Das Gehirn überlisten

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Phantomschmerz
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Altenpflege Pflege und Begleitung
Bewohnern mit Amputationen stellen
­ flegeeinrichtungen vor die Herausforderung, diesen Schmerzpatienten
P
Linderung zu verschaffen. Spiegeltherapie ist ein Weg. Text: Mirko Luis
Das Gehirn überlisten
Mit ihren 95 Jahren gehört Elisabeth Zimmermann zu den Menschen, die Forscher als sogenannte
„Superager“ bezeichnen. Denn die rüstige Seniorin, die ihren Lebensabend in
einem Alten- und Pflegeheim im mittelhessischen Vogelsbergkreis verbringt, ist
trotz ihres Alters noch geistig fit. Dafür
hat sie ein Problem, das vermutlich Tausende Heimbewohner in Deutschland
teilen: quälende Phantomschmerzen
nach einer Amputation.
Als wäre das nicht schon belastend
genug, kommt eine Medikamentenunverträglichkeit hinzu. Schmerzen, die
in Schüben auftreten und nicht selten
zu attackenartigen Krämpfen führen,
werden dann zu einem schlafraubenden
Schmerz-Martyrium. In den Abendstunden oder nachts findet Frau Zimmer-
mann, der vor sechs Jahren aufgrund
eines Arterienverschlusses der rechte
Unterschenkel amputiert werden musste,
dann kaum Ruhe. Bei jeder Wetterveränderung verstärkt sich das Leid noch.
„Auch Alten- und Pf legeheime in
Deutschland stehen diesbezüglich vor
ganz neuen Herausforderungen. Denn
die Zahl von Amputationen steigt kontinuierlich“, sagt Marion Brömer, Leiterin
Foto: Haus Stephanus, Alsfeld
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des Hauses Stephanus im hessischen Alsfeld. Das christlich geführte Pflegeheim,
das zur Gesellschaft für Diakonische
Einrichtungen Hessen-Nassau gehört,
glänzt nach sechsjähriger Umbau-, Er-
handelt es sich um eine krankhafte Verengung der Arterien in den Extremitäten, vor allem in den Beinen. Hauptursache für diese Durchblutungsstörungen ist
die Arteriosklerose, im Volksmund auch
Schätzen Sie vor der Spiegeltherapie-Behandlung ein,
ob sich der Bewohner gut konzentrieren und bewusst
auf die Illusion des Spiegels einlassen kann. weiterungs- und Renovierungszeit nicht
nur äußerlich. Auch in der Qualität der
Pflege- und Betreuungsangebote sowie
bei therapeutischen Angeboten setzt das
80-köpfige Team, das sich aktuell um 109
Bewohner kümmert, hohe Maßstäbe..
als Arterienverkalkung bekannt. Zu den
Risikofaktoren gehören erhöhter Blutdruck, erhöhte Blutfette, Rauchen und
Diabetes mellitus.
Hohe Amputationszahlen in
Deutschland
Immer öfter bekommen es deutsche
Pf legeeinrichtungen mit schwierigen
Schmerzfällen wie von Elisabeth Zimmermann zu tun. Deren Glück ist, dass
das Haus Stephanus zu der überschaubaren Anzahl von Pflegeeinrichtungen
gehört, die zur Linderung des Leids eine
noch relativ junge Therapieform einset-
Die Zahlen geben Einrichtungsleiterin
Marion Brömer Recht, die auf Handlungsbedarf bei älteren Menschen mit
Amputationen hinweist. Auch wenn es
in Deutschland kein Amputationsregister gibt, verrät der Blick in Statistiken
von Krankenhäusern, Krankenkassen
und des Gesundheitsministeriums, dass
in Deutschland circa 220 000 Beinamputierte leben. Nach Angaben der Deutschen Diabetischen Gesellschaft (DDG)
betreffen 70 Prozent aller Amputationen Diabetes-Patienten. Das Amputationsrisiko ist bei Diabetikern gegenüber
Nichtdiabetikern 50-fach erhöht. Eigentlich sollte eine Amputation die allerletzte Option sein, doch im internationalen
Vergleich sind die Zahlen in Deutschland
Experten zufolge viel zu hoch.
