Mitteilungen des Albrecht-Bengel

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Ausgabe
No. 132
OktoberDezember
2003
Politik mit aufgeklärtem
Optimismus
Gibt es eine
christliche Politik?
NO WAR - KEIN KRIEG?
Ti telf o to : p hot os. c om
Gibt es einen gerechten Krieg?
M i t t e i l u n g e n des A l b r e c h t -Bengel-Hauses
KRIEG IM NAMEN GOTTES ?
IN H A LT
2
Editorial
Ro l f H i l l e
Politik mit aufgeklärtem Optimismus
6
Ro l f H i l l e
11
Gibt es eine christliche Politik?
J o a c h i m Ku m m e r
17
NO WAR - Kein Krieg?
Vo l k e r G ä c k l e
26
Jugendmissionskonferenz
Einladung Jahresfest 2003
I M PR E S S UM
Die Mitteilungen des Albrecht-Bengel-Hauses erscheinen
vierteljährlich. Nachdruck auch auszugsweise nur mit
Einwilligung des Herausgebers.
Der Bezug ist mit keinen Verpflichtungen verbunden.
H e r a u s g e b e r : Dr. Rolf Hille im Auftrag des Vereins
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2
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Dr. Rolf Hille - Re k t o r
Liebe Leser!
editorial
Heute am 3. September, an dem ich
Ihnen diese Zeilen schreibe, feiert der erste Studienleiter des Bengelhauses, Dekan
Walter Tlach, seinen 90. Geburtstag. An
dieser Stelle möchten wir ihm von Herzen
gratulieren und ihm für sein neues Lebensjahr die Nähe und den Segen unseres Herrn wünschen.
Walter Tlach hat gemeinsam mit seiner
Frau Elfriede die erste Studentengeneration des Bengelhauses als Lehrer und
Seelsorger nachhaltig geprägt. Die Studenten verliehen ihm, der besonders tief
im Alten Testament verwurzelt ist, den
Ehrentitel „Rabbi“. Durch seine im hebräischen Bibeltext gegründete Auslegung hat
er vielen Studierenden den ganzen Reichtum des Wortes Gottes sowohl in der Einzelauslegung wie auch in seinen großen
heilsgeschichtlichen Zusammenhängen
erschlossen.
Walter Tlach zeigte deutlich Profil und
war als Theologe eine „markant prophetische Gestalt“. Er war ein Mann, der bereits in den dreißiger Jahren als Stiftsrepetent und als junger Pfarrer die Bekennende Kirche gegen den Terror des Dritten
Reiches mutig unterstützte. Ihm war jede
ideologische Verdrehung der biblischen
Botschaft zuwider. Deshalb setzte er sich
auch entschlossen gegen die neomarxistische Unterwanderung der Kirche während
der späten 60er Jahre ein, in denen das
Bengelhaus gegründet wurde. Für die
schwierige Anfangsphase war er der richtige Mann zur rechten Stunde. Seitens der
Tübinger theologischen Fakultät wurde
das neue Pflänzchen der Studienbegleitung
damals sehr skeptisch beargwöhnt, das
Evangelische Stift machte kräftig Opposition gegen die neu entstandene Konkurrenz,
und die Lokalzeitung „Schwäbisches Tagblatt“ wetterte geradezu mit vernichtender
Kritik gegen die pietistische Initiative Bengelhaus. In diesen Stürmen wies Walter
Tlach mit fester Glaubensüberzeugung den
Weg und half den Studentinnen und Studenten biblische Positionen zu gewinnen.
Mit seiner reichen Erfahrung als Lehrer
am Seminar der Rheinischen Mission in
Wuppertal und als Dekan in Heidenheim,
hielt Walter Tlach unzählige Bibelwochen
und Gemeindevorträge und gewann so
viele Freunde für das Bengelhaus. Seine
solide Schriftauslegung und das große
Vertrauen, das er im württembergischen
Pietismus genoss, schufen für den noch
jungen Bengelhaus-Verein die Grundlage
dafür, sich zu entfalten. Junge Leute wurden
motiviert, trotz schwieriger Lage Theologie zu studieren und viele Christen in den
Gemeinden erkannten, dass die Verantwortung für den Nachwuchs in der Pfarrerschaft und den Religionsunterricht nicht
einfach an die staatliche Universität delegiert werden kann. Walter Tlach, immer
tatkräftig von seiner Frau unterstützt, trug
wesentlich dazu bei, dass sich Gemeinden
und Gemeinschaften für die Theologiestudierenden mit Gebeten und Opfern
engagierten und sich auch kräftig in die
theologische Auseinandersetzung einmischten. So möchte ich den festlichen Anlass
des 90. Geburtstags von Walter Tlach zum
3
OTTO MICHEL
JOACHIM BRAUN
WALTER TLACH
Anlass nehmen, um ihm
und Elfriede Tlach namens
des Bengelhauses ganz
herzlich für ihren mutigen
und hingebungsvollen Einsatz zu danken.
Am 2. September
mussten wir von einem
langjährigen Freund des
Bengelhauses, Pfarrer
Joachim Braun, in einem
Gedenkgottesdienst Abschied nehmen. Er war am
6. August in seinem 100.
Lebensjahr in Öschingen
verstorben. Joachim Braun
hat die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts
als Zeitzeuge persönlich
in all ihrem Ringen erlebt
und mitunter auch erlitten.
Als Gründer des Volksmissionarischen Amtes
der württembergischen
Landeskirche und als
dessen langjähriger Leiter
wusste er um den Zusammenhang von solider
biblischer Theologie und
erwecklicher Verkündigung. Deshalb bereitete er
gemeinsam mit Synodalen,
Gemeinschaftsleitern, den
Theologieprofessoren
Otto Michel und Peter
Beyerhaus sowie mit einer
Reihe von Pfarrern und
Studenten die Gründung
des Bengelhauses vor. Als
Schüler der bedeutenden
Tübinger Theologen Adolf
Schlatter und Karl Heim
war es dann das Anliegen
von Joachim Braun im
Ausschuss des ABH-Trägervereins deutlich zu machen, dass der evangelistische Auftrag der Kirche als
Wurzelboden sowohl eine
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gesunde biblische Lehre wie auch einen
weiten geistigen Horizont braucht, um die
Bewegungen des Zeitgeistes zu erkennen
und Menschen mit ihren heutigen Fragen
vom Evangelium her sachgemäß und
hilfreich zu antworten. Joachim Braun
war bis in seine letzten Tage hinein ein
treuer Beter und Unterstützer des Bengelhauses, den wir in dankbarer Erinnerung
behalten.
Am Samstag, den 18. Oktober 2003,
gedenken wir im Bengelhaus mit Vorträgen und Seminaren des 100. Geburtstages von Prof. Otto Michel, der als Neutestamentler an der Tübinger Fakultät vielen Theologiestudierenden die Botschaft
des Evangeliums erschlossen hat. Otto
Michel hat mit seiner Erfahrung als Studieninspektor am Tholuckkonvikt in Halle die
Entstehung des ABH aktiv gefördert und
gehört zu den Gründungsmitgliedern des
Hauses. Das Tholuckkonvikt wurde in
den Jahren der SED-Diktatur regelmäßig von Studierenden des Bengelhauses
besucht. So konnte die Verbindung zum
theologischen Nachwuchs in der ehemaligen DDR gepflegt werden. Das Tholuckkonvikt hatte die Zielsetzung, das Erbe
der Erweckungstheologie an der Universität lebendig zu halten. Gerade dieser
Aspekt ist durch das Engagement Otto
Michels für die Arbeit des Bengelhauses
maßgeblich geworden. Das theologische
Ringen um die rechte Schriftauslegung
erwächst aus dem lebendigen Glauben
der Gemeinde und zielt darauf, dass
dieser Glaube immer neu durch biblisch
gegründete Verkündigung und Lehre in
der Gemeinde erweckt und gestärkt wird.
Walter Tlach, Joachim Braun und Otto
Michel stehen beispielhaft für eine mutige
und profilierte Generation, die in schweren Kämpfen des 20. Jahrhunderts für
eine biblisch fundierte und missionarisch
orientierte Theologie eingetreten sind.
Sie haben in unterschiedlicher Weise ihre
an der Schrift gewonnene Erkenntnis und
Lebenserfahrung in die Gründungsphase
des Bengelhauses eingebracht. Ihnen
gilt im Sinne von Hebräer 13,7 unser
besonderer Dank: „Gedenket an eure
Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt
haben; ihr Ende schaut an und folgt ihrem Glauben nach“.
Mit dem Thema „Krieg im Namen
Gottes? – Christlicher Glaube und politische Verantwortung“ haben wir uns für
diese Ausgabe der „Theologischen Orientierung“ ein „heißes Eisen“ vorgenommen. Wie sollen wir als Christen unsere
politische Verantwortung in der Demokratie wahrnehmen? Welche biblischen
Grundlagen für die politische Ethik gibt
es? Und nicht zuletzt: Wie sollen sich die
christlichen Kirchen angesichts der Kriege zwischen den Staaten, der Bürgerkriege innerhalb verschiedener Länder und
schließlich des international operierenden Terrors verhalten? Ausgangspunkt
für die Thematik des vorliegenden Heftes
war ein Artikel im Deutschen Pfarrerblatt, der im Juni dieses Jahres kräftig
für Furore sorgte. Unter dem Titel „Die
EKD-Kirchen angesichts der Globalisierung“ wartete der Beauftragte für Weltanschauungsfragen in der pfälzischen
Landeskirche, Richard Ziegert, mit heftigen Vorwürfen gegen den Pietismus, die
Deutsche Evangelische Allianz und die
Studentenmission in Deutschland (SMD)
auf. Er wirft den Evangelikalen pauschal
vor, sie wären dunklen Machenschaften
der „US-Religionswirtschaft“ auf den
Leim gegangen. Die genannten missionarischen Bewegungen seien Teil einer
weltweiten Strategie des amerikanischen
Imperialismus, der mit bösen fundamentalistischen Zielen die deutschen
Kirchen politisch, kulturell und religiös
unterwandern würde. Mit dieser verqueren Weltsicht will Richard Ziegert wohl in
der Evangelischen Kirche in Deutschland
(EKD) zur allgemeinen geistigen Mobilmachung der Kirchenleitungen, der Theologen und der Pfarrerschaft gegen die
evangelikale Bewegung aufrufen.
Nun könnte man über solche phantastischen Verschwörungstheorien nur lachen,
wenn nicht mancher Pfarrer, der dieses
berufsständische Verbandsblatt liest, doch
glauben würde, dass an der Geschichte
etwas dran ist. So mancher Pfarrer oder
manche Pfarrerin mag darin die Herausforderung sehen, die Frommen in der Gemeinde besonders kritisch zu beobachten
und missionarische Ansätze entsprechend
deutlich zu bekämpfen.
Deshalb wollen wir in diesem Heft der
„Theologischen Orientierung“ einmal
nüchtern auf die Fakten sehen. Welche
biblischen Leitlinien lassen sich für die politische Ethik der Christen klar benennen?
