Jürg G. Kollbrunner Die Reanimation der Psychosomatik D as Anliegen der Buchreihe Bibliothek der Psychoanalyse besteht darin, ein Forum der Auseinandersetzung zu schaffen, das der Psychoanalyse als Grundlagenwissenschaft, als Human- und Kulturwissenschaft und als klinische Theorie und Praxis neue Impulse verleiht. Die verschiedenen Strömungen innerhalb der Psychoanalyse sollen zu Wort kommen, und der kritische Dialog mit den Nachbarwissenschaften soll intensiviert werden. Bislang haben sich folgende Themenschwerpunkte herauskristallisiert: Die Wiederentdeckung lange vergriffener Klassiker der Psychoanalyse – wie beispielsweise der Werke von Otto Fenichel, Karl Abraham, W.R.D. Fairbairn, Sándor Ferenczi und Otto Rank – soll die gemeinsamen Wurzeln der von Zersplitterung bedrohten psychoanalytischen Bewegung stärken. Einen weiteren Baustein psychoanalytischer Identität bildet die Beschäftigung mit dem Werk und der Person Sigmund Freuds und den Diskussionen und Konflikten in der Frühgeschichte der psychoanalytischen Bewegung. Im Zuge ihrer Etablierung als medizinisch-psychologisches Heilverfahren hat die Psychoanalyse ihre geisteswissenschaftlichen, kulturanalytischen und politischen Ansätze vernachlässigt. Indem der Dialog mit den Nachbarwissenschaften wiederaufgenommen wird, soll das kultur- und gesellschaftskritische Erbe der Psychoanalyse wiederbelebt und weiterentwickelt werden. Stärker als früher steht die Psychoanalyse in Konkurrenz zu benachbarten Psychotherapieverfahren und der biologischen Psychiatrie. Als das anspruchsvollste unter den psychotherapeutischen Verfahren sollte sich die Psychoanalyse der Überprüfung ihrer Verfahrensweisen und ihrer Therapie-Erfolge durch die empirischen Wissenschaften stellen, aber auch eigene Kriterien und Konzepte zur Erfolgskontrolle entwickeln. In diesen Zusammenhang gehört auch die Wiederaufnahme der Diskussion über den besonderen wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse. Hundert Jahre nach ihrer Schöpfung durch Sigmund Freud sieht sich die Psychoanalyse vor neue Herausforderungen gestellt, die sie nur bewältigen kann, wenn sie sich auf ihr kritisches Potenzial besinnt. Bibliothek der Psychoanalyse Herausgegeben von Hans-Jürgen Wirth Jürg G. Kollbrunner Die Reanimation der Psychosomatik Kritische Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven Psychosozial-Verlag Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Originalausgabe © 2010 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19 E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Andenkenladen in Assisi © Jürg G. Kollbrunner Umschlaggestaltung & Satz: Hanspeter Ludwig, Gießen www.imaginary-art.net Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar www.majuskel.de Printed in Germany ISBN 978-3-8379-2064-2 5 Inhalt Vorwort 13 Einleitung 17 A Die Krankheit der Psychosomatik 25 1. Die scheinbare Erfolgsgeschichte der Psychosomatik 25 2. Alarmierende Symptome 35 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 Definitionsbeschwerden Verwirrende Adjektive Zerstückelung der Nosologie Die unübersichtliche Vielfalt ätiologischer Konzepte Verschleiernde Begriffe Die Missachtung der kulturellen Relativität des Gesundheitsbegriffs 35 39 40 42 43 3. Die epidemiologische Verunsicherung 58 3.1 Die Häufigkeit psychischer und psychosomatischer Störungen bei Erwachsenen Die Häufigkeit psychischer und psychosomatischer Störungen bei Kindern 3.2 54 62 69 4. Somatoforme Störungen: Eine missglückte Kategorisierung 75 4.1 Konfusion durch »Somatisierungsstörung« und »Hypochondrie« Konfusion durch »Konversion« Konfusion durch den Begriff der »somatoformen Störung« selbst 4.2 4.3 82 83 87 6 · Inhalt 5. Das »biopsychosoziale Modell« als falsche Versprechung 5.1 Formen der unbemerkten Verstärkung der Leib-Seele-Spaltung Die rätselhafte Attraktivität des biopsychosozialen Modells 5.2 89 89 90 6. Akademische Hindernisse des Verstehens 6.1 6.2 6.3 6.4 ICD-10 und DSM IV als Instrumente der Führung und Verführung Die Falle der akademischen Persönlichkeitspsychologie Der Kampf gegen das Konzept des »Unbewussten« Erstarrte tiefenpsychologische Konzepte 98 99 104 109 7. Verleugnete Grenzen der Evidenzbasierten Medizin 114 7.1 Peer-Review, Impact Factor und der Einfluss der Medizinalindustrie Auswüchse der Verhaltenstherapie 116 121 Unkritische Verwendung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse 124 Die angstmotivierte »Neuropsychotherapie« von Klaus Grawe 126 9. Hemmungen der Hausärzte und Allgemeinmediziner 134 9.1 9.2 Ärztliche Verärgerung und dahinter verborgene Ängste Geringe Erkennungsraten psychischer und psychosomatischer Störungen aufgrund von unzulänglicher Gesprächsführung Alibi-Diagnosen Missbräuchliche Verwendung der Chirurgie Weitere Folgen: Leiden, Kosten und Vertrauensverlust Strukturelle Faktoren 135 7.2 8. 