frage auf der Tagesordnung: Wie verhalten sich Glaube und Politik zueinander? Sollte die Entscheidung des Herzogs als der von Gott eingesetzten Obrigkeit demütig getragen werden, oder war das Verbot Georgs, weil es sich gegen Gott richtete, null und nichtig? Luther kommt (nach Apg 5,29) zu dem Schluss: „Nicht ein Blättchen, nicht einen Buchstaben sollen sie überantworten – bei Verlust ihrer Seligkeit. Denn wer es tut, der übergibt Christus dem Herodes in die Hände.“ Luther nimmt die Auseinandersetzung mit dem Herzog von Sachsen zum Anlass grundsätzlich Stellung zu beziehen. Dies tut er in seiner Schrift von „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1523). Herzog Georg Politik ist von Gott gewollt Entsprechend dem Wort Jesu vor Pilatus „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36) unterscheidet Luther zunächst zwei Reiche, denen die Menschen angehören: Das Reich Gottes und das Reich der Welt. Die Christen gehören zum Reich Gottes, das nicht von dieser Welt ist. Ihr Handeln ist durch die Liebe bestimmt, ihr Herr ist Christus. Sie sollen nach der Bergpredigt leben: Dem Unrecht, das ihnen angetan wird, nichts entgegensetzen und, wenn sie Schläge einstecken müssen, auch die andere Backe hinhalten. Dieses Ideal gilt natürlich nur, insoweit die Christen wirklich Christen sind. Jeder Christ ist aber solange er lebt noch etwas anderes, nämlich Sünder. Deshalb kann er die Bergpredigt nicht vollkommen erfüllen. Es gibt darüber hinaus auch Bereiche, in denen die Bergpredigt gar nicht Maßstab für das Handeln sein kann. Denn der Christ gehört nicht nur dem Reich Gottes, sondern in all seinen Entscheidungen auch dem Reich der Welt an. Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Werde ich von meinem Nachbarn übervorteilt, dann soll ich mir gemäß der Bergpredigt Unrecht tun lassen und von Herzen gerne verzeihen! Als Familienvater werde ich mir aber zugleich überlegen, ob ich mich um meiner Kinder willen schützen muss, die mit unter diesem Unrecht leiden und die Gott mir anbefohlen hat. Der Großteil der Menschheit gehört, so Luther, allein dem Reich der Welt an. Hier sorgt die Gewalt der Obrigkeit im Auftrag Gottes für ein geordnetes Zusammenleben (Röm 13,1-7. Petr 2,13f). Gott regiert die Welt also durch zwei Herrschaftsweisen: Die Christen regiert er durch seinen Geist, die anderen durch die von ihm eingesetzte Regierung. Wären alle Menschen durch und durch Christen, so wäre das weltliche Gesetz überflüssig. Dann könnte man die Welt mit der Bergpredigt regieren, aber nur dann. Die Wirklichkeit sieht nach dem Sündenfall leider ganz anders aus: „Der Bösen sind immer viel mehr denn der Frommen. Darum ein ganzes Land oder die Welt mit dem Evangelium regieren zu wollen, das ist eben, als wenn ein Hirte in einen Stall zusammentät Wölfe, Löwen, Adler, Schafe und ließe jedes frei unter dem andern gehen und spräche: ‚Da weidet euch und seid fromm und friedsam untereinander. Der Stall steht offen. Weide habt ihr genug. Hund und Stecken braucht ihr nicht zu fürchten.’ Hier würden die Schafe wohl Frieden halten und sich friedlich also lassen weiden und regieren. Aber sie würden nicht lange leben, noch kein Tier vor dem anderen bleiben.“ Darum ist auch für den Christen in der Politik der Gebrauch staatlicher Zwangsmittel und Gewaltausübung nicht aus- sondern eingeschlossen: „Wenn du siehst, dass es am Henker, Büttel, Richter, Herrn oder Fürsten mangelt und du dich geschickt dazu findest, so sollst du dich darum bewerben, auf dass ja die nötige Gewalt nicht unterginge.“ Landsknechte Sind Christen die besseren Politiker? Im konkreten Handeln des Christen überschneiden sich also Reich Gottes und Reich der Welt. Christen sind aufgefordert, aktiv und passiv am weltlichen Regiment und damit an der Weltgestaltung und Friedenssicherung teilzunehmen und Verantwortung zu übernehmen. Das fordert die Liebe 13 zum Nächsten. Christen dürfen nicht nur politisch tätig sein, sie haben sogar einen großen Vorteil in der Politik, denn sie handhaben staatliche Gewalt – sofern sie sich an der Schrift orientieren – im Bewusstsein einer besonderen Verantwortung. Sie wissen, dass ihre Macht von Gott kommt, dass diese Macht geliehen ist und dass sie den Gebrauch ihrer Macht vor Gott zu verantworten haben. Ob sie aufgrund dieses Wissens allein schon die besseren Politiker sind, ist allerdings nicht ausgemacht. Schließlich braucht ein guter Politiker auch vielfältige Fähigkeiten, wie z.B. eine gute Portion an Sachverstand, Weitblick, Mediengewandtheit, Diplomatie, Durchsetzungsvermögen, Kompromiss-, Moderations- und Teamfähigkeit, klare Zielvorstellungen und Sinn für das Machbare. Politik und Christsein als Spannungsfeld Luther gibt sich keinen falschen Illusionen hin. Er weiß: „Ein kluger und frommer Fürst ist ein seltener Vogel“. Was aber gilt für ihn, für den Christen in der politischen Entscheidung? Das Gewissen des Christen orientiert sich nach der Bergpredigt. Im Privaten hat er auf Rache, Gewalt und den eigenen Nutzen zu verzichten. In seinem weltlichen Amt aber fordert Gott von ihm, dass er Recht und Gerechtigkeit durchsetzt. Das gilt nicht nur für den Politiker, für den Polizisten und Soldaten, sondern das gilt überall dort, wo Verantwortung für andere wahrgenommen wird, bis hinein in die Familie. Der Christ folgt also mit dem Herzen der Bergpredigt – auch in politischen Angelegenheiten. In dem, was er tut und lässt, hat er stattdessen dem Auftrag seines Berufes gerecht zu werden. „Also gehets denn beides fein miteinander“? Zumindest in der Theorie – denn ein innerer Gewissenskonflikt aufgrund dieser