AKTUELL NR. 30 Dezember 2005/Januar 2006 Chancen und Risiken der tiefen Hirnstimulation Psychische Probleme nicht außer acht lassen Vielleicht erinnern Sie sich, liebe Leserin und lieber Leser: Anfang November 2005 erhielten Sie vom dPV-Bundesverband ein Informationsschreiben zum Thema tiefe Hirnstimulation. Darin drückte der Bundesverband u. a. seine Sorge darüber aus, dass die tiefe Hirnstimulation zwar einerseits für viele Parkinson-Patienten im fortgeschrittenen Krankheitsstadium ein Stück Lebensqualität zurück bringt, dass jedoch andererseits der Eingriff auch für manche Patienten zu psychischen Problemen vor und nach der Operation führen kann. Bevor im Folgenden näher darauf eingegangen wird, hier einige Grund-Informationen zu dieser Therapie-Option. Was ist die tiefe Hirnstimulation? Medizinisch ausgedrückt werden bei der tiefen Hirnstimulation auf der Basis bildgebender Verfahren stereotaktisch* vierpolige Elektroden in die jeweiligen, aus der Funktion geratenen Kerngebiete des Gehirns implantiert. Die hochfrequente Stimulation erfolgt über einen Impulsgenerator, der, ähnlich wie beim Herzschrittmacher, meist in einer Brusttasche unter dem Schlüsselbein implantiert wird und mit den Elektroden über ein Kabel verbunden ist. Dadurch werden im nigrostriatalen System krankhaft überaktive Hirnbereiche gehemmt. Demzufolge werden die klinischen Symptome vermindert. * Unter Stereotaxie versteht man ein operatives Verfahren, bei dem bestimmte Hirnstrukturen durch Sonden erreicht werden. Prinzipiell stehen für die tiefe Hirnstimulation - je nach Überwiegen der Symptome drei Zielpunkte zur Wahl. Die Mehrzahl internationaler Operationszentren sieht derzeit den Nucleus subthalamicus* als den am besten geeigneten Zielpunkt für die meisten der Parkinson-Patienten mit Spätsyndrom an, die medikamentös kaum oder nicht mehr zu therapieren sind. Die Kardinalsymptome Rigor, Tremor und Akinese können durch eine Stimulation des Nucleus subthalamicus gut beeinflusst werden. * Der Nucleus subthalamicus spielt eine wichtige Rolle im extrapyramidalmotorischen System, er wird funktionell zu den Basalganglien gezählt. Unter der Stimulation des Globus pallidus internus* werden vorrangig Dyskinesien gebessert, der Nucleus ventralis intermedius* des Thalamus wiederum eignet sich am besten für Patienten mit essentiellem Tremor bzw. Tremor-dominantem Morbus Parkinson. * Weitere Kerngebiete des Gehirns dPV aktuell . Nr. 30 . Dezember 2005/Januar 2006 Indikationen und Kontraindikationen Mit am wichtigsten für diesen Eingriff ist die Auswahl des geeigneten Operationskandidaten durch einen Neurologen, die eine umfangreiche neurologische Untersuchung und Beratung voraussetzt. Diese sollte insbesondere die Beurteilung der motorischen Beeinträchtigungen anhand des Unified Parkinson´s Disease Rating Scale (UPDRS)-Scores in der Off- und On-Phase und die Analyse des individuellen Nutzen/Risiko-Profils umfassen. Da dafür im Rahmen der Sprechstunde erfahrungsgemäß meist nicht genügend Zeit vorhanden ist, empfiehlt sich die Beobachtung in der Klinik: „Wir nehmen die Patienten für rund eine Woche stationär auf, in der wir die Untersuchungen durchführen und ausführlich beraten können. Dann erfolgt Seite 1 die Entlassung und in der Zwischenphase haben die Patienten die Gelegenheit, zu Hause noch einmal in Ruhe über die Operation nachzudenken. Erst danach erfolgt der tatsächliche Eingriff selbst“, so Prof. Günther Deuschl, Universität Kiel, zum Prozedere. Wichtig ist dabei vor allem auch, wie der Patient selbst seine Behinderung einschätzt und empfindet. Der Arzt muss sich davon überzeugen, dass der Wunsch nach einer operativen Behandlung vom Patienten selbst und nicht von seinem familiären oder sonstigen Umfeld stammt. Daher sollten auch die nächsten Angehörigen bei den Beratungsgesprächen anwesend sein. zing, Psychosen bei niedrigen L-Dopa-Dosen und Depressionen, die unabhängig von motorischen Fluktuationen bestehen - werden dagegen laut Prof. Deuschl