24 GELDANLAGE Neuö Zürcör Zäitung Montag, 4. Juli 2016 GELDANLAGE 25 Neuö Zürcör Zäitung Montag, 4. Juli 2016 «Die Zentralbanken haben sich in eine gefähr liche Sackgasse manövriert» Beim Finanzmarkt-Roundtable der NZZ diskutieren Experten über die Folgen des Brexit für Wirtschaft und Finanzmärkte, die Politik der Euro päischen Zentralbank und raten Anlegern, wie sie sich im derzeitigen Umfeld am geschicktesten positionieren sollten vergangenen 40 Jahren an Wert gewonnen, und das wird auch in den kommenden 40 Jahren so sein. Jetzer: Die Interventionen funktionieren einfach nicht. Der Markt ist immer stärker. Ausserdem ist der Franken heute nicht so klar überbewertet, wie die meisten Anleger meinen. Nicht nur die Leistungsbilanz weist massive Überschüsse auf, auch der Warenhandel. Der Franken dürfte sich im Trend weiterhin aufwerten, wie seit Jahrzehnten. Vor wenigen Tagen haben die Briten dem EU-Referendum zugestimmt. Wurden Sie damit auf dem falschen Fuss erwischt? Traud: Wir hatten für den Brexit nur eine Wahrscheinlichkeit von 40% veranschlagt, folglich war ich etwas geschockt. Wir hatten drei Leave-Szenarien ausgearbeitet, von denen wir dachten, wir würden sie in der Schublade verschwinden lassen. Nun brauchen wir sie doch. Kistler: Man musste mit dem Brexit rechnen. Wir haben darauf reagiert, indem wir am Freitag und Montag danach investiert haben. Es ist an den Märkten zwar zu Übertreibungen gekommen, aber leider nur selten bei Qualitätswerten. Immerhin konnten wir punktuell nachkaufen. Jetzer: Wir waren vor der Abstimmung neutral. Die Umfragen waren fünfzig fünfzig. Man musste befürchten, dass die Briten für den Austritt stimmten. Vorbereiten konnte man sich durch vernünftige Diversifikation. Auch wir haben am Freitag und am Montag gezielt Wertpapiere nachgekauft. Das war ein Selloff, den Sie in vielleicht 20 Jahren einmal erleben – in der Regel sind das gute Kaufgelegenheiten. Sie beurteilen das Ereignis also positiv? Jetzer: Politisch ist es für Europa negativ. Ich verstehe die Briten, bin aber besorgt über kurz- und mittelfristige wirtschaftliche Folgen. Als Euro-Skeptiker betrachte ich es in langer Frist aber als eine Chance für Grossbritannien. Junius: Es zeichnete sich eine knappe Entscheidung ab, und die Finanzmärkte waren vor der Abstimmung einseitig positioniert. Viele glaubten, Grossbritannien bleibe in der Europäischen Union. Deswegen waren die Marktreaktionen zunächst so extrem. Wir dagegen sind schockiert darüber, wie unvorbereitet das politische Grossbritannien auf den Brexit war, und befürchten eine längere Phase der Unsicherheit. Die Finanzmärkte können externe Schocks schnell einpreisen, wenn sie wissen, wie es weitergeht. Das ist jetzt nicht der Fall, was Anleger vorsichtig machen sollte. Kistler: Uns freut es, wenn wir günstig kaufen können. Langfristig war der Brexit eine historisch positive Entscheidung für mehr Markt, für mehr Demokratie und mehr Selbstverantwortung. Grossbritannien wird seine Chancen durch die wiedergewonnene Freiheit wahrnehmen können. Das Land muss sich globaler ausrichten, wettbewerbsfähiger sein und sich stets reformieren. So wird es «In zehn Jahren wird es den Euro wie heute nicht mehr geben.» André Kistler Partner Albin Kistler sich erfolgreich entwickeln. Europa dagegen hat sich zu weit von seinen Bürgern entfernt. Es