24 Kapitel 3 Verschiedene abnorme Zeitintervalle In diesem Kapitel lernen Sie die verschiedenen normalen Werte der einzelnen Zeitintervalle kennen und was es bedeutet, wenn diese abweichen. Die Dauer der P-Welle Die Vorhoferregung dauert normalerweise weniger als 0,10 s. Wenn der linke Vorhof dilatiert (= vergrößert) ist, dauert sie länger und die Dauer der P-Welle erhöht sich auf ≥ 0,12 s. Normale Dauer <0,1 s x x isoelektrische Linie Dauer der P-Welle Die verlängerte P-Welle, welche bei Vorhofvergrößerung zu erkennen ist, ist zweigipfelig in den Ableitungen I und II und wird als „P mitrale“ bezeichnet. Wir werden darüber in späteren Kapiteln noch mehr lernen. Ableitung II P mitrale EKG_215x280_korr3.indd 24 26.01.16 20:45 Kapitel 3 Verschiedene abnorme Zeitintervalle 25 Die Dauer des PQ-Intervalls Das PQ-Intervall repräsentiert die Dauer der Erregungsausbreitung von den Vorhöfen zu den Ventrikeln. Man misst es von Beginn der P-Welle bis zum Beginn des QRS-Komplexes. Normalerweise liegt es zwischen 0,12 und 0,20 s. Jede Dauer darunter oder darüber betrachten wir als abnorm. x x PQ-Intervall PQ > 0,2 s Wenn das PQ-Intervall länger als 0,2 s ist und ein QRS-Komplex auf jede P-Welle folgt, dann liegt ein AV-Block ersten Grades (AV-Block I) vor. x x 7mm = 0,28 s Beispiel eines AV-Blocks ersten Grades. In diesem Fall beträgt das PQ-Intervall 0,32 s und jeder P-Welle folgt ein QRS-Komplex. PQ < 0,12 s Wenn das PQ-Intervall kleiner als 0,12 s ist, findet die Ventrikel-Depolarisation früher als normal statt. Man spricht hier von Präexzitation. Dabei leitet ein zusätzliches Faserbündel die Impulse von den Vorhöfen zu den Ventrikeln. Die Leitungsgeschwindigkeit in diesem Bündel ist schneller als im AV-Knoten, deswegen erreicht der Impuls die Ventrikel früher als normal und das PQ-Intervall ist verkürzt. Es gibt zwei wichtige Präexzitationssyndrome, die Sie sich merken sollten: Das Lown-Ganong-Levine-Syndrom (LGL-Syndrom) zeichnet sich durch einen QRS-Komplex aus, der direkt der P-Welle folgt. Das Aussehen und die Dauer des QRS-Komplexes sind allerdings normal. EKG_215x280_korr3.indd 25 26.01.16 20:45 26 Kapitel 3 Verschiedene abnorme Zeitintervalle Die andere Form des Präexzitationssyndromes nennt man Wolff-Parkinson-White-Syndrom (WPWSyndrom). Hier folgt eine kleine, flachere Welle des QRS-Komplexes direkt auf die P-Welle. Diese bezeichnet man als „Delta-Welle”, da sie dem griechischen Buchstaben Delta ähnelt. Die Dauer des QRS-Komplexes ist hier normalerweise verlängert auf mehr als 0,12 s. Delta-Welle Lown-Ganong-Levine-Syndrom = LGL-Syndrom Wolff-Parkinson-White-Syndrom = WPW-Syndrom Der QRS-Komplex folgt unmittelbar auf die P-Welle Der QRS-Komplex sieht normal aus Die QRS-Dauer ist normal Der QRS-Komplex folgt unmittelbar auf die P-Welle Der QRS-Komplex sieht abnormal aus (Delta-Welle) Die QRS-Dauer ist > 0,12 s Die QRS-Dauer Unter normalen Umständen dauert die Ventrikeldepolarisation bis zu 0,1 s. Die Dilatation der Ventrikel kann eine leichte Verlängerung des QRS (> 0,1 s bis < 0,12 s) bewirken. Eine deutlich verlängerte QRS-Dauer von ≥ 0,12 s finden wir bei einer Leitungsunterbrechung