Indikationsstellung zur Motivationsarbeit in der Ambulanzkonferenz 85 Behandlungserwartungen (8 Items) misst die allgemeinen Erwartungen und Einstellungen gegenüber verschiedenen Behandlungsansätzen (somatische und psychotherapeutische). Offenheit für Psychotherapie (20 Items) erhebt die Vorerfahrungen und die Differenzierung der Einstellungen des Patienten gegenüber psychotherapeutischen Behandlungsmaßnahmen. Schneider et al. (1999) konnten zeigen, dass die mit dem FMP erfasste Psychotherapiemotivation tatsächlich mit einem positiven Therapie-Outcome korreliert. Im Hinblick auf die psychosomatisch-psychotherapeutische Ambulanz fanden Rumpold et al. (2004), dass ein positiver Zusammenhang zwischen Psychotherapiemotivation vor dem ersten Ambulanzkontakt und Überweisungserfolg besteht. Demzufolge gibt es also Hinweise darauf, dass ein höherer Leidensdruck, geringerer sekundärer Krankheitsgewinn, ein differenzierteres psychosomatisches Krankheitsmodell des Patienten und eine positive Einstellung zur Psychotherapie die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Behandlung erhöhen. Allerdings existieren bislang noch keine empirischen Befunde darüber, wie diese Faktoren bei Ambulanzpatienten beeinflusst werden können. Insbesondere im Hinblick auf die affektiven Faktoren der Psychotherapiemotivation im Sinne des Leidensdrucks und des Krankheitsgewinns stellt sich die Frage, ob diese in einer psychosomatisch-psychotherapeutischen Ambulanz ebenso behandelt werden sollten wie in der probatorischen Phase in einer psychotherapeutischen Praxis. Es ist durchaus denkbar, dass eine zu weit reichende Destabilisierung eines Patienten in der Ambulanz zwar seinen Leidensdruck erhöht, dadurch aber eine erfolgreiche Überweisung zu einem anderen Psychotherapeuten verhindert, da der Patient in seiner Labilisierung nicht von dem ihm vertrauten Therapeuten abgefangen werden kann und durch den Neubeginn bei einem zweiten Behandler eine weitere Destabilisierung befürchtet. Indikationsstellung zur Motivationsarbeit in der Ambulanzkonferenz Die einzige, wenn auch kurze Darstellung der Motivationsarbeit in einer psychosomatisch-psychotherapeutischen Ambulanz stammt von Rumpold et al. (2004; 2005), die eine Diagnostik-Motivationsphase (DM-Phase) beschreiben, in der nach Erstgespräch und Ambulanzkonferenz bei einzelnen Patienten weitere Sitzungen zur Motivationsförderung durchgeführt werden. In diesen Sitzungen werden die Einstellungen und Erwartungen des Patienten gegenüber der Psychotherapie thematisiert, seine Laienätiologie bearbeitet und seine Reflexionsfähigkeit gefördert. 86 9 Motivationsarbeit Im Folgenden sollen nun, orientiert an der von Rumpold et al. (2004; 2005) beschriebenen Vorgehensweise in der Ambulanz der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie Innsbruck, die einzelnen Schritte der Motivationsarbeit dargestellt werden. Meist wird dem Therapeuten schon während des Erstgesprächs deutlich, dass die Motivation seines Patienten für die indizierte Psychotherapie nicht ausreicht. In diesen Fällen wird von vornherein ein zweiter Gesprächstermin vereinbart. In der Ambulanzkonferenz wird die Indikation für eine Motivationsphase von zwei, drei oder mehr Stunden gestellt und deren inhaltliche Schwerpunkte definiert. Bei Patienten, die bereits eine vage Fokuswahrnehmung besitzen und sich lediglich aufgrund ihrer Schamgefühle oder Angst vor dem Unbekannten noch nicht für eine Behandlung entschließen können, wird die Motivationsarbeit eher in Aufklärung über Psychotherapie und