Nach aktuellen Schätzungen werden
derzeit in Deutschland insgesamt 60 000
Glieder amputiert. Die Ursachen sind
vielfältig. Sind bei jüngeren Menschen
vorwiegend angeborene Fehlbildungen,
Sport- und Verkehrsunfälle, Krebserkrankungen oder Infektionen der Grund
für Amputatioen, liegt bei etwa zwei
Dritteln aller Patienten im Alter von über
60 Jahren meistens eine arterielle Verschlusskrankheit vor. Bei einer solchen
arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK)
www.altenpflege-online.net
Spiegeltherapie –
ein Verfahren bewährt sich
zen: die Spiegeltherapie. Diese wurde von
einem aus Indien stammenden Neurologen, dem heute in den USA arbeitenden
Neurologen Vilayanur S. Ramachandran, erfunden. Bei dieser Imaginationstherapie wird mit Hilfe von Spiegeln eine gesunde Gliedmaße des Patienten gespiegelt, sodass für den Behandelten die
Gliedmaße scheinbar wieder vorhanden
ist. „Beim Phantomschmerz ersetzt das
Gehirn die fehlenden Signale eines amputierten Körperteils fälschlicherweise durch Schmerz“, so Prof. Dr. Christoph Maier, Leitender Arzt der Abteilung
Schmerztherapie am Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum. Dieses wurde 1890
als erste Unfallklinik der Welt zur Versorgung von verunglückten Bergleuten
gegründet und zählt heute im Ruhrgebiet
zu den modernsten und leistungsfähigsten Akutkliniken der Maximalversorgung. Prof. Maier zufolge kann mit Hilfe der Spiegeltherapie die Fehlanpassung
des Gehirns korrigiert werden. Der Patient lerne, so der Mediziner, sein Phantomglied zu kontrollieren. Dadurch lasse
Spiegeltherapie – wann einsetzen?
Weitere Anwendungsbereiche der Spiegeltherapie sind unter anderem:
‑ chronische Schmerzen
CRPS - komplexes regionales Schmerzsyndrom (Morbus Sudeck)
‑ Morbus Parkinson
‑ Multiple Sklerose
‑ periphere Nervenverletzungen
‑ postoperative oder posttraumatische Schmerzzustände
‑ Schädel-Hirn-Traumata und Hirntumore
Kontraindikationen beim Phantomschmerz
‑ bilaterale Amputationen
‑ schwerwiegende Funktionseinschränkungen der nicht-amputierten Extremität (z. B. Apoplex,
periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK); Schmerzsyndrome; äußerlich stark verändertes
Erscheinungsbild der nicht-betroffenen Extremitäten (z. B. bei Brandverletzungen)
‑ neuropsychologische Komorbiditäten (Angststörungen /PTBS, Psychosen)
‑ unzureichende Aufmerksamkeit/Konzentrationsfähigkeit (z. B. durch Schmerzmedikation)
Mögliche Nebenwirkungen
‑ vegetative Reaktionen (Herzklopfen, Schwindel, Schwitzen)
‑ emotionale Reaktionen
Handlungsanleitung am Beispiel Haus Stephanus
So gelingt die Spiegeltherapie
Ablauf im Haus Stephanus
>> Klären Sie den Patienten ausführlich über Inhalte und Ziele der Behandlung auf
>> Lagern Sie die Extremitäten, und stellen Sie die Spiegelkonstruktion auf
>> Sobald die gespiegelte Extremität ausreichend als betroffene Extremität empfunden wird,
­beginnen Sie mit der jeweiligen Übung
>> Richten Sie die Dauer der Behandlungseinheit nach den kognitiven Fähigkeiten der Bewohner
>> Passen Sie die Übungen an das individuelle Leistungsniveau an; steigern Sie langsam
>> Kontrollieren Sie immer wieder den Blick der Bewohner in den Spiegel
>> Geben Sie als Therapeut dem Bewohner immer wieder ein schnelles, direktes Feedback