in einem Schenkel (Linksschenkel- oder Rechtsschenkel-Block) des HIS-Bündels. Dies bezeichnet man als totalen Schenkelblock. Wir werden darüber in Kapitel 5 noch ausführlicher sprechen. x x QRS-Dauer ≥0,12 s Totaler Schenkelblock Ein verbreiterter QRS-Komplex kann auch noch andere Ätiologien haben, als den Schenkelblock. Wie wir soeben gelernt haben, ist ein Beispiel das WPW-Syndrom, bei welchem eine Delta-Welle als Teil des Kammerkomplexes vorzeitig auftritt. Andere Gründe dafür werden Sie in späteren Kapiteln noch kennenlernen. EKG_215x280_korr3.indd 26 26.01.16 20:45 Kapitel 3 Verschiedene abnorme Zeitintervalle 27 Kapitel 3 Übungsaufgaben Die folgenden Beispiele werden Ihnen bekannt vorkommen, es werden aber diesmal nicht die Messwerte selbst, sondern die entsprechenden Diagnosen verlangt. Beachten Sie, dass in einem Beispiel mehr als eine Veränderung vorkommen kann. Keine der anderen Antwortmöglichkeiten Kompletter Schenkelblock WPW-Syndrom LGL-Syndrom AV-Block 1. Grades P mitrale Lösungen siehe Seite 139 ff. I EKG 1 I EKG 2 I EKG 3 EKG_215x280_korr3.indd 27 26.01.16 20:45 28 Keine der anderen Antwortmöglichkeiten Kompletter Schenkelblock WPW-Syndrom LGL-Syndrom AV-Block 1. Grades P mitrale Kapitel 3 Verschiedene abnorme Zeitintervalle V5 EKG 4 II EKG 5 I EKG 6 V1 EKG 7 II EKG_215x280_korr3.indd 28 26.01.16 20:45 Kapitel 3 Verschiedene abnorme Zeitintervalle 29 Kapitel 4 Die Brustwand-Ableitungen: sie sehen (fast) alles “The beautiful thing about learning is that nobody can take it away from you.” B. B. King EKG_215x280_korr3.indd 29 26.01.16 20:45 30 Kapitel 4 Die Brustwand-Ableitungen: sie sehen (fast) alles In diesem Kapitel lernen Sie, an welchen Stellen Sie Elektroden für die Brustwand-Ableitungen platzieren und was sie Ihnen über das Herz verraten. Die Platzierung der Brustwand-Ableitungen Die Brustwand-Ableitungen repräsentieren die elektrische Aktivität des Herzens in einer mehr oder weniger horizontalen Ebene. Normalerweise werden 6 Brustwand-Ableitungen aufgezeichnet, gemeinsam mit den Extremitäten-Ableitungen. Diese werden wir in Kapitel 9 besprechen. Korrekte Platzierung der Brustwand-Ableitungen V1–V6 Die Brustwandableitungen werden an vordefinierten Punkten auf dem Thorax angebracht. 1. Schritt: Suchen Sie die zweite Rippe und den zweiten Intercostalraum (ICR). Dann zählen Sie bis zum 4. ICR. Bringen Sie V1 im 4. ICR parasternal rechts an und V2 im 4. ICR parasternal links. 2. Schritt: Nachdem Sie V1 und V2 angebracht haben, bringen Sie V4 an dem Schnittpunkt zwischen der Medioclavicularlinie und dem 5. ICR an. 3. Schritt: Bringen Sie V3 genau in der Mitte zwischen V2 und V4 an. Von nun an interessieren uns die Intercostalräume nicht mehr – alle folgenden Ableitungen werden auf derselben horizontalen Ebene wie V4 angebracht. 4. Schritt: V5 wird auf der vorderen Axillarlinie angebracht (dieselbe Höhe wie V4). 