Wo handelt es sich um Ermessensfragen, in
denen Christen entsprechend ihrer vernünftigen Einsicht und Lebenserfahrung zu recht
unterschiedlichen Bewertungen bezüglich
der politischen Praxis kommen? Das Thema ist – wie gesagt – ein heißes Eisen.
Aber wir sind in eine Welt gestellt, in der wir
als Bürger einer Demokratie in besonderer
Weise Mitverantwortung tragen. Und bei
den hier geforderten Entscheidungen – mit
all ihren Risiken und Unabwägbarkeiten
– möchten wir mit diesem Heft zu Fragen
der politischen Ethik theologische Orientierung geben.
Nun wünsche ich Ihnen beim Lesen viel
Freude und Gewinn und grüße Sie mit
herzlichem Dank für alle Unterstützung des
Bengelhauses
Ihr
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Politik mit aufgeklärtem
Optimismus
Ideal und Wirklichkeit des amerikanischen Traumes von
individueller Freiheit
Dr. Rolf Hille,
Rektor
1. Die Philosophie der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung
Die USA sind nach dem kalten Krieg
die einzig verbliebene Supermacht. Was
bestimmt das politische Denken und das
Lebensgefühl der Amerikaner? Gerade angesichts der Kontroversen um den Irakkrieg
stellt sich die Frage nach den Grundlagen
und Zielsetzungen amerikanischer Politik,
von denen heute alle Staaten auf Erden direkt oder zumindest indirekt betroffen sind.
Aus christlicher Sicht geht es wesentlich
darum, die philosophischen und religiösen
Hintergründe, die das Leben in den USA
prägen, zu verstehen und sie fair und angemessen zu beurteilen. Das soll – wenigstens in groben Strichen – in dem folgenden
Beitrag versucht werden.
6
„Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass nämlich alle Menschen
gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer
mit gewissen unveräußerlichen Rechten
ausgestattet wurden. Zu diesen Rechten
gehören: Leben, Freiheit und das Streben
nach Glück. Um diese Rechte zu sichern,
sind Regierungen unter den Menschen
eingerichtet worden, deren Staatsgewalt
sich aus der Zustimmung der Regierten
herleitet...“ Mit diesen Sätzen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung
gegenüber der monarchisch verfassten
Kolonialmacht England hat ein einzigartiges historisches Experiment begonnen, das
sich mittlerweile als das erfolgreichste der
modernen Geschichte erwies.
Welche Idee steckt hinter dieser von Thomas Jefferson entworfenen Unabhängigkeitserklärung? Zunächst die Verbindung
von europäischer Aufklärung einerseits
und christlich-biblischen Überzeugungen
andererseits. Leitgedanke sind die Menschenrechte. Sie werden mit Hinweis auf
die Tatsache, dass Gott alle Menschen
gleich geschaffen und mit unveränderlichen Rechten ausgestattet hat, begründet.
Weil jeder einzelne Mensch die Würde
besitzt „Bild Gottes“ zu sein, kommen ihm
diese Rechte zu. Aber diese Einsicht beruft
sich nun nicht speziell auf die biblische
Offenbarung, sondern auf die allgemeine
und jedem Menschen unmittelbar zukommende Vernunft. Auffallend ist dabei, dass
die Notwendigkeit des Staates weniger von
der Erhaltungsordnung des Schöpfers als
vielmehr vom Optimismus des freiheitlichen
und politisch fortschrittlichen Menschen
hergeleitet wird. Die Erhaltungsordnung
geht stattdessen vorrangig davon aus, dass
der Mensch nach dem Sündenfall immer
wieder zur größten Gefährdung für sich
selbst wird. Der natürliche Mensch wird für
seinen Mitmenschen zur Bedrohung, weil
er in egozentrischer Absicht immer wieder
Leben, Eigentum, Ehe und Familie seines
Nächsten antastet. Um solchen Übergriffen
zu wehren, ist nach lutherischem Verständnis die Staatsgewalt von Gott legitimiert,
dem Bösen Widerstand zu leisten und dadurch wenigstens halbwegs die Ordnung
in dieser Welt aufrecht zu erhalten. Das
Aufklärerische an der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist demgegenüber
die optimistische Sicht des Menschen und
seiner Zukunft. Erstmals stehen nicht die
Pflichten des Staatsbürgers, sondern seine
Rechte im Mittelpunkt staatsphilosophischer
Erwägungen. Wenn man die Selbstentfaltungskräfte des Menschen freisetzt, so
dass jeder einzelne unter dem Schutz der
staatlichen Gewalt sich als Individuum
entfalten kann, dann entsteht eine positive
Dynamik, die ein „Land mit unbegrenzten
Möglichkeiten“ hervorbringt. Das jedenfalls
war die tiefe Überzeugung der Gründerväter der USA, als sie am 4. Juli 1776 in der
Independence Hall in Philadelphia die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben.
Die Amerikaner beschreiben gerne ihre
Geschichte als Experiment demokratischer
Freiheit in Konkurrenz zu anderen politischen Leitideen. Und dass ihr Versuch
einer Regierung des Volkes durch das Volk
gelingen würde, war in der Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts zunächst alles
andere als selbstverständlich. Europa wurde damals von absolutistischen Monarchen
beherrscht und bis zur Durchsetzung bür-
gerlicher Freiheiten war es noch ein weiter
politischer Weg. Auch die kühne Behauptung der Unabhängigkeitserklärung, „dass
alle Menschen gleich geschaffen“ seien,
konnte sich angesichts der Sklaverei in den
Südstaaten der USA erst mühsam und nach
einem furchtbaren Bürgerkrieg durchsetzen,
der den jungen und ungefestigten Staat an
den Rand des Scheiterns führte. Abraham
Lincoln (1809-1865), der legendäre und
wohl beliebteste Präsident der Vereinigten
Staaten kehrte nach dem amerikanischen
Bürgerkrieg zu dem Schlachtfeld in Gettysburg zurück und endete seine kurze Rede
mit den inhaltsschweren Sätzen: „... dass
diese Toten nicht vergeblich gestorben sein
sollen, dass diese Nation unter Gott eine
neue Geburt der Freiheit erleben soll und
dass die Regierung des Volkes, durch das
Volk und für das Volk auf Erden nicht ausgelöscht werden wird.“
Die Angst, das Wagnis der Freiheit könnte misslingen, saß gerade nach dem amerikanischen Bürgerkrieg tief. Aber, und das ist
typisch für die Amerikaner, die verwegene
Zuversicht in ihre Vision und weltgeschichtliche Sendung erwies sich als stärker.
Wie soll man dieses Selbstbewusstsein
und Pathos der Freiheit in den USA theologisch beurteilen? Zunächst muss man
mit biblischer Nüchternheit feststellen, dass
auch die neue Welt trotz aller Fortschritte
die alte Welt geblieben ist. Und zwar deshalb, weil der alte Mensch in seiner Sündhaftigkeit auch durch die mitreißende Idee
der Freiheit nicht in einen neuen Menschen
verwandelt wird. In der Ausrottung der
amerikanischen Ureinwohner, in den sich
bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinziehenden Befreiungskämpfen der
schwarzen Amerikaner, im amerikanischen
Bürgerkrieg und in vielfältiger Gewalt, die
als kriminelle Energie innenpolitisch die
Vereinigten Staaten immer wieder in Atem
gehalten hat, zeigt sich, dass der Mensch
kein Paradies auf Erden schaffen kann.
Und die Tatsache, dass man die Ziele der
Aufklärung mit der Leidenschaft religiöser
Sprache zum Ausdruck brachte, muss auch
7
eher mit Vorsicht betrachtet werden.
Dennoch sollte man bei aller gebotenen
Zurückhaltung das „Kind nicht mit dem
Bade ausschütten“. Theologisch gesehen
ist wichtig, das gesamte biblische Spektrum zur Frage „Staat“, wie es Paulus im
13. Kapitel des Römerbriefes skizziert, im
Auge zu behalten. Hier ist zwar klar von
der legitimen und notwendigen Strafgewalt
des Staates zur Abwehr des „Bösen“ die
Rede, aber ebenso klar von der Belohnung
der Guten: „Denn vor denen, die Gewalt
haben, muss man sich nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke.
Willst du dich aber nicht fürchten vor der
Obrigkeit, so tue Gutes; so wirst du Lob
von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so
fürchte dich; denn sie trägt das Schwert
nicht umsonst: sie ist Gottes Dienerin und
vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses
tut.“ (Röm 13,3f). In der abendländischen
Tradition von Augustin über Luther bis zur
Gegenwart war man häufig eher geneigt,
die negative Seite der Strafandrohung zu
betonen und nicht wahrzunehmen, dass ein
guter Staat, der im Sinne der elementaren
Ordnungen Gottes handelt, auch eine zum
Guten stimulierende Wirkung hat. Hier liegt
sicher das Recht des amerikanischen Ansatzes, dem Menschen durch die Chance
„guter Werke“, die er zum eigenen Wohl
und zu dem seines Nächsten tut, etwas
Positives vorzugeben. Der sündige Mensch
kann auch inmitten einer gefallenen Welt
im politischen Sinne Gutes bewirken.
Diesen Anreiz hat in einer zuvor nicht gekannten Breitenwirkung die amerikanische
Verfassung ihren Bürgern gegeben.
Gerade in der Epoche des „kalten
Krieges“ hat sich die Vision der Freiheit bewährt. Die Zeit des waffenklirrenden Konkurrenzkampfes zwischen den politischen
Systemen in Ost und West hat man in den
USA als Herausforderung verstanden, die
Überlegenheit der freien Welt gegen die
Staatsdiktaturen des Kommunismus zu
erweisen. Und als 1989 tatsächlich der
„Eiserne Vorhang“ fiel und der Ostblock
8
sich aufzulösen begann, schrieb der Amerikaner Francis Fukuyoma eine Studie, die
intensiv diskutiert wurde und dann unter
dem provozierenden Titel „Das Ende der
Geschichte und der letzte Mensch“ als
Buch erschien. Fukuyoma weist mit kühnem Selbstbewusstsein darauf hin, dass
die Idee einer Universalgeschichte mit dem
Sieg der westlichen Demokratie über den
Sozialismus an ihr Ende gekommen ist. Im
Streit der Systeme und Konzepte hat sich
die von Georg Wilhelm Friedrich Hegel
(1770-1831) proklamierte Geschichte
„als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“
endgültig und unwiderruflich durchgesetzt.
Die bürgerlich liberale Revolution hat die
marxistische abgelöst. Was jetzt noch zu
erwarten bleibt, ist lediglich die globale
Verwirklichung menschlicher Freiheit in
einer demokratischen Weltordnung, zu der
es keine ideologische Alternative mehr gibt.
Die Begründung für diesen Optimismus
ist tief in der religiösen Überzeugung der
Amerikaner verankert. Weil Gott die Menschen gleich und frei geschaffen hat, setzt
sich die Natur des freien Menschen gegen
alle staatliche Unterdrückung und menschenverachtende Diktatur am Ende durch.
