Psychotherapie des jungen Erwachsenenalters

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Gerd Lehmkuhl
Franz Resch
Sabine C. Herpertz (Hrsg.)
Psychotherapie des jungen
Erwachsenenalters
Basiswissen für die Praxis und
störungsspezifische Behandlungsansätze
Verlag W. Kohlhammer
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1. Auflage 2015
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-022698-2
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-028556-9
epub: ISBN 978-3-17-028557-6
mobi: ISBN 978-3-17-028558-3
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Verzeichnis der Herausgeber und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Behandlungsgrundlagen und -rahmen
1
...............................
15
Adoleszenz – junges Erwachsenenalter: Entwicklungsdynamik und
Entwicklungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Franz Resch und Gerd Lehmkuhl
17
2
Psychotherapie bei jungen Erwachsenen: Was wirkt? . . . . . . . . . . .
Inge Seiffge-Krenke
3
Therapeutische Basisfertigkeiten: Erstkontakt, diagnostisches
Vorgehen, Therapieziele und -planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gerd Lehmkuhl und Franz Resch
51
Therapeutische Haltung: Behandlungsrahmen und
Beziehungsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Eginhard Koch und Ulrike Lehmkuhl
59
Therapeutische Grenzen: Häufige Klippen, Krisen und Probleme
im Behandlungsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Andrea Stippel und Eginhard Koch
65
4
5
27
6
Multimodale Ansätze: Behandlungsmodelle und -programme . . . .
Gerd Lehmkuhl und Franz Resch
72
7
Psychiatrische Ambulanz für Adoleszente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Andrea Stippel und Gerd Lehmkuhl
81
8
Die kooperative Adoleszentenstation in Heidelberg . . . . . . . . . . . . .
Franz Resch und Sabine C. Herpertz
92
Störungsspezifische Behandlungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
9
Depressive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Wolfgang Ihle und Martin Hautzinger
5
Inhalt
10
Zwangsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
Britta Jäntsch und Christoph Wewetzer
11
Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
Kathrin Sevecke und Ralf Pukrop
12
Schizophrene Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Franz Resch und Joachim Klosterkötter
13
Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Tina In-Albon und Annette Schröder
14
Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Beate Herpertz-Dahlmann und Martina de Zwaan
208
15
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen . . . . . . . . . . . . . . 221
Gerd Lehmkuhl und Alexandra Philipsen
16
Autistische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Judith Sinzig und Kai Vogeley
17
Selbstverletzendes und suizidales Verhalten
Michael Kaess und Sabine Herpertz
18
Sucht: Substanzmissbrauch und nichtstoffgebundene
Abhängigkeitserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
Rainer Thomasius, Anneke Aden und Nicolas Arnaud
Register
6
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Vorwort
Die Adoleszenz wird häufig als Übergangsperiode zwischen der Kindheit und dem
Erwachsenenalter verstanden. Die Grenzen sind jedoch unscharf und umfassen
einen längeren Zeitraum zwischen dem 12./14. und 25. Lebensjahr (Remschmidt
1992).
Es handelt um einen Lebensabschnitt, in dem viele Entwicklungsaufgaben und
Herausforderungen zu bewältigen sind. Oerter und Dreher (2008) nehmen eine
Differenzierung der Veränderungsdynamik nach drei Phasen mit jeweils zugeordneten Altersbereichen vor (S. 272):
l
l
l
»frühe Adoleszenz« (early adolescence) zwischen 10 und 13 Jahren
»mittlere Adoleszenz« (middle adolescence) zwischen 14 und 17 Jahren
»späte Adoleszenz« (late adolescence) zwischen 18 und 22 Jahren; für diesen
Altersabschnitt werden auch die Begriffe »Youth« oder »Emerging adulthood«
verwendet; Emerging adulthood erstreckt sich allerdings bis zum 3. Lebensjahrzehnt (Arnett, 2004)
Betrachtet man nun die Adoleszenz vom frühen Erwachsenenalter aus, umfasst
dieser Zeitraum das 18. bis 29. Lebensjahr. Am sinnvollsten erscheint es, mit
Havighurst (1972) von einer Vernetzung vielfältiger Entwicklungsaufgaben auszugehen, die keine isolierte Thematik darstellen, sondern sich als Aufgaben von der
Adoleszenz in das frühe Erwachsenenalter fortsetzen.
Krampen und Reichle (2008) sehen die wesentlichen Transitionsschwerpunkte
in folgenden Lebensaufgaben:
l
l
l
l
l
Ablösung von der Herkunftsfamilie
Berufsausbildung und Berufseintritt
Partnerwahl
Kinderwunsch und Elternschaft
Freizeitverhalten und Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung
Diese Lebensphase des Umbruchs mit spezifischen Entwicklungsrisiken, die infolge
der Ablösung von der Primärfamilie und der beruflichen Orientierung verschärft
werden, birgt eine besondere Vulnerabilität für Krisen. Trotz der vielfältigen Belastungsfaktoren und -herausforderungen blieben Entwicklungsprozesse im jungen
Erwachsenenalter nach Krampen und Reichle (2008) ein Stiefkind der Forschung.
7
Vorwort
Dies gilt im gleichen Ausmaß für die Psychotherapie in der Adoleszenz und im
frühen Erwachsenenalter. In den entsprechenden Lehrbüchern finden sich für
diesen Altersbereich keine Anmerkungen und Hinweise für ein spezifisches Vorgehen. Im Kommentar der Psychotherapierichtlinien heißt es lapidar: »Eine Jugendlichen-Psychotherapie ist abhängig vom Grad der Reife, grundsätzlich bis zum
vollendeten 21. Lebensjahr möglich« (Rüger et al., 2005, S. 65). Häufig wird die
Behandlungskontinuität unterbrochen, da sich die Jugendpsychiater/-psychotherapeuten nicht mehr und die Erwachsenenpsychiater/-psychotherapeuten noch
nicht zuständig fühlen. Entsprechend ratlos und unsicher reagieren die Patienten
und finden nur mit Schwierigkeiten einen kompetenten Ansprechpartner. Die
Beiträge dieses Buchs versuchen dieses »Niemandsland« zu erschließen und Antworten auf die besonderen Fragestellungen in der therapeutischen Arbeit mit
Adoleszenten und jungen Erwachsenen zu finden.
Besonderer Dank gilt Frau Doris Bürgel und Frau Sabine Lüdicke, die wie immer
hoch kompetent die Bearbeitung der Texte übernahmen, und dem Verlag, der sich
auf das Risiko einer Monografie zu diesem speziellen Thema einließ.
Köln, Heidelberg im Dezember 2014
Gerd Lehmkuhl, Franz Resch und Sabine C. Herpertz
Literatur
Arnett JJ (2004) Emerging Adulthood: The Winding Road From the Late Teens Through the
Twenties. Oxford University Press.
Havighurst RJ (1972) Developmental tasks and education. New York: McKay.
Krampen G, Reichle B (2008) Entwicklungsaufgaben im frühen Entwicklungsalter. In: Oerter
R, Montada L (Hrsg.) Entwicklungspsychologie, 6. Aufl. Weinheim: Beltz, S. 333–365.