erfahrungsgemäß mit dieser chirurgischen Therapie kaum oder gar nicht gebessert. Die bisherige Erfahrungen haben gezeigt, dass sich der Erfolg der Operation - speziell bei der Stimulation des Nucleus subthalamicus - durch die Wirkung von L-Dopa annähernd vorhersagen lässt. Denn mit der tiefen Hirnstimulation werden im Wesentlichen nur die Symptome gebessert, die auch auf L-Dopa ansprechen. Das beste Ergebnis des Eingriffs ist daher vergleichbar mit der bestmöglichen L-DopaWirkung bei deutlicher Verminderung dopaminerger Nebenwirkungen. Zur Implantation der tiefen Hirnstimulation wird vom Neurochirurgen ein stereotaktischer Rahmen um den Kopf des Patienten gespannt. Mit Hilfe dieses Rahmens sowie moderner Bildgebung (CT, MRT) ist es möglich, millimetergenau und patientenindividuell tiefe Hirnareale exakt zu erreichen. Das Anlegen des stereotaktischen Rahmens erfolgt in der Regel unter örtlicher Betäubung. Es werden weitgehend schmerzlos meist zwei kleine Löcher in den Schädel gebohrt, um die Elektroden in die tiefliegenden Hirnstrukturen vorzuschieben und zu positionieren. Die Mitarbeit des Patienten wird benötigt, um mögliche Nebenwirkungen (z. B. Kribbeln, Sprechstörungen, Augenbewegungsstörungen, Muskelverkrampfungen usw.) festzustellen und insbesondere auch um den Effekt der Stimulation auf die entsprechenden Symptome beurteilen zu können. Gegebenenfalls kann die Die größten Chancen für eine postoperative Besserung haben Patienten mit motorischen Fluktuationen, die trotz optimaler medikamentöser Therapie behindernde Symptome in den Off-Pasen entwickeln, wie z. B. eine Gehstörung, eine Fallneigung oder eine schmerzhafte Off-Dystonie. On-Symptome - außer Dyskinesien, Bradyphrenien, Free- Zu den Kontraindikationen der tiefen Hirnstimulation gehören neben allgemeinen chirurgischen Ausschlusskriterien aufgrund belastender Begleiterkrankungen vor allem Demenz, Psychosen sowie eine auch in den On-Phasen anhaltende schwere Depression. Praktisches Vorgehen bei der tiefen Hirnstimulation dPV aktuell . Nr. 30 . Dezember 2005/Januar 2006 Beurteilung des Therapieerfolgs durch spezielle elektrophysiologische Ableitungen von den eingeführten Testelektroden (Micro-Recording) ergänzt werden. Die Dauer des Eingriffes beträgt circa 6 bis 12 Stunden. Wenn nach sorgfältiger Testung die optimalen Stimulationspunkte gefunden sind, werden die endgültigen Elektroden plaziert und am Schädel befestigt. Nach einer eventuellen Testphase von einigen Tagen wird anschließend der Impulsgenerator (IPG) unter der Haut im oberen Brustbereich implantiert und die Elektroden mittels unter der Haut tunnelierten Verlängerungen mit dem Impulsgenerator verbunden. Dieser Eingriff wird meist unter Vollnarkose durchgeführt. Die stationäre Nachbetreuung ist der zeitlich aufwändigste Teil der Neurostimulation. In dieser meist zwei- bis dreiwöchigen postoperativen Phase werden der implantierte Impulsgenerator programmiert und die Stimulationsparameter mit der medikamentösen Therapie aufeinander abgestimmt. Der klinische Effekt wird überprüft und es werden eventuelle Dosisanpassungen von LDopa und/oder Amplitudenerhöhungen des Impulsgenerators vorgenommen. Im Rahmen der anschließenden ambulanten Betreuung wird dann die Höhe und Art der noch benötigten dopaminergen Therapie ermittelt. Positive Daten auch im Langzeitverlauf Zur symptomtischen WirkSeite 2 samkeit der tiefen Hirnstimulation liegen mittlerweile umfangreiche Daten vor, die eine stabile Reduzierung von Off-Symptomen, Dyskinesien und motorischen Fluktuationen auch im Langzeitverlauf belegen. Dass die Behandlung mit einem „Hirnschrittmacher“ die Beweglichkeit bessert, die Lebensqualität erhöht und das emotionale Wohlbefinden von Parkinson-Patienten fördert, zeigen auch die Sechs-Monats-Ergebnisse einer Multicenter-Studie, die unter Federführung des Neurozentrums der Universität Kiel stattfand und die auf dem Welt-Parkinson-Kongress 2005 in Berlin präsentiert wurden. Insgesamt 156 Patienten