muss mehr Wettbewerb, Öffnung und Demokratie zulassen. Dann erst gibt es die Chance, sich aus Lethargie und Stagnation zu befreien. Man muss diese Vertrauenskrise beenden – je rascher, desto besser. Riecht die Pfund-Schwäche nicht nach Währungskrise und Verunsicherung? Was bedeutet das dann für Ihre Anlagestrategien? Jetzer: Die Anlagepolitik war für mich selten so einfach wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt. In Obligationen kann man nicht investieren. Da sind hohe Verluste eingepreist. Bei Negativzinsen bleiben Aktien als Anlageklasse. Wir kombinieren diese mit einem ansehnlichen Anteil Liquidität, um die Chancen wahrzunehmen, die sich vielleicht schon in den kommenden Wochen bieten könnten. Bei den Währungen ist es auch einfach. Es gibt zwei gute Währungen, in die wir investieren: Franken und Dollar. Von allen anderen sollte man die Finger lassen. Eine grosse Region, die immer noch überdurchschnittlich wächst und damit attraktiv ist, ist Asien – einschliesslich Japan. US-Werte müssen immer dabei sein. Es gibt immer Chancen, unabhängig davon, wie düster die Welt auch gerade aussehen mag. Martin Jetzer Kistler: Die Krise kann sich ausweiten. Aber nicht wegen des Pfunds, sondern sie wird in den kommenden Jahren die Europäische Währungsunion erfassen. In zehn Jahren wird der Euro in seiner heutigen Form nicht mehr existieren. Es gibt nichts Stärkeres als den Markt, und dieser wird Korrekturen erzwingen. Man kann dieses Sichdurchwursteln, dieses unsägliche Krisenmanagement von Brüssel nicht endlos fortsetzen. Der Markt wird eine Umkehr erzwingen, so wie er den Brexit erzwungen hat. Traud: Nicht der Markt hat den Brexit erzwungen, sondern die Politik. David Cameron hatte nicht den Mut, seinen Auftrag als Politiker zu erfüllen, und hat gehofft, diesen an die Bevölkerung zurückgeben zu können. Nun ist die britische Bevölkerung geschockt über ihre eigene Courage. Kurzfristig sind die Turbulenzen an den Märkten sicher nicht vorbei. Der DAX hat ein Potenzial für einen Rückschlag auf bis zu 8000 Punkte. Entscheidend ist, ob sich die EU mit Grossbritannien über das weitere Verfahren einigt oder ob es zu Konflikten kommt. Wenn die Briten Rosinen picken und alle Vorteile für sich einfahren können, wäre das der Anfang vom Ende der EU. Junius: Ökonomisch ist die Unsicherheit kein Vorteil, weder für Grossbritannien noch für Europa. Grosse Märkte beleben das Geschäft, nationale Regeln machen die Märkte kleiner und begrenzen den Wettbewerb. Die Freizügigkeit ist wichtig, weil nur so die Konkurrenz im Dienstleistungsbereich zunimmt. Traud: Würde die Freizügigkeit bei Dienstleistungen eingeschränkt, wäre Grossbritannien der Verlierer. Der Verlust des EU-Passes für Banken würde den Finanzplatz London schwächen. Martin Jetzer Gertrud Traud cri. ! Dr. Martin Jetzer ist seit 2010 Chief abl. ! Das Studium der Volkswirtschafts- Investment Officer beim Vermögensverwalter Bellecapital. Zuvor war Jetzer 25 Jahre lang Chefökonom der HSBC Guyerzeller Bank und als deren Chief Investment Officer verantwortlich für die Anlagestrategie. Er amtete zudem viele Jahre als Mitglied der Geschäftsleitung der HSBC Private Bank. lehre in Mainz und Michigan schloss Gertrud Traud mit der Promotion ab. Das Sujet der Arbeit (optimale Währungsräume) beschäftigt sie bis heute bei ihrer Arbeit als