Die von Francis Fukuyoma vorgetragene Konzeption des Endes der Geschichte
steht in klarem Widerspruch zur biblischen
Endzeitvision, die vom Antichristen redet.
Deshalb gilt es gegen alle politische Utopie in Nüchternheit festzuhalten, dass der
Mensch aus seiner Kraft die Vollkommenheit auf Erden nicht erreicht; weder religiös
noch sozial noch politisch. Erst wenn diese
Einsicht Platz greift, kann sich vernünftige
Politik in dem Rahmen entfalten, den ihr
Gott zugemessen hat. In diesem vorgegebenen Horizont steht dann allerdings für
die geschichtliche Erfahrung außer Frage,
dass Menschenrechte, Demokratie, Gewissens- und Religionsfreiheit zu den positiven
Errungenschaften der politischen Kultur
gehören, für die sich gerade auch Christen
mit guten schöpfungstheologischen Gründen engagieren sollten.
2. Schmelztiegel der Nationen
Das amerikanische Modell einer multikulturellen Gesellschaft
„The American People“ wird in den Reden amerikanischer Politiker oft beschworen. Aber diese Nation ist eben gerade
nicht im klassischen Sinne des Wortes ein
Volk, sondern die Verschmelzung von immer neuen Wellen der Einwanderer nach
Nordamerika, die in der Regel mit dem
Traum der Freiheit und des Wohlstands in
die neue Welt gekommen sind: Engländer,
Deutsche, Skandinavier, Italiener, Franzosen, Polen, Tschechen, Russen... praktisch
alle europäischen Völker haben als erste
ihre kulturellen Spuren eingegraben. Die
aus Westafrika verschleppten schwarzen
Sklaven erwiesen sich als Testfall für die
Durchsetzung der Menschenrechte und
schufen eigenständige Lebensformen, die
die Gesellschaft prägen. Im 20. Jahrhundert kamen Asiaten und vor allem Lateinamerikaner in großen Zahlen hinzu, die
sowohl ihre Traditionen in die amerikanische Gesellschaft einbringen wie auch ihre
Forderung nach Integration erheben. Aus
dieser in sich höchst widersprüchlich geprägten Bevölkerung dennoch eine Nation
zu formen, die einen starken Zusammenhalt und eine tragfähige Identität hat, ist
nur in einem Klima der Freiheit und auf der
Grundlage gemeinsamer Werte möglich.
Der amerikanische Patriotismus bezieht sich
auf die Verfassung als grundlegendes Dokument der Menschenrechte und ist mit tief
verankertem Nationalstolz über die eigene
Geschichte verknüpft. Aber es handelt
sich um einen Nationalstolz, der nicht auf
Geburt und Herkunft, sondern auf dem gemeinsamen Ideal individueller Freiheit gegenüber politischer Unterdrückung beruht.
John F. Kennedy hat dieses Bewusstsein angesichts der Berliner Mauer in der knappen
Solidaritätsaussage „Ich bin ein Berliner“
auf den Punkt gebracht. Wo immer sich der
Freiheitswille eines Volkes gegen ungerechte Tyrannei manifestiert, weht jener Geist
der Unabhängigkeitserklärung, die am
4. Juli gefeiert wird, und dort verwirklicht
sich der amerikanische Traum. Weil in den
USA ursprünglich alle Einwanderer sind,
hat sich eine Mentalität der Offenheit für
alles Neue und der Hilfsbereitschaft für
Ausländer tief in der Mentalität eingewurzelt. Jeder, der da ist, gehört dazu, denn es
ist nur eine Frage der Zeit, wie lange man
schon dabei ist Amerikaner zu sein bzw. zu
werden.
Im Blick auf die Globalisierung, Urbanisierung (Verstädterung) und kulturelle
Durchmischung unserer Welt lässt sich aus
dem Weg, den das amerikanische Volk in
seiner Geschichte gegangen ist, einiges lernen. Allerdings steht dazu die europäische
Geschichte mit der Vielfalt von eigenständigen Völkern, Sprachen und Kulturen im
Kontrast. Dieser Unterschied kann jedoch
fruchtbar werden, wenn die europäischen
Völker statt wie in der Vergangenheit gegeneinander Kriege zu führen, sich nun in
gemeinsamer Weltverantwortung zusammenschließen und zu Amerika in einem
sich ergänzenden und korrigierenden Verhältnis stehen. Globale Offenheit und konstruktive Vielfalt könnten sich dann positiv
mit ihren je unterschiedlichen historischen
9
Erfahrungen bereichern.
3. Ein einzigartiges kirchengeschichtliches Experiment
Als am 4. Juli 1776 mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ein
politisches Experiment der modernen
Geschichte anfing, da hatte ein kirchengeschichtliches Experiment bereits 150 Jahre
zuvor begonnen. Die berühmte Mayflower
brachte 1620 die erste Gruppe europäischer Auswanderer an die nordamerikanische Küste, die ihrer Heimat in England
den Rücken kehrten, weil sie dort aus religiösen Gründen benachteiligt und zum Teil
um ihres Glaubens willen unterdrückt worden waren. Nun suchten sie neue Ufer, um
in der Freiheit des Gewissens und mit dem
Recht zu freier Versammlung ihren Glauben
zu leben. Denn auf dem alten Kontinent
galt nach der Reformation der Grundsatz:
„Wes das Land, des der Glaube“ (lat. cuius
regio, eius religio), d.h. der mehr oder weniger absolutistisch regierende Landesfürst
bestimmt über das Glaubensbekenntnis
seiner Untertanen. Um dieser europäischen
Zustände willen brach der Zustrom religiös
motivierter Emigranten in die USA über
zwei Jahrhunderte hinweg niemals ab.
Und als Thomas Jefferson und Benjamin
Franklin mit der amerikanischen Verfassung
im Geist der europäischen Aufklärung den
ersten modernen demokratischen Staat
aufbauten, da konnten sie vom erklärten
Freiheitswillen eines Volkes
ausgehen, das
sich nicht zuletzt aus
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Gründen der Gewissensfreiheit in Nordamerika angesiedelt hatte. Die aufklärerische Idee der Menschenrechte und Toleranz verwirklichte sich in einem Staatsvolk,
das zutiefst aus dem Willen und der Tradition zur Religionsfreiheit lebte und deshalb
sehr früh die strikte Trennung von Staat und
Kirche verfassungsrechtlich verankerte.
Was bei diesem kirchengeschichtlich einmaligen Experiment herausgekommen ist,
kann sich nicht nur sehen lassen, sondern
erwies sich auch missionarisch betrachtet
als eine besondere Segensgeschichte.
Denn zahllose Christen, die ihren Glauben
bewusst praktizierten, füllten den freiheitlichen Rahmen, den ihnen ihr junger Staat
bot, mit geistlichem Leben. Aus christlicher
Sicht lässt sich der amerikanische Traum
durchaus als kirchengeschichtlich gelungenes Experiment eines missionarisch vitalen,
in der Bibel verwurzelten Freikirchentums
beschreiben. Dieses sicherlich pauschale
Urteil ist auch dann noch gerechtfertigt,
wenn man einräumt, dass besonders in
den Bundesstaaten entlang der Atlantikund Pazifikküste der theologische Liberalismus kräftig blüht und der westliche Säkularismus deutliche Spuren hinterlässt.
Zudem hat der amerikanische Sinn
für freien Wettbewerb auch zu einer unübersehbaren Aufsplittung christlicher
Denominationen geführt. Der zupackende
Optimismus lässt die Verkündigung weit
weniger problem- und sehr viel mehr
verheißungsorientiert erscheinen. Die allgemeine Bereitschaft öffentlich und
offen über sich selbst zu reden,
hilft auch zu einem mutigen
christlichen Glaubenszeugnis
in der Gesellschaft. Das Wissen der amerikanischen Pioniere, dass man die Ärmel
hochkrempeln und selbst
anpacken muss, erleichtert
Eigeninitiative beim Gemeindeaufbau. So färbt sich
der „American way of life“
mit seinen Licht- und Schattenseiten auch auf das Verständnis
Gibt es eine
christliche Politik?
Versuch einer Antwort anhand einer Schrift Martin Luthers
Joachim Kummer,
Studienassistent
die unheilvolle Verquickung von kirchlichen
und staatlichen Interessen bei Kreuzrittern,
Ketzerjägern und Konquistadoren, d.h. den
portugiesischen Eroberern Lateinamerikas.
Weltliches Schwert und kirchliches Wort
marschierten im Gleichschritt über alle
Erdteile. Die Kirchen sind längst zu einer
differenzierten Beurteilung der eigenen
Geschichte gelangt. Allerdings wird von
Ideologen allzu häufig das Kind mit dem
Bad ausgeschüttet, indem Mission unter
Generalverdacht gestellt und grundsätzlich
als Vorhut kolonialer Machtentfaltung diffamiert wird.
>Nein< zur christlichen Politik?
Wer die Frage nach einer christlichen Politik mit „einem Wörtlein“ beantwortet, ist in
der öffentlichen Meinung bereits „gefällt“.
>Ja< zur christlichen Politik?
Ein „Ja“ zieht die Frage nach sich:
Was unterscheidet das Christentum dann
noch vom Islam, der erst im islamischen
Gottesstaat seine im Koran angelegte
Bestimmung verwirklicht? Wir denken an
verschleierte Frauen, die alle Lebensbezüge
reglementierende Scharia und Zwangsamputationen. Doch erinnern wir uns: Die
Vermischung von Religion und Politik ist
auch in der Geschichte des Abendlandes
sehr wohl anzutreffen. Man denke etwa an
Ein „Nein“ zur Frage nach einer christlichen Politik wäre jedoch ebenso gefährlich.
Auch hier steht uns ein bedrückendes Beispiel vor Augen: Die Trennung von Glaube
und Politik ermöglichte erst – so eine beliebte These – die absolute Staatshörigkeit
der deutschen Christen im Dritten Reich.
Luther habe das Fundament zum deutschen
Obrigkeitsstaat gelegt, das im NS-Staat
seinen furchtbaren Ausdruck fand (Ernst
Niekisch).
Sebastian Haffner äußert sich in seinen
„Anmerkungen zu Hitler“ sehr kritisch
über diese Art von Geschichtsschreibung:
„Einige englische Historiker haben im Krieg
zu beweisen versucht, daß Hitler das sozusagen vorbestimmte Produkt der ganzen
deutschen Geschichte gewesen sei; daß
11
von Luther über Friedrich den Großen
und Bismarck eine gerade Linie auf Hitler
zulaufe. Das Gegenteil ist richtig.“ Obwohl diese These längst als Geschichtsfälschung entlarvt ist, wird das Klischee des
obrigkeitshörigen Luther von interessierten
Kreisen immer wieder aus der Mottenkiste
gezogen.
rechte selbst Anteil an staatlicher Macht. Er
trägt aktiv zur politischen Gestaltung des
Landes bei, indem er seine gesellschaftliche Verantwortung in Vereinen, Parteien,
Bürgerinitiativen, Kirchen, Stiftungen, etc.
wahrnimmt. Wenn Luther also vom Fürsten
spricht, so ist, auf unsere Situation übertragen, der Politiker und bis zu einem gewissen Grad auch der verantwortungsbewusste Staatsbürger mit angesprochen.