Spannung in einer Person ist nicht grundsätzlich 14 vermeidbar. Vielmehr liegt gerade darin die Gefahr, dass bei der Ausübung des „weltlichen Regiments“ das „Herz“ des Christenmenschen in Anfechtung gerät. Es ist für den Christen eine permanente Herausforderung der Berufspflicht zu genügen und zugleich in der Liebe Jesu zu bleiben. So stellt sich etwa die Frage: Mache ich der Öffentlichkeit und vielleicht auch mir selbst vor, das öffentliche Recht zu schützen, und suche dabei doch nur die Gerechtigkeit, die mir nützt? Lasse ich mich bei äußerlich korrekter Amtsführung innerlich zu Hass und Rachsucht hinreißen? Die Spannung zwischen beiden „Reichen“ erreicht also im einzelnen Menschen eine unergründliche Tiefe. In kleiner Münze erleben wir solche Situationen der Überschneidung der beiden Reiche tagtäglich. Ein Beispiel: Greife ich zu erzieherischen Maßnahmen aus Liebe zu meinem Kind, oder gebe ich damit einem Affekt nach? Über die eigentlichen Motive meines Handelns kann ich vielleicht nicht einmal selbst mit letzter Gewissheit Aufschluss geben. Das heißt aber: Als Christ lebe ich aus der Vergebung auch bei äußerlich tadellosen Entscheidungen und Handlungen. Das gilt auch für die Sphäre des Politischen. Der Christ lebt aus der Ve r g e b u n g Politik ist von Gott begrenzt Nach dem grundsätzlichen Ja zur staatlichen Ordnung, markiert Luther in einem zweiten Teil deutlich die Grenze des weltlichen Rechts: Der starke Arm des Staates darf nicht zum verlängerten Arm des Reiches Gottes werden. Weltliche Macht erstreckt sich nur auf Leib und Gut, nicht auf den Glauben, nicht auf das Gewissen. Über die Herzen hat der Staat keine Gewalt. Der Glaube ist allein Sache der Predigt. Dem mittelalterlichen Ketzerrecht hält er entgegen: „Ketzerei ist ein geistlich Ding, das kann man mit keinem Eisen hauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Wasser ertränken... Ist Ketzerei da, die überwinde man, wie sich’s gebührt, mit Gottes Wort.“ Es gibt also durchaus den christlichen Politiker, auch der Staat als solcher hat zumindest eine Ahnung von dem, was „gut“ ist (Römer 13,3-4). Es darf aber keine sogenannte „christliche Politik“ in dem Sinne geben, dass im Namen der christlichen Wahrheit religiöse Interessen mit Gewalt durchgesetzt werden. Damals wie heute gilt also nach Luther: Religiöse Motive dürfen niemals als Kriegsgrund missbraucht werden. Handlungsanweisungen für den Christenmenschen in der Politik Der abschließende Teil seiner Schrift belegt, dass die Unterscheidung der beiden Reiche, die in der Brust des christlichen Politikers ein spannungsvolles Miteinander führen, für Luther nicht bloße Theorie ist. Hier bietet er einen Fürstenspiegel, eine Orientierungshilfe für den christlichen Regenten, die jeder Politiker, jede Firmenleitung, jede Führungskraft leicht in ihr Gebiet übersetzen kann: Ein christlicher Fürst zeichnet sich dadurch aus, dass er seinem Gegenüber mit von Liebe geleiteter politischer Vernunft begegnet: Denen, die von ihm abhängig sind, ist er Schutz und Frieden schuldig. Er ist ihr erster Diener. Ja, Christus selbst, den Himmelsfürsten, soll er sich zum Vorbild setzen. Wie dieser wird er sich für sein Volk und Land aufopfern. Die Fachleute und Räte soll er nicht verachten, aber noch viel weniger darf er ihnen blind und vorbehaltlos vertrauen. Denn keiner ist frei von Selbstsucht. So muss er in allen Belangen selbst die Akten kennen und sich als Herr der Lage erweisen. Kraft und Zeit zu Prunk und Protz bleibt hier keine mehr. Den Gesetzesbrecher soll er strafen, allerdings darf er nicht dem Rat der Scharfmacher, der „Eisenfresser“ folgen, durch Strafaktionen Land und Leute in Gefahr bringen und das Land mit Witwen und Waisen füllen. An dieser Stelle nimmt Luther die Gelegenheit wahr, deutlich zu machen, dass nicht nur die Regierung, sondern Ein Fürst mit seinen Räten jedermann in politischen Entscheidungen steht. Luther führt hier an, dass der Wehrpflicht folge zu leisten ist. Das gilt selbst für den Fall, dass vom einzelnen nicht mit Sicherheit beurteilt werden kann, ob das eigene Land das Recht auf seiner Seite hat. Hier zeigt sich Luthers realitätsnahes politisches Verständnis. Er fordert vom „gemeinen Mann“ nicht, die politischen Verhältnisse mit letzter Klarheit zu durchdringen und die Schuldfrage abschließend zu klären. Liegt das 15 Unrecht des eigenen Landes nicht offen am Tage, dann muss sich der einfache Soldat auf die Darstellung seiner Regierung verlassen. Diese freilich lädt vielfache Schuld auf sich, wenn sie das Vertrauen ihrer Soldaten missbraucht und sie in einen ungerechten Krieg führt. In unserem Medienzeitalter hat sich an dieser Situation prinzipiell nichts geändert. Wir sind zwar rundum informiert, können aber im allgemeinen nicht – oder erst im Nachhinein – durchschauen, welche Nachrichten mit welchen Interessen von wem gesteuert sind und welchen Wahrheitsgehalt sie haben. Ein aktuelles Beispiel ist hier die Informationspolitik der USA im Irakkrieg. Politik und Heilsgeschichte Luthers politische Ethik stützt sich nicht nur auf einzelne zentrale Bibelstellen, sie ist auch in einen biblischen Gesamtzusammenhang verwoben. In der Heilsgeschichte Gottes mit der Welt sind Politik und Wortverkündigung einander klar zugeordnet. Weltliche Herrschaft hat ihren geschichtlichen Ort zwischen dem Sündenfall und der Wiederkunft Jesu. Politik ist also eine vorübergehende Einrichtung in einer vergehenden Welt, in der der Teufel los ist und Gottes Verheißung noch nicht zu ihrem Ziel gekommen ist. Durch das weltliche Regiment bewahrt Gott die Welt in dieser Bedrohung