>> Erfassen Sie die Fortschritte in einem Spiegeltherapie-Tagebuch und Schmerztagebuch
Gestaltung des Therapieraums
>> Gestalten Sie den Therapieraum möglichst reizarm: weniger Ablenkung
>> Stellen Sie sicher, dass die betroffene Seite stets hinter dem Spiegel verborgen bleibt
>> Bei unteren Extremitäten empfiehlt sich ein Standspiegel; die Spiegelkonstruktion muss in jedem
Fall stand- und bruchsicher sein; schalten Sie Verletzungsgefahren durch Kanten des Spiegels aus
>> Achten Sie auf ein stimmiges Spiegelbild ohne auffällige Verzerrungen
>> Nutzen sie höhenverstellbare Tische sowie Rückenlehnen als Erleichterung für die Patienten
Vincentz Network GmbH & Co KG, Altenpflege 7.2017
Übungen und Materialien
>> Für Bewohner mit Wahrnehmungsstörungen eignen sich sensorische Materialien wie Bürsten
und Pinsel, Igelbälle, Noppenkissen, Peelinghandschuhe
>> Motorische Übungen mit Objekt: Bälle in verschiedenen Größen,
Gymnastik-Igel, Balance-Pad, flexibler Übungsstab, Handtuch
>> Motorische Übungen ohne Objekt: passive/assistierte/­aktive
Bewegungsübungen
WICHTIG!
• Der Erfolg der Therapie hängt von der
Regelmäßigkeit der Übungen ab.
Altenpflege 07.17
Altenpflege Pflege und Begleitung
Die Fehlwahrnehmung Schmerz
korrigieren
„Ein besonderes Merkmal unserer Einrichtung ist die seit vielen Jahren erfolgreiche Arbeit unserer Ergotherapie. Sie
kann gezielt eingesetzt werden zur Aufrechterhaltung oder Wiedererlangung
www.altenpflege-online.net
Unabdingbar: Aufmerksamkeit
und Konzentrationsfähigkeit
„Grundvoraussetzung für eine Teilnahme
an einer Therapie ist eine gute Konzentrationsfähigkeit. Diese muss vorab eben-
Autorenkontakt: Minh Ngoc Luis,
Ergotherapeutin, Fachkraft im
Betreuungsdienst, Haus Stephanus,
Alsfeld, Tel. 06631 9684-27,
[email protected],
www.haus-stephanus.de; Mirko Luis:
(0157) 876 060 18, MirkoLuis@t-online.
de, www.mediendienst-online.de
Web-Tipp: http://spiegeltherapie.com
(Informationen, Fortbildungen,
Produkte)
Mehr zum Thema
Weitere Beiträge: Lesen Sie auch den
Beitrag aus dem Haus Stephanus zu
einem Wellnesstag für Haut und Seele
in Aktivieren 2/2017
Buchtipp: Spiegeltherapie in der
Neurorehabilitation (Neue Reihe
Ergotherapie / Reihe 10 Fachbereich
Neurologie), Deutscher Verband der
Ergotherapeuten, 2009;
­
BeST - Berliner Spiegeltherapie,
Ein wissenschaftlich evaluiertes Manual
zur Durchfürhung der Spiegeltherapie,
Morkisch/Dohle, Hippocampus Verlag,
2015
­
ten Unterschenkel bewegen kann – was
natürlich nicht ging, denn er war ja nur
im Spiegel vorhanden“, so die vom Dauerschmerz befreite Seniorin. „Frau Zimmermann trug selbst wesentlich zum
Therapieerfolg bei, weil ihre Einstellung
stimmte und sie viel Geduld mitbrachte“,
lobt die aus Vietnam stammende Ergotherapeutin. „Diejenigen, die sich behandeln
lassen, müssen sich bewusst auf die Illusion des Spiegels einlassen können.“ Auch
wenn sich Patienten durchaus bewusst darüber seien, dass sie eine verlorene Extremität hätten, komme es bei der Behandlung zu einer Aktivierung bestimmter
Gehirnzentren, beschreibt Ergotherapeutin Minh Ngoc Luis den entscheidenden
Effekt. Betroffen dabei sind hierbei auch
die Bereiche, in welchen bis zu den ersten Spiegeltherapie-Sitzungen die meisten Signale aus der Körperperipherie als
Schmerz fehlinterpretiert worden sind.
