Die Zentralbanken haben sich in eine gefähr liche

Werbung
24 GELDANLAGE
Neuö Zürcör Zäitung
Montag, 4. Juli 2016
GELDANLAGE 25
Neuö Zürcör Zäitung
Montag, 4. Juli 2016
«Die Zentralbanken haben sich in eine gefähr liche Sackgasse manövriert»
Beim Finanzmarkt-Roundtable der NZZ diskutieren Experten über die Folgen des Brexit für Wirtschaft und Finanzmärkte, die Politik der Euro päischen Zentralbank und raten Anlegern, wie sie sich im derzeitigen Umfeld am geschicktesten positionieren sollten
vergangenen 40 Jahren an Wert gewonnen, und das wird auch in den kommenden 40 Jahren so sein.
Jetzer: Die Interventionen funktionieren einfach nicht. Der Markt ist immer
stärker. Ausserdem ist der Franken
heute nicht so klar überbewertet, wie die
meisten Anleger meinen. Nicht nur die
Leistungsbilanz weist massive Überschüsse auf, auch der Warenhandel. Der
Franken dürfte sich im Trend weiterhin
aufwerten, wie seit Jahrzehnten.
Vor wenigen Tagen haben die Briten dem
EU-Referendum zugestimmt. Wurden
Sie damit auf dem falschen Fuss erwischt?
Traud: Wir hatten für den Brexit nur
eine Wahrscheinlichkeit von 40% veranschlagt, folglich war ich etwas geschockt.
Wir hatten drei Leave-Szenarien ausgearbeitet, von denen wir dachten, wir
würden sie in der Schublade verschwinden lassen. Nun brauchen wir sie doch.
Kistler: Man musste mit dem Brexit
rechnen. Wir haben darauf reagiert, indem wir am Freitag und Montag danach
investiert haben. Es ist an den Märkten
zwar zu Übertreibungen gekommen,
aber leider nur selten bei Qualitätswerten. Immerhin konnten wir punktuell nachkaufen.
Jetzer: Wir waren vor der Abstimmung
neutral. Die Umfragen waren fünfzig fünfzig. Man musste befürchten, dass die
Briten für den Austritt stimmten. Vorbereiten konnte man sich durch vernünftige Diversifikation. Auch wir haben am
Freitag und am Montag gezielt Wertpapiere nachgekauft. Das war ein Selloff, den Sie in vielleicht 20 Jahren einmal
erleben – in der Regel sind das gute
Kaufgelegenheiten.
Sie beurteilen das Ereignis also positiv?
Jetzer: Politisch ist es für Europa negativ. Ich verstehe die Briten, bin aber besorgt über kurz- und mittelfristige wirtschaftliche Folgen. Als Euro-Skeptiker
betrachte ich es in langer Frist aber als
eine Chance für Grossbritannien.
Junius: Es zeichnete sich eine knappe
Entscheidung ab, und die Finanzmärkte
waren vor der Abstimmung einseitig
positioniert. Viele glaubten, Grossbritannien bleibe in der Europäischen
Union. Deswegen waren die Marktreaktionen zunächst so extrem. Wir dagegen
sind schockiert darüber, wie unvorbereitet das politische Grossbritannien auf
den Brexit war, und befürchten eine längere Phase der Unsicherheit. Die
Finanzmärkte können externe Schocks
schnell einpreisen, wenn sie wissen, wie
es weitergeht. Das ist jetzt nicht der Fall,
was Anleger vorsichtig machen sollte.
Kistler: Uns freut es, wenn wir günstig
kaufen können. Langfristig war der Brexit eine historisch positive Entscheidung
für mehr Markt, für mehr Demokratie
und mehr Selbstverantwortung. Grossbritannien wird seine Chancen durch die
wiedergewonnene Freiheit wahrnehmen können. Das Land muss sich globaler ausrichten, wettbewerbsfähiger sein
und sich stets reformieren. So wird es
«In zehn Jahren wird
es den Euro wie heute
nicht mehr geben.»