vor Chaos und Untergang. Durch das geistliche Regiment ruft Gott zur Umkehr und verkündigt das Kommen des Reiches Gottes. Das weltliche Regiment ist, auch wenn es davon nichts weiß, die Magd des geistlichen. Sie ermöglicht erst das friedliche Zusammenleben und damit indirekt auch die Ausbreitung des Reiches Gottes. In einer Diktatur ist das „weltliche Regiment“ auf dem Weg in die Perversion. Dennoch darf nach Luthers Verständnis von Römer 13,1-2 nicht das geschehen, was zwei Jahre später durch den Bauernaufstand versucht wurde: Eine Beseitigung der bestehenden Regierung durch unberufene Gewalt. Auch einen Eingriff von außen 16 lehnt Luther ab. Niemals forderte er seinen Fürsten auf, Herzog Georg wegen der Verfolgung der Evangelischen anzugreifen. Als schließlich 1528 zur „Rettung des Evangeliums“ von den evangelischen Fürsten ein Präventivkrieg geplant wurde, drohte Luther seinem Landesherrn damit das Land zu verlassen. Für politisch erlaubt hielt er ausschließlich die Verteidigung des eigenen Landes und den Schutz Verbündeter: „Wer Krieg anfängt, der hat Unrecht!“ Freilich ist es aufgrund heutiger Waffentechnik und des Phänomens Terrorismus schwierig geworden zwischen Präventivund Verteidigungskrieg zu unterscheiden. Um so höher wiegt heute die Verantwortung der Informationsdienste und Spezialisten. In vielem ist aber auch heute noch Luther nicht nur prinzipiell, sondern auch in der Praxis uneingeschränkt Recht zu geben: „Obrigkeit ändern und Obrigkeit bessern sind zwei unterschiedliche Dinge. Sie sind so weit von einander geschieden wie Himmel und Erde. Das Ändern kann leicht geschehen, Bessern ist misslich und gefährlich.“ Wie schwierig die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung nach der Beendigung eines Krieges ist, das zeigen uns die Fernsehbilder, die uns vom Balkan, aus Afghanistan und aus dem Irak erreichen. Folgt man den in aller Kürze dargestellten biblisch-reformatorischen Prinzipien, so kann man dabei dennoch zu unterschiedlichen Deutungen der Tagespolitik gelangen. Vor einem aber sollten wir uns als Christen in jedem Falle hüten: Vor unbewiesenen und vielleicht unbeweisbaren Schuldzuweisungen. Die Herzen der Regierenden sind dem weltweit vernetzten Zeitgenossen immer noch so wenig offenbar, wie dem des Lesens unkundigen Bauern des 16. Jahrhunderts. Hier kommt auch das politische Wächteramt der Kirche an seine Grenze. Was die Christen über alle Jahrhunderte hinweg eint, ist die Hoffnung auf die Wiederkunft Jesu Christi, durch die das weltliche Regiment beendet, das geistliche Regiment vollendet wird. NO WAR? KEIN KRIEG? Oder: Gibt es einen gerechten Krieg? Volker Gäckle, Studienleiter Unsere Weltlage hat sich in den vergangenen bald sechs Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in dramatischer Weise verändert und wenn nicht alles täuscht stehen wir vor weiteren tiefgreifenden Veränderungen des weltweiten Machtgefüges, nicht nur durch die Dominanz der USA als der einzig verbliebenen Weltmacht, sondern auch durch den sich andeutenden Aufstieg Chinas zu einer neuen Weltmacht. Geändert haben sich jedoch nicht nur Machtverhältnisse, sondern auch staatliche Gebilde, Militärtechnologien und die internationalen Feindbilder. Die Frage nach einem gerechten Krieg muss all diese Verschiebungen mitberücksichtigen. Man kann sie nie in einen geschichtslosen Raum hinein stellen, sondern 17 es gilt immer die konkreten Verhältnisse in die Antwort einzubeziehen. Deshalb soll in einem ersten Teil der Versuch einer Bestandsaufnahme gewagt werden. Dieser wird notwendigerweise subjektiv sein und in einer Spannung zu anderen Wahrnehmungen stehen. Aber die Frage nach der Legitimität eines Krieges kann auf eine solche Deutung der jeweiligen Situation nicht verzichten. Im Zentrum des zweiten Teils steht dann die Frage nach den Antworten der Bibel und der Kirchen- bzw. Theologiegeschichte. Welche Maßstäbe ergeben sich aus dem biblischen Zeugnis und den Einsichten von Christen in den vergangenen 2000 Jahren? Schließlich sollen in einem knappen letzten Teil einige Beurteilungskriterien für die Gegenwart formuliert werden, die wenn auch kein Orientierungsmaßstab (wer könnte einen solchen geben?), so doch eine Orientierungshilfe geben sollen. I. Von Hiroshima bis zum 11. September Die Frage nach dem Krieg in veränderter Zeit „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!“ So formulierte es 1948 die erste Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam. Unter dem Eindruck der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, der einschließlich der beiden Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki ein noch nie gesehenes Massensterben mit sich brachte, war es ein Gebot der Stunde, in einer ganz neuen Weise über Recht und Unrecht des Krieges nachzudenken. Waren in allen Jahrhunderten vorher Kriege eine zwar nicht weniger grausame, aber in ihrer Folgewirkung relativ prognostizierbare „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, vermittelten die beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Ahnung vom Horrorszenario des Weltuntergangs. Der Krieg im Atomzeitalter wurde zu einem prinzipiell unkalkulierbaren Abenteuer vor dem Horizont einer möglichen Totalvernichtung der Menschheit. 