Oerter R, Dreher E (2008) Jugendalter. In: Oerter R, Montada L (Hrsg.) Entwicklungspsychologie, 6. Aufl. Weinheim: Beltz, S. 271–332.
Remschmidt H (1992) Psychiatrie der Adoleszenz. Stuttgart: Thieme.
Rüger U, Dahm A, Kallinke D (2005) Kommentar Psychotherapie – Richtlinien der Auflage.
München: Urban und Fischer.
8
Verzeichnis der Herausgeber und Autoren
Herausgeber:
Gerd Lehmkuhl, Prof. Dr. med., Dipl.-Psych.
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und
Jugendalters, Uniklinik Köln
Robert-Koch-Str. 10
50931 Köln
E-Mail: [email protected]
Franz Resch, Prof. Dr. med. univ.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin,
Universitätsklinikum Heidelberg
Blumenstraße 8
69115 Heidelberg
E-Mail: [email protected]
Sabine C. Herpertz, Prof. Dr. med.
Klinik für Allgemeine Psychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin,
Universitätsklinikum Heidelberg
Voßstraße 2
69115 Heidelberg
E-Mail: [email protected]
9
Verzeichnis der Herausgeber und Autoren
Autoren:
Anneke Aden, Dr. med.
Deutsches Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und
Jugendalters (DZSKJ)
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistraße 52
20246 Hamburg
E-Mail: [email protected]
Nicolas Arnaud, Dr. phil.
Deutsches Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und
Jugendalters (DZSKJ)
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistraße 52
20246 Hamburg
E-Mail: [email protected]
Martin Hautzinger, Prof. Dr. Dipl.-Psych.
Eberhard Karls Universität Tübingen
Fachbereich Psychologie
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Schleichstr. 4 (Gartenstr. 29)
72076 Tübingen
E-Mail: [email protected]
Sabine C. Herpertz, Prof. Dr. med.
Klinik für Allgemeine Psychiatrie, Zentrum für Psychosoziale
Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg
Voßstraße 2
69115 Heidelberg
E-Mail: [email protected]
Wolfgang Ihle, Dipl.-Psych.
Exzellenzbereich Kognitionswissenschaften der Universität Potsdam
Department Psychologie
Karl-Liebknecht-Str. 24-25
14476 Potsdam
E-Mail: [email protected]
10
Verzeichnis der Herausgeber und Autoren
Tina In-Albon, Prof. Dr. phil.
Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindesund Jugendalters
Universität Koblenz-Landau
Ostbahnstraße 12
76829 Landau
E-Mail: [email protected]
Britta Jäntsch, Dr. phil., Dipl.-Psych.
Stellvertretende Leitung
Institut für Klinische Psychologie
Zentrum für Seelische Gesundheit, Klinikum Stuttgart
Prießnitzweg 24
70374 Stuttgart
E-Mail: [email protected]
Michael Kaess, PD Dr. med.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin,
Universitätsklinikum Heidelberg
Blumenstraße 8
69115 Heidelberg
E-Mail: [email protected]
Joachim Klosterkötter, Prof. Dr. med
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Uniklinik Köln
Kerpener Str. 62
50931 Köln
E-Mail: [email protected]
Eginhard Koch, Dr. med
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Zentrum für Psychosoziale Medizin
Universitätsklinikum Heidelberg
Blumenstraße 8
69115 Heidelberg
Gerd Lehmkuhl, Prof. Dr. med., Dipl.-Psych.
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des
Kindes- und Jugendalters
Uniklinik Köln
Robert-Koch-Str. 10
50931 Köln
E-Mail: [email protected]
11
Verzeichnis der Herausgeber und Autoren
Ulrike Lehmkuhl, Prof. Dr. med., Dipl.-Psych.
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Campus Virchow-Klinikum
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des
Kindes- und Jugendalters
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
E-Mail: [email protected]
Alexandra Philipsen, Prof. Dr. med.
Klinikdirektorin
Medizinischer Campus Universität Oldenburg, Fakultät für
Medizin und Gesundheitswissenschaften
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Karl-Jaspers-Klinik
Hermann-Ehlers-Straße 7
26160 Bad Zwischenahn
E-Mail: [email protected]
Ralf Pukrop, Prof. Dr. Dr. Dipl.-Psych.
Privatpraxis für Psychotherapie, Supervision und Coaching
Kaiser-Wilhelm-Ring 14-16
50672 Köln
E-Mail: [email protected]
Franz Resch, Prof. Dr. med. univ.
Zentrum für Psychosoziale Medizin
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Blumenstr. 8
69115 Heidelberg
E-Mail: [email protected]
Inge Seiffge-Krenke, Prof. Dr.
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Psychologisches Institut
Abteilung Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie
Wallstraße 3
55122 Mainz
E-Mail: [email protected]
12
Verzeichnis der Herausgeber und Autoren
Annette Schröder, Prof. Dr. phil.
Universität Koblenz-Landau
Fachbereich Psychologie
Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie des Erwachsenenalters
Ostbahnstraße 12
76829 Landau
E-Mail: [email protected]
Kathrin Sevecke, Prof. Dr. med.
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie
Anichstraße 35
A – 6020 Innsbruck
E-Mail: [email protected]
Judith Sinzig, PD Dr. med.
Abt. für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und
Psychotherapie
LVR-Klinik Bonn
Kaiser-Karl-Ring 20
53111 Bonn
E-Mail: [email protected]
Andrea Stippel, Dr. med.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und
Psychotherapie
Uniklinik Köln
Robert-Koch-Str. 10
50931 Köln
E-Mail: [email protected]
Rainer Thomasius, Prof. Dr. med.
Deutsches Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und
Jugendalters (DZSKJ)
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistraße 52
20246 Hamburg
E-Mail: [email protected]
Kai Vogeley, Prof. Dr. med., Dr. phil.
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Uniklinik Köln
Kerpener Str. 62
50931 Köln
E-Mail: [email protected]
13
Verzeichnis der Herausgeber und Autoren
Christoph Wewetzer, Prof. Dr. med.
Städtische Klinik der Stadt Köln
Kinder- und Jugendpsychiatrie Köln Holweide
Florentine-Eichler-Str. 1
51067 Köln
Martina de Zwaan, Prof. Dr. med.
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Straße
30625 Hannover
E-Mail: [email protected]
14
Behandlungsgrundlagen und -rahmen
1
Adoleszenz – junges Erwachsenenalter:
Entwicklungsdynamik und Entwicklungsaufgaben
Franz Resch und Gerd Lehmkuhl
1.1
Adoleszenz als Entwicklungsphase
Die Adoleszenz kennzeichnet den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter. Sie erstreckt sich von den pubertären biologischen Basisveränderungen bis zu
den Anpassungsleistungen einer Verantwortungsübernahme im jungen Erwachsenenalter und umfasst daher eine mehr als 10 Jahre dauernde Periode. Unter dem
Begriff Pubertät werden die biologischen Reifungsschritte zusammengefasst, die
den Übergang vom Kindesalter in die Adoleszenz einleiten.