Tagespolitik als Anstoß zur
politischen Ethik
Martin Luther
1522/1524
Bleibende Wahrheit und
geschichtliche Entwicklung
des Politischen
Es ist offensichtlich: Wer sich auf die
Frage einlässt, ob christliche Politik möglich und berechtigt ist, der begibt sich
– so oder so – auf vermintes Gelände.
Dennoch soll eine Antwort hier gewagt
werden. Und zwar ausgehend von einer
Schrift Martin Luthers. Nicht weil Luthers
Ehrenrettung angezeigt wäre, sondern
weil seine Position – in der konkreten geschichtlichen Situation aufgebrochen – an
der Schrift gewonnen ist. Dabei wird deutlich werden, dass eine politische Ethik auf
biblischem Fundament ebenso aktuell in
die Situation des feudalen Ständestaat der
frühen Neuzeit hinein spricht wie in die der
westlichen Demokratien des beginnenden
21. Jahrhunderts. Es gilt, die uneinholbaren biblisch-reformatorischen Erkenntnisse
in die heute gegebenen Verhältnisse hinein
zu übersetzen.
Stellt sich staatliche Gewalt für Paulus in
der Person des römischen Kaisers dar, für
Luther im Landesherrn, so sieht sich der
heutige Staatsbürger einer vielfältig ausdifferenzierten Gewaltenteilung gegenüber.
Er hat durch Wahlen und andere Bürger-
12
Die historische Situation ist folgende:
Georg von Sachsen untersagte 1522 in
seinem Herzogtum die Verbreitung des
Neuen Testamentes in der Übersetzung
Martin Luthers. Damit war akut die Frage
auf der Tagesordnung: Wie verhalten sich
Glaube und Politik zueinander? Sollte die
Entscheidung des Herzogs als der von Gott
eingesetzten Obrigkeit demütig getragen
werden, oder war das Verbot Georgs,
weil es sich gegen Gott richtete, null und
nichtig? Luther kommt (nach Apg 5,29) zu
dem Schluss: „Nicht ein Blättchen, nicht
einen Buchstaben sollen sie überantworten
– bei Verlust ihrer Seligkeit. Denn wer es
tut, der übergibt Christus dem Herodes in
die Hände.“
Luther nimmt die Auseinandersetzung
mit dem Herzog von Sachsen zum Anlass
grundsätzlich Stellung zu beziehen. Dies
tut er in seiner Schrift von „Von weltlicher
Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam
schuldig sei“ (1523).
Herzog Georg
Politik ist von Gott gewollt
Entsprechend dem Wort Jesu vor Pilatus
„Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh
18,36) unterscheidet Luther zunächst zwei
Reiche, denen die Menschen angehören:
Das Reich Gottes und das Reich der Welt.
Die Christen gehören zum Reich Gottes,
das nicht von dieser Welt ist. Ihr Handeln
ist durch die Liebe bestimmt, ihr Herr ist
Christus. Sie sollen nach der Bergpredigt
leben: Dem Unrecht, das ihnen angetan
wird, nichts entgegensetzen und, wenn sie
Schläge einstecken müssen, auch die andere Backe hinhalten.
Dieses Ideal gilt natürlich nur, insoweit
die Christen wirklich Christen sind. Jeder
Christ ist aber solange er lebt noch etwas
anderes, nämlich Sünder. Deshalb kann er
die Bergpredigt nicht vollkommen erfüllen.
Es gibt darüber hinaus auch Bereiche,
in denen die Bergpredigt gar nicht Maßstab für das Handeln sein kann. Denn der
Christ gehört nicht nur dem Reich Gottes,
sondern in all seinen Entscheidungen auch
dem Reich der Welt an. Um das an einem
Beispiel zu verdeutlichen: Werde ich von
meinem Nachbarn übervorteilt, dann soll
ich mir gemäß der Bergpredigt Unrecht tun
lassen und von Herzen gerne verzeihen! Als
Familienvater werde ich mir aber zugleich
überlegen, ob ich mich um meiner Kinder
willen schützen muss, die mit unter diesem
Unrecht leiden und die Gott mir anbefohlen hat.
Der Großteil der Menschheit gehört, so
Luther, allein dem Reich der Welt an. Hier
sorgt die Gewalt der Obrigkeit im Auftrag
Gottes für ein geordnetes Zusammenleben
(Röm 13,1-7. Petr 2,13f). Gott regiert die
Welt also durch zwei Herrschaftsweisen:
Die Christen regiert er durch seinen Geist,
die anderen durch die von ihm eingesetzte
Regierung. Wären alle Menschen durch
und durch Christen, so wäre das weltliche
Gesetz überflüssig. Dann könnte man die
Welt mit der Bergpredigt regieren, aber nur
dann. Die Wirklichkeit sieht nach dem Sündenfall leider ganz anders aus: „Der Bösen
sind immer viel mehr denn der Frommen.
Darum ein ganzes Land oder die Welt mit
dem Evangelium regieren zu wollen, das
ist eben, als wenn ein Hirte in einen Stall
zusammentät Wölfe, Löwen, Adler, Schafe
und ließe jedes frei unter dem andern
gehen und spräche: ‚Da weidet euch und
seid fromm und friedsam untereinander.
Der Stall steht offen. Weide habt ihr genug. Hund und Stecken braucht ihr nicht
zu fürchten.’ Hier würden die Schafe wohl
Frieden halten und sich friedlich also lassen weiden und regieren. Aber sie würden
nicht lange leben, noch kein Tier vor dem
anderen bleiben.“ Darum ist auch für den
Christen in der Politik der Gebrauch staatlicher Zwangsmittel und Gewaltausübung
nicht aus- sondern eingeschlossen: „Wenn
du siehst, dass es am Henker, Büttel,
Richter, Herrn oder Fürsten mangelt und
du dich geschickt dazu findest, so sollst
du dich darum bewerben, auf dass ja die
nötige Gewalt nicht unterginge.“
Landsknechte
Sind Christen die besseren
Politiker?
Im konkreten Handeln des Christen
überschneiden sich also Reich Gottes und
Reich der Welt.
Christen sind aufgefordert, aktiv und
passiv am weltlichen Regiment und damit
an der Weltgestaltung und Friedenssicherung teilzunehmen und Verantwortung
zu übernehmen. Das fordert die Liebe
13
zum Nächsten. Christen dürfen nicht
nur politisch tätig sein, sie haben sogar
einen großen Vorteil in der Politik, denn
sie handhaben staatliche Gewalt – sofern
sie sich an der Schrift orientieren – im
Bewusstsein einer besonderen Verantwortung. Sie wissen, dass ihre Macht von
Gott kommt, dass diese Macht geliehen
ist und dass sie den Gebrauch ihrer Macht
vor Gott zu verantworten haben. Ob sie
aufgrund dieses Wissens allein schon die
besseren Politiker sind, ist allerdings nicht
ausgemacht. Schließlich braucht ein guter
Politiker auch vielfältige Fähigkeiten, wie
z.B. eine gute Portion an Sachverstand,
Weitblick, Mediengewandtheit, Diplomatie, Durchsetzungsvermögen, Kompromiss-, Moderations- und Teamfähigkeit,
klare Zielvorstellungen und Sinn für das
Machbare.
Politik und Christsein als
Spannungsfeld
Luther gibt sich keinen falschen Illusionen hin. Er weiß: „Ein kluger und frommer
Fürst ist ein seltener Vogel“. Was aber gilt
für ihn, für den Christen in der politischen
Entscheidung? Das Gewissen des Christen
orientiert sich nach der Bergpredigt. Im
Privaten hat er auf Rache, Gewalt und den
eigenen Nutzen zu verzichten. In seinem
weltlichen Amt aber fordert Gott von ihm,
dass er Recht und Gerechtigkeit durchsetzt. Das gilt nicht nur für den Politiker,
für den Polizisten und Soldaten, sondern
das gilt überall dort, wo Verantwortung für
andere wahrgenommen wird, bis hinein in
die Familie.
Der Christ folgt also mit dem Herzen
der Bergpredigt – auch in politischen
Angelegenheiten. In dem, was er tut und
lässt, hat er stattdessen dem Auftrag seines
Berufes gerecht zu werden. „Also gehets
denn beides fein miteinander“? Zumindest
in der Theorie – denn ein innerer Gewissenskonflikt aufgrund dieser Spannung
in einer Person ist nicht grundsätzlich
14
vermeidbar. Vielmehr liegt gerade darin
die Gefahr, dass bei der Ausübung des
„weltlichen Regiments“ das „Herz“ des
Christenmenschen in Anfechtung gerät.
Es ist für den Christen eine permanente Herausforderung der Berufspflicht zu
genügen und zugleich in der Liebe Jesu
zu bleiben. So stellt sich etwa die Frage:
Mache ich der Öffentlichkeit und vielleicht
auch mir selbst vor, das öffentliche Recht
zu schützen, und suche dabei doch nur
die Gerechtigkeit, die mir nützt? Lasse
ich mich bei äußerlich korrekter Amtsführung innerlich zu Hass und Rachsucht
hinreißen?
Die Spannung zwischen beiden „Reichen“ erreicht also im einzelnen Menschen eine unergründliche Tiefe. In kleiner
Münze erleben wir solche Situationen
der Überschneidung der beiden Reiche
tagtäglich. Ein Beispiel: Greife ich zu
erzieherischen Maßnahmen aus Liebe zu
meinem Kind, oder gebe ich damit einem
Affekt nach? Über die eigentlichen Motive
meines Handelns kann ich vielleicht nicht
einmal selbst mit letzter Gewissheit Aufschluss geben. Das heißt aber: Als Christ
lebe ich aus der Vergebung auch bei
äußerlich tadellosen Entscheidungen und
Handlungen. Das gilt auch für die Sphäre
des Politischen.
Der Christ
lebt aus der
Ve r g e b u n g
Politik ist von Gott begrenzt
Nach dem grundsätzlichen Ja zur
staatlichen Ordnung, markiert Luther in
einem zweiten Teil deutlich die Grenze
des weltlichen Rechts: Der starke Arm des
Staates darf nicht zum verlängerten Arm
des Reiches Gottes werden. Weltliche
Macht erstreckt sich nur auf Leib und Gut,
nicht auf den Glauben, nicht auf das Gewissen. Über die Herzen hat der Staat keine
Gewalt. Der Glaube ist allein Sache der
Predigt. Dem mittelalterlichen Ketzerrecht
hält er entgegen: „Ketzerei ist ein geistlich
Ding, das kann man mit keinem Eisen
hauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit
keinem Wasser ertränken... Ist Ketzerei da,
die überwinde man, wie sich’s gebührt, mit
Gottes Wort.“
Es gibt also durchaus den christlichen
Politiker, auch der Staat als solcher hat zumindest eine Ahnung von dem, was „gut“
ist (Römer 13,3-4). Es darf aber keine sogenannte „christliche Politik“ in dem Sinne
geben, dass im Namen der christlichen
Wahrheit religiöse Interessen mit Gewalt
durchgesetzt werden. Damals wie heute
gilt also nach Luther: Religiöse Motive dürfen niemals als Kriegsgrund missbraucht
werden.
