Statistik I für Statistiker, Mathematiker und Informatiker Gerhard Tutz, Jan Ulbricht Lösungen zu Blatt 7 WS 05/06 • Ausgangspunkt der Wahrscheinlichkeitstheorie ist die Betrachtung von Zufallsexperimenten. • Definition Zufallexperiment: Unter einem Zufallsexperiment versteht man einen Versuch (im weitesten Sinne des Wortes), bei dem verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Ergebnisse ω möglich sind. Welches dieser Ergebnisse eintreten wird, ist vor Beginn des Zufallsexperimentes ungewiß. • Menge aller möglichen Versuchsausgänge ω wird im Ergebnisraum Ω zusammengefaßt. • In der Regel interessieren nicht einzelne Versuchsausgänge selbst, sondern bestimmte Zusammenfassungen (sog. Ereignisse) • Definition Ereignis: Ein Ereignis A ist eine Teilmenge des Ergebnisraums Ω A⊆Ω • Es gibt drei Sonderformen von Ereignissen: (a) Elementarereignis: {ω} ⊂ Ω (einelementige Teilmenge) (b) sicheres Ereignis: A = Ω (Ereignis tritt bei jedem Versuchsausgang ein) (c) unmögliches Ereignis: A = ∅ (Ereignis tritt bei keinem Versuchsausgang ein) • Betrachte zwei Ereignisse A, B ⊂ Ω. Mögliche Beziehungen zwischen A und B sind – A ⊆ B (Ereignis A zieht Ereignis B nach sich, d.h. tritt A ein, so tritt auf B ein) – A = B (Das Eintreten des einen Ereignisses zieht das Eintreten des anderen Ereignisses nach sich (A ⊆ B und B ⊆ A)) • Aus gegebenen Ereignissen A, B ⊆ Ω lassen sich durch Mengenoperationen neue Ereignisse bilden: – A ∪ B: Vereinigung von A und B (Das Ereignis A ∪ B tritt ein, falls A oder B eintritt, oder beide) – A∩B: Durchschnitt von A und B (Das Ereignis A∩B tritt ein, falls A und B beide eintreten) – A: Komplementärereignis zu A (A tritt genau dann ein, wenn A nicht eintritt) – A \ B = A ∩ B: Differenzereignis von A und B (A \ B tritt genau dann ein, wenn A eintritt und B nicht eintritt). – Wenn A ∩ B = ∅ gilt, so heißen A und B disjunkt. • Folgerungen: Es gilt stets – A∩A=∅ – A∪A=Ω • Frage: Welche bzw. wieviele Ereignisse lassen sich aus den Elementen eines Ergebnisraumes bilden? • Lösung: Zusammenfassung aller (möglichen) Ereignisse in einem Mengensystem A := {A : A ⊆ Ω} • Einfachste und umfassendste Variante wäre, die Potenzmenge P(Ω) (= Menge aller Teilmengen) vom Ergebnisraum Ω zu betrachten A = P(Ω) • Bemerkung: |P(Ω)| = 2|Ω| • Problem: Bei überabzählbar vielen Elementen von Ω ist die Potenzmenge zu umfangreich. Es wäre in diesem Fall nicht möglich, Wahrscheinlichkeiten auf allen Ereignissen vernünftig zu definieren. • Lösung: Man beschränkt sich auf eine Menge von Teilmengen von P(Ω), die hinreichend reichhal” tig“ (= alle interessierenden Ereignisse sind enthalten) ist, sog. Algebren. • Definition: Ein Mengensystem A ⊆ P(Ω) heißt Algebra (in Ω), falls gilt: (i) Ω ∈ A (ii) A, B ∈ A =⇒ A ∈ A, A ∪ B ∈ A • Erweiterung auf unendliche Vereinigungen (notwendig für überabzählbaren Ergebnisraum) führt zum Begriff der σ-Algebra. (Begriff, Eigenschaften und Folgerungen von σ-Algebren ist Gegenstand der Vorlesung