Die körperlichen Veränderungen der Pubertät werden hormonell gesteuert und
betreffen insbesondere das Körperwachstum, die Ausbildung der Geschlechtsreife,
die Differenzierung der Sexualorgane und das Auftreten der sekundären Geschlechtsmerkmale (c Kap. 1.2). Diese biologischen Prozesse werden durch eine
Reihe von Schritten der Hirnentwicklung (Konrad et al., 2013) und von psychosozialen Wandlungsschritten begleitet.
Die Adoleszenz markiert also in erster Linie den psychischen Übergang von der
Kindheit ins Erwachsenenalter und die zerebralen Grundlagen dafür. Diese Phase
tiefgreifender Veränderungen, stellt für jedes Individuum eine Herausforderung
dar. Eine solche normative Neuorientierung geht jedoch entgegen früheren tiefenpsychologischen Ansichten, dass jeder Jugendliche eine gleichsam normale
Irritation vom Charakter einer adoleszenten Krise durchlebe, nicht in allen Fällen
mit einer krisenhaften Zuspitzung einher: Vielmehr bewältigen rund 85 %
der Jugendlichen ihre Adoleszenz produktiv (Resch, 2010; Resch und Parzer,
2014). Durch die zunehmende Komplexität der Ausbildungswege, einer Spektrumserweiterung der sozialen Rollen, neue Formen des Zusammenlebens zwischen den Generationen hat sich die Phase der Adoleszenz mittlerweile bis in die
zweite Lebensdekade verlängert (Arnett, 2004; Syed und Seiffge-Krenke, 2013).
Aber auch wenn die Mehrzahl der Jugendlichen die Entwicklungsaufgaben
ohne Krise meistern kann, bleibt die seelische Auseinandersetzung mit den körperlichen, kognitiven, emotionalen und sozialen Neuorientierungen eine grundsätzliche
Belastung, die die adaptiven Ressourcen des Einzelnen auf die Probe stellt (Resch
und Parzer, 2014). Bekanntermaßen geht der Eintritt in die Adoleszenz auch
mit einer erhöhten Gefährdung einher, bei vorbestehender Vulnerabilität eine
psychische Störung mit Krankheitscharakter zu entwickeln (du Bois und Resch,
2005). Kindesmisshandlung und Traumatisierungen in frühen Lebensaltern können
die zerebrale Entwicklung während der Adoleszenz fundamental beeinträchtigen
17
Behandlungsgrundlagen und -rahmen
(Whittle et al., 2013), wobei psychopathologische Symptome in der Adoleszenz einen
negativen Reiz für die Gehirnentwicklung darzustellen scheinen. Immerhin liegen
bei einigen psychischen Störungen des Erwachsenenalters die Anfangssymptomatik
oder prodromale Stadien in der Adoleszenz (Herpertz-Dahlmann et al., 2008).
Die sozialen Rahmenbedingungen dürfen bei der Betrachtung von Jugendgesundheit nicht ausgeklammert werden. In einer sich zunehmend globalisierenden
Welt entstehen Probleme, die sowohl die Arbeitswelt betreffen als auch eine
Neuinterpretation des Freizeitverhaltens notwendig machen. Umstrukturierungen
der Arbeitswelt gehen nicht selten – wie die europäische Krise gezeigt hat – auf
Kosten der Arbeitsplätze für Jugendliche, sodass die Jugendarbeitslosigkeit in
manchen Ländern Europas ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen hat.
Grundsätzlich gilt, dass Jugendliche ein möglichst hohes Ausbildungsniveau erreichen sollen, um auf einem zunehmend umkämpften Arbeitsmarkt bestmögliche
Chancen zu haben. Jugendliche, die aufgrund psychischer Probleme im Bildungsund Ausbildungsbereich versagen, geraten damit zusätzlich unter Druck, weil ihre
berufliche Zukunft gefährdet wird.
Das Freizeitverhalten von Jugendlichen wird im Wesentlichen von den Medien
geprägt. Bereits Kinder sind von Audiokassetten, CDs, Videos, Fernsehen, Radio,
Mobiltelefon, MP3-Playern, Computern und verschiedenen Möglichkeiten des
Internetkonsums umgeben (Kutscher, 2013). Einerseits erhalten Jugendliche auf
diese Weise breiten Zugang zu Informationen, es werden ihnen kommunikative
Räume und Gelegenheiten eröffnet, auf der anderen Seite kann es schwer fallen, in
dieser Überfülle von Reizen die richtige Auswahl zu treffen, sich nicht ablenken zu
lassen, nicht einer grundsätzlichen Zerstreuung nachzugeben oder sich in Spielen
und Selbstpräsentationen im Internet suchtartig zu verzetteln. Während die Erwachsenengeneration zur Nutzung von Medien wie Fernseher, Radio, Zeitschriften oder Büchern eigene Erfahrungsprozesse beisteuern kann, hat sich durch
die neuen Medien wie Computer, Internet und Mobiltelefon ein Nutzungspotenzial
ergeben, das mit seinen interaktiven Strukturen das Aufwachsen junger Menschen
auf spezifisch andere Weise formt als es die Elterngeneration aus ihrer eigenen
Jugendzeit her kennt (ebenda). Die neuen Medien sind schließlich integraler Bestandteil des Alltags Jugendlicher geworden und durch die gesteigerte Interaktivität
ist eine Neuformierung sozialen Handelns im Netz fundamental möglich (ebenda).
Neue Formen interaktiver Probleme zwischen Jugendlichen manifestieren sich
in Form von Cyber-Mobbing und Zapp-Foren zur Suizidalität. Auch wenn die
Bedeutung virtueller sozialer Netzwerke und die Dauerpräsenz von Mobiltelefonen
für den psychischen Entwicklungsprozess bislang nicht in allen Ausmaßen erkennbar ist, müssen wir uns doch von älteren Theorien zur Entwicklung der
jugendlichen Persönlichkeit vor der Zeit der neuen Medien mit Sicherheit verabschieden bzw. diese Theorien, die primär auf direktem zwischenmenschlichem
Kontakt beruhen, revidieren.
Medien haben Auswirkungen auf Entwicklungsaufgaben wie Identitätsentfaltung, Autonomiestreben und Ablösung vom Elternhaus. Da Jugendliche ihren
Eltern im Umgang mit den sog. neuen Medien häufig überlegen sind, sind sie in
der Lage, sich in virtuellen Umgebungen zu bewegen, Unbekanntem zu begegnen, Chancen und risikoreiche Praxen kennenzulernen, neue Beziehungen
18
1 Adoleszenz – junges Erwachsenenalter
auszuprobieren und auf diese Weise in neuer Form die Ablösung von den Eltern in
räumlicher Nähe zu diesen zu vollziehen, ohne dass die Eltern eingreifen können
(Frölich und Lehmkuhl, 2012; Kutscher, 2013).