Handlungsanweisungen
für den Christenmenschen
in der Politik
Der abschließende Teil seiner Schrift
belegt, dass die Unterscheidung der
beiden Reiche, die in der Brust des
christlichen Politikers ein spannungsvolles
Miteinander führen, für Luther nicht bloße
Theorie ist. Hier bietet er einen Fürstenspiegel, eine Orientierungshilfe für den
christlichen Regenten, die jeder Politiker,
jede Firmenleitung, jede Führungskraft
leicht in ihr Gebiet übersetzen kann:
Ein christlicher Fürst zeichnet sich dadurch aus, dass er seinem Gegenüber
mit von Liebe geleiteter politischer Vernunft
begegnet: Denen, die von ihm abhängig
sind, ist er Schutz und Frieden schuldig. Er
ist ihr erster Diener. Ja, Christus selbst, den
Himmelsfürsten, soll er sich zum Vorbild
setzen. Wie dieser wird er sich für sein
Volk und Land aufopfern. Die Fachleute
und Räte soll er nicht verachten, aber
noch viel weniger darf er ihnen blind
und vorbehaltlos vertrauen. Denn keiner
ist frei von Selbstsucht. So muss er in
allen Belangen selbst die Akten kennen
und sich als Herr der Lage erweisen.
Kraft und Zeit zu Prunk und Protz bleibt
hier keine mehr. Den Gesetzesbrecher
soll er strafen, allerdings darf er nicht
dem Rat der Scharfmacher, der „Eisenfresser“ folgen, durch Strafaktionen Land
und Leute in Gefahr bringen und das
Land mit Witwen und Waisen füllen.
An dieser Stelle nimmt Luther die
Gelegenheit wahr, deutlich zu machen,
dass nicht nur die Regierung, sondern
Ein
Fürst
mit
seinen
Räten
jedermann in politischen Entscheidungen steht. Luther führt hier an, dass der
Wehrpflicht folge zu leisten ist. Das gilt
selbst für den Fall, dass vom einzelnen
nicht mit Sicherheit beurteilt werden
kann, ob das eigene Land das Recht auf
seiner Seite hat. Hier zeigt sich Luthers
realitätsnahes politisches Verständnis.
Er fordert vom „gemeinen Mann“ nicht,
die politischen Verhältnisse mit letzter
Klarheit zu durchdringen und die Schuldfrage abschließend zu klären. Liegt das
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Unrecht des eigenen Landes nicht offen am
Tage, dann muss sich der einfache Soldat
auf die Darstellung seiner Regierung verlassen. Diese freilich lädt vielfache Schuld auf
sich, wenn sie das Vertrauen ihrer Soldaten
missbraucht und sie in einen ungerechten
Krieg führt.
In unserem Medienzeitalter hat sich an
dieser Situation prinzipiell nichts geändert.
Wir sind zwar rundum informiert, können
aber im allgemeinen nicht – oder erst im
Nachhinein – durchschauen, welche Nachrichten mit welchen Interessen von wem
gesteuert sind und welchen Wahrheitsgehalt
sie haben. Ein aktuelles Beispiel ist hier die
Informationspolitik der USA im Irakkrieg.
Politik und Heilsgeschichte
Luthers politische Ethik stützt sich nicht nur
auf einzelne zentrale Bibelstellen, sie ist auch
in einen biblischen Gesamtzusammenhang
verwoben. In der Heilsgeschichte Gottes mit
der Welt sind Politik und Wortverkündigung
einander klar zugeordnet. Weltliche Herrschaft hat ihren geschichtlichen Ort zwischen
dem Sündenfall und der Wiederkunft Jesu.
Politik ist also eine vorübergehende Einrichtung in einer vergehenden Welt, in der der
Teufel los ist und Gottes Verheißung noch
nicht zu ihrem Ziel gekommen ist. Durch
das weltliche Regiment bewahrt Gott die
Welt in dieser Bedrohung vor Chaos und
Untergang. Durch das geistliche Regiment
ruft Gott zur Umkehr und verkündigt das
Kommen des Reiches Gottes. Das weltliche
Regiment ist, auch wenn es davon nichts
weiß, die Magd des geistlichen. Sie ermöglicht erst das friedliche Zusammenleben und
damit indirekt auch die Ausbreitung des
Reiches Gottes.
In einer Diktatur ist das „weltliche Regiment“ auf dem Weg in die Perversion.
Dennoch darf nach Luthers Verständnis von
Römer 13,1-2 nicht das geschehen, was
zwei Jahre später durch den Bauernaufstand versucht wurde: Eine Beseitigung der
bestehenden Regierung durch unberufene
Gewalt. Auch einen Eingriff von außen
16
lehnt Luther ab. Niemals forderte er seinen
Fürsten auf, Herzog Georg wegen der
Verfolgung der Evangelischen anzugreifen.
Als schließlich 1528 zur „Rettung des Evangeliums“ von den evangelischen Fürsten
ein Präventivkrieg geplant wurde, drohte
Luther seinem Landesherrn damit das Land
zu verlassen. Für politisch erlaubt hielt er
ausschließlich die Verteidigung des eigenen
Landes und den Schutz Verbündeter: „Wer
Krieg anfängt, der hat Unrecht!“
Freilich ist es aufgrund heutiger Waffentechnik und des Phänomens Terrorismus
schwierig geworden zwischen Präventivund Verteidigungskrieg zu unterscheiden.
Um so höher wiegt heute die Verantwortung der Informationsdienste und Spezialisten.
In vielem ist aber auch heute noch Luther
nicht nur prinzipiell, sondern auch in der
Praxis uneingeschränkt Recht zu geben:
„Obrigkeit ändern und Obrigkeit bessern
sind zwei unterschiedliche Dinge. Sie sind
so weit von einander geschieden wie
Himmel und Erde. Das Ändern kann leicht
geschehen, Bessern ist misslich und gefährlich.“ Wie schwierig die Wiederherstellung
der öffentlichen Ordnung nach der Beendigung eines Krieges ist, das zeigen uns
die Fernsehbilder, die uns vom Balkan, aus
Afghanistan und aus dem Irak erreichen.
Folgt man den in aller Kürze dargestellten biblisch-reformatorischen Prinzipien, so
kann man dabei dennoch zu unterschiedlichen Deutungen der Tagespolitik gelangen.
Vor einem aber sollten wir uns als Christen
in jedem Falle hüten: Vor unbewiesenen
und vielleicht unbeweisbaren Schuldzuweisungen. Die Herzen der Regierenden sind
dem weltweit vernetzten Zeitgenossen immer noch so wenig offenbar, wie dem des
Lesens unkundigen Bauern des 16. Jahrhunderts. Hier kommt auch das politische
Wächteramt der Kirche an seine Grenze.
Was die Christen über alle Jahrhunderte hinweg eint, ist die Hoffnung auf die
Wiederkunft Jesu Christi, durch die das
weltliche Regiment beendet, das geistliche
Regiment vollendet wird.
NO WAR?
KEIN KRIEG?
Oder: Gibt es einen gerechten Krieg?
Volker Gäckle,
Studienleiter
Unsere Weltlage hat sich in den vergangenen bald sechs Jahrzehnten seit dem
Ende des Zweiten Weltkrieges in dramatischer Weise verändert und wenn nicht alles
täuscht stehen wir vor weiteren tiefgreifenden Veränderungen des weltweiten Machtgefüges, nicht nur durch die Dominanz der
USA als der einzig verbliebenen Weltmacht,
sondern auch durch den sich andeutenden
Aufstieg Chinas zu einer neuen Weltmacht.
Geändert haben sich jedoch nicht nur
Machtverhältnisse, sondern auch staatliche
Gebilde, Militärtechnologien und die internationalen Feindbilder.
Die Frage nach einem gerechten Krieg
muss all diese Verschiebungen mitberücksichtigen. Man kann sie nie in einen geschichtslosen Raum hinein stellen, sondern
17
es gilt immer die konkreten Verhältnisse in
die Antwort einzubeziehen.
Deshalb soll in einem ersten Teil der Versuch einer Bestandsaufnahme gewagt werden. Dieser wird notwendigerweise subjektiv sein und in einer Spannung zu anderen
Wahrnehmungen stehen. Aber die Frage
nach der Legitimität eines Krieges kann auf
eine solche Deutung der jeweiligen Situation nicht verzichten.
Im Zentrum des zweiten Teils steht dann
die Frage nach den Antworten der Bibel
und der Kirchen- bzw. Theologiegeschichte. Welche Maßstäbe ergeben sich aus
dem biblischen Zeugnis und den Einsichten
von Christen in den vergangenen 2000
Jahren?
Schließlich sollen in einem knappen
letzten Teil einige Beurteilungskriterien für
die Gegenwart formuliert werden, die wenn
auch kein Orientierungsmaßstab (wer
könnte einen solchen geben?), so doch
eine Orientierungshilfe geben sollen.
I. Von Hiroshima bis zum
11. September Die Frage nach dem Krieg in
veränderter Zeit
„Krieg soll nach Gottes Willen nicht
sein!“ So formulierte es 1948 die erste Vollversammlung des Ökumenischen Rates der
Kirchen in Amsterdam. Unter dem Eindruck
der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges,
der einschließlich der beiden Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki
ein noch nie gesehenes Massensterben mit
sich brachte, war es ein Gebot der Stunde,
in einer ganz neuen Weise über Recht und
Unrecht des Krieges nachzudenken. Waren
in allen Jahrhunderten vorher Kriege eine
zwar nicht weniger grausame, aber in ihrer Folgewirkung relativ prognostizierbare
„Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, vermittelten die beiden Weltkriege in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine
Ahnung vom Horrorszenario des Weltuntergangs. Der Krieg im Atomzeitalter wurde
zu einem prinzipiell unkalkulierbaren Abenteuer vor dem Horizont einer möglichen
Totalvernichtung der Menschheit.
18
Die atomare Bedrohung des Kalten
Krieges und die neue Frage nach
dem Sinn des Krieges
Entsprechend dieser neuen Dimension
des Krieges veränderte sich auch die theologische Bewertung des Krieges. Durch die
gewandelte Weltsituation war zumindest für
den nuklear aufgeladenen Ost-West-Konflikt mit einem Schlag die ethische Tradition
im Blick auf die Frage nach dem Krieg
überholt. Während abgesehen von immer
wieder auftauchenden radikalpazifistischen
Ansätzen (wie z.B. den Schwärmern der
Reformationszeit oder den Quäkern u.a.
Gruppen in Nordamerika) dem Staatswesen ein grundsätzliches Recht zum Krieg im
Angesicht einer feindlichen Bedrohung nie
bestritten wurde, veränderte die atomare
Bedrohung alles.