André Kistler
Partner Albin Kistler
sich erfolgreich entwickeln. Europa dagegen hat sich zu weit von seinen Bürgern entfernt. Es muss mehr Wettbewerb, Öffnung und Demokratie zulassen. Dann erst gibt es die Chance, sich
aus Lethargie und Stagnation zu befreien. Man muss diese Vertrauenskrise
beenden – je rascher, desto besser.
Riecht die Pfund-Schwäche nicht nach
Währungskrise und Verunsicherung?
Was bedeutet das dann für Ihre Anlagestrategien?
Jetzer: Die Anlagepolitik war für mich
selten so einfach wie zum gegenwärtigen
Zeitpunkt. In Obligationen kann man
nicht investieren. Da sind hohe Verluste
eingepreist. Bei Negativzinsen bleiben
Aktien als Anlageklasse. Wir kombinieren diese mit einem ansehnlichen Anteil
Liquidität, um die Chancen wahrzunehmen, die sich vielleicht schon in den
kommenden Wochen bieten könnten.
Bei den Währungen ist es auch einfach.
Es gibt zwei gute Währungen, in die wir
investieren: Franken und Dollar. Von
allen anderen sollte man die Finger lassen. Eine grosse Region, die immer noch
überdurchschnittlich wächst und damit
attraktiv ist, ist Asien – einschliesslich
Japan. US-Werte müssen immer dabei
sein. Es gibt immer Chancen, unabhängig davon, wie düster die Welt auch gerade aussehen mag.
Martin Jetzer
Kistler: Die Krise kann sich ausweiten.
Aber nicht wegen des Pfunds, sondern
sie wird in den kommenden Jahren die
Europäische Währungsunion erfassen.
In zehn Jahren wird der Euro in seiner
heutigen Form nicht mehr existieren. Es
gibt nichts Stärkeres als den Markt, und
dieser wird Korrekturen erzwingen.
Man kann dieses Sichdurchwursteln,
dieses unsägliche Krisenmanagement
von Brüssel nicht endlos fortsetzen. Der
Markt wird eine Umkehr erzwingen, so
wie er den Brexit erzwungen hat.
Traud: Nicht der Markt hat den Brexit erzwungen, sondern die Politik. David
Cameron hatte nicht den Mut, seinen Auftrag als Politiker zu erfüllen, und hat gehofft, diesen an die Bevölkerung zurückgeben zu können. Nun ist die britische Bevölkerung geschockt über ihre eigene
Courage. Kurzfristig sind die Turbulenzen
an den Märkten sicher nicht vorbei. Der
DAX hat ein Potenzial für einen Rückschlag auf bis zu 8000 Punkte. Entscheidend ist, ob sich die EU mit Grossbritannien über das weitere Verfahren einigt
oder ob es zu Konflikten kommt. Wenn
die Briten Rosinen picken und alle Vorteile für sich einfahren können, wäre das
der Anfang vom Ende der EU.
Junius: Ökonomisch ist die Unsicherheit
kein Vorteil, weder für Grossbritannien
noch für Europa. Grosse Märkte beleben
das Geschäft, nationale Regeln machen
die Märkte kleiner und begrenzen den
Wettbewerb. Die Freizügigkeit ist wichtig,
weil nur so die Konkurrenz im Dienstleistungsbereich zunimmt.
Traud: Würde die Freizügigkeit bei
Dienstleistungen eingeschränkt, wäre
Grossbritannien der Verlierer. Der Verlust des EU-Passes für Banken würde den
Finanzplatz London schwächen.
Martin Jetzer
Gertrud Traud
cri. ! Dr. Martin Jetzer ist seit 2010 Chief
abl. ! Das Studium der Volkswirtschafts-
Investment Officer beim Vermögensverwalter Bellecapital. Zuvor war Jetzer
25 Jahre lang Chefökonom der HSBC
Guyerzeller Bank und als deren Chief
Investment Officer verantwortlich für
die Anlagestrategie. Er amtete zudem
viele Jahre als Mitglied der Geschäftsleitung der HSBC Private Bank.
lehre in Mainz und Michigan schloss
Gertrud Traud mit der Promotion ab.