1.2
Pubertät und Adoleszenz – neurobiologische
Aspekte
Die Pubertät beinhaltet nicht nur die Veränderung der Körpererscheinung, die das
Ende der Kindheit markiert, d. h. nicht nur die deutliche Beschleunigung des
Körperwachstums und die Ausbildung der äußeren Geschlechtsmerkmale, sondern
auch die Reifung der inneren Geschlechtsorgane und signifikante neuroendokrine
Veränderungen. Diese Entwicklungsschritte werden von strukturellen und funktionellen Reifungsprozessen des Gehirns geprägt und begleitet. Die körperliche
Entwicklung setzt bei Mädchen in der Regel mit 11 Jahren ein, bei Jungen
beginnt die Pubertät 1½ bis 2 Jahre später. Der Pubertätsverlauf ist bei beiden
Geschlechtern sehr unterschiedlich (Thyen et al., 2012).
Wichtige Reifungsprozesse der anatomischen Struktur in der Adoleszenz bewirken, dass Hirnareale wie der präfrontale Kortex – der auch mit den höheren
kognitiven Funktionen in Verbindung gebracht wird – später reift als KortexAreale, die sensorische oder motorische Leistungen steuern (Konrad et al., 2013).
Pruning- Prozesse scheinen den wichtigen Veränderungen der grauen Substanz
zugrunde zu liegen – während in den ersten Lebensjahren eine Vielzahl von Synapsen gebildet wird, verringert sich die der Zahl synaptischer Verbindungen in der
Adoleszenz. Dieser Prozess scheint erfahrungsabhängig zu sein, sodass die Synapsen erhalten bleiben, die im Rahmen der Lebensfunktionen häufig verwendet
werden, während sich jene Synapsen zurückbilden, die nicht oder nur selten von
neuronalen Netzwerken rekrutiert werden (Konrad et al., 2013). Während sich die
graue Substanz damit während der Adoleszenz eher reduziert, kommt es zu einer
Zunahme der weißen Substanz – gebildet aus myelinisierten Axonen, die für eine
schnelle Informationsweiterleitung sorgen.
Im funktionellen Bereich erlauben die anatomischen Reorganisationsprozesse
eine Weiterentwicklung der sogenannten exekutiven Funktionen, d. h. von kognitiven Prozessen, die das Denken und Handeln kontrollieren und auf diese Weise
eine flexible Anpassung an neue komplexe Aufgabenstellungen erlauben (Konrad
et al., 2013). Neuroanatomische Modellvorstellungen versuchen die erhöhte Risikobereitschaft von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf zerebrale Prozesse
zurückzuführen. Auch wenn eine einfache Kausalität zwischen Hirnentwicklung
und Verhalten unter psychotherapeutischen Gesichtspunkten zu rudimentär erscheint, weil dadurch die Rückwirkungen des Verhaltens auf die zerebrale Entwicklung unberücksichtigt bleiben, können die mit psychischen Prozessen der
Adoleszenz korrespondierenden zerebralen Vorgänge unsere Kenntnisse von Erlebnis- und Verhaltensweisen Jugendlicher bereichern.
19
Behandlungsgrundlagen und -rahmen
Die neurobiologische Hypothese besagt, dass – während der präfrontale Kortex
zuletzt reift – sich subkortikale Hirnareale, insbesondere das limbische System
sowie das Belohnungssystem deutlich früher entwickeln, wodurch in der Adoleszenz ein Ungleichgewicht zwischen reiferen subkortikalen und unreiferen präfrontalen Hirnstrukturen besteht (Konrad et al., 2013). Darüber hinaus beeinflussen
höhere Spiegel der Sexualhormone die Strukturierung des jugendlichen Gehirns
(Brunner und Resch 2008). Die Umbauprozesse des Gehirns Jugendlicher können
durch Umwelteinflüsse modifiziert werden, sodass sich erlebnishafte Inhalte, aber
auch Drogen und Substanzen in besonderer Weise auf die Funktion und Organisation des Gehirns auswirken können.
1.3
Entwicklungsaufgaben
Im Folgenden werden zehn Entwicklungsaufgaben formuliert, die sich einerseits
auf das Konzept der Entwicklungsaufgaben von Havighurst (1972) und andererseits auf das Konzept der Entwicklungslinien von Anna Freud (1936) beziehen. Auch entwicklungspsychopathologische Sichtweisen (Resch, 1999) fließen
in die Definition der entsprechenden Aufgaben ein.
1.3.1
Identität
Die Fähigkeit, mit sich eins zu sein – für die der Begriff Identität steht – bezieht sich
auf grundsätzliche Erfahrungen der inneren Zuständlichkeit der Person. Identität
bezeichnet die Definition der Person durch die soziale Umgebung wie durch das
Individuum selbst als einmalig und unverwechselbar. Identität als Erfahrung basiert auf der Kontinuität biografischer Erlebnisse der Person sowie auf einer gefühlten Kohärenz des Selbstbildes in Abgrenzung von anderen. Identität basiert auf
Selbstempfindungen im Sinne einer spontanen Evidenz der Einheit der Person.
Diese Selbstempfindung beinhaltet sowohl die Komponente der Ichhaftigkeit als
auch der Sinnhaftigkeit eigener Lebensäußerungen. Identität ist somit ein dialektischer Prozess, der sich einerseits durch reflexive Bestätigung des Eigenen in
selbstreflexiven Schleifen Evidenz verschafft als auch durch identifikatorische
Prozesse einer Zugehörigkeit zu anderen vergewissert. So ist die selbstreflexive
Identität mit den Gefühlen der Kohärenz der persönlichen Aktivität und der Abgrenzung von anderen als ein Kern von Selbstbewusstheit begreifbar, während
Zugehörigkeit und Anerkennung durch die Identifikation mit anderen Personen
oder deren Eigenschaften, durch Idolbildung, Gruppenzugehörigkeit, Zugehörigkeit zu religiösen oder ideologischen Verbänden oder Ethnien definiert sind.
Identifikatorische Prozesse können jedoch auch durch soziale Rollen und eigene
Werke erfolgen, wofür ein Begriff der »expressiven Identität« steht. Über kreatives,
produktives Tätigsein entstehen Werke, mit denen man sich identifizieren kann, die
20
1 Adoleszenz – junges Erwachsenenalter
wie Übergangsobjekte Beziehungen zu anderen konstituieren und stellvertretend
für das Selbst anderen Personen entgegengebracht werden können. So können sich
Jugendliche in sozialen Rollen zum Ausdruck bringen, eigene Fähigkeiten, Talente
und Interessen über Tätigkeiten in Werken Gestalt werden lassen, wobei sie aus der
Interaktion mit anderen neue identifikatorische Sicherheit gewinnen.
Es besteht ein dialektisches Spannungsverhältnis zwischen reflexiver, durch
Selbstbezogenheit und Abgrenzung definierter und identifikatorischer Identität, die
durch Zugehörigkeit, Erweiterung, Erstreckung und Grenzöffnung gekennzeichnet
ist. Abgrenzung und Teilhabe, Selbstbezogenheit und Selbstöffnung sind also
Identitätsbestandteile, die wie Einatmen und Ausatmen das lebendige Pulsieren der
Person widerspiegeln.