8.1 9.3 9.4 9.5 9.6 98 138 141 143 146 148 10. Hemmungen der Psychosomatiker und Psychotherapeuten 149 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 Verunsicherung durch die rasante Entwicklung der Neurowissenschaften Abspaltungstendenzen Überforderung oder Unterforderung der Patienten Die Biografie-Angst: Opfer oder Täter? Berufspolitische Grabenkämpfe 150 158 160 163 165 11. Die Medikalisierung des Lebens 168 Inhalt · 7 11.1 11.2 11.3 Grundsätzliche Kritik an der westlichen Medizin Die Technisierung der Medizin als Flucht vor Beziehung Die Geburt der Risikofaktoren: Framingham, das Rauchen und die Prävention 11.4 Der Aufschwung der Pharmaindustrie 11.5 Die zweifelhafte Wissenschaftlichkeit von Pharmastudien 11.6 Der »relative Nutzen« als Mogelpackung 11.7 Surrogatparameter und das Tabu der »poor metabolizers« 11.8 Die Erweiterung von Definitionen, Grenzwerten und Indikationen 11.9 Das Erfinden neuer Krankheiten 11.10 Eine institutionalisierte Hypochondrie 12. 12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6 12.7 12.8 12.9 12.10 12.11 12.12 12.13 12.14 12.15 12.16 Fehlentwicklungen bei der Behandlung bestimmter Krankheiten Rückenschmerzen und Schleudertrauma Spannungskopfschmerz und Migräne Fibromyalgie und Chronisches Müdigkeitssyndrom Reizdarmsyndrom, chronische Unterbauchbeschwerden, Zwölffingerdarm- und Magengeschwür Bronchialasthma Allergien und der Trick der »Atopie« Das Beispiel der Neurodermitis Stottern, funktionelle Dysphonien und das Geheimnis der fokalen Dystonie Das Globusgefühl und die »Halssymptomatik ohne Stimmbefund« Hyperkinetisches Syndrom, ADS und ADHS Die Behandlung der Depression und der Sieg der Psychopharmaka Magersucht, Fettsucht und die Verwirrung um die gesunde Ernährung Koronare Herzkrankheiten: Angina pectoris und Herzinfarkt Krebserkrankungen und die Selbstbeschränkung der Psychoonkologie Schwangerschaft, Geburt und die Reproduktionsmedizin Die verblasste Ritualisierung des Sterbens 169 171 176 183 186 189 192 194 198 205 206 206 209 213 216 221 224 226 232 235 237 243 247 249 253 268 274 8 · Inhalt B Die Behandlung der Psychosomatik 13. 279 Der Konstruktivismus als Ordnungsprinzip des Denkens 280 13.1 13.2 13.3 13.4 Realität, Wirklichkeit und der Konstruktivismus Die adaptive Funktion des Konstruktivismus Die Überprüfbarkeit konstruktivistischer Erkenntnis Die Vorzüge konstruktivistischen Denkens 280 282 285 287 14. Das Wunder des Lebens 295 14.1 14.2 Die Komplexität des Stoffwechsels Die Relativierung der Bedeutung des Zentralnervensystems 295 15. Immunologie: Materielle Noxen sind nicht allmächtig 304 15.1 15.2 Erkenntnisse aus der Stressforschung Neue Einsichten aus der Psychoneuroimmunologie 305 308 16. Neuroplastizität: Das Ende der Leib-Seele-Debatte 311 16.1 16.2 16.3 16.4 16.5 Reizbewertung, Lernen, Gedächtnis und Denken Interneuronale Reizleitung und die Psychopharmaka Neuroplastizität und die Psychotherapie Der Abschied von der Leib-Seele-Debatte Unberechtigte Exklusivitätsansprüche: Bewusstsein, Geist und freier Wille 313 315 318 322 17. Epigenetik: Das Ende der Anlage-Umwelt-Debatte 333 17.1 17.2 17.3 17.4 Gene können allein gar nichts Der alte Zopf der Zwillingsforschung Die komplexe Welt der Genregulation Die Bedeutung der sozialen Umwelt: Deprivationsstudien Der Abschied von der Anlage-Umwelt-Debatte Können Erfahrungen sogar Gene verändern? 334 337 340 17.5 17.6 18. 299 329 343 347 351 Emotionsforschung: Das Ende der Kognitions-Emotions-Debatte 352 18.1 18.2 18.3 Emotionen im Dickicht der Begriffe Neurophysiologie der Gefühle Der Abschied von der Kognitions-Emotions-Debatte 353 354 356 19. Die Erlebniswelt der Gefühle 356 19.1 Freude und Lust 357 Inhalt · 9 19.2 19.3 Angst, Wut, Trauer und Schmerz Der Ausdruck von Gefühlen als Tor zu hoher Lebensqualität Stimmungsansteckung, Imitation, Empathie und Intuition 358 20. Die Kraft der sozialen Bindung 374 20.1 20.2 20.3 20.4 20.5 Soziale Bindung bei Säugetieren Früheste Bindungsspuren beim Menschen Menschliche Bindungstypen Zur Epigenetik und Neuroendokrinologie der Bindung Bindung in sozialer Vererbung 375 378 382 389 393 21. Die Priorität von Beziehungen 396 21.1 21.2 21.3 21.4 21.5 396 399 405 406 21.6 Beziehung in der Entwicklung der Lebewesen Die Bedeutung menschlicher Beziehungen Menschliche Gemeinschaft als Quelle von Gesundheit Einsamkeit und ihre gesundheitlichen Folgen Chronische Beziehungskonflikte und ihre gesundheitlichen Folgen Die Weisheit der nativen, primitiven Medizin 22. Eine Neubewertung des Placeboeffekts 413 22.1 Alternativmedizin, Komplementärmedizin und das Dritte 423 23. Die Rehabilitierung des Heilens 427 23.1 23.2 Effektive Therapie ist Beziehungstherapie Beziehungstherapie für Singles und Einzelgänger? 