Das Sujet der Arbeit (optimale Währungsräume) beschäftigt sie bis heute
bei ihrer Arbeit als Chefvolkswirtin der
Landesbank Hessen-Thüringen. Traud
begann ihre Karriere in der volkswirtschaftlichen Abteilung von Julius Bär.
Gertrud Traud
Grossbritannien hat grosse Budget- und
Leistungsbilanzdefizite und ist ein Nettoschuldner. Wie kann es ohne Zugang zu
Europas Binnenmarkt bestehen?
Jetzer: Grossbritannien ist die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt, macht
4% des globalen Bruttoinlandprodukts
aus, zählte in den letzten Jahren punkto
Wachstum zu den erfolgreichsten Staaten Europas. Die Arbeitslosigkeit liegt
bei 5%, die Profitmarge britischer Firmen lag in den letzten Jahren im Durchschnitt über derjenigen der deutschen.
Dies, weil die Volkswirtschaft offener
und weniger reguliert ist als andere EULänder und eine eigene, frei schwankende Währung hat. Das Leistungsbilanzdefizit von 6% ist ein Reflex der
Wachstumsstärke und des starken
Pfunds. Dessen Kurs fiel zuletzt auf ein
vernünftigeres Niveau. Da Britannien
mehr aus der EU importiert als in die
EU exportiert, ist die EU vielleicht sogar gefährdeter.
Die Kursturbulenzen deuten darauf hin,
dass die Anleger die Lage anders sehen.
Jetzer: Am Markt hat kein irrationaler,
sondern ein sehr differenzierter Ausverkauf stattgefunden. Titel, die von einer
Wachstumsverlangsamung in Grossbritannien betroffen sind, haben am meisten gelitten, wie Dufry oder Adecco. Die
Kurse britischer Aktien sind weniger gefallen als die deutscher. Die Perspektiven für den britischen Aussenhandel
haben sich gebessert. Grossbritannien
wird nach der Verhandlungsphase ausserhalb der EU vielleicht gar nicht
schlechter dastehen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Rauswurf aus
dem gemeinsamen Markt zu vermeiden,
etwa den Weg über die Efta in den EUWirtschaftsraum oder assoziiertes Mitglied der EU zu werden. Am Ende wird
Berlin versuchen, die Briten im eigenen
Interesse einzubinden.
Kistler: Ich kann mich diesem Plädoyer
nur anschliessen. Grossbritannien kann
sich als einzelnes Land besser einrichten
und regulieren als innerhalb der EU. Zudem wird es, abgesichert durch Freihandelsverträge, weiterhin Handel mit
Europa treiben. Die kontinentaleuropäischen Firmen werden aus Eigenantrieb mit dem konkurrenzfähigen Land
zusammenarbeiten. Diese Öffnung wird
mehr Markt bringen, und es wird in fünf
Jahren viel besser ausschauen.
Traud: Es kommt auf die Handelsbeziehungen an und darauf, welchen Status
Grossbritannien künftig hat. Sollte der
Warenverkehr wenig, die Dienstleistungen dagegen stärker reglementiert werden, würde das Grossbritannien empfindlich treffen. Immerhin erzielen die
Briten mit Finanzdienstleistungen einen
Überschuss im Aussenhandel. Nähme
dieser ab, würde das britische Wachstum
in den kommenden Quartalen gedämpft, und selbst eine technische
Rezession scheint aufgrund aufgeschobener Investitionen nicht ausgeschlossen. Der britische Immobilienmarkt
dürfte weiter korrigieren, und die Konsumenten werden sich zurückhalten.
Eine Rezession in Grossbritannien würde zeigen, dass der Austritt einen hohen
Preis hat.
Wie stehen die Notenbanken nach dem
Brexit da?
Jetzer: Die Notenbanken sind geldpolitisch ausgeschossen. Die Zinsen sind bei
null und werden wegen des Brexit wohl
länger dort verharren. Das ist ein Risiko.
«Die Notenbanken
sind geldpolitisch
längst ausgeschossen.»