„Die Aktivierung der Gehirnzentren korrigiert das fehlwahrgenommene Schmerzempfinden und verschafft Patienten enorme Erleichterung“, so die Therapeutin des
Hauses Stephanus. Der starke Effekt der
Spiegeltherapie resultiere auch aus dem
natürlichen Verhalten von Menschen, Bewegungen zunächst immer über optische
Signale zu steuern.
liche Schmerzlinderung“, verkündete das
Klinikum der Ruhr-Universität Bochum
bereits 2010 in einer Pressemitteilung.
Seither haben sich in Deutschland, in
Europa und der Welt die Erkenntnisse
zur Spiegeltherapie und zu den speziellen Behandlungsmöglichkeiten erheblich
vergrößert. In vielen weiteren Krankenhäusern, aber auch in Physio- und Ergotherapie-Praxen ist die Spiegeltherapie
mittlerweile Standard. „Ich bin bereits
während meiner Ausbildung in weiterführender Literatur in verschiedenen
Fachmagazinen auf das Thema aufmerksam geworden“, erinnert sich Minh Ngoc
Luis, Leiterin der Ergotherapie im Haus
Stephanus. Nach ihrer Fachausbildung
am thüringischen „Institut für Bildung,
Kommunikation und Management“ hatte
sie ihr theoretisches Wissen bei der Messe
„Therapie Leipzig“ – der führenden Fachmesse mit Kongress für Therapie, Medizinische Rehabilitation und Prävention in
Deutschland – aufgefrischt und eine Spiegeltherapie-Fortbildung in Heidelberg
absolviert. Einrichtungsleiterin Brömer
sah somit gute Voraussetzungen, mit der
Spiegeltherapie Bewohner zu behandeln,
die von Amputationen betroffen sind.
Auch für Schlaganfallpatienten ist es ratsam,
Bewegungsabläufe im Spiegel zu beobachten, um
verlorene Bewegungsmuster im Gehirn anzuregen.
so wie die Aufmerksamkeit eingeschätzt
werden“, verdeutlicht Minh Ngoc Luis.
Psychisch instabile Patienten, die sich
möglicherweise sehr bald kognitiv und
emotional überfordert fühlen, eigneten
sich dagegen nicht für die Durchführung
einer regelmäßigen Therapie. Der Therapeutin zufolge sei es auch für Schlaganfallpatienten ratsam, Bewegungsabläufe vor dem Spiegel zu beobachten. Denn
auch hierdurch könnten bestimmte Bewegungsmuster im Gehirn angeregt werden, die durch den erlittenen Schlaganfall verloren gegangen seien. Geschädigte
Hirnregionen, so die Erkenntnisse aus
der klinischen Forschung, können sich
auf diese Weise neu organisieren.
körperlicher, geistiger und psychosozialer Fähigkeiten“, betont Marion Brömer.
Inzwischen geht es nicht nur Elisabeth
Zimmermann, sondern auch anderen von
Amputationen Betroffenen besser. „Ich
habe so gut wie keine Phantomschmerzen
mehr. Schon als wir mit der Therapie anfingen, dachte ich, dass ich meinen rech-
sich dann auch die Schmerzerfahrung
deutlich reduzieren. Das SpiegeltherapieVerfahren, das in Deutschland zuerst im
Bergmannsheil eingesetzt worden war,
hatte bereits wenige Jahre nach seiner
Einführung Wirkung gezeigt. „Bei der
überwiegenden Zahl zeigte sich bereits
nach wenigen Behandlungen eine erheb-
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© Vincentz Network, Hannover, Juli 2017
Mirko Luis
Kommunikationswissenschaftler
und Journalist, ist Tageszeitungsredakteur in Osthessen
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