Statistik III für Statistiker“.) ” • Vorteil einer σ-Algebra A: Auf dem Meßraum (Ω, A) kann ein Maß (in unserem Fall ein Wahrscheinlichkeitsmaß) definiert werden. Lösung Aufgabe 28 • Aufgabe a) Ergebnisraum: Ω = {ω = (M1 , M2 , M3 )| Mi ∈ {Ai , Ai }, i = 1, 2, 3} mit Mi : Maschine i, Ai : Maschine i fällt nicht aus, i = 1, 2, 3. • Aufgabe b) Darstellung der Ereignisse A bis E mit Hilfe der Elementarereignisse Ai und Ai : A = A1 ∪ A2 ∪ A3 = (A1 ∩ A2 ∩ A3 ) ∪ (A1 ∩ A2 ∩ A3 ) ∪ (A1 ∩ A2 ∩ A3 ) ∪ (A1 ∩ A2 ∩ A3 ) ∪(A1 ∩ A2 ∩ A3 ) ∪ (A1 ∩ A2 ∩ A3 ) ∪ (A1 ∩ A2 ∩ A3 ) B = A1 ∩ A2 ∩ A3 C = A1 ∩ A2 ∩ A3 D = A1 ∩ A2 ∩ A3 E = (A1 ∩ A2 ∩ A3 ) ∪ (A1 ∩ A2 ∩ A3 ) ∪ (A1 ∩ A2 ∩ A3 ) Die erweiterte Darstellung von Ereignis A ergibt sich aus der Überlegung, daß genau dann wenigstens eine Maschine nicht ausfällt, wenn mindestens eine Maschine funktionsfähig bleibt. • Aufgabe c) Aus der erweiterten Darstellung von Ereignis A und den Vergleich von C und E erkennt man folgende Beziehungen zwischen den Ereignissen B ⊂ A C ⊂ A E ⊂ A C ⊂ E Weiterhin kann man mit Hilfe der de Morganschen Regeln zeigen D = A1 ∩ A2 ∩ A3 = A1 ∪ A2 ∪ A3 =⇒ D = A1 ∪ A2 ∪ A3 =⇒ D = A Lösung Aufgabe 29 Es gilt x∈ n [ n [ ! ⇐⇒ x ∈ / Ai i=1 ! Ai i=1 ⇐⇒ x ∈ / Ai ∀ i = 1, . . . , n ⇐⇒ x ∈ Ai ∀ i = 1, . . . , n n \ ⇐⇒ x ∈ Ai . i=1 Wenn x ein Element von jedem Komplementärereignis ist, so muß x genau in der Schnittmenge der Komplementärereignisse liegen, für die Ai * Aj , ∀i 6= j gilt, also genau der Durchschnittsmenge aller Komplementärereignisse. Zum Beweis der zweiten Regel verwenden wir zunächst die erste Regel (s.o.) mit den Komplementärereignissen Ai , i = 1, . . . , n und erhalten n n [ \ Ai = Ai . (1) i=1 i=1 Da Ai = Ai , ist (1) äquivalent zu n [ Ai = n \ Ai . (2) i=1 i=1 Bilden wir auf beiden Seiten von (2) die Komplementärereignisse, so erhalten wir n [ Ai = n \ ! Ai . i=1 i=1 Lösung Aufgabe 31 Theorie: • Kolmogorovsche Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie: Als Wahrscheinlichkeitsverteilung P (·) auf einer σ-Algebra A von Teilmengen einer nichtleeren Menge Ω bezeichnet man jede Abbildung P mit (i) 0 ≤ P (A) ≤ 1, ∀ A ∈ A (ii) P (Ω) = 1, P (∅) = 0 (iii) Für jede abzählbar unendliche Folge {Ai }∞ i=1 aus A mit Ai ∩ Aj = ∅, für i 6= j, gilt P( ∞ [ i=1 Ai ) = ∞ X P (Ai ). i=1 • Sind Ω eine nichtleere Menge, A eine σ-Algebra von Teilmengen von Ω und P eine Abbildung von A in [0, 1] mit den Eigenschaften (i)-(iii), so heißt das Tripel (Ω, A, P ) Wahrscheinlichkeitsraum. • Folgerungen: (i) P (A) = 1 − P (A) (ii) P (A ∩ B) = P (A) − P (A ∩ B) (iii) P (A ∪ B) = P (A) + P (B) − P (A ∩ B) • Beweis: – (i): Es gilt A ∪ A = Ω, A und A sind disjunkt. Daraus folgt P (Ω) = P (A ∪ A) = P (A) + P (A) =⇒ P (A) = P (Ω) − P (A) = 1 − P (A) – (ii) Idee: A = (A ∩ B) ∪ (A ∩ B). A ∩ B und A ∩ B sind disjunkt. Daher folgt aus dem 3. Axiom: P (A) = P (A ∩ B) + P (A ∩ B) =⇒ P (A ∩ B) = P (A) − P (A ∩ B) bzw. =⇒ P (A ∩ B) = P (A) − P (A ∩ B) – (iii) Idee: A ∪ B = ((A ∩ B) ∪ (A ∩ B)) ∪ ((B ∩ A) ∪ (B ∩ A)) = (A ∩ B) ∪ (A ∩ B) ∪ (B ∩ A) =⇒ P (A ∪ B) = P (A ∩ B) + P (A ∩ B) + P (B ∩ A) = P (A ∩ B) + P (A) − P (A ∩ B) + P (B) − P (A ∩ B) = P (A) + P (B) − P (A ∩ B) Zur eigentlichen Aufgabe: • geg: P (A) = 0.3, P (B) = 0.5 • Aufgabe a) – ges: Wahrscheinlichkeit, daß A oder B eintreten – Lös: P (A ∪ B) = P (A) + P (B) − P (A ∩ B) = 0.3 + 0.5 − 0 = 0.8 • Aufgabe b) – ges: Wahrscheinlichkeit, daß A und B eintreten – Lös: P (A ∩ B) = P (A) − P (A ∩ B) = 0.3 − 0 = 0.3 • Aufgabe c) – ges: Wahrscheinlichkeit, daß A und B eintreten – Lös: P (A ∩ B) = 0 Lösung Aufgabe 33 • Annahme: Alle Antworten werden mit gleichen Wahrscheinlichkeiten gegeben. Da wir einen endlichen Ergebnisraum haben, können wir den Sachverhalt als Laplace-Experiment modellieren. • Als Ergebnisraum wählen wir Ω = {ω = (ω1 , . . . , ω6 )|ωi ∈ {1, 2, 3, 4}, i = 1, . . . , 6)}, mit ωi : gegebene Antwort auf Frage i, i = 1, . . . , 6. • Für jede der 6 Fragen sind 4 Antworten möglich. Die Mächtigkeit von Ω ergibt sich damit als Variation mit Wiederholung (die j-te Antwortmöglichkeit kann bei mehr als einer Frage gewählt werden) |Ω| = V W (4, 6) = 46 • Wir definieren die folgenden Ereignisse – V : ”(genau) vier Fragen richtig” – F : ”(genau) fünf Fragen richtig” – S: ”(genau) sechs Fragen richtig” – B: ”Klausur bestanden” • Die Ereignisse V , F und S sind nach ihren Definitionen paarweise disjunkt. • Für die richtige Beantwortung aller sechs Fragen gibt es genau eine mögliche Kombination (nämlich alle richtigen Antworten). Daraus folgt |S| = 1. • Bei fünf richtig beantworteten Fragen bleiben für die sechste (falsch beantwortete) Fragen 3 Antwortmöglichkeiten übrig. Um 5 richtig beantwortete Fragen aus 6 Fragen auszuwählen müssen 5 aus 6 ohne Beachtung der Reihenfolge und ohne Wiederholung kombiniert werden. Für die Mächtigkeit von F ergibt sich 6 5 |F | = 1 · 3 · = 18 5 • Für die Mächtigkeit von V ergibt sich analog |V | = 14 · 32 · 6 = 135 4 • Damit können wir P (B) berechnen. Es gilt P (B) = P (V ∪ F ∪ S) = P (V ) + P (F ) + P (S) |V | |F | |S| + + = |Ω| |Ω| |Ω| 135 18 1 = + + 4096 4096 4096 154 = = 0.0376 4096 • Mit einer Wahrscheinlichkeit von P (B) = 0.0376 ist die Klausur bestanden. Lösung Aufgabe 34 • Das Experiment läßt sich wie folgt beschreiben: Es werden 3 aus n Kugeln gezogen, jede Kugel kann mehrfach gezogen werden. • Wir definieren den Ergebnisraum daher wie folgt Ω = {ω = (ω1 , ω2 , ω3 )| ωi ∈ {1, . . . , n}, i = 1, 2, 3}, mit ω : Tripel der gezogenen Kugeln (Damen). • Da die Reihenfolge der gezogenen Kugeln berücksichtigt werden muß und Wiederholungen zugelassen sind, ergibt sich |Ω| = V W (n, 3) = n3 • Wir definieren folgende Ereignisse: Ai : Der Scheich verbringt den Abend mit i Frauen, i = 1, 2, 3 • Für A1 ergibt sich A1 = {ω ∈ Ω| ω1 = ω2 = ω3 } =⇒ |A1 | = n. • Für A3 ergibt sich A3 = {ω ∈ Ω| ωi 6= ωj , i 6= j, i, j = 1, 2, 3} • Die Mächtigkeit von A3 kann man sich folgendermaßen herleiten. – Exp.1: Wähle ω1 =⇒ n Möglichkeiten – Exp.2: Wähle ω2 aus den verbliebenen Kugeln =⇒ (n − 1) Möglichkeiten – Exp.3: Wähle ω3 aus den verbliebenen Kugeln =⇒ (n − 2) Möglichkeiten Es handelt sich daher um eine Variation ohne Wiederholung: |A3 | = V (n, 3) = n! = n(n − 1)(n − 2) (n − 3)! • Zur Berechnung der Mächtigkeit von A2 überlegt man sich folgendes: Es gilt |Ω| = |A1 | + |A2 | + |A3 | =⇒ |A2 | = |Ω| − |A1 | − |A3 | = n3 − n − n(n − 1)(n − 2) = n3 − n − n3 + 3n2 − 2n = 3n2 − 3n = 3n(n − 1) • Die Wahrscheinlichkeit, den Abend mit i Damen (i = 1, 2, 3) zu verbringen beträgt damit P (A1 ) = P (A2 ) = P (A3 ) = |A1 | n 1 = 3 = 2, |Ω| n n |A2 | 3n(n − 1) 3(n − 1) = = , 3 |Ω| n n2 |A3 | n(n − 1)(n − 2) (n − 1)(n − 2) = = . 3 |Ω| n n2 Lösung Aufgabe 35 • Sei Ei : Außenminister und Regierungschef von Land i stehen nebeneinander, i {DEN, F IN, N OR, SW E}. • ges: (a) P (EDEN ∩ EF IN ∩ EN OR ∩ ESW E ), (b) P (EDEN ∪ EF IN ∪ EN OR ∪ ESW E ) ∈ • Lösung: – Wir definieren folgenden Ergebnisraum: Ω = {ω = (ω1 , . . . , ω8 )|1 ≤ ωi ≤ 8, ωi 6= ωj , i 6= j, i, j = 1, . . . , 8} – Der Vektor ω gibt die Positionen der Politiker an. – Alle 8 Politiker sollen ohne Wiederholung angeordnet werden =⇒ Permutation ohne Wiederholung: |Ω| = P (8) = 8! – Ansatz zur Berechnung von |Ei1 |: Wir betrachten das erste Paar als Einheit. Es gilt dann 7 Einheiten (das Paar + die übrigen 6 Politiker) auf 7 Plätze zu verteilen. Da das Paar auch noch permutieren kann ergibt sich |Ei1 | = 2 · 7! – Ansatz zur Berechnung von |Ei1 ∩ . . . ∩ Ein |: Wir betrachten die ersten n Paare als Einheiten. Es gilt dann 8 − n Einheiten (die n Paare + die übrigen 8 − 2n Politiker) auf 8 − n Plätze zu verteilen. Da die Paare auch noch permutieren können ergibt sich allgemein |Ei1 ∩ . . . ∩ Ein | = 2n (8 − n)! (3) – Damit erhalten wir zur Lösung von Teilaufgabe (a) P (EDEN ∩ EF IN ∩ EN OR ∩ ESW E ) = |Ei1 ∩ . . . ∩ Ei4 | 24 (8 − 4)! 384 = = ≈ 0.0095 |Ω| 8! 40320 – Interpretation: Die Wahrscheinlichkeit, daß jeder Außenminister neben seinem Chef steht beträgt nur ≈ 0.0095. – Zur Lösung von Teilaufgabe (b). Es gilt: P (EDEN ∪ EF IN ∪ EN OR ∪ ESW E ) = 1 − P (EDEN ∪ EF IN ∪ EN OR ∪ ESW E ) – Wir verwenden Formel (3) und die Ein- und Ausschlußformel für abhängige Ereignisse E1 , . . . , E n : P (E1 ∪ E2 ∪ . . . ∪ En ) = n X P (Ei ) − i=1 X P (Ei1 ∩ Ei2 ) + . . . i1 <i2 + (−1)r+1 X P (Ei1 ∩ Ei2 ∩ . . . ∩ Eir ) + . . . i1 <i2 <...<ir n+1 + (−1) P (E1 ∩ E2 ∩ . . . ∩ En ) P (Die Summation i1 <i2 <...<ir P (Ei1 ∩ Ei2 ∩ . . . ∩ Eir ) läuft über alle von {1, 2, . . . , n}.) n r möglichen Teilmengen – In unserem Fall ergibt sich P (EDEN ∪ EF IN ∪ EN OR ∪ ESW E ) = = = =⇒ 1 − P (·) = 1 2 3 4 4 2 6! 4 2 5! 4 2 4! 4 2 7! − + − 1 8! 2 8! 3 8! 4 8! 1 (4 · 2 · 5040 − 6 · 4 · 720 + 4 · 8 · 120 − 1 · 16 · 24) 40320 26496 40320 13824 12 = ≈ 0.3429 40320 35 – Interpretation: Die Wahrscheinlichkeit, daß kein Außenminister neben seinem Chef steht beträgt 12 35 . (Der Einsatz eines Protokollchefs ist daher dringend zu empfehlen.)