In den staatlichen Pensionskassen klafft eine bedrohliche Milliardenlücke. Seite 42 22. September 2013 12. Jahrgang | Nr. 38 www.nzz.ch/sonntag Fr. 5.00 | € 4.30 Der Klimawandel steht still Forscher rätseln, warum die Durchschnittstemperaturen seit 15 Jahren nicht mehr steigen Seit 15 Jahren haben sich die glo­ balen Durchschnittstemperatu­ ren nicht mehr erhöht, obwohl die Konzentration des Treibhaus­ gases CO2 in der Atmosphäre heu­ te so hoch ist wie zuletzt vor 3 Millionen Jahren. Am kommen­ den Freitag wird sich der Weltkli­ marat der Uno (IPCC) unter ande­ rem mit dieser Erwärmungspause befassen. Zum fünften Mal wer­ den die von Regierungen beauf­ tragten Wissenschafter einen Be­ richt zum Stand der Klimawissen­ schaften publizieren. Offiziell ist der Inhalt des Be­ richts zwar noch geheim. Aller­ dings sind bereits Ausschnitte und Daten durchgesickert. Dem­ nach halten es die Wissenschafter heute für «äusserst wahrschein­ lich», dass der Mensch für die seit Beginn der Industrialisierung um Fall Vogel: Berater ist hoch verschuldet Der Spielerberater, der im Zentrum des mutmasslichen Bestechungsskandals bei YB Bern steht, hat Geldsorgen. Lukas Häuptli Gemeinsam mit Fussballmanager Erich Vogel befindet sich ein Be­ rater wegen Verdachts auf ver­ suchte Erpressung in Unter­ suchungshaft. Er ist hoch ver­ schuldet. Ein Betreibungsregis­ terauszug zeigt, dass die Betrei­ bungen gegen den 47­jährigen In­ nerschweizer Ende 2012 fast 500 000 Franken betrugen. Die rund 130 000 Franken, die er Vogel und seinem ehemaligen Schwiegervater schuldet, sind darin nicht enthalten. Kommt dazu, dass der Spielervermittler 2005 in Konkurs ging; seine offe­ nen Verlustscheine beliefen sich Ende letzten Jahres auf mehr als 400 000 Franken. Dem Spielerberater und Vogel wird vorgeworfen, sie hätten ver­ sucht, YB-Manager Fredy Bickel mit angeblich belastenden Doku­ menten zu erpressen. So soll der Berater von Bickel 130 000 Fran­ ken gefordert haben. Die genaue Rolle Vogels ist noch unklar. Fest steht immerhin, dass der 74-Jäh­ rige die Dokumente für den Spie­ lervermittler im eigenen Bank­ safe aufbewahrt hat. allerdings nicht durch eine be­ schleunigte Eisschmelze oder thermische Ausdehnung des Meerwassers. Vielmehr erlauben es bessere Messungen und Simu­ lationen, auch die Dynamik der grönländischen und antarkti­ schen Gletscherströme zu be­ rücksichtigen. Deren Einfluss hat­ te der IPCC bisher unter den Tisch fallen lassen. Die Forscher haben noch keine Antwort auf die Frage gefunden, warum die Durchschnittstempe­ raturen auf der Erde stagnieren. Viele machen natürliche Schwan­ 0,8 Grad Celsius gestiegene Tem­ peratur verantwortlich ist. Die Wahrscheinlichkeit hierfür betra­ ge 95 Prozent, 5 Prozentpunkte mehr als im letzten Bericht 2007. Nach oben korrigieren sich die Forscher beim Ausblick auf die Höhe des Meeresspiegels: Zwi­ schen 28 und 97 Zentimeter könnte er bis im Jahr 2100 stei­ gen, zitiert die Zeitschrift «Na­ ture» aus einem geheimen Ent­ wurf des Dokuments. Zu dieser Steigerung um maximal fast 40 Zentimeter im Vergleich zum vo­ rigen Bericht von 2007 kommt es kungen dafür verantwortlich, etwa eine stärkere Wärmeaufnah­ me durch die Ozeane. Allerdings könnte auch eine geringere