Vermittlung einer positiven „probatorischen Psychotherapieerfahrung“ in der Ambulanz bestehen. Patienten, die beispielsweise unter einer somatoformen Störung leiden und noch an einem rein somatischen Krankheitsmodell festhalten, werden dagegen eher Aufklärung über das Krankheitsbild und ein gemeinsames Herausarbeiten ätiologisch relevanter psychosozialer Faktoren benötigen. Besonders lang und intensiv kann die Motivationsphase bei essgestörten – insbesondere anorektischen Patienten – und bei Patienten mit somatoformen Störungen ausfallen, da hier fehlende Krankheitseinsicht und Widerstand gegen die Behandlung oft sehr stark ausgeprägt sind. Es empfiehlt sich, im ersten oder zweiten Gespräch mit dem Patienten die Dauer und den Inhalt der Motivationsphase etwa so festzulegen: „Wir haben gesehen, dass Ihre Angstanfälle immer dann auftreten, wenn Sie fürchten, hilflos und allein zu sein. Wenn ich Sie recht verstanden habe, sehen Sie im Prinzip für sich die Notwendigkeit, eine Psychotherapie zu beginnen. Allerdings haben Sie mir gesagt, dass Sie sich nicht vorstellen können, sich auf eine Psychotherapie wirklich einzulassen. Ich schlage Ihnen vor, dass wir uns einschließlich der heutigen Stunde drei Stunden Zeit nehmen, um darüber zu sprechen, welches Ihre Vorbehalte gegenüber einer Psychotherapie sind und wie diese vielleicht aussehen könnte, falls Sie sich doch dazu entschließen würden.“ „Wir stehen vor folgendem Problem: Sie sind überzeugt, dass Ihre Zahnschmerzen eine körperliche Ursache haben. Fünf verschiedene Fachärzte haben Sie gründlich untersucht und keinen Anhalt für eine körperliche Erkrankung bei Ihnen gefunden. Ich habe Ihnen auch meine Hypothese mitgeteilt – dass nämlich Ihr Schmerz möglicherweise zusätzlich zu den körperlichen Faktoren durch seelische Einflüsse mit bedingt sein könnte. Wenn das so wäre, könnte Ihnen eine Psychotherapie helfen, mit den Schmerzen besser fertig zu werden. Was hielten Sie davon, wenn wir uns noch zweimal treffen würden, um über Ihre Erkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten zu sprechen, bevor Sie sich entscheiden, wie Sie weitermachen wollen?“ Aufklärung und Information über das Krankheitsbild 87 Vor Abschluss der Motivationsphase werden die Patienten noch einmal in der Ambulanzkonferenz vorgestellt, wo dann die Behandlungsmöglichkeiten erneut diskutiert werden und die Überweisungsindikation gestellt wird. Aufklärung und Information über das Krankheitsbild Ein zentraler Bestandteil der Ambulanzarbeit überhaupt, aber insbesondere der Motivationsarbeit, ist die gründliche Information und Aufklärung des Patienten über seine Erkrankung. Bei vielen Therapeuten besteht eine Scheu davor, dem Patienten eine vermeintlich oder auch real stigmatisierende Diagnose mitzuteilen. Dies trifft besonders bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen zu, einer Diagnose, die ja den Kern des Patienten infrage stellt. Darüber hinaus wird oft dort mit der Diagnoseeröffnung gezögert, wo eine fehlende Krankheitseinsicht bzw. ein heftiger Widerstand gegen die Diagnose vorliegen. Dies ist beispielsweise nicht selten bei Patientinnen mit Anorexia nervosa der Fall. Es hat sich allerdings gezeigt, dass die Diagnoseeröffnung für die meisten Patienten eine Entlastung bedeutet, vorausgesetzt, sie geschieht so einfühlsam wie in folgendem Beispiel und ohne die individuelle Geschichte und das persönliche Leid des Patienten aus dem Auge zu verlieren: „Wir haben gesehen, dass Sie sehr unter Ihren Stimmungsschwankungen zu leiden haben, die