429 434 24. Eine neue Durchlässigkeit des Berufsgruppendenkens 436 24.1 24.2 Die Verabschiedung der ärztlichen Selbstidealisierung Die Anerkennung der Häufigkeit dramatischer Familiengeschichten Eine »Biografisierung« der Helfer Wie Ängste die Helfer und Helferinnen ins Bockshorn jagen 436 25. Therapie und Prophylaxe als politische Tätigkeiten 448 25.1 25.2 25.3 Die Psychosomatisierung der Pädagogik Erziehung, Jugendgewalt und das Böse Kriegspolitik und strukturelle Gewalt 450 452 459 19.4 24.3 24.4 365 371 409 412 439 442 446 10 · Inhalt 25.4 25.5 25.6 25.7 25.8 Dissoziativ gestörte Führer als Instrumente struktureller Gewalt Die Wiederentdeckung der Bedeutung von Scham Die Re-Symbolisierung von Worthülsen Eine neue Verantwortung für die »vierte Gewalt« der Demokratie Die Politisierung der Medizin C Eine »Dynamische Psychosomatik« 461 469 473 477 479 485 26. Psychosomatik als Beziehungslehre 485 27. Die Erweiterung bestehender psychosomatischer Konzepte 487 27.1 27.2 27.3 27.4 27.5 Die Vorstellung der Kontinuität und der Interdependenz von Krankheiten Eine Erneuerung der Spezifitätstheorie: »Biografische Spezifität« Die konsequente Beachtung kumulativer Traumata Eine Dekategorisierung somatoformer Störungen: »Somatisierung« Die Re-Symbolisierung der Begriffe »Verdrängung« und »Symbolisierung« 487 489 492 494 496 28. Der Wert klassischer psychosomatischer Konzepte 28.1 28.4 28.5 Modelllernen, subjektive Krankheitstheorien und Kontrollüberzeugungen Abwehr, Krankheitsgewinn und Bewältigung; Salutogenese und Resilienz De- und Resomatisierung, die zweiphasige Abwehr und der CSO Alexithymie und »pensée opératoire« Die »somatosensorische Verstärkung« 29. Die ideale psychotherapeutische Schule? 505 29.1 29.2 Geeignete psychotherapeutische Schulen Der Stellenwert der Kognitiven Verhaltenstherapie in der Dynamischen Psychosomatik 506 28.2 28.3 30. 498 498 499 501 502 503 508 Wer kann, darf und soll eine Dynamische Psychosomatik anwenden? 509 30.1 Eine Helfertypologie: A-, B-, C- und D-Helfer 509 31. »Therapeutische« Voraussetzungen 511 Inhalt · 11 31.1 31.2 511 31.3 Ein humanistisches Menschenbild Die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte Die Erweiterung der Empathiefähigkeit 32. Diagnostische Strategien 515 32.1 Die Diagnostik für Psychotherapeuten (A-Helfer) Die Diagnostik für alle anderen Therapeuten (B-Helfer) Zwischenmenschliche Meinungsbildung in anderen Berufsgruppen (C-Helfer) Zwischenmenschliche Wissenslust oder -pflicht der Laien (D-Helfer) 32.2 32.3 32.4 512 514 516 526 534 536 33. Therapeutische Ziele 538 33.1 33.2 33.3 538 541 33.6 33.7 33.8 Achtsamkeit für eigene Stärken und Verletzlichkeiten Die Verflüssigung des Ausdrucks von Gefühlen Vom Symptom zum Dialog: Desomatisierung durch Verbalisierung Mehrgenerationenverständnis und die Auflösung der Idealisierung der Eltern Individuation und das Verhältnis zwischen Aggressivität und Harmonie Schuld, Pseudounschuld, Macht und Trauer Auf den Spuren der Bedürfnisse Die Pflege der Zugehörigkeit 34. Therapeutische Vorgehensweisen 574 34.1 34.5 34.6 Hinweise für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (A-Helfer) Umdeutungen (biografisches »Reframing«) Die »Knotenlogik«: Ein hilfreiches Konzept für B-Helfer Denotation und Konnotation: Der Schatz individueller Wortbedeutungen Die Identifikation und das Auffüllen von Worthülsen Die Unterstützung verantwortungsbewussten Handelns 35. Tipps und Tricks für B-Helfer 600 35.1 35.2 Im Einzelgespräch Im Paargespräch (auch im Elterngespräch) 601 609 33.4 33.5 34.2 34.3 34.4 545 548 555 560 569 572 574 579 583 586 592 598 12 · Inhalt 35.3 35.4 Problembehandlung Einige Typen von Fehlern 611 617 36. Eine erträgliche Leichtigkeit des Seins 619 Literatur 623 Tabellenverzeichnis 661 Abbildungsverzeichnis 663 Namensregister 665 Sachregister 673 13 Vorwort Im vergangenen Jahrzehnt meiner bisher 30-jährigen Tätigkeit als Klinischer Psychologe und Psychotherapeut an der HNO-Universitätsklinik Bern war es mir vergönnt, jenen psychosomatischen Forschungsthemen, die mich brennend interessieren, so intensiv nachzugehen, dass aus dieser Auseinandersetzung mehrere Bücher entstehen konnten. In Der kranke Freud war es die Frage nach den psychischen Faktoren, die Mitverursacher einer Krebserkrankung sein können, in Psychodynamik des Stotterns die Aufdeckung der Wirren, welche einen der intensivsten Forschungszweige der Sprech- und Sprachpathologie über Jahrzehnte blockiert haben und in zwei Büchern zur »funktionellen Stimmstörung« die Diskussion der bis heute den klinischen Alltag prägenden Widersprüchlichkeiten bei der Behandlung von nichtorganischen Stimmstörungen. Was mir dabei erst allmählich auffiel: In all diesen Büchern habe ich stets ein oder mehrere Kapitel dem Versuch gewidmet, den Lesern plausibel zu machen, wie wertvoll, ja unerlässlich einige tiefenpsychologisch-psychosomatische Denkansätze