18 Die atomare Bedrohung des Kalten Krieges und die neue Frage nach dem Sinn des Krieges Entsprechend dieser neuen Dimension des Krieges veränderte sich auch die theologische Bewertung des Krieges. Durch die gewandelte Weltsituation war zumindest für den nuklear aufgeladenen Ost-West-Konflikt mit einem Schlag die ethische Tradition im Blick auf die Frage nach dem Krieg überholt. Während abgesehen von immer wieder auftauchenden radikalpazifistischen Ansätzen (wie z.B. den Schwärmern der Reformationszeit oder den Quäkern u.a. Gruppen in Nordamerika) dem Staatswesen ein grundsätzliches Recht zum Krieg im Angesicht einer feindlichen Bedrohung nie bestritten wurde, veränderte die atomare Bedrohung alles. Denn wenn ein möglicher Krieg nicht nur den Angreifer, sondern auch den Verteidiger auszulöschen droht, dann ist das Mittel des Krieges letztlich schlimmer als das bedrohende Übel, vor dem ein Krieg eigentlich schützen soll. So wurde im Atomzeitalter eigentlich jeder mögliche Kriegszweck vom Instrument des Krieges selbst erschlagen. Hier hat der Krieg aufgehört, eine Erhaltungsfunktion auszuüben. Diese neue Dimension des Krieges veränderte somit auch die traditionelle ethische Reflexion über den Krieg. Das Ende der Nachkriegsordnung und die politische Zerfaserung der Machtblöcke Wenn nicht alles täuscht, hat sich aber nun mit dem Ende der Nachkriegsordnung wiederum eine neue Situation ergeben. Der Fall des eisernen Vorhangs und der Zusammenbruch des Ostblocks brachte eine neue weltpolitische Situation mit sich, die nicht mehr vom Gegenüber zweier atomar bewaffneter Blöcke gekennzeichnet ist, sondern von einer neuen Unübersichtlichkeit. Während auf der einen Seite die Vereinigten Staaten als letzte verbliebene Weltmacht gestärkt aus diesen Umbrüchen hervorgingen, „zerfaserten“ große Teile der Zwei-Drittel-Welt in mittelgroße und kleine Machtblöcke. Zahlreiche Konflikte, die während der Nachkriegsordnung unterdrückt worden waren, brachen sich mit Macht Bahn, v.a. in der islamischen Welt. Das Phänomen der >privatisierten Gewalt< Der Fall des eisernen Vorhangs öffnete die Bühne der Weltgeschichte aber auch für eine neue Form des Krieges, die man bisher nur aus den Leinwandabenteuern von James Bond 007 zu kennen glaubte. Die Welt musste wieder mit einer längst überholt geglaubten Form der kriegerischen Auseinandersetzung Bekanntschaft machen, der sog. „privatisierten Gewalt“. Gemeint ist jene Form des Krieges, die nicht mehr von staatlich kommandierten und kontrollierten Streitkräften ausgeht, sondern von sehr unterschiedlich strukturierten und finanzierten Privatarmeen, die z.B. im ehemaligen Jugoslawien und auch in vielen Staaten Afrikas eine wichtige Rolle spielten und spielen. Richtig in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit trat das weltweite Phänomen „privatisierter Gewalt“ freilich erst am 11. September 2001. Live auf dem Bildschirm wurde deutlich, dass die Kriege des 21. Jahrhunderts nicht mehr ausschließlich von einer Nation gegen eine andere geführt werden, mit eindeutiger Kriegserklärung, klaren Frontlinien und eindeutigen Freund-Feind-Beziehungen. Die Definition des Krieges ist komplizierter geworden. Mögen auf der einen Seite nach wie vor Staaten, Nationen oder auch nur Volksgruppen stehen, so werden sie auf der anderen Seite mit einem meist undurchschaubaren Gemisch von halbstaatlichen Organisationen, privaten Kriegsherren mit „geschäftlichen Interessen“, professionellen Söldner-Terroristen, sich im Terrorgeschäft engagierenden Mafiabanden und religiösen, nationalen oder/und ethnischen Fanatikern konfrontiert. Mit dem Phänomen der „privatisierten Gewalt“ erscheint auch die Kriegsfrage wieder in ganz neuer Form auf der Tages- 19 ordnung einer theologischen Ethik. Die vom atomaren Patt geprägten ethischen Antworten der Nachkriegszeit genügen nicht mehr. Ein neues Nachdenken ist unabdingbar. Wenn der Tod nicht mehr abschreckt ... Auch die Strukturen der Auseinandersetzung sind komplexer geworden. Standen sich in der Nachkriegsordnung zwei atomar bewaffnete Blöcke gegenüber, denen mehrere hundert Millionen Menschen in fest umrissenen Territorialstaaten zugeordnet werden konnten, so bekamen es die Vereinigten Staaten am 11. September mit einer in dieser Weise bis dahin unbekannten Form des Kriegsgegners zu tun. Dieser hat sich dadurch ausgzeichnet sich dadurch aus, dass er zum einen nicht mit einem Nationalstaat oder auch nur einem Territorium identifizierbar ist. Auch wenn das Afghanistan der Taliban als Rückzugsgebiet galt und deshalb Ziel des amerikanischen Gegenschlags war, so handelt es sich doch um eine völlig neue Form des Kriegsgegners, der entsprechend eine neue Form des (Verteidigungs)Krieges nötig macht. Zum zweiten begegnet im militanten islamischen Fundamentalismus ein Gegner, der keine Rücksichten auf eine ihm zum Schutz anbefohlene Bevölkerung kennt. Während der Zeit des nuklearen Patts musste jede der beiden Weltmächte bei einem Einsatz des eigenen nuklearen Potentials mit der eigenen Vernichtung rechnen und war entsprechend „abgeschreckt“. Dieselbe Abschreckung funktioniert bis heute auch zwischen den verfeindeten Nachbarn Indien und Pakistan im KashmirKonflikt. Doch genau diese mit dem Einsatz von Atomwaffen gegebene Gefahr der eigenen Vernichtung, spielt für den militanten islamischen Fundamentalismus anscheinend keine wesentliche Rolle mehr. Die Mentalität, die in den Selbstmordattentaten des 11. September und in den palästinensischen Selbstmordanschlägen 20 zum Ausdruck kommt, spricht hier eine deutliche Sprache: Das Leben des Einzelnen oder auch ganzer Zivilisationen ist nichts gegenüber dem Endsieg des Islam. Ein weiterer Faktor ist, dass die Kriegsführung in Form von brutalen Selbstmordattentaten anders als die langwierigen Vorbereitungen konventioneller Kriege mit langen Aufmarschwegen im Geheimen geschehen können. Dieser Umstand macht den militärisch unterlegenen Gegner so unkalkulierbar