1.3.2
Selbstwert
Der Selbstwert ist Teil der narzisstischen Regulation der Person. Er wird durch eine
innere Bewertung von Erfahrungen der Kompetenz und Akzeptanz gebildet.
Kompetenzen, die ein Jugendlicher mitbringt, werden nur dann zum Selbstwert
beitragen, wenn eine soziale Akzeptanz diese Kompetenzen auch anerkennt.
Wer nicht von anderen wertgeschätzt wird und als attraktiv gilt, dessen Aussehen
und Fähigkeiten können auch bei positiver Ausgangslage nicht zu einer
Verbesserung des Selbstwertes beitragen. In der Adoleszenz können gesteigerte
Selbstüberschätzungen vorkommen, sie kennzeichnen ein Selbsterleben, das durch
hohe Ambitionen, verstärkte Kränkbarkeit und eine gesteigerte Tendenz zum
Wütendwerden, aber auch durch Beziehungsstile der Abwertung und Idealisierung
gekennzeichnet sein können. Der Selbstentwurf des Jugendlichen ist normalerweise
so beschaffen, dass die Person an ihren Ambitionen wachsen kann (Resch, 2010).
Übertrieben hohe Erwartungen lassen den Jugendlichen an seinen eigenen Ansprüchen scheitern. Ein Verlust von vorausschauenden Selbstentwürfen kann auch
mit einem Verlust des Prinzips Hoffnung einhergehen und in Depression und
Selbsthass resultieren. Das vermehrte Bedürfnis nach Selbstbespiegelung und sozialem Echo kann nur durch befriedigende Interaktionen mit Gleichaltrigen und
einer positiven sozialen Akzeptanz durch diese einhergehen. Konflikthafte Interaktionen mit Gleichaltrigen und ein Mangel an Anerkennung durch diese, sind
nicht durch die primären Bezugspersonen und deren liebevolle Zuwendung vollständig kompensierbar.
1.3.3
Affektregulation
Eine wichtige Entwicklungsaufgabe besteht darin, überschießende Affekte zu
kompensieren, besonnene Reaktionen zu ermöglichen und damit planvoll und
überlegt zur Problemlösung beizutragen. Die komplexen Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens erfordern Gelassenheit, Großzügigkeit und einen vernunftgelenkten Umgang mit Alltagsproblemen. Die Fähigkeit zur Vorausplanung
und antizipatorischen affektiven Voreinstellung sind Grundlagen, um Verantwortung zu übernehmen.
21
Behandlungsgrundlagen und -rahmen
1.3.4
Autonomie und Ablösung
Verselbständigung und Eigenständigkeit verlangen einen vergrößerten Handlungsund Entscheidungsspielraum des Jugendlichen. Die Entwicklung zur Eigenständigkeit findet im Spannungsfeld zwischen Autonomiestreben und Bindung
statt (c Kap. 1.3.8). Diese Ablösung von der eigenen Familie wird durch eine positive Anerkennung in der Gleichaltrigen-Gruppe und einen stabilen Selbstwert
gefördert. Auch eine gelungene Identitätsbildung erleichtert Autonomie. Während
ein zu später oder missglückter Abschied die Entwicklung der Jugendlichen gefährdet und diese in pathologischer Weise an die Familie bindet, ist auch ein zu
früher Abschied riskant, da Jugendliche dadurch den alterstypischen Risikoverhaltensweisen zur Selbstdefinition und -behauptung verstärkt ausgesetzt werden (Resch, 2010).
1.3.5
Autarkie
Zur persönlichen Eigenständigkeit gehört auch die Fähigkeit, für sich selbst zu
sorgen und sich nicht dadurch in neue Abhängigkeiten zu begeben, dass man andere für sich sorgen lässt. Grunderfahrung der Autarkie ist das Gefühl, dass man für
seine eigenen Lebensumstände selbst sorgen muss. Grundgefühle, dass Annehmlichkeiten des Lebens einem Menschen grundsätzlich zustehen, behindern
diese Eigenständigkeit. Das Schlaraffenland, in dem einem die gebratenen
Tauben in den Mund fliegen, ist der Inbegriff für die Unmöglichkeit, Autarkie zu
entwickeln.
1.3.6
Intimität
Die Aufnahme enger Beziehungen zu bis dahin fremden Personen setzt eine Reihe
von Selbstkompetenzen voraus. Eigene Bedürfnisse müssen mit Partnern abgestimmt werden. Die Fähigkeit zur Nähe-Distanzregulation, das Schaffen von
Beziehungsräumen sind Teile von Intimität. Bei geglückter Beziehungsgestaltung
können Sexualität und Intimität integriert werden, da Intimität eine vorübergehende Öffnung von Grenzen im zwischenmenschlichen Bereich voraussetzt und
nur dann eine partielle Verschmelzung mit einer anderen Person möglich wird. Das
Kind lebt in einer selbstbezogenen Öffentlichkeit, die Nähe zu anderen Personen
wird im Prinzip durch Beziehungsangebote von Seiten der Eltern definiert. In der
jugendlichen Intimität muss Nähe zu bisher fremden Personen durch Fähigkeiten
der Kontaktherstellung erst ermöglicht werden.
1.3.7
Soziale Kompetenz
Soziale Kompetenz ermöglicht in sozialen Rollen unterschiedliche Nähe-DistanzVerhältnisse zu anderen Personen angemessen herzustellen. Arbeitsbeziehungen,
Freunde und Partner stehen einer Person unterschiedlich nah, daher müssen Bezie22
1 Adoleszenz – junges Erwachsenenalter
hungsräume unterschiedlich definiert, beschützt und ausgestaltet werden. Auch soziale Kompetenz basiert auf den Fähigkeiten der Selbstregulation und der affektiven
Abstimmung mit anderen.
1.3.8
Integration von Bindung und Selbstentfaltung
Bereits Alfred Adler (1920, 1978) stellt die beiden Pole Zärtlichkeitsbedürfnis einerseits und Machtstreben in der Beziehungsgestaltung von Menschen andererseits
ins Zentrum des Interesses. Der Begriff Bindungsbedürfnis nach Bowlby (2008)
kennzeichnet ein Grundverlangen nach Nähe und Beziehung. Als Entwicklungsaufgabe gilt, dass zwischen Macht und Ohnmacht, Liebe und Ablehnung individuelle Synthesen und Kompromisse gelingen müssen. Eine Überbetonung des
Bindungsbedürfnisses kann zu Abhängigkeitstendenzen führen, eine Überbetonung
des Selbstentfaltungsstrebens kann über Dominanzstreben zu Machtausübung und
Willkür auf Kosten anderer werden. Der energetische Rückzug in beiden Domänen
führt schließlich zu Apathie und sozialer Isolation. Die gelingende Synthese zwischen
Bindungsbedürfnis und Selbstentfaltungsstreben erlaubt eine »bezogene Individuation« (Begriff nach Stierlin, 1979).