Wirksamkeit des Treib­ hausgases CO2 eine Rolle spielen. Falls sich dies bewahrheiten soll­ te, würde die Sorge vor der Klima­ erwärmung abgemildert. «Ich will das nicht ausschliessen», sagt der Klimaforscher Hans von Storch im Interview. Derzeit seien die Messungen zwar noch im Ein­ klang mit den Computersimula­ tionen. Doch wenn die Tempera­ turen noch weitere fünf Jahre sta­ gnierten, wäre dies eine Entwick­ lung, die in den Modellszenarien nicht vorkomme. Von Storch er­ mahnt seine Kollegen zu mehr Vorsicht bei Prognosen zum Kli­ mawandel und seinen Ursachen: «Es wäre fatal, wenn in der Öf­ fentlichkeit der Eindruck ent­ stünde, wir hätten zugunsten ei­ ner ideologischen Linie alles Mögliche erzählt und die Unsi­ cherheiten der Klimaforschung heruntergespielt.» Seite 65 Kommentar Seite 23 Kenya Terroranschlag in Einkaufszentrum SIMON MAINA / AFP Der Weltklimarat der Uno publiziert am Freitag einen neuen Bericht zum Weltklima. Die Kernbotschaft des Papiers ist überraschend. Andreas Hirstein und Patrick Imhasly Seite 56 Bund erforscht Essverhalten und Bauchumfänge Seite 11 Maskierte Bewaffnete haben am Samstag einen Terroranschlag im beliebten Einkaufszentrum Westgate in Kenyas Hauptstadt Nairobi verübt. Mindestens 39 Personen kamen nach Angaben Arm ist, wer sich arm fühlt, ganz offiziell. Dies ist ein Luxus, den man sich erst einmal leisten können muss. Unser neuer Kolumnist René Scheu über das Grundeinkommen, das es in der Schweiz faktisch bereits gibt. Seite 22 KEYSTONE Hintergrund der Regierung ums Leben, über 150 wurden verletzt. «Es war wie im Krieg», sagte ein Augenzeuge. Besucher des Zentrums flohen in Panik (Bild). Am Abend bekannte sich die islamistische Wirtschaft Traditionsmarken in Existenznot Die Käsesorten Emmentaler, Tilsiter und Sbrinz stecken in der Krise. Jetzt soll Planwirtschaft helfen. Seite 33 Shabab-Miliz aus Somalia zu dem Anschlag. Dieser sei «ausgleichende Gerechtigkeit für Verbrechen, die ihre Armee verübt hat», heisst es in der Erklärung. Kenya hatte 2011 Beilage Film-Festival Superstars zu Gast in Zürich Soldaten nach Somalia geschickt, um den Versuch der Shabab zu stoppen, im bürgerkriegsgeplagten Land einen islamistischen Gottesstaat zu errichten. (zzs.) Seite 3 ILLUSTRATION: ANDRÉ CARRILHO und die Präventionsprogramme des Bundes zu verbessern. Genau das stösst der Wirtschaft sauer auf. «Die Erhebung bestätigt un­ sere Befürchtung, dass der Staat die mündigen Bürger immer wie­ der neu bemuttern will», sagt Gewerbeverbandsdirektor Hans­ Ulrich Bigler. Er fordert den Ab­ bruch der Übung. Das Geld dafür sei einzusparen. (dli.) Alles zum 9. Zurich Film Festival, das am Donnerstag beginnt – unter anderen mit Hugh Jackman. Seite 85 Kultur AP Der Bund will genauer wissen, was die Schweizer essen und wie dick sie sind. Nächstes Jahr star­ tet das Bundesamt für Gesund­ heit (BAG) darum die erste «natio­ nale Ernährungserhebung», eine zwei Millionen Franken teure Umfrage, die detaillierte und re­ präsentative Daten über das Ess­ und Bewegungsverhalten der Be­ völkerung liefern soll. Die Resul­ tate sollen dazu dienen, bei Be­ darf die Lebensmittelsicherheit Er polarisierte und provozierte Die Publizistin Klara Obermüller zum Tod ihres langjährigen