und gefährlich und gleichzeitig die Verteidigung so kompliziert und die Begründung für ein präventives militärisches Vorgehen so schwierig. Kriege sind wieder kalkulierbar geworden Doch auch auf der Seite der letzten verbliebenen Weltmacht haben sich gegenüber der Situation vom atomaren Patt neue Entwicklungen ergeben. Durch die fortschreitende technische Entwicklung der modernen Waffensysteme sind Kriege gegen NichtAtommächte wieder kalkulierbar, durchführbar und damit auch vor der Öffentlichkeit legitimierbar geworden. Sie erlaubt eine zunehmende Begrenzung des Krieges auf die militärischen Kriegsteilnehmer unter weitgehender Schonung der Zivilbevölkerung. Verglichen mit den zivilen Opfern des Zweiten Weltkrieges oder des Vietnam-Krieges war die Zahl ziviler Opfer in den beiden Golfkriegen minimal, auch wenn natürlich jedes Opfer – ob zivil oder militärisch – ein Opfer zu viel ist. Aber weil jede Entscheidung über einen Krieg immer mit einer Abwägung von Nutzen und Opfern verbunden ist, muss dieser Gesichtspunkt auch in der ethischen Abwägung eine Rolle spielen. Die rein militärisch erfolgreichen amerikanischen Kriege in Afghanistan und Irak, die in Folge des 11. September geführt wurden, legen jedenfalls die Vermutung nahe, dass sie nur der Auftakt zu einer Reihe weiterer militärischer Interventionen sind. Alles andere wäre aus amerikanischer Perspektive geradezu unlogisch. Hier stellen sich nun auch aus christlicher Sicht die ethischen Fragen der Le- gitimität, deren Beantwortung sehr schwierig und entsprechend kontrovers sein wird. Wie schwierig die ethische Diskussion über diese Fragen ist, wird bei einem Vergleich der Kriege im ehemaligen Jugoslawien oder aktuell im Kongo mit den vergangenen beiden amerikanischen „Kriegen gegen den Terror“ in Afghanistan und im Irak deutlich. Wird auf der einen Seite sehr rasch der hysterische Ruf nach militärischem Eingreifen in geographisch fernen Konflikten laut, so entwickelt sich ebenso rasch eine Fundamentalopposition gegen Kriege mit amerikanischer Beteiligung. George W. Bush und der Krieg gegen den Terror Die Frage nach der Legitimität des Krieges gewinnt in der aktuellen Debatte um die amerikanische Außenpolitik eine besondere theologische Brisanz. Wenn sogenannte Schurkenstaaten, Tyrannen und Despoten Kriege führen, dann ist es müßig, theologische Überlegungen anzustellen, weil es keine gemeinsame Überzeugungsebene gibt. Solche Kriege stellen ein Phänomen der vergehenden Weltzeit dar (siehe unten), die es zwar nicht einfach hinzunehmen gilt. Jedoch ist die Hoffnung auf deren Ausrottung eine Utopie. Die theologische Frage nach der Legitimität eines Krieges stellt sich dagegen bei Staaten, die eine christliche Tradition haben, eine in ihrer Mehrheit christliche Bevölkerung und möglicherweise eine Regierung, die sich dem christlichen Glauben verpflichtet weiß. Die Frage ist deshalb momentan von besonderer Aktualität, da sich George W. Bush wie kaum ein zweiter Präsident auch in der Öffentlichkeit als praktizierender Christ bekennt. Hier stellt sich die schwierige Frage, zwischen Glaubens- und Vernunftentscheidung, aber auch die zwischen dem Verhältnis von Glaube- und Vernunftentscheidung. An dieser Stelle ist es deshalb sinnvoll, einmal einen Blick in die Bibel und die Kirchengeschichte zu werfen. II. Die Bibel, der Christ und der Krieg Was sagt die Bibel zur Frage des Rechts oder Unrechts des Krieges? Die Antwort mag überraschen: So viel auf der einen Seite vor allem im AT von Kriegen die Rede ist, so wenig Orientierungspunkte gibt es auf der anderen Seite in der Bibel zu der Frage, wie ein Christ sich grundsätzlich zum Krieg stellen soll, einmal davon abgesehen, dass er natürlich immer um Frieden bitten und das Seine dafür tun sollte. Aber was ein christlicher Verantwortungs- und Entscheidungsträger, wie z.B. George W. Bush, im Zweifelsfall zu tun hat, wird von der Bibel nicht beantwortet. Die zahlreichen Kriege, von denen im AT berichtet wird, sind meistens „heilige Kriege“, die von Gott geboten und im letzten auch von ihm geführt wurden (1Sam 21,6; Ri 4,14-16; 5,11f.; 5Mo 1,30; Jos 10,14; 23,10 u.ö.). In 4Mo 21,14 ist sogar von einem Buch der „Kriege des Herrn“ die Rede. Israel und seine Führer waren hier 21 Werkzeuge von Gottes heilsgeschichtlichem Handeln. Allerdings konnte Gott auch mit Hilfe fremder Völker gegen Israel Krieg führen (Am 2,13-16 u.ö.). Aus der Perspektive des NT können wir das göttliche Führen und Zulassen von Kriegen nur als Ausdruck des schon jetzt einhergehenden Gerichtes Gottes verstehen. Gott straft den ungehorsamen und gegenüber seinem Wort verschlossenen Menschen auch mit der Geißel des Krieges und bringt gleichzeitig seine Heilsgeschichte mit Israel voran. hannes der Täufer verbietet den Soldaten, die sich an ihn wenden (Lk 3,14), nur illegitime und willkürliche Gewalt anzuwenden. D.h., dass sie nicht zu marodierenden Räubern werden und sich ansonsten mit ihrem Sold begnügen sollen. Gott und die Kriege Israels Für unsere Frage nach dem Recht bzw. Unrecht eines Krieges tragen alle die alttestamentlichen Kriegsgeschichten aber nichts aus, weil sich in Jesus Christus das heilsgeschichtliche Handeln Gottes und damit die heilsgeschichtliche Situation an sich fundamental gewandelt haben. Die Kriege Gottes im AT sind sozusagen ein „Spezialfall“ des Krieges (H. Thielicke), weil Israel durch die Erwählung von Gott aus der Völkergemeinschaft herausgehoben wurde und sich als die einzige echte „Theokratie“ (Gottesherrschaft) jeder Analogie zu anderen Völker und ihren Kriegen entzieht. Wollte man die Situation des alttestamentlichen Israel etwa auf die Gemeinde übertragen, so käme man unwillkürlich zu einer Kreuzzugstheologie. 