mit fortgeschrittenem Morbus Parkinson erhielten entweder eine tiefe Hirnstimulation (THS) oder aber die bestmögliche medikamentöse Therapie mit L-Dopa-Präparaten und Dopaminagonisten. Nach sechs Monaten wurden die Lebensqualität und der Tagesablauf abgefragt. Die Unterschiede waren erheblich: Die Dauer der täglichen Bewegungslosigkeit (Off-Perioden) sank in der THS-Gruppe von sechs auf 1,3 Stunden, die Dauer problemloser Aktivität (On-Perioden) erhöhte sich von 3,5 auf 8,4 Stunden. In der Kontrollgruppe, bei der die medikamentösen Therapie-Optionen ausgereizt waren, änderte sich dagegen bei ähnlichen Ausgangswerten erwartungsgemäß fast nichts. Ähnlich klare Unterschiede gab es bei der Lebensqualität, die mit dem auf ParkinsonPatienten abgestimmten Fragebogen PDQ-39 erhoben wurde. Bei den Parametern „Mobilität“, „Aktivitäten des täglichen Lebens“, „emotionales Wohlbefinden“ und „körperliches Befinden“ schnitten die operierten Patienten jeweils eindeutig besser ab. Patienten mit der Behandlung zu erfassen. Die so gewonnenen Daten sollen anschließend genutzt werden, um Informations- und Schulungsmaterial zu erstellen, das besser auf die speziellen Bedürfnisse der Patienten eingeht. * Die Studie wird Studie zu psychosozialen Aspekten durch eine Forschungsförderung der Deutschen Parkinson Vereinigung (dPV) möglich gemacht. Obgleich für die tiefe Hirnstimulation vergleichsweise geringe Komplikationsraten beschrieben werden, hat in der jüngeren Vergangenheit eine zunehmende Zahl von Berichten über psychische Nebenwirkungen für Verunsicherung gesorgt. Neben Stimmungs-Störungen, die sich überwiegend als depressive Verstimmtheit, in Einzelfällen aber auch als manische Zustände manifestierten, wurde auch von Antriebsstörungen oder Änderungen der Emotionen oder Verhaltensauffälligkeiten berichtet. In Einzelfällen wurden ferner gravierende Partnerschaftsprobleme und Suizidversuche postoperativ beobachtet. Psychosoziale Aspekte in der ersten 6 Monaten An der Universitätsklinik Kiel wird deshalb derzeit eine Studie* zur tiefen Hirnstimulation durchgeführt, in der erstmals die psychosozialen und emotionalen Dimensionen der ParkinsonKrankheit im Vordergrund stehen und auch die persönlichen Erwartungen der Patienten bezüglich der Operation und ihre Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der Stimulation systematisch erfasst werden. Ziel der Befragung ist es, in einem ersten Schritt neben den Gründen für eine Entscheidung für eine tiefe Hirnstimulation auch die Zufriedenheit oder Unzufreidenheit der dPV aktuell . Nr. 30 . Dezember 2005/Januar 2006 Bei der tiefen Hirnstimulation treten die Verbesserungen postoperativ mitunter erst nach Wochen oder Monaten in vollem Umfang ein und der Arzt wird den Erfolg der Operation frühestens nach 6-12 Monaten abschließend beurteilen können. Dieser Umstand muss den Patienten vor der Operation bewusst gemacht werden, um Enttäuschungen zu vermeiden. Da vor allem in den ersten Wochen und Monaten nach Beginn der tiefen Hirnstimulation Unzufriedenheit und Probleme auftreten, hat die Klinik für Neurologie der Universität Kiel vor kurzem die in dieser Zeit wesentlichen Veränderungen erfasst. Hier die von Patienten am häufigsten genannten Themen: Viele Patienten erhoffen sich ein unmittelbares Erreichen ihrer Ziele (Verbesserung der Alltagsfunktionen und Unabhängigkeit von der Hilfe anderer), verlieren dabei allerdings aus den Augen, dass die Stimulation zunächst nur Krankheitssymptome bessern kann. Die Verbesserung der Alltagsfunktionen setzt häufig eher ein Üben und „Neuerlernen“ voraus, das oft erst durch eine entsprechende REHA-BehandSeite 3 lung möglich ist. Schon dadurch ergeben sich Diskrepanzen zwischen der eigenen Erwartung und den Möglichkeiten, was wiederum zur Unzufriedenheit führt. Ein weiterer Punkt ist die Motorik. Betrachtet man z. B den für die Patienten oft relevanten Punkt „selbstständig Laufen“ und vielleicht einen Patienten, der vor der Operation bereits längere