5. Schritt: V6 wird auf der mittleren Axillarlinie angebracht (dieselbe Höhe wie V4). Manchmal werden noch zwei weitere Ableitungen (V7 und V8) angebracht. Beide werden auf derselben Höhe wie V4 angebracht, V7 auf der hinteren Axillarlinie und V8 auf der Scapularlinie. EKG_215x280_korr3.indd 30 26.01.16 20:45 31 Kapitel 4 Die Brustwand-Ableitungen: sie sehen (fast) alles Das Auffinden und Zählen der Intercostalräume Der einfachste Weg um den 4. ICR zu finden, ist nach dem Sternumwinkel zu suchen. Der Sternumwinkel ist eine Kante im oberen Drittel des Sternums (siehe Abbildung), die man bei fast jedem Patienten findet. Die zweite Rippe inse- Sternumwinkel riert genau auf Höhe des Sternumwinkels, unter der zweiten Rippe findet sich der 2. ICR. Von hier aus ist es ein leichtes, zum 4. oder 5. ICR weiterzuzählen. Versuchen Sie mithilfe dieses Ansatzes die 2. Rippe an Ihnen selbst zu finden. Sie werden sehen, dass dies sehr einfach gelingt. Dann können Sie gleich weiterüben und die Intercostalräume zählen. Die anatomischen Regionen des Herzens und ihre Ableitungen Jede Brustwand-Ableitung bildet eine gewisse Region des Herzens ab. Manche Ableitungen bilden sogar mehrere Regionen ab. Wenn man ST-Hebungen im EKG findet – ein Infarktzeichen – erlauben uns die betroffenen Ableitungen auf die Infarktlokalisation zu schließen. V8 V7 V6 V8 V7 V5 V1 V2 V3 V4 V6 V1, V2, V3: rechter Ventrikel Veränderungen im rechten Ventrikel sind in der Regel in den Ableitungen V1, V2 und V3 zu erkennen. V5 V1 V2 V3 V4 V2, V3: basales Septum Wenn man nur in V2 und V3 Veränderungen findet, ist oft das basale Septum betroffen. EKG_215x280_korr3.indd 31 26.01.16 20:45 32 Kapitel 4 Die Brustwand-Ableitungen: sie sehen (fast) alles V8 V7 V6 V5 V1 V2 V4 V3 V8 V7 V2, V3, V4: Vorderwand des linken Ventrikels Wenn man Veränderungen in V2, V3 und V4 findet, dann ist die Vorderwand des linken Ventrikels (und das Septum) betroffen. V6 V8 V5 V7 V1 V6 V2 V3 V4 V5, V6: Seitenwand des linken Ventrikels V5 und V6 stellen die Seitenwand des linken Ventrikels dar. V5 V1 V2 V3 V4 V7, V8: Hinterwand des linken Ventrikels Wohingegen V7 und V8 die Hinterwand des linken Ventrikels abbilden. Veränderungen, welche Sie in den Ableitungen der Vorder- und Seitenwand finden, bezeichnet man als anterolateral. Veränderungen, welche Sie in den Ableitungen der Seiten- und Hinterwand finden, bezeichnet man als posterolateral. Veränderungen, welche Sie an den Ableitungen der Vorderwand und des Septums finden, bezeichnet man als anteroseptal. EKG_215x280_korr3.indd 32 26.01.16 20:45 Kapitel 4 Die Brustwand-Ableitungen: sie sehen (fast) alles 33 Die normalen Brustwand-Ableitungen Diese haben ein typisches Erscheinungsbild im EKG. Merken Sie sich dieses gut. V1 V2 V3 V4 V5 V6 Die R/S-Relation Wie der Name bereits sagt, vergleicht die R/S-Relation die Amplitude der R-Zacken mit der der S-Zacken in jeder Ableitung. Lassen Sie uns vier Beispiele betrachten. Bitte vervollständigen Sie die Rechnungen für die Beispiele 3 und 4. Beispiel 1 Beispiel 2 R (mV) 0,4 1,4 S (mV) 2,0 1,4 R/S 0,4/2,0 = 1/5 = 0,2 1,4/1,4 = 1 Beispiel 3 Beispiel 4 Viele Ärztinnen und Ärzte vernachlässigen die R/S-Relation. Dies sollten Sie nicht tun! EKG_215x280_korr3.indd 33 26.01.16 20:45 34 Kapitel 4 Die Brustwand-Ableitungen: sie sehen (fast) alles Die Bedeutung der R/S-Relation Es gibt zwei wichtige Regeln, die beim Erwachsenen im Normalzustand