22 Jesus, Petrus, Paulus und die Soldaten Der Krieg als Kennzeichen der vergehenden Weltzeit Auch im NT finden wir keine klare Weisung zu dieser Frage. Das Thema „Krieg“ wird unter unserer Fragestellung nie angesprochen. Wir finden lediglich einige Hinweise am Rande, die uns eine dünne Spur weisen. So verliert Jesus bei der Begegnung mit dem Hauptmann von Kapernaum kein Wort über dessen Beruf, der selbstverständlich im Konfliktfall die Gewaltanwendung mit einschloss (Mt 8,5-13par; vgl. auch Petrus und Paulus bei ihrer Begegnung mit militärischen und politischen Entscheidungsträgern in Apg 10 und 13). Auch Jo- Ansonsten stehen alle Jesusworte, die auf den Verzicht auf Gewaltausübung, ja sogar auf die Feindesliebe zielen, in keinem Zusammenhang mit der Frage des Krieges und der Entscheidung eines christlichen Staatsmannes. Sie betreffen lediglich das Verhalten eines Christen zu seinem Nächsten. Diese Worte haben nur im Raum der Gemeinde und der Kirche ihre Gültigkeit, nicht jedoch im Raum des Politischen. Will man die Aussagen des NT auf einen Nenner bringen, so lässt sich nur sagen, dass die Kriege eine immer mehr zuneh- mende Gegebenheit der gefallenen und auf ihr Ende zueilenden Weltzeit sind (vgl. Mk 13,7). Kriege sind für Jesus geradezu ein verdichteter Ausdruck dieser Weltzeit, von der sich die Gemeinde durch ihr Verhalten kontrastieren soll (Mk 10,42). Diese Situation wird sich grundlegend erst mit der Vollendung des Reiches Gottes ändern (Offb 21,3f.). Antworten aus der Alten Kirche Lassen sich der Bibel keine eindeutigen Weisungen für eine christliche Position zur Frage des Krieges entnehmen, so umso mehr der Theologiegeschichte. In der Zeit der Alten Kirche wurde die Beteiligung von Christen an Kriegen durch Theologen wie Tertullian und Origenes radikal abgelehnt: Die Christen streiten zwar auch treu für den Kaiser, aber eben nicht mit Waffen, sondern mit Frömmigkeit und Gebet, schreibt Origenes (Contra Celsum 5,33; 8,73). Allerdings war all diesen Äußerungen die Situation eines christlichen Staatsmannes und Entscheidungsträgers noch fremd. Was von den Herrschenden über Krieg und Frieden zu entscheiden war, kümmerte jene frühen christlichen Denker noch nicht. Für sie und ihre Zeit genügte es, ethische Regelungen und seelsorgerliche Anweisungen für die kleine christliche Minderheit und hier insbesondere für neubekehrte Soldaten zu finden. Sind Christen Schmarotzer der Verteidigungsgesellschaft? Entsprechend überfordert waren sie mit der Kritik des heidnischen Philosophen Celsus (um 180 n.Chr.). Dieser warf den Christen vor, dass sie aus staatlicher Sicht eigentlich Schmarotzer seien, weil sie den Herrschern, die das Reich und den Frieden sichern, nicht nur die Verehrung im Kaiserkult verweigerten, sondern auch die Gefolgschaft im Kriegsfalle versagten, und sich somit den Lasten, die alle Bürger zu tragen hätten, entzögen. Wenn alle Römer Christen werden würden, so folgerte Celsus, müsse das Chaos triumphieren, weil dann niemand mehr bereit wäre, für Recht und Ordnung zu sorgen. Auf diese herausfordernde Kritik war die christliche Theologie nicht vorbereitet, weil sie ein christliches Weltreich noch gar nicht denken konnte. So konnte Origenes auf den Gedanken eines Staatswesens, in dem alle Bürger Christen sind, nur antworten: „Würden alle Römer den Glauben annehmen, so würden sie durch Beten und Flehen den Sieg über ihre Feinde gewinnen – oder vielmehr, sie würden überhaupt keine Feinde mehr zu bekämpfen haben, da die göttliche Macht sie bewahren würde“ (Contra Celsum 8,701). Augustin und das grundsätzliche Recht zum Krieg Eine reifere Antwort konnte erst Augustin geben, der sich freilich bereits mit der (ernüchternden) Realität eines Staates unter einem christlichen Regenten und mit einer zumindest nominell christlichen Bevölkerungsmehrheit auseinandersetzen konnte, wozu es durch die Konstantinische Wende gekommen war. Er geht von einem grundsätzlichen Recht des Krieges aus, ohne diesen freilich zu verherrlichen: „Glaube nicht, dass niemand Gott gefallen könne, der Kriegsdienste leistet. Leistete solche doch der heilige David, dem der Herr ein solch herrliches Zeugnis gibt. Das gleiche taten viele Gerechte in jener Zeit (ep 189 ad Bonif 4).“ Der Krieg dient nach Augustin ausschließlich der Gewinnung des Friedens und hat nur darin sein Recht und seine Legitimität. Luther und die zwei Reiche Eine wirklich umfassende Lösung des Problems gewann erst Martin Luther durch seine Zwei-Reiche-Lehre. Danach erfährt die dem Christen gebotene Liebe im „Reich zur Linken“, d.h. dem Reich weltlicher Herrschaft und weltlicher Obrigkeit, eine Brechung. In der weltlichen Herrschaft, d.h. z.B. im Amt des Staatsmannes, aber auch im Amt des Bürgermeisters oder des Polizisten, Soldaten oder Richters, kann die Liebe 23 die Gestalt der Gewalt annehmen, um den Nächsten vor den Zugriffen des Bösen zu bewahren. Für sich selbst mag der Christ zwar leiden können, aber er darf seinen Nächsten nicht einfach dem Leid überlassen. Dem Staat ist nach Luther mit Berufung auf Röm 13 das „Schwertamt“ gegeben, das „nicht das geringste Stück göttlicher Barmherzigkeit“ ist, weil es indirekt jenem anderen, ungleich größeren Ziel des Reiches Gottes dient. Dieses dem Staat übertragene Amt des Schwertes findet nach innen seinen Ausdruck v.a. in der Polizei- und Justizgewalt, nach außen hin aber im Recht des Krieges gegenüber den Staat selbst bedrohende Mächte. Der Krieg als eine Form der Nächstenliebe In