sind. Das eine Mal versuchte ich dies in einem Anhang mit dem Titel »Krebsheilkunde, Psychosomatik und das Leib-Seele-Problem«, danach in einer wissenschaftstheoretischen Darstellung der Unterschiede zwischen »Erklären« und »Verstehen«, weiter in einer Abhandlung zu der »erschreckenden Häufigkeit psychosomatischer Erkrankungen und deren Verdrängung« sowie in den Texten »Vier Stolpersteine der psychosomatischen Widerspenstigkeit« und »Stufen der Auseinandersetzung mit der Tiefenpsychologie«. Daneben stieß ich im Lauf unterschiedlicher Literaturstudien und als Leser der Tagespresse immer wieder auf alarmierende Informationen aus dem Spannungsfeld zwischen Gesundheit und Krankheit. Dazu gehören die steigenden Kosten des Gesundheitswesens, die ökonomischen Tricks der Medizinalindustrie, insbesondere die 14 · Vorwort gravierenden Mängel in der Überprüfung des Nutzens neuer Medikamente und Behandlungen, aber auch die enge Verzahnung von Gesundheit und sozialpolitischen Verhältnissen bis hin zur furchterregenden Zunahme neuer Formen individueller und struktureller Gewalt (Rassismus, Dogmatismus, Brutalität im Alltag und verlogene Begründung von Kriegsführung). Wie sind all diese Themen miteinander verbunden? Die Psychosomatik, die Lehre von den Zusammenhängen zwischen dem Erleben und dem Körper, besonders im Leiden, müsste genau die Spezialität sein, welche Teile dieser Frage beantworten könnte. Das alte, vielfach bewährte psychosomatische Wissen stellt zusammen mit dem modernen Wissen aus Neurologie, Genetik, Endokrinologie und Immunologie einen Wissensschatz bereit, der – so bin ich überzeugt – in den Grundzügen eigentlich einfach zu begreifen wäre und so im täglichen Leben von Berufsleuten und Laien zum gesundheitlichen Wohl vieler direkt verwendet werden könnte. Aber die Realität ist anders: Die psychosomatische Literatur für Fachleute wie jene für Laien ist so sehr von Widersprüchlichkeiten geprägt, so stark in einem Wunschdenken in Form einer diffus verstandenen Ganzheitlichkeit oder letztlich doch in einem mechanistischen Reparaturdenken verwurzelt, dass sich die Leser in der Flut der Publikationen kaum noch zurechtfinden können. Viele ärztliche Grundversorger (Allgemeinmediziner, Internisten und Kinderärzte), aber auch medizinische Spezialisten zögern noch häufig in ihrer Anwendung psychosomatischen Wissens. Die Logik unseres Gesundheitssystems lässt ihnen auch wenig Zeit dafür, was allerdings einigen nicht nur ungelegen kommt, weil psychosomatisches Denken stets auch mit eigenen Ängsten konfrontiert. Die meisten Patienten fühlen sich von psychosomatischem Denken angezogen. Wenn sie aber auf zögernde, ängstliche Ärzte oder andere Therapeuten treffen, welche sich in diesem Denken nicht zu Hause fühlen, verstecken sie ihr Interesse an weichen, lebensgeschichtlichen Zusammenhängen, weil sie nicht bereit sind, ihre Verletzlichkeit jemandem zu zeigen, der sie womöglich nicht versteht und danach vielleicht missachtet. Dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, brachliegende Möglichkeiten in der direkten Begegnung von Therapeutinnen und Therapeuten und psychosomatisch erkrankten Menschen zu entdecken und Fertigkeiten der Therapeutinnen und Therapeuten weiterzuentwickeln, ihren Patienten heilend zu begegnen. Die Vorbereitung und Niederschrift des Manuskripts zu diesem Buch haben mir viele Stunden Faszination bereitet und einige Stunden Knochenarbeit abverlangt. Viele Zusammenhänge habe ich für mich neu entdeckt, manche Momente der Begeisterung wurden mir dabei geschenkt, aber auch schwierigere Vorwort · 15 Phasen, wie vor allem eine ungewollte und sehr unangenehme eigene Identifizierung mit der Thematik, die mich stark beeindruckt hat: Mit Ausnahme von einem seit vielen Jahren asymptomatischen, medikamentös behandelten Bluthochdruck kannte ich bisher keine psychosomatischen Beschwerden von pathologischem Ausmaß. Während der drei Jahre Arbeit am Manuskript wurde ich aber mit mehreren solcher Störungen persönlich konfrontiert, nämlich mit zwei mehrmonatigen Phasen von zeitweise ängstigenden ventrikulären Extrasystolen (Ergometrie und Echokardiografie unauffällig), zwei Phasen von Trigeminusneuralgie (Therapie: Osteopathie), Oberbauchbeschwerden wegen einem postpylorischen Duodenalulcus (Therapie: Helicobacter-Eradikation) und einem Hörsturz mit persistierendem leichtem Tinnitus (keine Therapie). Die mit diesen Störungen verbundenen irritierenden Empfindungen, Gefühle und Gedanken haben mich immer wieder an meine und der anderen Menschen Verletzlichkeit erinnert. Ich hätte gern auf diese Hinweise verzichtet, aber vielleicht haben sie meine Auseinandersetzung mit der Thematik bereichert. Es ist mir ein großes Anliegen, mich bei den beiden Menschen herzlich zu bedanken, welche mir die wertvollsten Hinweise zur Überprüfung, Korrektur