Freundes Marcel Reich­Ranicki. Seite 77 NZZ am Sonntag 22. September 2013 Meinungen 23 Chappatte Iran Erste Anzeichen von Realismus in Teheran Seit der Geiselnahme von US-Botschaftsangehörigen im November 1979 herrscht zwischen den USA und Iran diplomatische Eiszeit. Eine Folge davon ist, dass es in dieser Region nie einen Frieden gab, weil Iran alles daran setzte, eine mögliche Aussöhnung Israels mit seinen arabischen Nachbarn zu torpedieren. Wenn jetzt, nach 34 Jahren, der neugewählte iranische Präsident Hassan Rohani öffentlich Bereitschaft zum Dialog mit Washington signalisiert, ist dies eine ausserordentliche Entwicklung. Man muss vermuten, dass der Wirt­ schaftsboykott des Westens mittlerweile derart gra­ vierende Folgen hat, dass sich Iran die harte Konfron­ tationspolitik nicht mehr leisten kann. Und der Konflikt in Syrien hat die Stellung Teherans in der Region geschwächt. Mit seinem Vorstoss will Rohani wohl aus der Defensive ausbrechen. Kommt es wirklich zu umfassenden Gesprächen mit den USA, könnte dies der Hebel sein, mit dem sich die zwei Kernprobleme im Nahen Osten fundamental angehen lassen: ein Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn sowie eine Ver­ ständigung zwischen Schiiten und Sunniten. Dass ein solch grosser Deal Kompromisse von allen erforderte, ist klar. Wenn sowohl Israel wie Saudiarabien skeptisch auf die Signale Rohanis reagiert haben, ist dies der Grund. Sie haben mit dem Status quo gut gelebt. (fem.) Klimaerwärmung Durchschnittswerte helfen den Menschen nicht weiter Seit 15 Jahren steigen die globalen Durchschnittstempe­ raturen auf der Erde nicht mehr, obwohl die Emissionen des Treibhausgases CO2 rekordhohe Werte erreichen. Der Weltklimarat der Uno, der kommende Woche seinen neuen Bericht zum Stand der Klimaforschung publiziert, ist noch ratlos. An Erklärungsversuchen ist kein Mangel, aber eine definitive Antwort könnte Jahre auf sich warten lassen. Nur die Gegner einer wirksamen Klimapolitik haben ihre Schlüsse schon gezogen: Der Klimawandel findet nicht statt, er ist eine Erfindung von Alarmisten. Es ist der immer gleiche Refrain. Es geht um etwas anderes als um globale Durchschnittswerte von Temperatur, Niederschlägen und Meeresspiegel. Für die Bewohner der Erde zählen regionale und saisonale Entwicklungen und die Häufigkeit von Extremereignis­ sen. Sie sind für das Schicksal der Menschen vor allem in den Entwicklungsländern viel wichtiger als das mathematische Konstrukt eines Durchschnitts. In der regionalen Vorhersage hat die Klimawissenschaft kaum praxistaugliche Fortschritte zu verzeichnen – zu komplex sind die physikalischen Prozesse im Klima­ system. Das sollten sich die Forscher eingestehen und von Versuchen, eine umfassende Weltmaschine im Computer nachzubauen, Abstand nehmen. (hir.) Papst Franziskus Prioritäten richtig gesetzt Ein halbes Jahr nach seiner Amtsübernahme meldet sich Papst Franziskus mit einem Paukenschlag zu Wort. Die katholische Kirche darf seiner Ansicht nach nicht besessen sein von den Tabus Verhütung, Abtreibung und Homosexualität. Es gebe Wichtigeres, den Dienst an den Armen und den Randständigen. Und man müsse den Menschen mit Wärme, nicht mit Verurteilung begegnen. Franziskus setzt nur die Prioritäten