Martin Jetzer
Chief Investment Officer Bellecapital
Sollte es in Europa zu einer Rezession
kommen, könnten sie nicht mehr wie
bisher stabilisierend wirken. Wir müssen
künftig mit heftigeren Konjunkturschwankungen rechnen – der Preis für
die übertrieben expansive Geldpolitik
der letzten Jahre.
Junius: Ohne die extrem expansive und
wachsame Geldpolitik sähe die Lage in
Europa noch viel düsterer aus. Es ist
aber misslich, dass die Politik so stark
allein auf die Geldpolitik setzt. Ich gehe
davon aus, dass wir monetäre Reaktionen auf den Brexit bekommen. Die
Karsten Junius
Bank of England wird die Zinsen nicht
wie geplant anheben, sondern senken.
Von der EZB erwarten wir eine Zinssenkung im September, der die Schweizer Nationalbank folgen müsste, um die
ursprünglichen Zinsdifferenzen wieder
herzustellen. Auch die Bank of Japan
steht kurz davor, die Zinsen noch einmal
zu senken. Schliesslich wird der starke
Dollar dazu führen, dass die geplante
Zinserhöhung des Fed im September
auf 2017 verschoben wird.
Kistler: Die Notenbanker werden von
den Politikern gewählt, und sie sind
längst zu ihren Gehilfen geworden. Sie
versuchen nur, auf kurze Sicht der Wirtschaft zu helfen. Nun ist es wichtig, kurzfristig Liquidität einzuschiessen, was
vielleicht noch das Wirkungsvollste ist,
was sie tun können. Generell gilt aber, je
mehr Geld sie ins System pumpen, desto
mehr Schulden werden aufgehäuft. Reformen sind dringend nötig, sonst wird
die Verschuldung immer mehr ansteigen. Die Zahl unrentabler Firmen wird
weiter zunehmen, und die Stagnation
wird verfestigt.
Wie können Sie bei diesem Szenario weiter so optimistisch sein?
Kistler: Ich bin zuversichtlich für die
Unternehmenswelt und sehr pessimistisch für die Staaten. Der Weg zurück ist
schon lange überschritten, sie können
die Schulden nie mehr abbauen. Letztlich basiert die wirtschaftliche Stagnation auf einer Vertrauenskrise. Es investiert niemand mehr bei diesen Verbindlichkeiten und bei dieser Liquiditätsflut.
Es gibt zu viele unproduktive Sektoren,
die auch noch subventioniert werden.
Wenn niemand investiert und konsumiert, wie können dann die Firmen prosperieren?
Kistler: Wir investieren weniger in Firmen, die in Europa ihren Hauptumsatz
erzielen. Es gibt in der Welt grosse
Regionen, die gut aufgestellt sind und
markant wachsen. Viele Schweizer Unternehmen profitieren davon.
Halten Sie das jüngste Vorgehen der
Notenbank für zielführend?
Traud: Ich bedauere, dass die Notenbanken glauben, die Welt retten zu
können. In Wirklichkeit lösen sie nicht
André Kistler
das Problem, sondern sie sind das Problem.
Junius: Ich bestreite diese Aussage. Betrachtet man die jüngsten Bank-Lending-Surveys, so hat es zuletzt noch
genug Teilnehmer gegeben, die angaben, unter Kreditknappheit zu leiden.
Es mag zwar ungewöhnlich sein, wie tief
die Leit- und Kapitalmarktzinsen sind.
Wir dürfen aber nicht vergessen, was
dazu geführt hat. Die Zinsen sind so
niedrig, weil die Kapitalrendite so tief
ist. Es ist die Aufgabe der Zentralbanken, den Finanzierungssatz unterhalb der Kapitalrendite zu halten, wenn
die Inflationsraten zu niedrig sind.
Stecken die Zentralbanken in einer Falle,
weil Staaten, Unternehmen und Konsumenten zu stark verschuldet sind?