1.3.9
Entwicklung einer Zukunftsperspektive
Planvolles Handeln und der Vorausentwurf der eigenen Zukunft sind wesentliche
Bausteine des Erwachsenwerdens. Das proximale Denken, das mittelfristige Zukunftsentwicklungen ausblendet, gefährdet den Jugendlichen, wenn es nicht durch
Überlegungen und Planungen aus den gegenwärtigen Bedürfnissen zur Befriedigung aktueller Wünsche herausführt. Wichtige Fragen zur Entwicklung der eigenen beruflichen Perspektive, zur zukünftigen Gestaltung von Partnerbeziehungen
und eine innere Stellungnahme zur Frage der Familiengründung sind dabei ebenso
gültig wie der bewusste Verzicht auf solche Entwicklungsmöglichkeiten zugunsten
einer Entfaltung von Talenten oder anderen Wunschvorstellungen.
1.3.10 Entwicklung von Verantwortlichkeit
Entwicklung von Verantwortlichkeit schließlich markiert den Übergang ins Erwachsensein. Verantwortung tragen bezüglich des eigenen Tuns, für seine eigenen
Handlungen öffentlich und in juristischer Hinsicht einzustehen, eigene Entscheidungen für gültig erklären und die Konsequenzen daraus zu tragen, stellen
dabei wichtige Elemente dar. Darüber hinaus kennzeichnen die Erwachsenenwelt
auch die Verantwortungsübernahme für andere und Fürsorge für eigene Kinder
oder älter und pflegebedürftig werdende Elternteile. Wer nicht für sich einsteht,
Verantwortung abschiebt und gegenüber anderen gleichgültig bleibt, ist in einer
egozentrischen Selbstbezogenheit gefangen.
23
Behandlungsgrundlagen und -rahmen
1.4
Risikoverhaltensweisen
Ein Teil der Jugendlichen meistert die Entwicklungsaufgaben nur krisenhaft. In
diesen Fällen kommt es zu akuten Störungen der Anpassung, die mit Identitätsdiffusion, Selbstentfremdungserlebnissen, Rollenkonfusion, Selbstwertkrisen, Ablösungs- und Beziehungskrisen einhergehen können. Solche Anpassungsprobleme
sind in der Regel mit Risikoverhaltensweisen verbunden: Handlungsmustern, die
durch eine mutwillige Gefährdung der Person und ihrer Entwicklungschancen gekennzeichnet sind, mit dem Ziel einer kurzfristigen Befriedigung, Problemlösung
oder Anerkennung. Eine solche Gefährdung wird zumeist zugunsten subjektiv bedeutsamer Ziele in Kauf genommen. Dabei kann es um kurzfristige Befriedigungen,
um Stabilisierung des Selbstwerts, Mutproben, Substanzmissbrauch und soziale
Regelübertretungen gehen, die solche subjektiven Bedürfnisse ebenso erfüllen wie
suchtartiger Internetkonsum, Promiskuität oder selbstverletzendes Verhalten.
Risikoverhaltensweisen erfüllen bei Jugendlichen eine individuell spezifische
Funktion, die erst durch eine funktionelle Kontextanalyse entschlüsselt werden
kann (Resch und Parzer, 2014). Ein grundliegender Faktor bei der Entstehung von
Risikoverhaltensweisen ist die aktuelle soziale Kompetenz des Jugendlichen, die
mitbestimmt, welche anderen Entwicklungsaufgaben gemeistert werden können
oder zum Scheitern verurteilt sind. Zu den Risikoverhaltensweisen bei Jugendlichen gehören Alkohol- und Drogenkonsum, Delinquenz, Aggression im zwischenmenschlichen Bereich, Rückzug, Kontaktabbruch, riskantes Sexualverhalten,
riskante Lebensgewohnheiten mit Veränderung des Tag-Nacht-Rhythmus, Einhaltung von entwicklungsgefährdenden Diäten usw. Jugendliche, die durch einen
Mangel an sozialem Echo, Mobbing-Erfahrungen oder Misserfolge im schulischen
und beruflichen Umfeld beeinträchtigt sind, zeigen mit höherer Wahrscheinlichkeit
Risikoverhaltensweisen wie beispielsweise Selbstverletzungen (Kaess, 2012).
Bei anderen Jugendlichen wiederum kann gerade ein starkes soziales Echo in
gesellschaftlichen Außenseitergruppen oder Cliquen zu immer riskanteren Verhaltensweisen führen, zum Beispiel U-Bahn-Surfen, Strommastklettern oder Fassadenbesteigungen (Resch und Parzer, 2014).
Wenn Eltern nicht verfügbar scheinen und eine protektive Rolle elterlicher Fürsorge
und Kontrolle entfällt, spielen die Wertvorstellungen Gleichaltriger eine umso größere
Rolle (du Bois und Resch, 2005). Gefährliches Verhalten wird von Jugendlichen oft
gerade deshalb gezeigt, weil es verboten ist oder bei Erwachsenen Ablehnung und
Entsetzen hervorruft (Resch, 1999). Und so führen Risikoverhaltensweisen gerade
durch die erhöhte Gefährdung dazu, sich selbst besser definieren zu können, sich
bestätigt zu fühlen oder den Selbstwert zu erhöhen; sie können eine Wertschätzung in
Abgrenzung von der Erwachsenenwelt ermöglichen (du Bois und Resch, 2005).
Risikoverhaltensweisen sind nicht bei beiden Geschlechtern gleich verteilt. Während Drogenkonsum und aggressives Verhalten unter männlichen Jugendlichen
häufiger sind, finden sich Essstörungen, emotionale Regulationsstörungen und
Selbstverletzungen vermehrt bei Mädchen. Risikoverhaltensweisen ermöglichen offenbar dem Jugendlichen aktuell, persönliche Ziele zu erreichen und Bedürfnisse zu
stillen, auf längere Sicht schaffen sie jedoch mehr Probleme als diese zu lösen (Resch
24
1 Adoleszenz – junges Erwachsenenalter
und Parzer, 2014). So können Risikoverhaltensweisen die soziale und schulische
Entwicklung hemmen, die Gesundheit gefährden, entstellende Verletzungen hervorrufen oder das familiäre und befreundete Umfeld so verprellen, dass wichtige
Kontakte verunmöglicht werden. Risikoverhaltensweisen scheinen prinzipiell dem
Muster des russischen Roulettes zu folgen: Vielleicht geht alles gut aus, wenn aber
eine Katastrophe passiert, ist es mir auch egal (Resch, 2010).
Risikoverhaltensweisen können eine Vorstufe von psychischen Störungen darstellen und im ungünstigen Fall in psychische Störungen mit Krankheitscharakter
übergehen. Gleich ob Risikoverhaltensweisen durch ungenügende Reifungsprozesse
neuronaler Netzwerke hervorgerufen werden (Konrad et al., 2013) oder ob soziale
Konstellationen dieselben begünstigen, im Endeffekt haben Risikoverhaltensweisen
wieder negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehirns.