neu – dass er in all den Fragen, die er nun hintanstellt, kein Problem sieht, sollte man nicht meinen. Doch eine mehr an Menschlichkeit als an Lehrsätzen und Moralvor­ schriften ausgerichtete Kirche ist zu begrüssen. Der 76­jährige Papst beweist einen Erneuerungswillen und eine Tatkraft, die diese dringend nötig hat. (vmt.) US-Präsident Barack Obama in der Defensive. Der externe Standpunkt Wer mehr Mobilität konsumiert, soll auch dafür bezahlen In Stosszeiten gerät der Verkehr auf Schweizer Strassen und Schienen allmählich an den Rand des Kollapses. Mobility-Pricing ist ein einfaches und nützliches Rezept dagegen, meint Daniel Müller-Jentsch D ie Schweiz hat ein hochwertiges Verkehrssystem, das zunehmend an seine Belastungsgrenzen stösst. Die Staustunden summieren sich allein auf den Nationalstrassen auf 20 000 pro Jahr, und auch weite Teile des öffentli­ chen Verkehrs sind in der Stosszeit überlas­ tet. Zudem ist das Schweizer Verkehrssystem sehr teuer. Laut Transportrechnung des Bundes betragen die Gesamtkosten des Strassenverkehrs 70,5 Milliarden Franken und die des Schienenverkehrs 11,4 Milliarden Franken – pro Jahr. Aufgrund falscher Weichenstellungen befindet sich die Verkehrspolitik in einer Kostenspirale: Subventionierter Kapazitäts­ ausbau schafft wachsende Mobilitätsbedürf­ nisse, was wiederum subventionierten Kapazitätsausbau nach sich zieht. So hat die Mobilität in den letzten Jahren rasant zuge­ nommen: Während zwischen 2000 und 2011 die Bevölkerung um 10 Prozent wuchs und das Bruttoinlandprodukt um 21 Prozent, stieg der Verkehr auf den Nationalstrassen um 41 Prozent und jener auf der Schiene sogar um 54 Prozent. An vielen heutigen Verkehrsproblemen sind drei Strukturfehler schuld: erstens die massive Subventionierung des Verkehrs mit Steuergeldern; diese heizt die Nachfrage zusätzlich an. Zweitens verhindert die fehlende Differenzierung der Preise eine gleichmässigere Auslastung der Verkehrs­ systeme. Während die Züge zu den Stoss­ zeiten überfüllt sind, beträgt die durch­ schnittliche Sitzplatzauslastung der SBB im Regionalverkehr nur 20 Prozent. Höhere Preise in den Stosszeiten würden die Kapazi­ tät besser auslasten. Drittens führt die Politisierung der Investitionsentscheide zu einem Fehleinsatz von Milliardenbeträgen. Während das Nationalstrassennetz auf den Hauptarterien überlastet ist, werden auf Nebenstrecken im Jura und im Oberwallis Autobahnen durch den Berg getrieben. Die Lösung für diese Strukturfehler liegt im Mobility­Pricing, also der Anwendung marktwirtschaftlicher Preismechanismen im Verkehr. Konkret bedeutet dies, dass die Benutzer sich stärker an den Kosten beteili­ gen, dass die Verkehrspreise stärker nach Zeiten und Strecken differenziert werden und dass Investitionsentscheide auf Kosten­ Nutzen­Erwägungen und nicht auf ein föderalistisches Wunschkonzert gestützt werden. Mobility­Pricing bedeutet in seiner Essenz möglichst grosse Kostenwahrheit. Die Folge wären tiefere Kosten, weniger Staus und bessere Kapazitätsauslastung. Es gibt bereits viele erfolgreiche Beispiele für Mobility­Pricing: In Österreich wurden alpenquerende Tunnel über eine Maut finanziert. In Stockholm reduzierte eine City­Maut die Staus und trifft inzwischen auf breite