Chefvolkswirtin der Landesbank Hessen-Thüringen. Traud begann ihre Karriere in der volkswirtschaftlichen Abteilung von Julius Bär. Gertrud Traud Grossbritannien hat grosse Budget- und Leistungsbilanzdefizite und ist ein Nettoschuldner. Wie kann es ohne Zugang zu Europas Binnenmarkt bestehen? Jetzer: Grossbritannien ist die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt, macht 4% des globalen Bruttoinlandprodukts aus, zählte in den letzten Jahren punkto Wachstum zu den erfolgreichsten Staaten Europas. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 5%, die Profitmarge britischer Firmen lag in den letzten Jahren im Durchschnitt über derjenigen der deutschen. Dies, weil die Volkswirtschaft offener und weniger reguliert ist als andere EULänder und eine eigene, frei schwankende Währung hat. Das Leistungsbilanzdefizit von 6% ist ein Reflex der Wachstumsstärke und des starken Pfunds. Dessen Kurs fiel zuletzt auf ein vernünftigeres Niveau. Da Britannien mehr aus der EU importiert als in die EU exportiert, ist die EU vielleicht sogar gefährdeter. Die Kursturbulenzen deuten darauf hin, dass die Anleger die Lage anders sehen. Jetzer: Am Markt hat kein irrationaler, sondern ein sehr differenzierter Ausverkauf stattgefunden. Titel, die von einer Wachstumsverlangsamung in Grossbritannien betroffen sind, haben am meisten gelitten, wie Dufry oder Adecco. Die Kurse britischer Aktien sind weniger gefallen als die deutscher. Die Perspektiven für den britischen Aussenhandel haben sich gebessert. Grossbritannien wird nach der Verhandlungsphase ausserhalb der EU vielleicht gar nicht schlechter dastehen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Rauswurf aus dem gemeinsamen Markt zu vermeiden, etwa den Weg über die Efta in den EUWirtschaftsraum oder assoziiertes Mitglied der EU zu werden. Am Ende wird Berlin versuchen, die Briten im eigenen Interesse einzubinden. Kistler: Ich kann mich diesem Plädoyer nur anschliessen. Grossbritannien kann sich als einzelnes Land besser einrichten und regulieren als innerhalb der EU. Zudem wird es, abgesichert durch Freihandelsverträge, weiterhin Handel mit Europa treiben. Die kontinentaleuropäischen Firmen werden aus Eigenantrieb mit dem konkurrenzfähigen Land zusammenarbeiten. Diese Öffnung wird mehr Markt bringen, und es wird in fünf Jahren viel besser ausschauen. Traud: Es kommt auf die Handelsbeziehungen an und darauf, welchen Status Grossbritannien künftig hat. Sollte der Warenverkehr wenig, die Dienstleistungen dagegen stärker reglementiert werden, würde das Grossbritannien empfindlich treffen. Immerhin erzielen die Briten mit Finanzdienstleistungen einen Überschuss im Aussenhandel. Nähme dieser ab, würde das britische Wachstum in den kommenden Quartalen gedämpft, und selbst eine technische Rezession scheint aufgrund aufgeschobener Investitionen nicht ausgeschlossen. Der britische Immobilienmarkt dürfte weiter korrigieren, und die Konsumenten werden sich zurückhalten. Eine Rezession in Grossbritannien würde zeigen, dass der Austritt einen hohen Preis hat. Wie stehen die Notenbanken nach dem Brexit da? Jetzer: Die Notenbanken sind geldpolitisch ausgeschossen. Die Zinsen sind bei null und werden wegen des Brexit wohl länger dort verharren. Das ist ein Risiko. «Die Notenbanken sind geldpolitisch längst ausgeschossen.» Martin Jetzer