Denn wenn ein möglicher Krieg nicht
nur den Angreifer, sondern auch den Verteidiger auszulöschen droht, dann ist das
Mittel des Krieges letztlich schlimmer als
das bedrohende Übel, vor dem ein Krieg
eigentlich schützen soll. So wurde im Atomzeitalter eigentlich jeder mögliche Kriegszweck vom Instrument des Krieges selbst
erschlagen. Hier hat der Krieg aufgehört,
eine Erhaltungsfunktion auszuüben. Diese
neue Dimension des Krieges veränderte somit auch die traditionelle ethische Reflexion
über den Krieg.
Das Ende der Nachkriegsordnung
und die politische Zerfaserung der
Machtblöcke
Wenn nicht alles täuscht, hat sich aber
nun mit dem Ende der Nachkriegsordnung
wiederum eine neue Situation ergeben.
Der Fall des eisernen Vorhangs und der
Zusammenbruch des Ostblocks brachte
eine neue weltpolitische Situation mit sich,
die nicht mehr vom Gegenüber zweier
atomar bewaffneter Blöcke gekennzeichnet
ist, sondern von einer neuen Unübersichtlichkeit. Während auf der einen Seite die
Vereinigten Staaten als letzte verbliebene
Weltmacht gestärkt aus diesen Umbrüchen
hervorgingen, „zerfaserten“ große Teile
der Zwei-Drittel-Welt in mittelgroße und
kleine Machtblöcke. Zahlreiche Konflikte,
die während der Nachkriegsordnung unterdrückt worden waren, brachen sich mit
Macht Bahn, v.a. in der islamischen Welt.
Das Phänomen der
>privatisierten Gewalt<
Der Fall des eisernen Vorhangs öffnete
die Bühne der Weltgeschichte aber auch
für eine neue Form des Krieges, die man
bisher nur aus den Leinwandabenteuern
von James Bond 007 zu kennen glaubte.
Die Welt musste wieder mit einer längst
überholt geglaubten Form der kriegerischen Auseinandersetzung Bekanntschaft
machen, der sog. „privatisierten Gewalt“.
Gemeint ist jene Form des Krieges, die
nicht mehr von staatlich kommandierten
und kontrollierten Streitkräften ausgeht,
sondern von sehr unterschiedlich strukturierten und finanzierten Privatarmeen,
die z.B. im ehemaligen Jugoslawien und
auch in vielen Staaten Afrikas eine wichtige
Rolle spielten und spielen. Richtig in das
Bewusstsein der Weltöffentlichkeit trat das
weltweite Phänomen „privatisierter Gewalt“
freilich erst am 11. September 2001. Live
auf dem Bildschirm wurde deutlich, dass
die Kriege des 21. Jahrhunderts nicht mehr
ausschließlich von einer Nation gegen eine
andere geführt werden, mit eindeutiger
Kriegserklärung, klaren Frontlinien und eindeutigen Freund-Feind-Beziehungen.
Die Definition des Krieges ist komplizierter geworden. Mögen auf der einen Seite
nach wie vor Staaten, Nationen oder auch
nur Volksgruppen stehen, so werden sie
auf der anderen Seite mit einem meist undurchschaubaren Gemisch von halbstaatlichen Organisationen, privaten Kriegsherren mit „geschäftlichen Interessen“,
professionellen Söldner-Terroristen, sich im
Terrorgeschäft engagierenden Mafiabanden und religiösen, nationalen oder/und
ethnischen Fanatikern konfrontiert.
Mit dem Phänomen der „privatisierten
Gewalt“ erscheint auch die Kriegsfrage
wieder in ganz neuer Form auf der Tages-
19
ordnung einer theologischen Ethik. Die
vom atomaren Patt geprägten ethischen
Antworten der Nachkriegszeit genügen
nicht mehr. Ein neues Nachdenken ist unabdingbar.
Wenn der Tod nicht mehr
abschreckt ...
Auch die Strukturen der Auseinandersetzung sind komplexer geworden. Standen
sich in der Nachkriegsordnung zwei atomar bewaffnete Blöcke gegenüber, denen
mehrere hundert Millionen Menschen in
fest umrissenen Territorialstaaten zugeordnet werden konnten, so bekamen es die
Vereinigten Staaten am 11. September mit
einer in dieser Weise bis dahin unbekannten Form des Kriegsgegners zu tun.
Dieser hat sich dadurch ausgzeichnet
sich dadurch aus, dass er zum einen nicht
mit einem Nationalstaat oder auch nur
einem Territorium identifizierbar ist. Auch
wenn das Afghanistan der Taliban als
Rückzugsgebiet galt und deshalb Ziel des
amerikanischen Gegenschlags war, so
handelt es sich doch um eine völlig neue
Form des Kriegsgegners, der entsprechend
eine neue Form des (Verteidigungs)Krieges
nötig macht.
Zum zweiten begegnet im militanten
islamischen Fundamentalismus ein Gegner,
der keine Rücksichten auf eine ihm zum
Schutz anbefohlene Bevölkerung kennt.
Während der Zeit des nuklearen Patts
musste jede der beiden Weltmächte bei
einem Einsatz des eigenen nuklearen Potentials mit der eigenen Vernichtung rechnen und war entsprechend „abgeschreckt“.
Dieselbe Abschreckung funktioniert bis
heute auch zwischen den verfeindeten
Nachbarn Indien und Pakistan im KashmirKonflikt. Doch genau diese mit dem Einsatz von Atomwaffen gegebene Gefahr
der eigenen Vernichtung, spielt für den
militanten islamischen Fundamentalismus
anscheinend keine wesentliche Rolle mehr.
Die Mentalität, die in den Selbstmordattentaten des 11. September und in den
palästinensischen Selbstmordanschlägen
20
zum Ausdruck kommt, spricht hier eine deutliche Sprache: Das Leben des Einzelnen oder
auch ganzer Zivilisationen ist nichts gegenüber dem Endsieg des Islam.
Ein weiterer Faktor ist, dass die Kriegsführung in Form von brutalen Selbstmordattentaten anders als die langwierigen
Vorbereitungen konventioneller Kriege mit
langen Aufmarschwegen im Geheimen
geschehen können. Dieser Umstand macht
den militärisch unterlegenen Gegner so
unkalkulierbar und gefährlich und gleichzeitig die Verteidigung so kompliziert und die
Begründung für ein präventives militärisches
Vorgehen so schwierig.
Kriege sind wieder kalkulierbar
geworden
Doch auch auf der Seite der letzten verbliebenen Weltmacht haben sich gegenüber
der Situation vom atomaren Patt neue Entwicklungen ergeben. Durch die fortschreitende technische Entwicklung der modernen
Waffensysteme sind Kriege gegen NichtAtommächte wieder kalkulierbar, durchführbar und damit auch vor der Öffentlichkeit
legitimierbar geworden. Sie erlaubt eine
zunehmende Begrenzung des Krieges auf
die militärischen Kriegsteilnehmer unter weitgehender Schonung der Zivilbevölkerung.
Verglichen mit den zivilen Opfern des Zweiten Weltkrieges oder des Vietnam-Krieges
war die Zahl ziviler Opfer in den beiden
Golfkriegen minimal, auch wenn natürlich
jedes Opfer – ob zivil oder militärisch – ein
Opfer zu viel ist. Aber weil jede Entscheidung
über einen Krieg immer mit einer Abwägung
von Nutzen und Opfern verbunden ist, muss
dieser Gesichtspunkt auch in der ethischen
Abwägung eine Rolle spielen.
Die rein militärisch erfolgreichen amerikanischen Kriege in Afghanistan und Irak, die
in Folge des 11. September geführt wurden,
legen jedenfalls die Vermutung nahe, dass
sie nur der Auftakt zu einer Reihe weiterer
militärischer Interventionen sind. Alles andere
wäre aus amerikanischer Perspektive geradezu unlogisch. Hier stellen sich nun auch aus
christlicher Sicht die ethischen Fragen der Le-
gitimität, deren Beantwortung sehr schwierig
und entsprechend kontrovers sein wird.
Wie schwierig die ethische Diskussion
über diese Fragen ist, wird bei einem Vergleich der Kriege im ehemaligen Jugoslawien oder aktuell im Kongo mit den vergangenen beiden amerikanischen „Kriegen
gegen den Terror“ in Afghanistan und im
Irak deutlich. Wird auf der einen Seite sehr
rasch der hysterische Ruf nach militärischem
Eingreifen in geographisch fernen Konflikten
laut, so entwickelt sich ebenso rasch eine
Fundamentalopposition gegen Kriege mit
amerikanischer Beteiligung.
George W. Bush und der Krieg
gegen den Terror
Die Frage nach der Legitimität des Krieges
gewinnt in der aktuellen Debatte um die
amerikanische Außenpolitik eine besondere
theologische Brisanz. Wenn sogenannte
Schurkenstaaten, Tyrannen und Despoten
Kriege führen, dann ist es müßig, theologische Überlegungen anzustellen, weil es keine gemeinsame Überzeugungsebene gibt.
Solche Kriege stellen ein Phänomen der
vergehenden Weltzeit dar (siehe unten), die
es zwar nicht einfach hinzunehmen gilt. Jedoch ist die Hoffnung auf deren Ausrottung
eine Utopie.
Die theologische Frage nach der Legitimität eines Krieges stellt sich dagegen bei
Staaten, die eine christliche Tradition haben,
eine in ihrer Mehrheit christliche Bevölkerung und möglicherweise eine Regierung,
die sich dem christlichen Glauben verpflichtet weiß. Die Frage ist deshalb momentan
von besonderer Aktualität, da sich George
W. Bush wie kaum ein zweiter Präsident
auch in der Öffentlichkeit als praktizierender
Christ bekennt. Hier stellt sich die schwierige
Frage, zwischen Glaubens- und Vernunftentscheidung, aber auch die zwischen dem
Verhältnis von Glaube- und Vernunftentscheidung.
An dieser Stelle ist es deshalb sinnvoll,
einmal einen Blick in die Bibel und die Kirchengeschichte zu werfen.
II. Die Bibel, der Christ
und der Krieg
Was sagt die Bibel zur Frage des Rechts
oder Unrechts des Krieges? Die Antwort
mag überraschen: So viel auf der einen
Seite vor allem im AT von Kriegen die Rede
ist, so wenig Orientierungspunkte gibt es
auf der anderen Seite in der Bibel zu der
Frage, wie ein Christ sich grundsätzlich zum
Krieg stellen soll, einmal davon abgesehen,
dass er natürlich immer um Frieden bitten
und das Seine dafür tun sollte. Aber was
ein christlicher Verantwortungs- und Entscheidungsträger, wie z.B. George W. Bush,
im Zweifelsfall zu tun hat, wird von der
Bibel nicht beantwortet.