gelten. Regel Nummer 1 besagt: Brustwand-Ableitungen mit einer R/S-Relation < 1 bilden den rechten Ventrikel ab. V8 V1 V7 V2 V3 V4 V6 V5 V1 V2 V5 V6 >1 >1 V5 V6 >1 >1 V4 V3 R/S-Relation <1 <1 <1 =1 Ableitungen mit einer R/S-Relation > 1 bilden den linken Ventrikel ab. V8 V7 V1 V2 V3 V4 V6 V5 V1 V2 V4 V3 R/S-Relation <1 <1 <1 =1 Ableitungen mit einer R/S-Relation = 1 bilden die Übergangszone zwischen rechtem und linkem Ventrikel ab. Die Übergangszone findet man meist in V3 oder V4. V8 V7 V1 V2 V3 V4 V6 V5 V1 V2 V3 V6 >1 >1 V4 R/S-Relation <1 EKG_215x280_korr3.indd 34 V5 <1 <1 =1 26.01.16 20:45 Kapitel 4 Die Brustwand-Ableitungen: sie sehen (fast) alles 35 Regel Nummer 2 besagt: Unter normalen Umständen nimmt die R/S-Relation vom rechten Ventrikel zum linken Ventrikel zu. V8 V1 V2 V3 V4 V7 V6 V5 V1 V2 V3 V5 V6 3,8 ∞ V4 R/S-Relation 0,21 0,31 0,57 1,0 In der Regel Nummer 2 inkludiert ist die Beobachtung, dass normalerweise die Amplitude der R-Zacken von V1 (anfangs beginnt der Kammerkomplex immer mit einem kleinen R = initiales R) nach links hin kontinuierlich zunimmt (R-Progression). Wenn die Übergangszone verschoben ist Wie wir bereits oben gelernt haben, tritt die Übergangszone (punktierte Linie zwischen rechtem und linkem Ventrikel) meist in V3 oder V4 auf (siehe folgende Abbildung). V1 V2 V3 2 1 V4 V5 V6 V1 V2 V3 V4 3 4 5 V5 V6 Übergangszone Aber nicht jedes Herz ist gleich. Manchmal ist das Herz im oder gegen den Uhrzeigersinn entlang seiner Längsachse (vom Apex bis zur Herzbasis) rotiert. EKG_215x280_korr3.indd 35 26.01.16 20:45 36 Kapitel 4 Die Brustwand-Ableitungen: sie sehen (fast) alles Wenn das Herz im Uhrzeigersinn rotiert ist, dann verschiebt sich die Übergangszone nach V5 oder V6. V1 V2 V3 2 V4 1 V5 Übergangszone V6 V1 3 V2 V3 V4 V5 V6 4 5 Rotation im Uhrzeigersinn Wenn das Herz gegen den Uhrzeigersinn rotiert ist, dann verschiebt sich die Übergangszone in Richtung V1 oder V2. V1 V2 Übergangszone V3 2 V4 1 V5 V6 V1 V2 V3 V4 V5 V6 3 4 5 Rotation gegen den Uhrzeigersinn Das Wissen über die Rotation wird Ihnen helfen zu erkennen, ob unter einem jeweiligen Ableitungspunkt das Myokard des rechten oder linken Ventrikels liegt. Das ist wichtig für die Diagnose der ventrikulären Hypertrophien. Antworten für die Berechnung der R/S-Relation von Seite 33 EKG_215x280_korr3.indd 36 Beispiel 1 Beispiel 2 Beispiel 3 Beispiel 4 R (mV) 0,4 1,4 2,4 2,3 S (mV) 2,0 1,4 0,3 0 R/S 0,4/2,0 = 1/5 = 0,2 1,4/1,4 = 1 8,0 ∞ 26.01.16 20:45 37 Kapitel 4 Die Brustwand-Ableitungen: sie sehen (fast) alles Kapitel 4 Übungsaufgaben Jetzt ist es wieder Zeit für ein paar Übungen. Diese werden Ihnen dabei helfen, die wichtigsten Informationen dieses Kapitels zu wiederholen. Lösungen siehe Seite 142. Welche Ableitungen liefern Informationen über: V1 V2 V3 V4 V5 V6 V7 V8 den rechten Ventrikel die oberen Septumanteile den linken Ventrikel die Vorderwand des linken Ventrikels die Lateralwand des linken Ventrikels die Hinterwand des linken Ventrikels Welchem Ventrikel entsprechen die folgenden EKG-Kurven unter Normalbedingungen am ehesten? Rechter Ventrikel Linker Ventrikel EKG_215x280_korr3.indd 37 26.01.16 20:45