Kistler: Die Zinsen waren immer ein
Spiegelbild der Inflation. Die Zentralbanken sind aber in einer gefährlichen
Sackgasse gelandet. Wenn der Zins nur
um einen Prozentpunkt steigt, nehmen
die Zinslasten in den USA, Frankreich
und Deutschland um 50% zu. Sobald die
von den niedrigen Energiepreisen ausgelösten Basiseffekte verschwinden,
steigt die Teuerung – die Zinsen aber
nicht. Deswegen werden möglicherweise auch die letzten Realzinsen verschwinden. Das ist ein neues Problem,
das wir bisher nicht hatten.
Traud: Die Zentralbanken wollen den
hohen Schuldenberg entweder mit negativen Zinsen oder mit höherer Inflation
weginflationieren.
Würde die Welt ohne die Massnahmen
der EZB tatsächlich so viel düsterer aussehen, wie Herr Junius sagt?
Jetzer: Die ultralockere Geldpolitik war
für eine lange Phase wichtig und hat die
Weltwirtschaft in den Jahren 2008 und
2009 vor einem viel schlimmeren Einbruch gerettet. Das heisst aber nicht,
dass diese Politik für immer weitergeführt werden sollte. Die Wirksamkeit
der Geldpolitik hat massiv nachgelassen. Die US-Notenbank hat 2014 ihre
Chance verpasst, die Zinsen anzuheben,
als die Zahl neu geschaffener Stellen
deutlich zu steigen und die Arbeitslosigkeit zu sinken begann. Jetzt ist es viel
schwieriger, denn wir befinden uns im
siebten Jahr eines Konjunkturauf-
schwungs. Irgendwann droht wieder
eine Rezession.
Junius: Die Zinsen in den USA hätte das
Fed tatsächlich wohl angehoben, wenn
es gewusst hätte, wie stark die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Schliesslich hätten
die meisten Ökonomen daraus geschlussfolgert, dass auch die Löhne und
Inflationsraten dann ansteigen würden.
Beide sind in den USA – wie in fast allen
Industrieländern – bis zuletzt aber tat-
«Nur Schwache argumentieren mit schwachen Währungen.»
Gertrud Traud
Chefvolkswirtin Helaba
sächlich sehr niedrig geblieben. Insofern
lässt sich heute sagen, dass es bisher
durchaus richtig von dem Fed war, die
Zinsen nicht stärker anzuheben.
Jetzer: Das verstehe ich, Herr Junius.
Eines der makroökonomischen Ziele ist
Preisstabilität. Dieses Ziel haben wir erreicht, erstmals seit ich auf der Welt bin.
Aber die EZB will 2% Inflation; das ist
willkürlich und sogar gefährlich. Die
heutigen Inflationsraten sind kein
Grund, weiter in dieser extremen Form
Liquidität auszuschütten.
Traud: Die Inflationsentwicklung hängt
ausserdem in vielen Ländern vom Ölpreis ab. Allein der jüngste Ölpreisanstieg wird in den nächsten Monaten
zu leicht steigenden Teuerungsraten
führen. Die Notenbanken haben hingegen panische Angst vor Deflation.
Alle Erfahrungen der Nachkriegszeit
zeigen aber, dass in Zeiten sehr niedriger Inflation, wie beispielsweise in
Deutschland in den achtziger Jahren,
die Wachstumsraten hoch waren. Die
Idee der EZB, eine höhere Inflation
könne zu höherem Wachstum führen,
funktioniert nicht. So schafft die EZB
derzeit kein Vertrauen.
Wie lautet Ihre Empfehlung für Anleger
in diesem schwierigen Umfeld?
BILDER GORAN BASIC / NZZ
Kistler: Wir haben wenig Vertrauen in
die Staatenwelt und Nominalwerte. Wir
investieren bevorzugt in Sachwerte statt
in Währungen oder in Anleihen. Wir
legen in die besten Firmen auf dieser
Welt an. Da hat man zwar kurzfristig das
Risiko von Schwankungen, langfristig
aber praktisch keine Verlustrisiken. Das
global beste Anlagesegment über die
letzten 20 Jahre waren Schweizer Smallund Mid-Caps. Diese Aktien sind in dieser Zeit im Schnitt um rund 500% gestiegen. Schwellenländer-Aktien und
US-Valoren haben in dieser Zeit zirka
250% gewonnen. Das liegt daran, dass
die Schweiz so dicht wie kein anderes
Land mit phantastischen Firmen besiedelt ist. Der starke Franken unterstützt
diesen Trend.