Chief Investment Officer Bellecapital Sollte es in Europa zu einer Rezession kommen, könnten sie nicht mehr wie bisher stabilisierend wirken. Wir müssen künftig mit heftigeren Konjunkturschwankungen rechnen – der Preis für die übertrieben expansive Geldpolitik der letzten Jahre. Junius: Ohne die extrem expansive und wachsame Geldpolitik sähe die Lage in Europa noch viel düsterer aus. Es ist aber misslich, dass die Politik so stark allein auf die Geldpolitik setzt. Ich gehe davon aus, dass wir monetäre Reaktionen auf den Brexit bekommen. Die Karsten Junius Bank of England wird die Zinsen nicht wie geplant anheben, sondern senken. Von der EZB erwarten wir eine Zinssenkung im September, der die Schweizer Nationalbank folgen müsste, um die ursprünglichen Zinsdifferenzen wieder herzustellen. Auch die Bank of Japan steht kurz davor, die Zinsen noch einmal zu senken. Schliesslich wird der starke Dollar dazu führen, dass die geplante Zinserhöhung des Fed im September auf 2017 verschoben wird. Kistler: Die Notenbanker werden von den Politikern gewählt, und sie sind längst zu ihren Gehilfen geworden. Sie versuchen nur, auf kurze Sicht der Wirtschaft zu helfen. Nun ist es wichtig, kurzfristig Liquidität einzuschiessen, was vielleicht noch das Wirkungsvollste ist, was sie tun können. Generell gilt aber, je mehr Geld sie ins System pumpen, desto mehr Schulden werden aufgehäuft. Reformen sind dringend nötig, sonst wird die Verschuldung immer mehr ansteigen. Die Zahl unrentabler Firmen wird weiter zunehmen, und die Stagnation wird verfestigt. Wie können Sie bei diesem Szenario weiter so optimistisch sein? Kistler: Ich bin zuversichtlich für die Unternehmenswelt und sehr pessimistisch für die Staaten. Der Weg zurück ist schon lange überschritten, sie können die Schulden nie mehr abbauen. Letztlich basiert die wirtschaftliche Stagnation auf einer Vertrauenskrise. Es investiert niemand mehr bei diesen Verbindlichkeiten und bei dieser Liquiditätsflut. Es gibt zu viele unproduktive Sektoren, die auch noch subventioniert werden. Wenn niemand investiert und konsumiert, wie können dann die Firmen prosperieren? Kistler: Wir investieren weniger in Firmen, die in Europa ihren Hauptumsatz erzielen. Es gibt in der Welt grosse Regionen, die gut aufgestellt sind und markant wachsen. Viele Schweizer Unternehmen profitieren davon. Halten Sie das jüngste Vorgehen der Notenbank für zielführend? Traud: Ich bedauere, dass die Notenbanken glauben, die Welt retten zu können. In Wirklichkeit lösen sie nicht André Kistler das Problem, sondern sie sind das Problem. Junius: Ich bestreite diese Aussage. Betrachtet man die jüngsten Bank-Lending-Surveys, so hat es zuletzt noch genug Teilnehmer gegeben, die angaben, unter Kreditknappheit zu leiden. Es mag zwar ungewöhnlich sein, wie tief die Leit- und Kapitalmarktzinsen sind. Wir dürfen aber nicht vergessen, was dazu geführt hat. Die Zinsen sind so niedrig, weil die Kapitalrendite so tief ist. Es ist die Aufgabe der Zentralbanken, den Finanzierungssatz unterhalb der Kapitalrendite zu halten, wenn die Inflationsraten zu niedrig sind. Stecken die Zentralbanken in einer Falle, weil Staaten, Unternehmen und Konsumenten zu stark verschuldet sind? Kistler: Die Zinsen waren immer ein Spiegelbild der Inflation. Die Zentralbanken sind aber in einer gefährlichen Sackgasse