Die zahlreichen Kriege, von denen im AT
berichtet wird, sind meistens „heilige Kriege“, die von Gott geboten und im letzten
auch von ihm geführt wurden (1Sam 21,6;
Ri 4,14-16; 5,11f.; 5Mo 1,30; Jos 10,14;
23,10 u.ö.). In 4Mo 21,14 ist sogar von
einem Buch der „Kriege des Herrn“ die
Rede. Israel und seine Führer waren hier
21
Werkzeuge von Gottes heilsgeschichtlichem Handeln. Allerdings konnte Gott
auch mit Hilfe fremder Völker gegen Israel
Krieg führen (Am 2,13-16 u.ö.).
Aus der Perspektive des NT können wir
das göttliche Führen und Zulassen von
Kriegen nur als Ausdruck des schon jetzt
einhergehenden Gerichtes Gottes verstehen. Gott straft den ungehorsamen und
gegenüber seinem Wort verschlossenen
Menschen auch mit der Geißel des Krieges
und bringt gleichzeitig seine Heilsgeschichte mit Israel voran.
hannes der Täufer verbietet den Soldaten,
die sich an ihn wenden (Lk 3,14), nur illegitime und willkürliche Gewalt anzuwenden.
D.h., dass sie nicht zu marodierenden Räubern werden und sich ansonsten mit ihrem
Sold begnügen sollen.
Gott und die Kriege Israels
Für unsere Frage nach dem Recht bzw.
Unrecht eines Krieges tragen alle die alttestamentlichen Kriegsgeschichten aber
nichts aus, weil sich in Jesus Christus das
heilsgeschichtliche Handeln Gottes und
damit die heilsgeschichtliche Situation an
sich fundamental gewandelt haben. Die
Kriege Gottes im AT sind sozusagen ein
„Spezialfall“ des Krieges (H. Thielicke), weil
Israel durch die Erwählung von Gott aus
der Völkergemeinschaft herausgehoben
wurde und sich als die einzige echte „Theokratie“ (Gottesherrschaft) jeder Analogie zu
anderen Völker und ihren Kriegen entzieht.
Wollte man die Situation des alttestamentlichen Israel etwa auf die Gemeinde übertragen, so käme man unwillkürlich zu einer
Kreuzzugstheologie.
22
Jesus, Petrus, Paulus und
die Soldaten
Der Krieg als Kennzeichen der
vergehenden Weltzeit
Auch im NT finden wir keine klare Weisung zu dieser Frage. Das Thema „Krieg“
wird unter unserer Fragestellung nie angesprochen. Wir finden lediglich einige Hinweise am Rande, die uns eine dünne Spur
weisen. So verliert Jesus bei der Begegnung
mit dem Hauptmann von Kapernaum kein
Wort über dessen Beruf, der selbstverständlich im Konfliktfall die Gewaltanwendung
mit einschloss (Mt 8,5-13par; vgl. auch
Petrus und Paulus bei ihrer Begegnung
mit militärischen und politischen Entscheidungsträgern in Apg 10 und 13). Auch Jo-
Ansonsten stehen alle Jesusworte, die auf
den Verzicht auf Gewaltausübung, ja sogar auf die Feindesliebe zielen, in keinem
Zusammenhang mit der Frage des Krieges
und der Entscheidung eines christlichen
Staatsmannes. Sie betreffen lediglich das
Verhalten eines Christen zu seinem Nächsten. Diese Worte haben nur im Raum der
Gemeinde und der Kirche ihre Gültigkeit,
nicht jedoch im Raum des Politischen.
Will man die Aussagen des NT auf einen
Nenner bringen, so lässt sich nur sagen,
dass die Kriege eine immer mehr zuneh-
mende Gegebenheit der gefallenen und
auf ihr Ende zueilenden Weltzeit sind (vgl.
Mk 13,7). Kriege sind für Jesus geradezu
ein verdichteter Ausdruck dieser Weltzeit,
von der sich die Gemeinde durch ihr Verhalten kontrastieren soll (Mk 10,42). Diese
Situation wird sich grundlegend erst mit
der Vollendung des Reiches Gottes ändern
(Offb 21,3f.).
Antworten aus der Alten Kirche
Lassen sich der Bibel keine eindeutigen
Weisungen für eine christliche Position zur
Frage des Krieges entnehmen, so umso
mehr der Theologiegeschichte. In der Zeit
der Alten Kirche wurde die Beteiligung von
Christen an Kriegen durch Theologen wie
Tertullian und Origenes radikal abgelehnt:
Die Christen streiten zwar auch treu für den
Kaiser, aber eben nicht mit Waffen, sondern mit Frömmigkeit und Gebet, schreibt
Origenes (Contra Celsum 5,33; 8,73).
Allerdings war all diesen Äußerungen die
Situation eines christlichen Staatsmannes
und Entscheidungsträgers noch fremd.
Was von den Herrschenden über Krieg und
Frieden zu entscheiden war, kümmerte jene
frühen christlichen Denker noch nicht. Für
sie und ihre Zeit genügte es, ethische Regelungen und seelsorgerliche Anweisungen
für die kleine christliche Minderheit und
hier insbesondere für neubekehrte Soldaten
zu finden.
Sind Christen Schmarotzer der
Verteidigungsgesellschaft?
Entsprechend überfordert waren sie mit
der Kritik des heidnischen Philosophen
Celsus (um 180 n.Chr.). Dieser warf den
Christen vor, dass sie aus staatlicher Sicht
eigentlich Schmarotzer seien, weil sie den
Herrschern, die das Reich und den Frieden sichern, nicht nur die Verehrung im
Kaiserkult verweigerten, sondern auch die
Gefolgschaft im Kriegsfalle versagten, und
sich somit den Lasten, die alle Bürger zu
tragen hätten, entzögen. Wenn alle Römer
Christen werden würden, so folgerte Celsus, müsse das Chaos triumphieren, weil
dann niemand mehr bereit wäre, für Recht
und Ordnung zu sorgen.
Auf diese herausfordernde Kritik war
die christliche Theologie nicht vorbereitet,
weil sie ein christliches Weltreich noch gar
nicht denken konnte. So konnte Origenes
auf den Gedanken eines Staatswesens,
in dem alle Bürger Christen sind, nur antworten: „Würden alle Römer den Glauben
annehmen, so würden sie durch Beten und
Flehen den Sieg über ihre Feinde gewinnen
– oder vielmehr, sie würden überhaupt keine Feinde mehr zu bekämpfen haben, da
die göttliche Macht sie bewahren würde“
(Contra Celsum 8,701).
Augustin und das grundsätzliche
Recht zum Krieg
Eine reifere Antwort konnte erst Augustin
geben, der sich freilich bereits mit der (ernüchternden) Realität eines Staates unter
einem christlichen Regenten und mit einer
zumindest nominell christlichen Bevölkerungsmehrheit auseinandersetzen konnte,
wozu es durch die Konstantinische Wende
gekommen war. Er geht von einem grundsätzlichen Recht des Krieges aus, ohne
diesen freilich zu verherrlichen: „Glaube
nicht, dass niemand Gott gefallen könne,
der Kriegsdienste leistet. Leistete solche
doch der heilige David, dem der Herr ein
solch herrliches Zeugnis gibt. Das gleiche
taten viele Gerechte in jener Zeit (ep 189
ad Bonif 4).“ Der Krieg dient nach Augustin
ausschließlich der Gewinnung des Friedens
und hat nur darin sein Recht und seine
Legitimität.
Luther und die zwei Reiche
Eine wirklich umfassende Lösung des
Problems gewann erst Martin Luther durch
seine Zwei-Reiche-Lehre. Danach erfährt
die dem Christen gebotene Liebe im „Reich
zur Linken“, d.h. dem Reich weltlicher
Herrschaft und weltlicher Obrigkeit, eine
Brechung. In der weltlichen Herrschaft, d.h.
z.B. im Amt des Staatsmannes, aber auch
im Amt des Bürgermeisters oder des Polizisten, Soldaten oder Richters, kann die Liebe
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die Gestalt der Gewalt annehmen, um
den Nächsten vor den Zugriffen des Bösen zu bewahren. Für sich selbst mag der
Christ zwar leiden können, aber er darf
seinen Nächsten nicht einfach dem Leid
überlassen. Dem Staat ist nach Luther mit
Berufung auf Röm 13 das „Schwertamt“
gegeben, das „nicht das geringste Stück
göttlicher Barmherzigkeit“ ist, weil es indirekt jenem anderen, ungleich größeren
Ziel des Reiches Gottes dient. Dieses
dem Staat übertragene Amt des Schwertes findet nach innen seinen Ausdruck
v.a. in der Polizei- und Justizgewalt, nach
außen hin aber im Recht des Krieges
gegenüber den Staat selbst bedrohende
Mächte.
Der Krieg als eine Form der
Nächstenliebe
In dieser Perspektive kann auch die
Führung eines Krieges unter dem Aspekt
der Liebe erscheinen: „Ob’s nun wohl
nicht scheinet, daß Würgen und Rauben
ein Werk der Liebe ist, derhalben ein
Einfältiger denkt, es sei nicht ein christlich
Werk, zieme auch einem Christen nicht
zu tun, so ist’s doch in der Wahrheit
auch ein Werk der Liebe. Denn gleich
wie ein guter Arzt, wenn die Seuche so
böse und groß ist, daß er muß Hand,
Füße oder Augen lassen abhauen oder
verderben, auf daß er den Leib errette.
So man ansiehet das Glied, das er abhauet, scheint es, er sei ein greulicher,
unbarmherziger Mensch. So man aber
den Leib ansieht, den er will damit erretten, so findet sich’s in der Wahrheit, daß
er ein trefflicher treuer Mensch ist und
ein gut christlich ... Werk tut. Also, auch
wenn ich dem Kriegsamt zusehe, wie es
die Bösen straft, die Unrechten würgt
und solchen Jammer anrichtet, scheint es
gar ein unchristlich Werk zu sein und ...
wider die christliche Liebe. Sehe ich aber
an, wie es die Frommen schützt, Weib
und Kind, Haus und Hof, Gut und Ehre
und Friede damit erhält und bewahrt, so
findet sich’s, wie köstlich und göttlich das
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Werk ist ... Denn wo das Schwert nicht
wäre und Frieden hielte, so müßte es alles
durch Unfriede verderben ... Derhalben
ist ein solcher Krieg nichts anderes, denn
ein kleiner kurzer Unfriede, der einem
ewigen unermeßlichen Unfrieden wehrt“
(WA 19, 625f.).
Luthers Antwort auf die ethische Problematik des Krieges, die er in seiner ZweiReich-Lehre gewonnen hat, ist bis heute
oft diskutiert, kritisiert, bestritten und abgelehnt worden, aber es gibt kein alternatives Konzept, das theologisch und ethisch
auch nur annähernd so schlüssig wäre,
wie die Lösung Luthers. Allerdings ergeben sich gerade von der Zwei-ReicheLehre im Blick auf die Fragestellungen des
21. Jahrhunderts und die aktuelle Diskussion über die amerikanische Außenpolitik
gegenüber der „Achse des Bösen“ einige
wichtige Fragen.