und Bereicherung meiner zu Papier gebrachten Gedanken geschenkt haben: bei Sandra Fritschi, Lic. phil. und diplomierte Logopädin, die mir mit ihrer fachkundigen, von Psychodynamik und Yoga geprägten Art des Dialogs zu verschiedenen Themen neue Perspektiven eröffnet und mich – nicht immer mit Erfolg – zur Mäßigung in der Kritik einiger Ansichten von Berufskollegen aufgerufen hat, sowie bei Wolfgang Bachmeier, Dr. med. und praktizierender Hausarzt, der mich neben seiner moralischen Unterstützung auch mit wichtigen ärztlichen Informationen versorgt und mich davor bewahrt hat, grobe medizinische Unwahrheiten zu verkünden. Nicht alles, was jetzt im fertiggestellten Buch enthalten ist, werdet ihr unterschreiben können, aber vieles, was darin überzeugt, verdankt seine Kraft eurer Mithilfe. Schließlich danke ich Herrn Christian T. Flierl, Lektor des PsychosozialVerlags, der es – mit Unterstützung durch Frau Daria Bendel – in vielen Stunden präziser Kleinarbeit geschafft hat, meine zahlreichen Helvetismen und andere Mängel in ein fast schon gepflegtes Hochdeutsch zu verwandeln. Bern, im Mai 2010 Jürg G. Kollbrunner 17 Einleitung Jedes Kind weiß es: Wenn man sich ungerecht behandelt fühlt, können Bauchschmerzen, Übelkeit, Kopfschmerzen oder ein Wutausbruch folgen. Wenn man sich geliebt fühlt, geht es dem Körper so gut, dass man gar nicht an ihn denkt. Auch Erwachsene wissen das: Plötzlicher Schweißausbruch, Mundtrockenheit, weiche Knie, Erbleichen oder ein roter Kopf entstehen häufig in bestimmten unangenehmen Situationen; Schmetterlinge im Bauch oder eine vor Stolz geschwellte Brust sind faszinierend aufregend; sanfte Berührungen meist wohltuend entspannend. Beim Weinen – aus Trauer oder aus Freude – erschaffen wir diese glitzernde Flüssigkeit in Tropfenform und beim Lachen spielen wir – ohne, dass wir wissen wie – auf der unsichtbaren Klaviatur kleinerer und größerer Anspannungen der Gesichtsmuskulatur (oder dieses Tastenspiel bringt uns zum Lachen). Psychosomatische Vorgänge, das heißt, die gegenseitige Beeinflussung von Erleben und Körpervorgängen, sind nicht nur alltäglich, sondern auch lebensnotwenig und noch mehr als das: Sie machen das Leben lebenswert. Ein harmonisches Zusammenspiel von Erleben und Körpervorgängen beschert uns Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden; Störungen dieses Zusammenspiels verursachen Beschwerden, die zu Krankheiten führen können. Ähnlich wie Heiler, Medizinmänner und Schamanen in anderen großen Kulturen (ist unsere Kultur auch eine »große«?) besaßen unsere kulturellen Vorfahren, die frühen griechischen und römischen Philosophen und Ärzte, ein großes Wissen von der Bedeutung dieses Zusammenspiels. Im Mittelalter und bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde dieses Wissen gepflegt und von Generation zu Generation weitergegeben. Die Entwicklung der Naturwissenschaften mit ihren großartigen Erfolgen für unser Überleben, unsere Mobilität und unsere Bequemlichkeit hat aber die Entwicklung der 18 · Einleitung westlichen Medizin auf eine Art beflügelt, die nicht nur die medizinischen Möglichkeiten, zum Wohl der Menschen zu wirken, erweitert, sondern auch die nicht-naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Körper und Erleben in den Hintergrund gedrängt hat. Glücklicherweise gelang es gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedenen Philosophen und Medizinern so deutlich auf diese Einseitigkeit hinzuweisen, dass sich eine neue wissenschaftliche Disziplin – vielleicht wäre es besser, zu sagen: die Erneuerung einer alten Sichtweise auf Gesundheit und Krankheit – entwickeln konnte. Die entstehende Psychosomatik erwies sich bald als äußerst hilfreiche therapeutische Haltung – mit einer ganzen Reihe nützlicher theoretischer Konzepte –, die zu unbestrittenen therapeutischen Erfolgen führte, ganz besonders bei Menschen, deren Leiden mit naturwissenschaftlichen Mitteln allein nicht genügend zu erklären oder zu verstehen waren. Die meisten dieser wertvollen psychosomatischen Erkenntnisse sind heute zum Wohl von Patienten noch genauso gut anwendbar wie vor 20 oder 50 Jahren. Aber sie werden eher selten systematisch angewendet. Auf den ersten Blick ist das erstaunlich, weil gerade die Zahl jener Patienten, die an naturwissenschaftlich nicht erklärbaren Beschwerden leiden, seit Jahren zunimmt. Ein Drittel oder gar die Hälfte aller Patienten suchen ihren Hausarzt mit Beschwerden auf, für die dieser – ebenso wie ein eventuell hinzugezogener Spezialist – keine organische Erklärung findet. Doch der scheinbar »nicht aufzuhaltende Siegeszug« der naturwissenschaftlich fundierten westlichen Medizin (Frommer 1996), unterstützt durch immer neuere Erkenntnisse aus Neurologie, Endokrinologie und Genetik, lässt nur noch ausnahmsweise zu, Beschwerden oder Krankheiten als