dieser Perspektive kann auch die Führung eines Krieges unter dem Aspekt der Liebe erscheinen: „Ob’s nun wohl nicht scheinet, daß Würgen und Rauben ein Werk der Liebe ist, derhalben ein Einfältiger denkt, es sei nicht ein christlich Werk, zieme auch einem Christen nicht zu tun, so ist’s doch in der Wahrheit auch ein Werk der Liebe. Denn gleich wie ein guter Arzt, wenn die Seuche so böse und groß ist, daß er muß Hand, Füße oder Augen lassen abhauen oder verderben, auf daß er den Leib errette. So man ansiehet das Glied, das er abhauet, scheint es, er sei ein greulicher, unbarmherziger Mensch. So man aber den Leib ansieht, den er will damit erretten, so findet sich’s in der Wahrheit, daß er ein trefflicher treuer Mensch ist und ein gut christlich ... Werk tut. Also, auch wenn ich dem Kriegsamt zusehe, wie es die Bösen straft, die Unrechten würgt und solchen Jammer anrichtet, scheint es gar ein unchristlich Werk zu sein und ... wider die christliche Liebe. Sehe ich aber an, wie es die Frommen schützt, Weib und Kind, Haus und Hof, Gut und Ehre und Friede damit erhält und bewahrt, so findet sich’s, wie köstlich und göttlich das 24 Werk ist ... Denn wo das Schwert nicht wäre und Frieden hielte, so müßte es alles durch Unfriede verderben ... Derhalben ist ein solcher Krieg nichts anderes, denn ein kleiner kurzer Unfriede, der einem ewigen unermeßlichen Unfrieden wehrt“ (WA 19, 625f.). Luthers Antwort auf die ethische Problematik des Krieges, die er in seiner ZweiReich-Lehre gewonnen hat, ist bis heute oft diskutiert, kritisiert, bestritten und abgelehnt worden, aber es gibt kein alternatives Konzept, das theologisch und ethisch auch nur annähernd so schlüssig wäre, wie die Lösung Luthers. Allerdings ergeben sich gerade von der Zwei-ReicheLehre im Blick auf die Fragestellungen des 21. Jahrhunderts und die aktuelle Diskussion über die amerikanische Außenpolitik gegenüber der „Achse des Bösen“ einige wichtige Fragen. III. Überlegungen und Kriterien für die Gegenwart Diese abschließenden Überlegungen sollen als Diskussionsbeitrag verstanden werden. Sicher wird es Leser/innen geben, die anders argumentieren würden und dies mit guten Gründen. Mir erscheinen folgende Überlegungen und Beurteilungskriterien als sehr wesentlich: Vorsicht vor der Vermischung der beiden Reiche Ein theologisches Grundproblem ergibt sich immer dann, wenn bei der Frage der Legitimität eines Krieges politisch-rationale und theologisch-biblische Argumente miteinander vermengt werden. So ist die auf der politischen Vernunft basierende Begründung eines Präventivkrieges mit der eigenen Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen des Gegners aus theologischer Sicht akzeptabel, zumindest jedoch diskutierbar. Man kann freilich auch hier zu sehr unterschiedlichen Antworten gelangen, abhängig von der Bewertung der geltend gemachten Bedrohung und ihrer Beweisbarkeit. Entscheidend ist freilich, dass es hier um reine Vernunftgründe gehen muss und das Kriegsziel den bzw. die Nächsten (die für den amerikanischen Präsidenten natürlich zunächst seine eigenen Staatsbürger sind) vor Schaden zu schützen. Das heilsgeschichtliche Ziel Gottes kann mit dem Instrument des Krieges dagegen nicht erreicht werden. Gottes Geschichtswille ist einzig in Jesus Christus offenbar, nirgends sonst (vgl. 1Tim 2,4). Berufung Gottes oder ultima ratio? Schwierig wird es in dem Moment, in dem ein Krieg direkt mit dem Willen Gottes begründet und mit einer Art göttlicher Berufung verbunden wird. Hier wird das theologische Eis dünn. Denn was uns biblisch offenbart wird, ist der Heilswille Gottes, während sein geschichtliches Handeln uns Menschen immer verborgen bleibt. Ein Krieg kann daher allenfalls dem indirekten Willen Gottes entsprechen, der das weltliche Reich eingesetzt hat, um dem Chaos zu wehren, aber nie auf einem direkten Gebot beruhen. Letzteres würde geradezu einem Befehl zum Kreuzzug gleichkommen. Schon die historischen Kreuzzüge des Mittelalters und ihre theologische Begründung haben bis in unsere Tage hinein eine verheerende Wirkung in der Wahrnehmung des christlichen Glaubens gehabt. Der Krieg kann auch für den Christen nur eine ultima ratio sein, d.h. eine letzte, von der (von Gott gegebenen) Vernunft, nicht jedoch von einer Offenbarung Gottes(!), gebotene Maßnahme in einer Situation, die ohne Schuld vor Gott und vor Menschen nicht mehr gelöst werden kann. Die 25 Beurteilung des Krieges muss von dem Bewusstsein geprägt sein, dass er „eine ungleich höhere Form von Verdichtung der Weltschuld darstellt als der normale, das Werk des Friedens treibende Staat“ (Thielicke, Theol. Ethik, Bd. 2/2, 522). Die Wahrheit und der Kriegsgrund Entscheidend für eine ethische Rechtfertigung des Krieges als ultima ratio, d.h. als ein letzter von der Vernunft gebotener Ausweg, ist freilich die umfassende Information über die jeweiligen Gründe. Bei der Begründung eines Krieges muss aus christlicher Sicht auf ein Höchstmaß an Wahrhaftigkeit wert gelegt werden. Dass im Krieg gelogen wird, gehört zur inneren Gesetzmäßigkeit jedes Krieges dazu. Die Lüge im Krieg bzw. die Desinformation, wie es heute euphemistisch umschrieben wird, ist Teil jenes „Kriegens und Würgens“ von dem Luther sprach. Entscheidend und von höchster ethischer Relevanz ist aber die Wahrhaftigkeit bzw. Lüge vor dem Krieg. Die Begründung eines Krieges kann nicht auf einer Lüge basieren, weil davon die Legitimität eines Krieges selbst in Frage gestellt wird. 26 Die Vernunft als Grenze und Kritik der Utopie Es gibt noch viele andere drängende Fragen, die hier gestellt werden müssten und die dringend