III. Überlegungen und
Kriterien für die Gegenwart
Diese abschließenden Überlegungen
sollen als Diskussionsbeitrag verstanden
werden. Sicher wird es Leser/innen geben,
die anders argumentieren würden und dies
mit guten Gründen. Mir erscheinen folgende Überlegungen und Beurteilungskriterien
als sehr wesentlich:
Vorsicht vor der Vermischung der
beiden Reiche
Ein theologisches Grundproblem ergibt
sich immer dann, wenn bei der Frage der
Legitimität eines Krieges politisch-rationale
und theologisch-biblische Argumente miteinander vermengt werden.
So ist die auf der politischen Vernunft
basierende Begründung eines Präventivkrieges mit der eigenen Bedrohung durch
Massenvernichtungswaffen des Gegners
aus theologischer Sicht akzeptabel, zumindest jedoch diskutierbar. Man kann freilich
auch hier zu sehr unterschiedlichen Antworten gelangen, abhängig von der Bewertung
der geltend gemachten Bedrohung und
ihrer Beweisbarkeit. Entscheidend ist freilich, dass es hier um reine Vernunftgründe
gehen muss und das Kriegsziel den bzw.
die Nächsten (die für den amerikanischen
Präsidenten natürlich zunächst seine eigenen Staatsbürger sind) vor Schaden
zu schützen. Das heilsgeschichtliche Ziel
Gottes kann mit dem Instrument des Krieges dagegen nicht erreicht werden. Gottes
Geschichtswille ist einzig in Jesus Christus
offenbar, nirgends sonst (vgl. 1Tim 2,4).
Berufung Gottes oder ultima ratio?
Schwierig wird es in dem Moment, in
dem ein Krieg direkt mit dem Willen Gottes
begründet und mit einer Art göttlicher Berufung verbunden wird. Hier wird das theologische Eis dünn. Denn was uns biblisch
offenbart wird, ist der Heilswille Gottes,
während sein geschichtliches Handeln uns
Menschen immer verborgen bleibt. Ein
Krieg kann daher allenfalls dem indirekten
Willen Gottes entsprechen, der das weltliche Reich eingesetzt hat, um dem Chaos
zu wehren, aber nie auf einem direkten
Gebot beruhen. Letzteres würde geradezu
einem Befehl zum Kreuzzug gleichkommen. Schon die historischen Kreuzzüge des
Mittelalters und ihre theologische Begründung haben bis in unsere Tage hinein eine
verheerende Wirkung in der Wahrnehmung
des christlichen Glaubens gehabt. Der
Krieg kann auch für den Christen nur eine
ultima ratio sein, d.h. eine letzte, von
der (von Gott gegebenen) Vernunft, nicht
jedoch von einer Offenbarung Gottes(!),
gebotene Maßnahme in einer Situation,
die ohne Schuld vor Gott und vor Menschen nicht mehr gelöst werden kann. Die
25
Beurteilung des Krieges muss von dem
Bewusstsein geprägt sein, dass er „eine
ungleich höhere Form von Verdichtung der
Weltschuld darstellt als der normale, das
Werk des Friedens treibende Staat“ (Thielicke, Theol. Ethik, Bd. 2/2, 522).
Die Wahrheit und der Kriegsgrund
Entscheidend für eine ethische Rechtfertigung des Krieges als ultima ratio, d.h.
als ein letzter von der Vernunft gebotener
Ausweg, ist freilich die umfassende Information über die jeweiligen Gründe. Bei
der Begründung eines Krieges muss aus
christlicher Sicht auf ein Höchstmaß an
Wahrhaftigkeit wert gelegt werden. Dass
im Krieg gelogen wird, gehört zur inneren
Gesetzmäßigkeit jedes Krieges dazu. Die
Lüge im Krieg bzw. die Desinformation, wie
es heute euphemistisch umschrieben wird,
ist Teil jenes „Kriegens und Würgens“ von
dem Luther sprach. Entscheidend und von
höchster ethischer Relevanz ist aber die
Wahrhaftigkeit bzw. Lüge vor dem Krieg.
Die Begründung eines Krieges kann nicht
auf einer Lüge basieren, weil davon die
Legitimität eines Krieges selbst in Frage
gestellt wird.
26
Die Vernunft als Grenze und Kritik
der Utopie
Es gibt noch viele andere drängende
Fragen, die hier gestellt werden müssten
und die dringend auf Antworten warten.
So könnte man fragen, ob es angesichts
der globalen Zusammenhänge nicht ein
Gebot zum Einschreiten gegen Tyrannen
und Despoten gibt. Umgekehrt stellt sich
gleichwohl die Frage, wer das Recht besitzt,
einen Diktator als Tyrannen oder Despoten
zu definieren und gegebenenfalls seine
Absetzung zu verlangen oder gar herbeizuführen. Offen ist auch die Frage nach
der internationalen Gültigkeit der Menschenrechte einerseits und ihrer nationalen
bzw. religiösen Interpretation andererseits.
Welche Werte können wirklich eine internationale Gültigkeit beanspruchen? Gibt es
eine für alle Völker und Kulturen am besten geeignete Staatsverfassung und wenn
ja, ist das automatisch die Demokratie?
Schließlich bleibt immer offen, was von
welchen Werten nach einem Krieg noch
übrig bleibt, welche moralischen Kriegsziele
erreicht werden.
Dies alles muss auf der Basis der
menschlichen Vernunft abgewogen werden.
Zur Durchsetzung einer politischen, moralischen oder gar theologisch-geistlichen
Utopie taugt der Krieg dagegen nicht.
www.bengelhaus.de
9. November 2oo3
FESTGOTTESDIENST
10.00 Uhr
„Brannte nicht unser Herz … ?“
Lk 24,13-35
Predigt von Dr. Rolf Hille
11.15 Uhr
ABH-THEATER
„Gott spricht und es geschieht“
12.30 Uhr
MITTAGSPAUSE
13.30 Uhr
MUSIKALISCHER AUFTAKT
14.00 Uhr
FESTVERSAMMLUNG
IN DER FILDERHALLE
LEINFELDEN-ECHTERDINGEN
DAS JAHRESFEST IM
JAHR DER BIBEL:
GOTTES
WORT BLEIBT
mit Lehrerbeitrag:
„Wir sind nicht klugen Fabeln gefolgt“
FESTVORTRAG
von Peter Strauch,
Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz und Präses
des Bundes Freier evangelischer Gemeinden
„Dein Wort ist meine Speise“
Albrecht-Bengel-Haus
Ludwig-Krapf-Str. 5 I 72072 Tübingen
Tel.: 07071-70050 I Fax.:700540
[email protected]
Anfahrt
Die Filderhalle befindet
sich nahe der S-Bahn
Haltestelle „Leinfelden“
(mit der S2 oder S3, bzw.
der U5 von Stuttgart Hbf
her erreichbar). PKW‘s
folgen der Ausschilderung
„Filderhalle“
KI N D E R P R O G R A M M
während der gesamten Veranstaltung
27
Postvertriebsstück
10403
Albrecht-Bengel-Haus
Ludwig-Krapf-Str. 5
72072 Tübingen
Entgelt bezahlt
KRIEG UND FRIEDEN
AUS AMERIKANISCHER SICHT
Mark Seifrid ist Professor für Neues Testament am Seminar der
„südlichen Baptisten“ in Louisville, Kentucky. Er war als Doktorand mit seiner Frau Janice ein Studienjahr im Bengelhaus.
Der Friede, der dem kalten Krieg gefolgt ist, war all
zu kurz. Nur ein Jahrzehnt nach dem Fall der Berliner
Mauer steht die Welt in der Bedrohung eines Terrorismus, den wir vorher kaum erahnen konnten. Wer
weiß, was noch kommt? Und, viel wichtiger, wie soll
man auf diese Situation reagieren?
Solche Angriffe ganz zu verhindern ist nicht
denkbar. Irgendwann wird es irgendeiner Gruppe
gelingen, irgendwo Tod und Schäden anzurichten,
vielleicht in einem noch größeren Maß als bisher. Mit
dieser neuen Realität muss man leben. Damit zu leben darf aber nicht heißen, nichts zu tun. Im Gegenteil, wir müssen alles tun, um solche Anschläge möglichst zu verhindern. So sehen es auf jeden Fall viele
Amerikaner. Aus dieser Perspektive heraus entstand
der Aktivismus, der zum Irak-Krieg geführt hat. Die
Anschläge vom 11. September haben New York und
Washington, nicht Paris und Berlin getroffen. Wenn
die Lage umgekehrt wäre, wären vielleicht auch die
politischen Positionen anders als sie heute sind. Natürlich beantworten solche Überlegungen die wichtige
Frage nicht: Kann man als Christ Krieg überhaupt,
und den Irak-Krieg im Besonderen, rechtfertigen? Für
viele Amerikaner ist dies keine theoretische Frage.
Unsere Freunde haben ihre Söhne und Töchter in den
Krieg geschickt. Viele junge Christen, mit nur achtzehn oder zwanzig Jahren, sind in den Militärdienst
gegangen. Als Christen und Nachfolger Jesu hoffen
wir auf Frieden und sind zum Stiften des Friedens verpflichtet (Mt 5,9). Wir wissen aber auch: Jesus selber
hat angekündigt, dass es in dieser verfallenen Welt
Kriege geben wird bis er wiederkommt (Mt 24,6-7).
Das Neue Testament macht weiter klar, dass die Ob-
rigkeit Autorität besitzt für die berechtigte Anwendung
von Gewalt um des Guten willen (Röm 13,1-7). Viele
Amerikaner sind der Auffassung, es sei besser jetzt
einen kleinen Krieg zu führen, als einen späteren,
größeren Krieg, der übermässiges Leiden verursacht.
Hier steht man in einer Tradition christlichen Denkens
über Krieg, die von Augustinus über Luther bis in die
Gegenwart reicht. Hierin liegen aber auch die strittigen Fragen: Ist die Bedrohung durch die irakische
Regierung so massiv und unmittelbar gewesen, dass
ein Krieg berechtigt war? Wo sind eigentlich die Massenvernichtungswaffen, die diese Regierung einst besessen und gegen sein eigenes Volk verwendet hatte?
Bis diese Waffen gefunden worden sind, gibt es starke
Meinungsverschiedenheiten über die Berechtigung
des Krieges. Es kann wohl sein, dass diese Sache nebulös bleibt bis weit in die Zukunft.
Als Christen wissen wir aber, dass Gott auch im
Nebel regiert. Er wirkt seine guten Zwecke trotz unserer eigenen Vorstellungen und ohne unseren Rat.
Viele amerikanische Soldaten sind im Krieg und durch
die Konfrontation mit dem Tod neu ins Nachdenken
über den Glauben gekommen. Als Christen müssen
wir um des Evangeliums willen hoffen, dass durch den
Krieg im Irak und durch den Krieg gegen Terrorismus
insgesamt – obwohl er eine Störung des Friedens ist
– ein größerer, längerer, stabilerer Frieden gestiftet
werden kann.
Wir müssen vor allem beten, dass der Herr aller
Nationen auch jenseits fehlbarer menschlicher
Überlegungen das friedliche Reich seines Sohnes
ausbreitet, bis es mit seiner Wiederkunft in Herrlichkeit kommt.
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