Prozesse zu betrachten, die den ganzen Menschen und nicht nur seine physikalisch erfassbaren Eigenschaften betreffen. So kommt es zum Beispiel, dass ein junger Mann vom Hausarzt wegen unklarer Bauchschmerzen der Notfallstation eines Krankenhauses zugewiesen wird. Dort folgt eine gründliche medizinische Untersuchung: Das große Blutbild wird erhoben, Ultraschall und endoskopische Abklärung werden durchgeführt. Da nichts Organisches gefunden wird, das die Schmerzen erklären könnte, teilt der Arzt dem Patienten mit, dass er erfreulicherweise keine organischen Ursachen gefunden habe, der Patient also gesund sei. Der junge Mann geht zunächst erleichtert nach Hause. Was aber, wenn seine Schmerzen nicht nachlassen? Oder wenn sie verschwinden und bei nächster Gelegenheit wieder auftauchen? Oder wenn ein anderes Unbehagen neue Ängste entstehen lässt? Manfred Stelzig schreibt zu diesem von ihm berichteten diagnostischen Ablauf: Einleitung · 19 »Eine große Chance ist damit vertan. [Des jungen Mannes] Probleme am Arbeitsplatz, seine Konflikte mit den Eltern und seine Sorgen mit der Freundin sind nicht zur Sprache gekommen. Er hat keinen Verbündeten gefunden, keine Ansprechperson, bei der er sich entlasten konnte, keinen Fachmann, mit dem er besprechen konnte, wie er besser mit seiner Notsituation umgehen könnte. Mit Glück wird er seine Belastungssituation selbst überwinden und seine Probleme in den Griff bekommen können. Oft ist das jedoch anders und genau daraus ergibt sich das Problem der medizinisch bedingten Chronifizierung« (2004, S. 18). Im universitären Klinikbetrieb gilt die Psychosomatik vielerorts als nicht allzu ernst zu nehmendes unwissenschaftliches Tummelfeld von Medizinern, die sich in der Schulmedizin nicht richtig zurechtgefunden haben: »Wenn der Assistenzarzt in der Uniklinik den Verdacht äußert, ein Leiden sei psychosomatisch, wird die Mehrzahl der Chefärzte diesen Arzt dafür rügen« (Winfried Rief, zit. nach Albrecht 2005a). Oder schlimmer: Der Assistenzarzt wird nur belächelt. Mächtige Einflüsse haben dazu geführt, dass viele Patienten (vielleicht ist es gar die Mehrzahl aller Patienten) an den Möglichkeiten der Psychosomatik systematisch vorbeigeführt werden. Eine Suche nach den Faktoren, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben, kann bei der spärlichen Zeit, die Grundversorgern zur Verfügung steht, beginnen: In Deutschland reservieren Hausärzte durchschnittlich 4,3 Minuten pro Konsultation für das Gespräch mit dem Patienten, in der Schweiz 8,7 Minuten (Albrecht 2005a). Wie sollte da ein persönliches Gespräch entstehen, das über die Abfrage und die Schilderung der Beschwerden hinausgeht? Man könnte zwar meinen, nur wenige Patienten möchten dem Arzt von ihren psychosozialen Problemen berichten. Nachfragen zeigen aber, dass nur 30% der Patienten einer Allgemeinpraxis eine rein somatische Behandlung wünschen. 70% signalisieren dem Arzt, dass sie neben den körperlichen auch psychosoziale Probleme besprechen möchten (Fritzsche/Wirsching 2006, S. 70). Salmon und seine Mitarbeiter (2007) haben die Reaktion britischer Ärzte auf 420 Patienten mit unerklärlichen Symptomen untersucht: Obgleich die Patienten schwierige Lebensumstände andeuteten, gingen die meisten Ärzte nicht darauf ein. 30–50% aller psychischen und psychosomatischen Krankheiten werden deshalb von den Ärzten nicht erkannt (J. Kruse et al. 1999). Wichtige psychosoziale Probleme wie zum Beispiel häusliche Gewalt werden häufig »übersehen«, und wenn sie doch korrekt erkannt und angesprochen werden, erteilen viele Ärzte unpassende oder sogar gefährliche Ratschläge (Novack 2003). Der Anteil der deutschen Erwachsenen mit psychischen oder psycho- 20 · Einleitung somatischen Störungen, die eine adäquate Therapie erhalten, wird auf nur 10% geschätzt (Wittchen/Jacobi 2001). Die meisten der nicht psychosomatisch verstandenen Patienten ohne Organbefund kommen wieder. Zur gegenseitigen Beruhigung setzen dann viele Ärzte ihre zuvor begonnene organische Abklärung einfach fort, intensivieren sie mit technisch noch fortgeschritteneren Untersuchungsmethoden (AWMF 2001a) und wenn im dritten oder vierten Anlauf immer noch nichts Organisches gefunden worden ist, entscheiden sie sich vielleicht für eine Diagnose, die organisch klingt, aber inhaltsleer ist, weil sie nur eine der Hauptbeschwerden mit lateinischen Worten bezeichnet: »Cephalgie« (Kopfschmerzen) oder »Dorsopathie« (Rückenschmerzen) heißt es dann. Für viele Ärzte bleiben diese Patienten aber eine klebrige Belastung. Weil sie »nichts Richtiges« haben, sind sie kaum je zufriedenzustellen. Einige Ärzte reagieren dann mit Ungeduld, Ärger, einem Gefühl des »Getäuscht-Worden-Seins« (Henningsen 2006c), vielleicht mit Zynismus (Waldersee 2002), und beginnen die Patienten als »Querulanten« oder »Spinner« zu betrachten (Hoffmann/Hochapfel 2004, S. 304). Sobald Patienten einen solchen ärztlichen Einstellungswandel spüren, wechseln viele den Arzt. Beim nächsten beginnt das Drama dann von vorne. Später, nach einigen medizinischen Abklärungs- und symptomatischen Behandlungsphasen, entscheiden sich nicht wenige Patienten zum Schritt in alternativmedizinische oder esoterische Behandlungsformen, was ihnen zum Guten wie zum Schlechten dienen kann (vgl. Kap. 22.1). Jene Patienten, deren Problem schließlich doch korrekt als psychosomatisch diagnostiziert und dann fachgerecht behandelt wird, leiden ebenfalls lange: Die durchschnittliche Zeit zwischen der Erstmanifestation psychosomatischer Erkrankungen und der korrekten Diagnose und Therapie beträgt in Deutschland mehr als fünf Jahre (Stelzig 2004, S. 21). Der volkswirtschaftliche Schaden, der dadurch entsteht (Kosten für Hightechdiagnostik, für unnütze medikamentöse oder gar chirurgische Behandlungen und Kosten, die durch Phasen von Arbeitsunfähigkeit verursacht werden), ist enorm hoch. Gabriele Moser fragt rhetorisch: »Wie viel Zeit, Leid und Kosten verursacht es, die psychosozialen Aspekte von Erkrankungen und Beschwerden nicht adäquat zu beachten, die Integration der Psychosomatik nicht voranzutreiben, eine psychosomatische Aus- und Weiterbildung in den einzelnen somatischen Fächern nicht entsprechend zu fördern?« (2009, S. 425) Welche Faktoren behindern die Anwendung psychosomatischen Wissens? Da ist zunächst einmal die ärztliche »Diagnose-Hörigkeit« zu nennen. Einleitung · 21 Dieser Begriff ist zwar provokativ, denn vor jeder guten Behandlung muss doch eine korrekte Diagnose stehen, also soll das kunstgerechte Erheben der Diagnose eine Pflicht sein und eine Abhängigkeit von dieser wäre da nur zu begrüßen. Es kommt aber darauf an, wie Diagnosen erhoben werden. Die wichtigsten heute gültigen Diagnose-Referenzen sind ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases) und DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Beides sind phänomenologische (Symptome oder Messwerte beschreibende) und nicht ätiopathologische (Ursachen beschreibende) Ordnungssysteme und führen eher zu Etikettierungen als zu Diagnosen. Dies ist zuweilen – vor allem in lebensbedrohlichen Situationen – hilfreich, oft aber auch ausgesprochen verschleiernd. Die Diagnose-Etikettierung engt das Denken aufgrund einer Figur-Grund-Wahrnehmungstäuschung beträchtlich ein, wie Sie während der Bearbeitung der Abbildung 1 selbst feststellen müssen: Der erwachsene Patient zeigt große Schüchternheit und eine nächtliche Unruhe. Ist er in der Kindheit unter die Räder seiner vielen Geschwister gekommen? Oder leidet er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung? Nur die sorgfältige weitere Diagnostik (mit Bleistift oder Kugelschreiber den Zahlen folgend) führt zur überraschenden Diagnose: »Lepus«. Doch ICD-10- und DSM-IV-Diagnosen gelten heute als allgemeingültige Grundlagen für die Bewertung von Diagnostik und Therapie, unabhängig davon, ob ein Patient mit einer bestimmten Diagnose sozial gut eingebettet und erfolgreich im Beruf oder vereinsamt, arbeitslos und tief verärgert über alle Mitmenschen lebt. Die einzige heute weltweit akzeptierte Überprüfungsmethode für die Effizienz diagnostischer und therapeutischer Prozeduren richtet sich ausschließlich danach, wie sehr eine bestimmte ICD- oder DSM-Diagnose noch zutrifft oder nicht. Dies wird durch den Standard der EBM, der Evidenzbasierten Medizin, vorgeschrieben. Nach EBM-Kriterien durchgeführte Qualitätskontrollen von Diagnostik und Therapie erscheinen auf den ersten Blick äußerst seriös, weil die EBM mit großem Aufwand alle wissenschaftlichen Studien, die zu einer bestimmten Thematik publiziert worden sind, nach ihrer Gültigkeit und Zuverlässigkeit in verschiedene Evidenzstufen einzuteilen und differenzierte diagnostisch-therapeutische Empfehlungen abzuleiten vermag. Genauer betrachtet sind sie aber hoch problematisch. Der Peer-Review-Prozess, die Prüfung des Wertes eines zur Veröffentlichung eingereichten Manuskripts durch angesehene Forscherkollegen funktioniert oft nicht wunschgemäß: Wer riskiert schon das Manuskript eines Kollegen zur Ablehnung zu empfehlen, wenn er weiß, dass der gleiche Kollege einige Monate später ein eigenes Manu- 22 · Einleitung 43 50 10 9 44 49 42 8 11 45 sehr scheu 41 46 48 47 7 nächtliche Unruhe 40 12 39 13 6 14 3 38 5 2 4 15 37 36 20 1 16 25 17 19 24 26 35 21 34 18 Zittern 28 29 23 27 31 22 33 kinderreiche Familie 32 30 © Ko/09 Abb. 1: Figur-Grund-Phänomen der Diagnose-Etikettierung skript zur Bewertung erhalten könnte (R. Smith 1997). Darüber hinaus werden Forschungsdaten nicht lückenlos publiziert. Ergebnisse von medizinischen Studien, die den privaten Geldgebern von Forschungsprojekten nicht passen, verschwinden einfach und die beteiligten