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Bundesrat – 783. Sitzung – 29. November 2002
545
Dr. Wolfgang Peiner (Hamburg)
(A)
Wir erleben in der Steuergesetzgebung derzeit
einen Kollaps der Komplexität. Die Steuergesetzgebung hat einen Schwierigkeitsgrad erreicht, der nur
noch von Spezialisten beherrschbar ist. Der Gesetzgeber selbst hat erkennbare Mühe, wenigstens Mindeststandards einzuhalten. Nicht selten bedarf es Reparaturgesetze. Was dagegen mit dem Steuerrecht im
realen wirtschaftlichen Leben bewirkt wird, dafür
scheint jedes Gespür abhanden gekommen zu sein.
Diesem Realitätsverlust in der Sache folgt zwangsläufig der fiskalische Verlust. In den Jahren 2001 und
2002 ist es zum Totalverlust der Körperschaftsteuer
gekommen, was sicherlich selbst die größten Skeptiker überrascht hat. Hier liegt auch eine entscheidende Ursache für die deutlich sinkende Steuerquote.
Eine Steuerquote von 20,8 % wie im Jahre 2002 wäre
als Resultat einer seriösen Finanzpolitik Anlass zum
Feiern. Dazu ist aber niemandem zumute, weil sie
nicht Ergebnis solider und seriöser Finanzpolitik ist,
sondern Ausdruck einer Notlage. Sie ist ein Beleg
dafür, dass es sich die Bundesregierung zu einfach
macht, wenn sie sich zur Begründung des Defizits nur
auf den Konjunkturverlauf beruft.
Läge die Körperschaftsteuer heute auf einem normalen Entwicklungspfad bei 10 bis 15 Milliarden
Euro und hätten wir das Thema „Umsatzsteuerbetrug“ im Griff, wäre der Bund möglicherweise sogar
ohne Nachtragshaushalt ausgekommen. Doch an
Stelle der Korrektur handwerklicher Fehler will die
Bundesregierung die Steuern flächendeckend erhöhen. Das ist der falsche Ansatz.
(B)
Die Korrektur der Fehler bei der Körperschaftsteuer hätte wesentlich früher erfolgen müssen, und zwar
spätestens nach dem ersten Quartal dieses Jahres, als
die Körperschaftsteuer entgegen allen offiziellen Erwartungen bei null verharrte. Die Zahlen lagen vor.
Der Bundesfinanzminister hat mehrfach betont, dass
er sie ständig verfügbar hatte. Er hätte dann vor der
Wahl verkünden müssen, dass er im Zusammenhang
mit der Unternehmensteuer gravierende Fehler gemacht hat.
Ich glaube, es ist ein großer Irrtum anzunehmen,
dass in der Wirtschaft kein Verständnis für eine Steuergesetzgebung zu erzielen sei, die handwerklich
sauber ist. Sie muss für die Akteure transparent, berechenbar und nachvollziehbar gestaltet werden. Und
sie muss im Hinblick auf die Belastungswirkungen
auf Großbetriebe und den Mittelstand plausibel bleiben.
Genau dies ist das Problem. Die reale Lage in den
Betrieben scheint für diese Bundesregierung Terra incognita zu sein. Sie löst Verwirrung und Attentismus
aus, während wir gerade Orientierung und Vertrauen
brauchen.
Sehen wir uns einzelne Beispiele an: Sie verunsichern die Automobilindustrie mit dem Thema
„Dienstwagen“. Das Ergebnis werden weniger Autos,
aber auch weniger Steuern sein.
Ein weiteres Beispiel aus Hamburger Sicht: die Tonnagesteuer. Allein die Ankündigung, die Tonnagesteuer möglicherweise in Frage zu stellen, führte
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sofort zu Verhaltensänderungen. Viele hundert Schif- (C)
fe und Mitarbeiter sind mit der Einführung der Tonnagesteuer nach Deutschland zurückgekehrt. Die Erwägung, sie wieder abzuschaffen, führte zu
Vertrauensschaden. Wir werden im Ergebnis nicht
mehr Steuern bekommen, sondern weniger Steuern
und weniger Beschäftigung.
Für mich ist sehr wichtig, dass wir immer auch die
Folgewirkungen berücksichtigen. Ich habe das Gefühl, dass bei allen Entscheidungen dieser Bundesregierung in steuerlichen Fragen die Folgen für das
wirtschaftliche Verhalten in den Unternehmen nicht
gesehen werden und dass deswegen Politik und Gesetzgebung zunehmend unkalkulierbar und auch
weltfremd werden.
Dies führt mich zu dem Thema „Kapitalmärkte“.
Wir haben aktuell eine Aktienblase, die geplatzt ist.
Dies ist in der Nachkriegsgeschichte ohne Vorbild.
Die Aktienmärkte bilden aber unverändert eine wichtige Finanzierungsquelle für die Unternehmen. Mein
Eindruck ist: Die Bundesregierung scheint den Kapitalmarkt allenfalls aus der Perspektive eines Spekulanten wahrzunehmen, nicht aus der Sicht eines professionellen Anlegers oder Investors. Dabei hat die
schwere Verunsicherung der Kapitalmärkte gravierende Folgen für die Kapitalversorgung der Unternehmen. Kapital ist eine zentrale Voraussetzung für
Wachstum. Wenn wir jetzt die Voraussetzungen nicht
schaffen, damit die Kapitalmärkte wieder zur Ruhe
kommen, wird auch künftiges Wachstum fehlen.
Was tut die Bundesregierung in dieser Situation?
(D)
Sie verunsichert die Anleger und die Kapital suchenden Unternehmen. Sie bekommt dieses Problem mit
Änderungsplänen und neuen Steuern nicht in den
Griff, sondern schafft ein neues.
Aktive Ordnungspolitik ist gefragt. Sie kann für
Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte
sorgen, damit wir auf wenigstens einer Basis wieder
die Grundlagen für Wirtschaftswachstum schaffen.
Als Fazit kann ich nur sagen: Der vorliegende
Nachtragshaushalt des Bundes hilft uns in den Ländern nicht, weil er dem Land nicht hilft.
Präsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer: Meine
Damen und Herren, ich darf Sie informieren, dass
Herr Minister Becker (Sachsen-Anhalt) und Herr
Staatsminister Riebel (Hessen) je eine Erklärung zu
Protokoll*) gegeben haben. – Gibt es weitere Wortmeldungen? – Dies ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer für die
vom Finanzausschuss in Drucksache 847/1/02 empfohlene Stellungnahme ist, den bitte ich um das
Handzeichen. – Von Sachsen ist niemand anwesend. –
Das ist eine Minderheit.
Wer dafür ist, gegen den Entwurf keine Einwendungen zu erheben, den bitte ich um das Handzeichen. – Das ist ebenfalls eine Minderheit.
*)
Anlagen 9 und 10
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