1.5
Symptomentwicklung und Indikation
zur Psychotherapie – ein Fazit
Es erscheint zu kurz gegriffen, bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen allein auf
die syndromale Erfassung psychischer Störungen zu setzen. Angemessener erscheint es, darüber hinaus jugendtypische Aspekte der psychopathologischen
Ausgestaltung psychischer Probleme in den Fokus zu nehmen (s. Übersicht bei
Resch und Parzer, 2014).
Nicht selten weisen Jugendliche nicht nur ein psychiatrisches Syndrom auf, sondern auch eine Reihe von komorbiden Störungen, die therapeutisch nicht
vernachlässigt werden sollten. Daneben finden sich auch subliminale psychische
Störungen, die zwar nicht kategorial diagnostisch relevant werden, aber als Beeinträchtigung dimensional erfassbar sind und die Entwicklung schwer beeinträchtigen
können, z. B. Selbstentfremdungserlebnisse oder depressive Symptome. Auch
Schmerzsyndrome können zu Vermeidungsverhalten führen und damit das klinische
Bild verschlechtern. Substanzkonsum oder suchtartiger Internetkonsum sind ebenfalls häufig Teil des psychopathologischen Spektrums psychiatrischer Komorbidität.
Gerade im Jugendalter können interaktionelle Probleme mit den Eltern oder im
Schulkontext zu derartigen Eskalationen führen, dass die emotionale Turbulenzen
aufgeschaukelt erscheinen und Kriseninterventionen erforderlich werden. Darüber
hinaus können selbstverletzende Verhaltensweisen viele Formen psychischer Störungen verkomplizieren. Eine rein nosologieorientierte Psychotherapie kann dieser
Komplexität nicht gerecht werden.
Die Ausgestaltung von Entwicklungsaufgaben und Krisen können die psychopathologischen Phänomene ergänzen. Störungen der Identitätssuche oder der Selbstwertregulation können Depersonalisationsphänomene triggern oder Unsicherheiten
der Wahrnehmung erzeugen. Auch Existenzfragen (Fragen der Sinnhaftigkeit des
eigenen Lebens), Fragen der Herkunft – wie sie vor allem bei Adoptivkindern oder
Pflegekindern auftreten – Enttäuschungen in Liebesbeziehungen oder sexuelle
25
Behandlungsgrundlagen und -rahmen
Ängste können ganz unterschiedliche psychiatrische Syndrome zusätzlich thematisch beladen, wobei die Lebensthemen im psychotherapeutischen Kontext unbedingt aufgegriffen werden müssen. Aus dem Vorgenannten folgt, dass im Jugendund jungen Erwachsenenalter die alleinige Nosologie-Orientierung nicht ausreicht,
sondern dass ein diagnostischer Blick auch auf alterstypische Lebensthemen und
Entwicklungsaufgaben notwendig ist.
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Psychopathologie. In: Resch F, Schulte-Markwort M (Hrsg) Kursbuch für integrative
Kinder- und Jugendpsychotherapie. Schwerpunkt: Adoleszenz. Weinheim: Beltz. S. 3–12.
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Jugendalter. In: Andresen S, Brumlik M, Koch C (Hrsg) Das Elternbuch. Wie unsere
Kinder geborgen aufwachsen und stark werden. Weinheim: Beltz. S. 499–512.
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Weinheim: Beltz.
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Stierlin H (1979) Status der Gegenseitigkeit: die fünfte Perspektive des Heidelberger familiendynamischen Konzeptes. Familiendynamik 4:106–116.
Syed M, Seiffge-Krenke I (2013) Personality development from adolescence to emerging
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formation. J Pers SocPsychol 104:371–384. doi: 10.1037/a0030070.
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26
2
Psychotherapie bei jungen Erwachsenen:
Was wirkt?
Inge Seiffge-Krenke
Durch eine neue Entwicklungsphase zwischen Jugend- und Erwachsenenalter, das
sogenannte emerging adulthood (Arnett, 2004), haben sich Entwicklungsbesonderheiten ergeben, die einen veränderten therapeutischen Zugang für die 18- bis
30-Jährigen erfordern: Sie sind keine Jugendlichen mehr, aber auch noch keine
Erwachsenen, sind also auch in Bezug auf die therapeutische Technik »in between«
(Arnett, 2000, S. 471). In diesem Beitrag werden allgemeine Prinzipien und therapeutische Vorgehensweisen dargestellt. Als Rahmen dient die veränderte Identitätsentwicklung, die bei vielen Patienten, unabhängig von der spezifischen
Symptomatik, beobachtbar ist und zu einem Thema in der Behandlung werden
sollte. Die in diesem Beitrag geschilderten Veränderungen in der Identitätsentwicklung und die sich daraus ergebenen Identitätsprobleme haben Konsequenzen für die Therapie, die sich v.a. in der Einschätzung von Zeitverläufen, der
Bedeutung des Rahmens und dem Einfluss der neuen Medien sowie in den veränderten Gewichtungen der Interventionsformen, also von Halten, Deuten und
Klarifikation, äußern. Die Benennung von Realitäten hat angesichts der verschobenen Zeitverläufe bei Eltern und Kindern eine große Bedeutung. Ich-stärkende
und strukturgebende Interventionen, die Selbst-Objekt-Differenzierungen betreffen, stehen im Vordergrund und das richtige Maß supportiver Techniken muss
bedacht werden. Von besonderer Bedeutung ist auch der Umgang mit Abstinenz
bzw. analytischer Neutralität. Insofern ist der therapeutische Umgang mit jungen
Erwachsenen nicht einfach (vgl. Seiffge-Krenke, 2013), sondern erfordert besondere therapeutische Sensibilität.
2.1
Globale Wirksamkeit: Die Ergebnisse
von Meta-Analysen
Verschiedene Studien belegen eine Zunahme psychischer Störungen in der Altersgruppe der 18- bis 30-Jährigen. Bereits vor einigen Jahren zeigte eine Analyse der
Gesundheitsberichte verschiedener gesetzlicher Krankenkassen (Lademann, Mertesacker und Gebhardt, 2006) die zunehmende Bedeutung psychischer Störungen
beim Krankenstand auf. Der Anteil der psychischen Störungen lag dabei je nach
Krankenkasse zwischen 6 und 13 % und nahm Rang 3 bis 5 ein. Die Reporte der
27
Behandlungsgrundlagen und -rahmen
Jahre 2004 und 2005 zeigten für die Altersgruppen von 15 und 24 Jahren eine
kritische Entwicklung im Bereich psychischer Störungen im Vergleich zu den
Vorjahren. Bedeutsame Anstiege fanden sich seit 1997 bei 20- bis 24-jährigen
Frauen, seit 2003 bei Männern ab dem 20. Lebensjahr. Dieser Trend spiegelte sich
auch in einer Zunahme stationärer Behandlungsfälle aufgrund psychischer Störungen bei den 15- bis 24-Jährigen um 15 % wider, weitere Zunahmen von 11 %
waren bei 20- bis 24-jährigen Frauen zu verzeichnen. Derartige Zunahmen können
für verschiedene Störungsbereiche aufgedeckt werden, besonders groß sind sie bei
Persönlichkeitsstörungen, wo sich nach ersten Zunahmen in der Adoleszenz ein
zweiter Gipfel um das 23. bis 24. Lebensjahr findet (Schmid und Schmeck, 2008).