mitunter so weit gehen, dass Sie stark deprimiert sind und sich das Leben nehmen wollen. Sie haben mir beschrieben, wie stark dadurch auch Ihre Beziehungen in Mitleidenschaft gezogen werden, wobei Sie letztlich selbst die Leidtragende sind, da sie in Panik geraten, wenn Sie fürchten, dass Ihr Partner sie verlässt. Außerdem fällt es Ihnen schwer, Ihre Impulse zu kontrollieren: Sie schreien andere an und haben Ihren Partner mit Tellern beworfen, darüber hinaus gehen Sie mit sich selbst nicht gerade liebevoll um, wenn Sie sich schneiden, zu viel Alkohol trinken oder einfach nicht zur Arbeit gehen und so riskieren, ihren Job zu verlieren. Darüber hinaus waren Sie selbst verwundert, wie schwer es Ihnen fällt, ein Bild davon zu entwerfen, wer Sie sind und was Sie im Leben wollen. In unseren Gesprächen haben wir festgestellt, dass auch Ihre Eltern mit Ihnen früher nicht besonders liebevoll umgegangen sind, sodass sie nie lernen konnten, sich selbst zu lieben. Es fällt einem dann später viel schwerer, anderen zu vertrauen, die einem nahestehen, und sich selbst zu vertrauen, dass man sein Leben in den Griff bekommt. Wir kennen die Beschwerden und Probleme, die Sie haben, da auch viele andere Menschen darunter leiden, und nennen sie Borderline-Persönlichkeitsstörung. Etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung leiden unter dieser Erkran- 88 9 Motivationsarbeit kung, die sich mit einer Psychotherapie und bei Bedarf zusätzlich mit Medikamenten behandeln lässt.“ Bei Patienten mit somatoformen Störungsbildern ist oft der Hinweis auf psychophysiologische Zusammenhänge hilfreich, da dieser ihr meist somatisch orientiertes Krankheitsverständnis aufgreift, z. B.: „Es hat sich herausgestellt, dass weder der Zahnarzt noch der Neurologe oder HNO-Arzt eine körperliche Ursache für Ihren Zahnschmerz finden konnten. Eine Reihe von Röntgenbildern und das MRT haben auch keinen Hinweis auf eine organische Schädigung gebracht. Wir sehen hier immer wieder Patienten, denen es ähnlich geht wie Ihnen: Sie leiden stark unter ihren Schmerzen, keiner findet eine Ursache dafür, keiner kann Sie behandeln und man sagt Ihnen noch: ‚Sie haben nichts!‘ Wir wissen heute, dass Schmerzen auch im Gehirn entstehen können. Man kann sich das wie ein Virus auf der Festplatte eines Computers vorstellen: Am Anfang war da ein körperlicher Schmerz, wie bei Ihnen nach der Zahnoperation. Dann ist die Wunde verheilt, der Schmerz hat aber weiter bestanden. Man erklärt sich das so, dass das Schmerzerleben im sogenannten Schmerzgedächtnis im Gehirn gespeichert bleibt und Ihnen von dort aus Zahnschmerzen meldet, obwohl die Zähne gesund sind. Wichtig ist, dass wir wissen, dass Sie den Schmerz wirklich haben und ihn sich nicht nur einbilden. Eine solche Erkrankung nennen wir somatoforme Schmerzstörung.“ Für viele Patienten sind solche Informationen hilfreich, da sie endlich einen Namen für ihre Probleme haben, erfahren, dass sie „nicht einfach Spinner sind“, sondern unter einer Erkrankung leiden, die man ernst nimmt und behandeln kann. Auch die Information, dass andere Menschen unter ähnlichen Problemen leiden, kann sehr entlastend wirken. Für manche Patienten ist es darüber hinaus hilfreich, wenn man mit ihnen gemeinsam die diagnostischen Kriterien von ICD-10 oder DSM-IV anschaut und bespricht. Da viele – insbesondere jüngere – Patienten von sich aus im Internet nach Informationen über ihre Erkrankung suchen werden, ist es gelegentlich sinnvoll, ihnen von vornherein allgemein verständliche Fachliteratur zu empfehlen.