Zeit auf einen Rollstuhl angewiesen war, so wird dieser Patient sich nicht sofort wieder frei bewegen können. Die lange vernachlässigte Muskulatur und auch die Bewegungen müssen zunächst wieder geschult und natürlich muss auch ein Sicherheitsgefühl beim Gehen erneut aufgebaut werden. So kann es mehrere Monate dauern, bis zunächst der Rollstuhl und dann auch der Rollator nicht mehr benötigt werden. In diesem Zusammenhang berichten gerade Langzeit-Stimulierte von anfänglicher Ungeduld. Ähnlich ist es mit der Ausdauer bei Aktivitäten insgesamt. Aufgrund der häufigen Medikamenteneinnahme und den relativ kurzen On-Perioden vor der Operation verschlechtert sich auch die Kondition und muss später erneut aufgebaut werden. Wie lange diese motorische Rehabilitation dauert, ist individuell sehr verschieden. Zu beachten sind ferner das soziale Umfeld und die sozialen Kontakte. Gerade Patienten mit langer Krankheitsgeschichte berichten bereits vor der Operation von wenigen sozialen Aktivitäten und einem kleiner gewordenen Bekanntenkreis. Dieses hinterher wie- der aufzubauen, fällt aber oft sehr schwer, zumal auch die eigenen Fähigkeiten und das Selbstvertrauen im Umgang mit anderen über Jahre vernachlässigt wurden. Die eigene Unsicherheit verhindert so in einigen Fällen die Wiederaufnahme alter Aktivitäten. Aber nicht nur aufgrund der Kontakte nach außen kann es zur Unzufriedenheit kommen, auch innerhalb der Familie können Konflikte entstehen. Ein wesentlicher Punkt in der Liste der Veränderungen sind die von den Familienmitgliedern eingenommenen Rollen und ihre Veränderungen in Folge der zunehmenden Schwere der Parkinson-Erkrankung. Mit zunehmender Einschränkung wird mitunter aus dem einstigen Familienoberhaupt ein Pflegefall bzw. aus der alles umsorgenden Hausfrau eine selbst stark versorgungsbedürftige Ehefrau. Im Gegenzug übernimmt der Partner oft diese Aufgaben und auch die Pflege selbst. Nach manchmal mehreren Jahren in dieser angepassten Rollenverteilung streben einige Patienten nach der Operation rasch die frühere Position an und versuchen, alte Aufgaben wieder zu übernehmen. Das gelingt aber nur, wenn die ganze Familie die nun wieder veränderte Rolle akzeptiert und den Patienten in der eigenen Selbstständigkeit unterstützt. Zu starke Schwierigkeiten und Misserfolge können das eigene Selbstwertgefühl mindern und zu einer Spirale aus Antriebsarmut und Rückzug bis hin zur Depression führen. In allen beschriebenen Bereichen spielen auch emotionale Aspekte, wie Angst und dPV aktuell . Nr. 30 . Dezember 2005/Januar 2006 Unsicherheit, eine wesentliche Rolle. Sie können als konkrete Ängste an der Ausführung einzelner Tätigkeiten (z. B. Angst vor möglichen Stürzen beim Laufen) oder auch als unbestimmte Ängste und Unsicherheit an der Anknüpfung an alte oder am Aufbau neuer sozialer Kontakte hindern. Nach vielen Jahren des zunehmenden Rückzuges fällt es schwer, in die gewünschten Aktivitäten zurückzukehren. Diese angestrebte Sicherheit kann andererseits aber auch nur durch Üben und Bestätigung wieder gewonnen werden. Die falsche Vorstellung von einer schnellen Besserung der vielschichtigen Probleme der Krankheit ist die häufigste Erklärung für die Unzufriedenheit einzelner Patienten mit dem Behandlungsergebnis. Auch, wann man bedenkt, dass die hier beschriebenen Probleme von einer Minderheit der Patienten beschrieben werden, so zeigen sie doch einen Handlungsbedarf auf. (Autor: Lutz Johner) dPV aktuell Organ der Deutschen Parkinson Vereinigung - Bundesverband - e.V. Herausgeber: Deutsche Parkinson Vereinigung - Bundesverband - e.V. Moselstraße 31, 41464 Neuss Telefon (0 21 31) 41 01 6/7 Verantwortlich: Magdalene Kaminski, 1. Vorsitzende Konten: Deutsche Parkinson Vereinigung - Bundesverband - e.V. SEB AG Bank 170 856 99 00 (BLZ 300 101 11) Stadtsparkasse Neuss 280 842 (BLZ 305 500 00) Hans-Tauber-Stiftung SEB AG Bank Neuss 143 734 45 00 (BLZ 300 101 11) Die dPV-aktuell Nr. 31 ist ab Ende Februar 2006 abrufbar. Seite 4