Der Franken ist eine Herausforderung,
meinen Sie?
Kistler: Nein, der starke Franken gibt
Antrieb. Er tut den Unternehmen indirekt gut. Sie sind gezwungen, stets
noch besser und innovativer zu sein. Sie
müssen ständig kämpfen, um global die
besten Produkte zu präsentieren.
Traud: Dieser Zusammenhang lässt sich
auch mit Makrodaten unterlegen. In der
Euro-Zone haben viele Finanzmarktakteure panische Angst vor einer Stärkung des Euro. Auch der EZB ist eine
Schwächung des Euro offensichtlich
sehr willkommen. Aber nur Schwache
wünschen sich eine schwache Währung.
Gute Firmen dagegen können sich auch
dem Wettbewerb aussetzen, das Beispiel
Schweiz zeigt das deutlich. Die Angst
vor Währungsschwankungen ist falsch.
Flexible Währungen müssen sich bewegen dürfen. Wenn es flexible Wechselkurse gibt, dann muss man die Schwankungen aushalten können. Anders ist es
in einem Festkurssystem. Da müssen die
anderen Anpassungsinstrumente flexibel sein, um Wettbewerbsfähigkeit zu
erzielen.
Die SNB hat Schwierigkeiten, eine starke
Aufwertung des Frankens zu verhindern.
Kistler: Leider interveniert die Nationalbank immer wieder am Devisenmarkt, obwohl dies nur ein paar Tage
oder Wochen wirkt. Die SNB kann langfristig nichts gegen das Erstarken des
Frankens tun. Der Franken hat in den
Was für eine Asset-Allokation ergibt sich
daraus?
Jetzer: Cash in der heimatlichen Währung, Aktien breit diversifiziert. Vorsicht in den USA; der Markt ist teuer,
die Bewertungen sind hoch. Auch, weil
der Gewinnzyklus vor etwa anderthalb
Jahren gedreht hat. Gewinne und Umsätze sinken. Ich setze weiterhin auf das
Erholungspotenzial in Europa und auf
den langfristigen Wachstumstrend in
Asien – dort sind wir übergewichtet. Es
ist ausserdem wichtig, bei Anleihen
Währungsrisiken abzusichern.
Sind Währungsabsicherungen auch bei
Aktien sinnvoll?
Jetzer: Weniger als bei Bonds. Dennoch
sollten Investoren lieber Aktienrisiken
als Währungsrisiken nehmen. Für Erstere wird man entschädigt, für Letztere
nicht.
Junius: Ich finde es auch bemerkenswert, wie sich die Schweizer Wirtschaft
mit hoher Flexibilität an den höheren
Wechselkurs und das Umfeld anpasst.
Ich befürchte aber, dass die Schweiz bei
einem Szenario mit relativ viel Chaos in
Europa auch extrem leiden würde. Insofern wären Aktien amerikanischer Unternehmen eine sicherere Wette.
Traud: Wir favorisieren europäische
Aktien. US-Titel sind vergleichsweise
teurer. Mit der Stabilisierung der Rohstoffpreise und der lokalen Währungen
sind auch Schwellenländer wieder attraktiv geworden. Bei negativen Renditen kann man kaum noch Staatsanleihen
empfehlen. Das ist nur für die Finanzminister interessant.
Junius: Ich kann Ihnen tatsächlich einmal zustimmen, Frau Traud. Aber ein
Missverständnis möchte ich noch ausräumen. Wir sollten der EZB nicht
unterstellen, dass sie die Staatsschulden
weginflationieren möchte. Das heisst,
dass sie Inflationsraten oberhalb ihrer
Norm anstrebt. Die Teuerungsraten bewegen sich seit einigen Jahren unterhalb
der von ihr versprochenen und anvisierten Höhe, und auch die Inflationserwar-
tungen sind gefallen. Die EZB versucht
– genau wie alle anderen Zentralbanken
– lediglich ihr Stabilitätsversprechen
einzuhalten und die von ihr als optimal
erachteten Inflationsraten zu erreichen.