Forscher werden zu Verschwiegenheit verpflichtet. Der Einfluss der Pharma- und Medizinaltechnikindustrie ist so groß geworden, dass sich die Herausgeber von 13 renommierten medizinischen Fachzeitschriften 2001 veranlasst sahen, in einem gemeinsamen Artikel einen einzigartigen Warnruf zu veröffentlichen. Darin steht: »Wir sind besorgt, dass das gegenwärtige intellektuelle Klima, in welchem einige klinische Studien durchgeführt werden, Studienteilnehmer rekrutiert werden, Daten analysiert und berichtet (oder nicht berichtet) werden, [die] wertvolle Objektivität bedroht. […] Die primäre Verwendung klinischer Studien fürs Marketing macht in unseren Augen aus der klinischen Forschung eine Farce und ist ein Missbrauch eines mächtigen Instruments« (Davidoff et al. 2001, S. 1232; Übersetzung J. K.). Einleitung · 23 Der Siegeszug der Pharmaindustrie scheint so unaufhaltsam, dass sich Novartis-Chef Daniel Vasella sogar erlauben konnte, seiner ehemaligen Ausbildungsstätte, der Universität Bern, einen Lehrstuhl für Psychosomatik zu finanzieren. Nicht dass Psychosomatiker den Wert sinnvoll eingesetzter Medikamente nicht anerkennen würden. Sie sind aber entschieden gegen das Erfinden neuer Krankheiten, zum Beispiel durch Umdefinieren alltäglicher Beschwerden zu medikamentös behandelbaren Krankheitsbildern, durch Herabsetzung von Grenzwerten für Risikofaktoren aus kommerziellen Gründen oder auch durch Deklaration von Risikofaktoren zu Krankheiten. Psychosomatiker müssten solche Tendenzen schonungslos aufdecken und sie mit allen sinnvollen Mitteln zu unterbrechen versuchen. Ohne finanzstarke Lobby scheinen sie aber gesundheitspolitisch machtlos geworden zu sein. Zu dieser fatalen Entwicklung haben leider auch die Psychosomatiker selbst beigetragen: Endlose Diskussionen über das Leib-Seele-Problem, das Anlage-Umwelt-Problem und das Kognitions-Emotions-Problem haben den Eindruck erweckt, die Psychosomatiker verfügten kaum über gesichertes Wissen. Unfruchtbare Auseinandersetzungen zwischen tiefenpsychologisch und neuropsychologisch-verhaltentherapeutisch orientierten Experten erinnern eher an einen Glaubenskrieg als an eine wissenschaftliche Auseinandersetzung und die Verwirrung durch die weit über 100 verschiedenen, teilweise ähnlichen Fachworte der Psychosomatik – manchmal symbolisch, manchmal wörtlich gemeint, nur weiß man oft nicht wann wie gemeint – kann zu Recht als »babylonisch« (Hiller/Rief 1997) bezeichnet werden. Oft hört man Psychosomatiker klagen, ihr Fach habe es deshalb so schwer, gebührend anerkannt zu werden, weil die Patienten selbst keine Hilfe auf psychosozialer oder psychotherapeutischer Ebene wünschen. Aber dies ist eine Mär. Es stimmt zwar, dass zum Beispiel die Patienten, die zur großen Gruppe von Kranken mit somatoformen Störungen (körperliche Beschwerden ohne nachweisbaren Organbefund) gehören, zunächst darauf drängen, als organisch Kranke bestätigt zu werden. Alle aber wissen oder spüren, dass ihre Beschwerden auch mit ihrer Lebensgeschichte verbunden sind. Sie wollen nicht plump darauf angesprochen werden (das macht ihnen zu viel Angst), aber ihre Sehnsucht danach, als ganze Person verstanden zu werden, ist bei jedem einzelnen von ihnen zu finden. Nein, die Krise der Psychosomatik ist nicht die Schuld der Patienten. Wenn schon Schuld, dann ist es jene der Psychosomatiker, welche sich zu wenig trauen, ihre Hilfsmöglichkeiten einfach, klar und auf jeden Patienten einzeln zugeschnitten anzubieten – und natürlich die Schuld all jener Menschen, welche die unheilvolle Verquickung von medizinischer Forschung 24 · Einleitung und maßlosen kommerziellen Interessen unterstützen: In einer Demokratie sind da alle Wähler und Stimmbürger angesprochen. Liegt die Psychosomatik also im Sterben, wie der Titel dieses Buches vielleicht vermuten lässt? Nein, aber sie ist schwer erkrankt und einige ihrer (Organ-)Systeme arbeiten nicht mehr zuverlässig. Über Jahrhunderte gerechnet, wird sie zwar unter diesem oder anderem Namen sowieso überleben, einfach weil der Mensch seine Doppelnatur als subjektiv-geschichtliches und als nach Objektivität strebendes Wesen glücklicherweise nicht abstreifen kann. Für die Menschen des angebrochenen Jahrhunderts wäre es aber außerordentlich hilfreich, wenn die Psychosomatik in den nächsten Jahren wiederbelebt und zu einem gesunden (Wissenschafts-)Organismus gepflegt werden könnte. In diesem Buch sollen im ersten Teil (A) die Symptome und Ursachen der Erkrankung der Psychosomatik aufgezeigt, im zweiten Teil (B) eine Strategie für die Unterstützung der Genesung des diagnostisch-therapeutischen psychosomatischen Denkens und Handelns entwickelt und schließlich im dritten Teil (C) die von einer genesenden Psychosomatik ableitbaren Leitlinien für die Behandlung psychosomatisch erkrankter Menschen entworfen werden.