auf Antworten warten. So könnte man fragen, ob es angesichts der globalen Zusammenhänge nicht ein Gebot zum Einschreiten gegen Tyrannen und Despoten gibt. Umgekehrt stellt sich gleichwohl die Frage, wer das Recht besitzt, einen Diktator als Tyrannen oder Despoten zu definieren und gegebenenfalls seine Absetzung zu verlangen oder gar herbeizuführen. Offen ist auch die Frage nach der internationalen Gültigkeit der Menschenrechte einerseits und ihrer nationalen bzw. religiösen Interpretation andererseits. Welche Werte können wirklich eine internationale Gültigkeit beanspruchen? Gibt es eine für alle Völker und Kulturen am besten geeignete Staatsverfassung und wenn ja, ist das automatisch die Demokratie? Schließlich bleibt immer offen, was von welchen Werten nach einem Krieg noch übrig bleibt, welche moralischen Kriegsziele erreicht werden. Dies alles muss auf der Basis der menschlichen Vernunft abgewogen werden. Zur Durchsetzung einer politischen, moralischen oder gar theologisch-geistlichen Utopie taugt der Krieg dagegen nicht. www.bengelhaus.de 9. November 2oo3 FESTGOTTESDIENST 10.00 Uhr „Brannte nicht unser Herz … ?“ Lk 24,13-35 Predigt von Dr. Rolf Hille 11.15 Uhr ABH-THEATER „Gott spricht und es geschieht“ 12.30 Uhr MITTAGSPAUSE 13.30 Uhr MUSIKALISCHER AUFTAKT 14.00 Uhr FESTVERSAMMLUNG IN DER FILDERHALLE LEINFELDEN-ECHTERDINGEN DAS JAHRESFEST IM JAHR DER BIBEL: GOTTES WORT BLEIBT mit Lehrerbeitrag: „Wir sind nicht klugen Fabeln gefolgt“ FESTVORTRAG von Peter Strauch, Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz und Präses des Bundes Freier evangelischer Gemeinden „Dein Wort ist meine Speise“ Albrecht-Bengel-Haus Ludwig-Krapf-Str. 5 I 72072 Tübingen Tel.: 07071-70050 I Fax.:700540 [email protected] Anfahrt Die Filderhalle befindet sich nahe der S-Bahn Haltestelle „Leinfelden“ (mit der S2 oder S3, bzw. der U5 von Stuttgart Hbf her erreichbar). PKW‘s folgen der Ausschilderung „Filderhalle“ KI N D E R P R O G R A M M während der gesamten Veranstaltung 27 Postvertriebsstück 10403 Albrecht-Bengel-Haus Ludwig-Krapf-Str. 5 72072 Tübingen Entgelt bezahlt KRIEG UND FRIEDEN AUS AMERIKANISCHER SICHT Mark Seifrid ist Professor für Neues Testament am Seminar der „südlichen Baptisten“ in Louisville, Kentucky. Er war als Doktorand mit seiner Frau Janice ein Studienjahr im Bengelhaus. Der Friede, der dem kalten Krieg gefolgt ist, war all zu kurz. Nur ein Jahrzehnt nach dem Fall der Berliner Mauer steht die Welt in der Bedrohung eines Terrorismus, den wir vorher kaum erahnen konnten. Wer weiß, was noch kommt? Und, viel wichtiger, wie soll man auf diese Situation reagieren? Solche Angriffe ganz zu verhindern ist nicht denkbar. Irgendwann wird es irgendeiner Gruppe gelingen, irgendwo Tod und Schäden anzurichten, vielleicht in einem noch größeren Maß als bisher. Mit dieser neuen Realität muss man leben. Damit zu leben darf aber nicht heißen, nichts zu tun. Im Gegenteil, wir müssen alles tun, um solche Anschläge möglichst zu verhindern. So sehen es auf jeden Fall viele Amerikaner. Aus dieser Perspektive heraus entstand der Aktivismus, der zum Irak-Krieg geführt hat. Die Anschläge vom 11. September haben New York und Washington, nicht Paris und Berlin getroffen. Wenn die Lage umgekehrt wäre, wären vielleicht auch die politischen Positionen anders als sie heute sind. Natürlich beantworten solche Überlegungen die wichtige Frage nicht: Kann man als Christ Krieg überhaupt, und den Irak-Krieg im Besonderen, rechtfertigen? Für viele Amerikaner ist dies keine theoretische Frage. Unsere Freunde haben ihre Söhne und Töchter in den Krieg geschickt. Viele junge Christen, mit nur achtzehn oder zwanzig Jahren, sind in den Militärdienst gegangen. Als Christen und Nachfolger Jesu hoffen wir auf Frieden und sind zum Stiften des Friedens verpflichtet (Mt 5,9). Wir wissen aber auch: Jesus selber hat angekündigt, dass es in dieser verfallenen Welt Kriege geben wird bis er wiederkommt (Mt 24,6-7). Das Neue Testament macht weiter klar, dass die Ob- rigkeit Autorität besitzt für die berechtigte Anwendung von Gewalt um des Guten willen (Röm 13,1-7). Viele Amerikaner sind der Auffassung, es sei besser jetzt einen kleinen Krieg zu führen, als einen späteren, größeren Krieg, der übermässiges Leiden verursacht. Hier steht man in einer Tradition christlichen Denkens über Krieg, die von Augustinus über Luther bis in die Gegenwart reicht. Hierin liegen aber auch die strittigen Fragen: Ist die Bedrohung durch die irakische Regierung so massiv und unmittelbar gewesen, dass ein Krieg berechtigt war? Wo sind eigentlich die Massenvernichtungswaffen, die diese Regierung einst besessen und gegen sein eigenes Volk verwendet hatte? Bis diese Waffen gefunden worden sind, gibt es starke Meinungsverschiedenheiten über die Berechtigung des Krieges. Es kann wohl sein, dass diese Sache nebulös bleibt bis weit in die Zukunft. Als Christen wissen wir aber, dass Gott auch im Nebel regiert. Er wirkt seine guten Zwecke trotz unserer eigenen Vorstellungen und ohne unseren Rat. Viele amerikanische Soldaten sind im Krieg und durch die Konfrontation mit dem Tod neu ins Nachdenken über den Glauben gekommen. Als Christen müssen wir um des Evangeliums willen hoffen, dass durch den Krieg im Irak und durch den Krieg gegen Terrorismus insgesamt – obwohl er eine Störung des Friedens ist – ein größerer, längerer, stabilerer Frieden gestiftet werden kann. Wir müssen vor allem beten, dass der Herr aller Nationen auch jenseits fehlbarer menschlicher Überlegungen das friedliche Reich seines Sohnes ausbreitet, bis es mit seiner Wiederkunft in Herrlichkeit kommt.