Warum ist das so ein wichtiger Aspekt?
Junius: Weil ich mir Sorgen mache, dass
die Kritik, die an den einzelnen Massnahmen der Zentralbanken geäussert
wird, in eine Systemkritik umschlägt.
Diese könnte dann ähnlich den Einwänden Grossbritanniens an der Brüsseler
Politik ausser Kontrolle geraten. In der
Öffentlichkeit kann es eben missverstanden werden, wenn Ökonomen sich
streiten und dies als Pauschalkritik an
den Institutionen ausgelegt wird, die
diese nachhaltig beschädigt. Letztlich
sind die Zentralbanken für die Preisstabilität unserer Wirtschaftsräume verantwortlich und nicht für die Höhe der
Kapitaleinkünfte einzelner Sparer.
Es gibt einen ultimativen Vertrauensindikator, und das ist der Goldpreis. Der ist in
letzter Zeit gestiegen. Wieso wohl?
Kistler: Gold ist eine gute Versicherung
und Beimischung vor dem Hintergrund,
dass die Zentralbanken immer mehr
Gold kaufen. Zudem werden die Realzinsen sinken, was ebenfalls für das Halten von Gold spricht. Unser DepotSchwergewicht liegt aber auf den kleinen und mittleren Schweizer Aktien, die
wir mit dem dreifachen Indexgewicht in
den Portfolios halten.
Ist das nicht etwas einseitig?
Kistler: Das ist natürlich nicht alles – obwohl es vielleicht das Beste wäre. Daneben investieren wir vor allem in amerikanische Aktien. Dabei verfolgen wir
«Die Kritik an den
Zentralbanken darf
nicht zur Systemkritik
werden.»
Karsten Junius
Chefökonom Bank J. Safra Sarasin
keinen Branchenansatz, sondern suchen
die besten und sichersten Firmen dieses
Globus. Die finden wir in der Schweiz, in
den USA und in Europa – dort allerdings beschränkter als in Amerika.
Dazu halten wir 15% Liquidität. Anleihen haben wir untergewichtet. Wir erwarten keinen markanten Zinsanstieg.
Traud: Wir sehen den Goldpreis in der
Spitze auf 1500 $ steigen, insbesondere
in den Phasen der Unsicherheit rund um
den Brexit.
Ist Gold denn eine valable Anlageklasse?
Traud: Ein wenig Gold schadet nie.
Kistler: Wir haben ungefähr 3% Gold in
den Portfolios.
Jetzer: Bei uns ist der Anteil etwas
höher. Es gibt drei gute Gründe, heute
Gold zu halten. Erstens ist Gold eine
sehr gute Versicherung in einer Finanzkrise. Zweitens werden in den nächsten
ein bis zwei Jahren die Realzinsen sinken, wenn die Massnahmen der Zentralbanken auch nur zu einer leicht steigenden Inflation führen sollten. Drittens
korreliert die Goldpreisentwicklung fast
nicht mit den anderen Märkten.
Gesprächsleitung: Anne-Barbara Luft
und Christof Leisinger
Karsten Junius
André Kistler
cri. ! Dr. Karsten Junius ist seit April
cri. ! André Kistler ist Chefstratege und
2014 Chefökonom der Bank J. Safra
Sarasin. Davor arbeitete er drei Jahre als
Ökonom beim Internationalen Währungsfonds. Von 2000 bis 2010 amtete
Junius als Leiter Kapitalmärkte und
Immobilien-Research bei der Deka
Bank. Tätig war er zuvor u. a. auch beim
Institut für Weltwirtschaft in Kiel.
Verwaltungsratsmitglied der Albin Kistler AG in Zürich. Im Jahr 1982 machte
er sich selbständig als Vermögensverwalter. Zuvor war Kistler bei der Bank
Vontobel im Asset-Management und bei
Fiduciary Trust New York im Research
tätig. Er begann seine Karriere 1972 bei
der Schweizerischen Bankgesellschaft.
Herunterladen