Die starken Zuwachsraten gelten auch für die Depression. Busch et al. (2013)
belegten beispielsweise an einer Stichprobe von 8000 Personen im Alter von 18 bis
79 Jahren, dass die Untergruppe der 18- bis 29-Jährigen die höchste Prävalenz
depressiver Störungen (10 %) im Vergleich zu den älteren Altersgruppen aufweist,
und bestätigen auch die geschlechtsspezifischen Zunahmen (Prävalenz für 18- bis
29-jährige Frauen 12 %, für gleichaltrige Männer 8 %). Diese Zunahmen stehen
vermutlich in enger Beziehung mit veränderten Formen des Aufwachsens und der
Eltern-Kind-Beziehung, die sich in den letzten 10 bis15 Jahren abgezeichnet haben,
die sich in einer Verlängerung der Jugendzeit bzw. einer neuen Entwicklungsphase
»emerging adulthood« äußern, in der weiterhin eher jugendspezifische Entwicklungsaufgaben bearbeitet werden und der Eintritt ins Erwachsenenalter noch nicht
erfolgt ist sowie eine relativ starke Unterstützung und Versorgung durch die Eltern
(»Helikopter-Eltern«) erfolgt. Diese entwicklungsbezogenen Veränderungen, zusammen mit der großen Schwierigkeit, normale und pathologische Verläufe zu
trennen, sprechen dafür, dass zukünftig Kinder- und Jugendlichen-Therapeuten
verstärkt mit jungen Menschen über das 21. Lebensjahr hinaus, der bisherigen
Obergrenze (VAKJP, 2003), arbeiten sollten.
Bei der Analyse der Wirksamkeit tiefenpsychologisch fundierter und psychoanalytischer Therapien für die Altersgruppe der »emerging adults« müssen die
separat vorliegenden Befunde für die Altersgruppen Jugendliche bzw. Erwachsene
herangezogen werden, da Studien an der Altersgruppe 18–30 Jahre bislang nicht
vorliegen. Diese Altersgruppe liegt also auch in Bezug auf die Wirksamkeit »in
between«, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Allerdings gibt es Studien, etwa
die Studie zur Wirksamkeit der teilstationären Psychotherapie (z. B. Agarwalla und
Küchenhoff, 2004), die ohne Altersangaben der Patienten auskommen. Offenbar
steht die Frage des Alters eines Pateinten, d. h. ein entwicklungsbezogenes Denken,
eher nicht im Zentrum der Wirksamkeitsstudien, denn die untersuchten Stichproben haben oft einen sehr großen Altersrange von 18 bis 65 Jahre. In den folgenden Abschnitten dieses Beitrags wird jedoch verdeutlicht, dass Fragen des Alters
und der Zeit von sehr großer therapeutischer Relevanz sind.
Ein Blick in die Forschung zeigt, dass die vorliegenden Studien zur Qualitätssicherung in der analytischen Psychotherapie bei Jugendlichen insgesamt nicht so
systematisch und umfangreich sind wie bei erwachsenen Patienten, dass aber die
Wirksamkeit ähnlich gut ist (Döpfner und Lehmkuhl, 2002). Neuere Übersichten
zur Wirksamkeit von psychoanalytischen Therapien bei Jugendlichen belegen, dass
insgesamt 21 kontrollierte Studien gemäß den Mindestanforderungen für die Be28
2 Psychotherapie bei jungen Erwachsenen: Was wirkt?
gutachtung von Wirksamkeitsstudien vorliegen sowie sechs umfangreiche Katamnesen (vgl. Übersicht in Seiffge-Krenke, 2011; Seiffge-Krenke und Nitzko,
2011), für die Wirksamkeit, insbesondere den langfristigen Effekt dieser Therapien
(Winkelmann et al., 2000). Dies gilt insbesondere für Langzeittherapien (SeiffgeKrenke, 2010a), die 80 und mehr Stunden umfassen, mit deutlichen Verbesserungen der Symptomatik zwischen 62 und 90 % und weiterer klinischen
Kriterien, während Kurzzeittherapien bei bestimmten Störungsbildern, z. B. Depression (Horn et al., 2005) für nicht ausreichend angesehen wurden. Diese Studien
zeigen auch, dass es wichtig ist, getrennte Einschätzungen von Jugendlichen, ihren
Eltern und den behandelten Therapeuten einzuholen, da die Eltern die Symptomschwere, insbesondere bei internalisierenden Störungen, und den Behandlungserfolg im Vergleich zu den Jugendlichen bzw. ihren Therapeuten unterschätzen
(Seiffge-Krenke und Nitzko, 2011). Die Therapeuten berichteten einen starken
Rückgang der psychischen und körperlichen Symptomen durch die Behandlung
und sowie eine deutliche Besserung der zuvor bestandenen Kommunikationsprobleme des Jugendlichen in Bezug auf Eltern, Geschwister und Freunde. Die
Eltern nahmen nur eine schwache, die jugendlichen Patienten jedoch eine sehr
signifikante Symptomverbesserung wahr.
Belege zur Wirksamkeit bei erwachsenen Patienten sind in den vergangenen
Jahren relativ zahlreich und für verschiedene Krankheitsbilder erhoben worden
(z. B. Leichsenring, 2004; Brockmann, Schlüter und Eckert 2006). So fanden
Leichsenring und Mitarbeiter (2004) eine Effektgröße von 1,17, was einem sehr
hohen Effekt entsprach, bei durchschnittlich 21 Stunden umfassenden Kurzzeittherapien. In einer weiteren Meta-Analyse, die sieben Studien, in denen Langzeittherapien untersucht wurden, einschloss, berichten Leichsenring und Rabung
(2008) bei komplexen psychischen Störungen wie Persönlichkeitsstörungen eine
Effektgröße von 1,8, verglichen mit Kurzzeittherapien. Aber auch Meta-Analysen
aus anderen Ländern, so etwa die 23 Studien an insgesamt 1431 Patienten umfassende Meta-Analyse von Abbass et al. (2006), fand hohe Effektstärken von
0,97 für eine allgemeine Symptomverbesserung nach einer durchschnittlich
40 Stunden umfassenden Therapie. Ein immer wiederkehrendes Ergebnis dieser
Studien war, dass die Wirkung psychodynamischer bzw. psychoanalytischer
Langzeittherapien nicht nur andauert, sondern mit der Zeit zunimmt.
2.2
Was wirkt? Spezifische Wirkmerkmale
analytischer Therapie
Während also die globale Wirksamkeit psychodynamischer Ansätze für die Altersgruppe der 18- bis 30-Jährigen vermutlich ähnlich gut sein wird wie für die
Altersbereiche, die bislang in der Forschung getrennt analysiert wurden – Jugendliche
und Erwachsene –, ist es wichtig, sich die Kriterien zu verdeutlichen, die für analytisch orientierte Therapien, im englischen Sprachgebrauch »psychodynamische
29
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