gelandet. Wenn der Zins nur um einen Prozentpunkt steigt, nehmen die Zinslasten in den USA, Frankreich und Deutschland um 50% zu. Sobald die von den niedrigen Energiepreisen ausgelösten Basiseffekte verschwinden, steigt die Teuerung – die Zinsen aber nicht. Deswegen werden möglicherweise auch die letzten Realzinsen verschwinden. Das ist ein neues Problem, das wir bisher nicht hatten. Traud: Die Zentralbanken wollen den hohen Schuldenberg entweder mit negativen Zinsen oder mit höherer Inflation weginflationieren. Würde die Welt ohne die Massnahmen der EZB tatsächlich so viel düsterer aussehen, wie Herr Junius sagt? Jetzer: Die ultralockere Geldpolitik war für eine lange Phase wichtig und hat die Weltwirtschaft in den Jahren 2008 und 2009 vor einem viel schlimmeren Einbruch gerettet. Das heisst aber nicht, dass diese Politik für immer weitergeführt werden sollte. Die Wirksamkeit der Geldpolitik hat massiv nachgelassen. Die US-Notenbank hat 2014 ihre Chance verpasst, die Zinsen anzuheben, als die Zahl neu geschaffener Stellen deutlich zu steigen und die Arbeitslosigkeit zu sinken begann. Jetzt ist es viel schwieriger, denn wir befinden uns im siebten Jahr eines Konjunkturauf- schwungs. Irgendwann droht wieder eine Rezession. Junius: Die Zinsen in den USA hätte das Fed tatsächlich wohl angehoben, wenn es gewusst hätte, wie stark die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Schliesslich hätten die meisten Ökonomen daraus geschlussfolgert, dass auch die Löhne und Inflationsraten dann ansteigen würden. Beide sind in den USA – wie in fast allen Industrieländern – bis zuletzt aber tat- «Nur Schwache argumentieren mit schwachen Währungen.» Gertrud Traud Chefvolkswirtin Helaba sächlich sehr niedrig geblieben. Insofern lässt sich heute sagen, dass es bisher durchaus richtig von dem Fed war, die Zinsen nicht stärker anzuheben. Jetzer: Das verstehe ich, Herr Junius. Eines der makroökonomischen Ziele ist Preisstabilität. Dieses Ziel haben wir erreicht, erstmals seit ich auf der Welt bin. Aber die EZB will 2% Inflation; das ist willkürlich und sogar gefährlich. Die heutigen Inflationsraten sind kein Grund, weiter in dieser extremen Form Liquidität auszuschütten. Traud: Die Inflationsentwicklung hängt ausserdem in vielen Ländern vom Ölpreis ab. Allein der jüngste Ölpreisanstieg wird in den nächsten Monaten zu leicht steigenden Teuerungsraten führen. Die Notenbanken haben hingegen panische Angst vor Deflation. Alle Erfahrungen der Nachkriegszeit zeigen aber, dass in Zeiten sehr niedriger Inflation, wie beispielsweise in Deutschland in den achtziger Jahren, die Wachstumsraten hoch waren. Die Idee der EZB, eine höhere Inflation könne zu höherem Wachstum führen, funktioniert nicht. So schafft die EZB derzeit kein Vertrauen. Wie lautet Ihre Empfehlung für Anleger in diesem schwierigen Umfeld? BILDER GORAN BASIC / NZZ Kistler: Wir haben wenig Vertrauen in die Staatenwelt und Nominalwerte. Wir investieren bevorzugt in Sachwerte statt in Währungen oder in Anleihen. Wir legen in die besten Firmen auf dieser Welt an. Da hat man zwar kurzfristig das Risiko von Schwankungen, langfristig aber praktisch keine Verlustrisiken. Das global beste Anlagesegment über die letzten 20 Jahre waren Schweizer Smallund Mid-Caps. Diese Aktien sind in dieser Zeit im Schnitt um rund 500% gestiegen. Schwellenländer-Aktien und US-Valoren haben in dieser Zeit zirka 250% gewonnen. Das liegt daran, dass die Schweiz so dicht wie kein anderes Land mit phantastischen Firmen besiedelt ist. Der starke Franken unterstützt diesen Trend. Der Franken ist eine Herausforderung, meinen Sie? Kistler: Nein, der starke Franken gibt Antrieb. Er tut den Unternehmen indirekt gut. Sie sind gezwungen, stets noch besser und innovativer zu sein. Sie müssen ständig kämpfen, um global die besten Produkte zu präsentieren. Traud: Dieser Zusammenhang lässt sich auch mit Makrodaten unterlegen. In der Euro-Zone haben viele Finanzmarktakteure panische Angst vor einer Stärkung des Euro. Auch der EZB ist eine Schwächung des Euro offensichtlich sehr willkommen. Aber nur Schwache wünschen sich eine schwache Währung. Gute Firmen dagegen können sich auch dem Wettbewerb aussetzen, das Beispiel Schweiz zeigt das deutlich. Die Angst vor Währungsschwankungen ist falsch. Flexible Währungen müssen sich bewegen dürfen. Wenn es flexible Wechselkurse gibt, dann muss man die Schwankungen aushalten können. Anders ist es in einem Festkurssystem. Da müssen die anderen Anpassungsinstrumente flexibel sein, um Wettbewerbsfähigkeit zu erzielen. Die SNB hat Schwierigkeiten, eine starke Aufwertung des Frankens zu verhindern. Kistler: Leider interveniert die Nationalbank immer wieder am Devisenmarkt, obwohl dies nur ein paar Tage oder Wochen wirkt. Die SNB kann langfristig nichts gegen das Erstarken des Frankens tun. Der Franken hat in den Was für eine Asset-Allokation ergibt sich daraus? Jetzer: Cash in der heimatlichen Währung, Aktien breit diversifiziert. Vorsicht in den USA; der Markt ist teuer, die Bewertungen sind hoch. Auch, weil der Gewinnzyklus vor etwa anderthalb Jahren gedreht hat. Gewinne und Umsätze sinken. Ich setze weiterhin auf das Erholungspotenzial in Europa und auf den langfristigen Wachstumstrend in Asien – dort sind wir übergewichtet. Es ist ausserdem wichtig, bei Anleihen Währungsrisiken abzusichern. Sind Währungsabsicherungen auch bei Aktien sinnvoll? Jetzer: Weniger als bei Bonds. Dennoch sollten Investoren lieber Aktienrisiken als Währungsrisiken nehmen. Für Erstere wird man entschädigt, für Letztere nicht. Junius: Ich finde es auch bemerkenswert, wie sich die Schweizer Wirtschaft mit hoher Flexibilität an den höheren Wechselkurs und das Umfeld anpasst. Ich befürchte aber, dass die Schweiz bei einem Szenario mit relativ viel Chaos in Europa auch extrem leiden würde. Insofern wären Aktien amerikanischer Unternehmen eine sicherere Wette. Traud: Wir favorisieren europäische Aktien. US-Titel sind vergleichsweise teurer. Mit der Stabilisierung der Rohstoffpreise und der lokalen Währungen sind auch Schwellenländer wieder attraktiv geworden. Bei negativen Renditen kann man kaum noch Staatsanleihen empfehlen. Das ist nur für die Finanzminister interessant. Junius: Ich kann Ihnen tatsächlich einmal zustimmen, Frau Traud. Aber ein Missverständnis möchte ich noch ausräumen. Wir sollten der EZB nicht unterstellen, dass sie die Staatsschulden weginflationieren möchte. Das heisst, dass sie Inflationsraten oberhalb ihrer Norm anstrebt. Die Teuerungsraten bewegen sich seit einigen Jahren unterhalb der von ihr versprochenen und anvisierten Höhe, und auch die Inflationserwar- tungen sind gefallen. Die EZB versucht – genau wie alle anderen Zentralbanken – lediglich ihr Stabilitätsversprechen einzuhalten und die von ihr als optimal erachteten Inflationsraten zu erreichen. Warum ist das so ein wichtiger Aspekt? Junius: Weil ich mir Sorgen mache, dass die Kritik, die an den einzelnen Massnahmen der Zentralbanken geäussert wird, in eine Systemkritik umschlägt. Diese könnte dann ähnlich den Einwänden Grossbritanniens an der Brüsseler Politik ausser Kontrolle geraten. In der Öffentlichkeit kann es eben missverstanden werden, wenn Ökonomen sich streiten und dies als Pauschalkritik an den Institutionen ausgelegt wird, die diese nachhaltig beschädigt. Letztlich sind die Zentralbanken für die Preisstabilität unserer Wirtschaftsräume verantwortlich und nicht für die Höhe der Kapitaleinkünfte einzelner Sparer. Es gibt einen ultimativen Vertrauensindikator, und das ist der Goldpreis. Der ist in letzter Zeit gestiegen. Wieso wohl? Kistler: Gold ist eine gute Versicherung und Beimischung vor dem Hintergrund, dass die Zentralbanken immer mehr Gold kaufen. Zudem werden die Realzinsen sinken, was ebenfalls für das Halten von Gold spricht. Unser DepotSchwergewicht liegt aber auf den kleinen und mittleren Schweizer Aktien, die wir mit dem dreifachen Indexgewicht in den Portfolios halten. Ist das nicht etwas einseitig? Kistler: Das ist natürlich nicht alles – obwohl es vielleicht das Beste wäre. Daneben investieren wir vor allem in amerikanische Aktien. Dabei verfolgen wir «Die Kritik an den Zentralbanken darf nicht zur Systemkritik werden.» Karsten Junius Chefökonom Bank J. Safra Sarasin keinen Branchenansatz, sondern suchen die besten und sichersten Firmen dieses Globus. Die finden wir in der Schweiz, in den USA und in Europa – dort allerdings beschränkter als in Amerika. Dazu halten wir 15% Liquidität. Anleihen haben wir untergewichtet. Wir erwarten keinen markanten Zinsanstieg. Traud: Wir sehen den Goldpreis in der Spitze auf 1500 $ steigen, insbesondere in den Phasen der Unsicherheit rund um den Brexit. Ist Gold denn eine valable Anlageklasse? Traud: Ein wenig Gold schadet nie. Kistler: Wir haben ungefähr 3% Gold in den Portfolios. Jetzer: Bei uns ist der Anteil etwas höher. Es gibt drei gute Gründe, heute Gold zu halten. Erstens ist Gold eine sehr gute Versicherung in einer Finanzkrise. Zweitens werden in den nächsten ein bis zwei Jahren die Realzinsen sinken, wenn die Massnahmen der Zentralbanken auch nur zu einer leicht steigenden Inflation führen sollten. Drittens korreliert die Goldpreisentwicklung fast nicht mit den anderen Märkten. Gesprächsleitung: Anne-Barbara Luft und Christof Leisinger Karsten Junius André Kistler cri. ! Dr. Karsten Junius ist seit April cri. ! André Kistler ist Chefstratege und 2014 Chefökonom der Bank J. Safra Sarasin. Davor arbeitete er drei Jahre als Ökonom beim Internationalen Währungsfonds. Von 2000 bis 2010 amtete Junius als Leiter Kapitalmärkte und Immobilien-Research bei der Deka Bank. Tätig war er zuvor u. a. auch beim Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Verwaltungsratsmitglied der Albin Kistler AG in Zürich. Im Jahr 1982 machte er sich selbständig als Vermögensverwalter. Zuvor war Kistler bei der Bank Vontobel im Asset-Management und bei Fiduciary Trust New York im Research tätig. Er begann seine Karriere 1972 bei der Schweizerischen Bankgesellschaft.