Zustimmung. In den Niederlanden Daniel Müller-Jentsch Daniel Müller-Jentsch, 44, ist promovierter Ökonom und arbeitet seit 2007 als Projektleiter bei der schweizerischen Denkfabrik Avenir Suisse, wo er unter anderem für die Themen Raumplanung und Verkehrspolitik zuständig ist. Nach seinem Studium in Grossbritannien und den USA arbeitete er sieben Jahre bei der Weltbank in Brüssel. kombiniert ein landesweites E-Ticket den Komfort des Generalabonnements mit differenzierteren Preisen. Singapur hat ein umfassendes Mobility­Pricing für Strasse und Schiene. In der Schweiz setzt die 2001 eingeführte leistungsabhängige Schwerver­ kehrsabgabe (LSVA) die richtigen Anreize. Verkehrspolitisch bedeutet die Einfüh­ rung von Mobility­Pricing, dass der Verkehr nicht vor allem vom Steuerzahler, sondern vom Konsumenten der Mobilität bezahlt wird. Diese Umschichtung sollte aufkom­ mensneutral erfolgen, das heisst: Tariferhö­ hungen müssen durch Steuersenkungen kompensiert werden. Die Einführung des Mobility­Pricing sollte zudem auf Schiene und Strasse gleichermassen erfolgen, denn eine einseitige Belastung hätte eine uner­ wünschte Verkehrsverlagerung zur Folge. Ein häufiger Einwand ist die Sorge, Mobi­ lity­Pricing sei ungerecht. Aber ist ein Status quo gerechter, in dem die Verkehrsbenutzer einen erheblichen Teil der von ihnen verur­ sachten Kosten auf die Allgemeinheit abwäl­ zen? Und in dem pauschale Subventionen verteilt werden, unabhängig vom Einkom­ men, wie etwa der Rabatt für Rentner beim Generalabonnement? Richtig ist, dass es im Gegenzug zu mehr Benutzerfinanzierung entsprechende Steuersenkungen geben muss und dass diese so auszugestalten sind, dass die richtigen Gruppen entlastet werden, beispielsweise der arbeitende Mittelstand. Auch gegen zielgerichtete Rabatte, etwa für Schüler, ist nichts einzuwenden. Es gibt viele Wege hin zur Kostenwahrheit im Verkehr, und es kann durchaus schritt­ weise umgesetzt werden. Erste Reformmass­ nahmen in diese Richtung könnten eine Tunnelgebühr am Gotthard sein, höhere Preise im öffentlichen Verkehr in Stosszeiten oder der Ersatz des Generalabonnements für Rentner durch ein vergünstigtes General­ abonnement, das nur ausserhalb der Stoss­ zeiten gilt. Ziel des Mobility­Pricing ist nicht ein Systembruch, sondern eine behutsame Reform der Verkehrsfinanzierung. 28 Hintergrund Handel NZZ am Sonntag 22. September 2013 Treibeis in der Ostsibirischen See: Auf seiner Jungfernfahrt durch die Nordostpassage muss der chinesische Frachter «Yong Sheng» streckenweise von einem Eisbrecher begleitet werden. (29. August 2013) S Abkürzung durchdieArktis Die Nordostpassage soll für Schiffe zur Alternativroute von Asien nach Europa werden, schneller und günstiger als der Suezkanal. Bisher kreuzten vor allem Eisbrecher und russische Tanker durch die eisigen Gewässer. Doch nun hat China den ersten Frachter heil durch die Passage geschickt. Von Daniel Meier ogar der Konsul der chinesischen Botschaft war gekommen und das Fernsehen. Kapitän Zhang Yutian stand letzte Woche im Hafen von Rotterdam vor seinem Schiff und hielt einen Blumenstrauss in der Hand. «In der Arktis ist die Sicht nicht gut», berichtete Yutian. «Es ist ganz anders. In der Arktis ist das Eis, im Suezkanal ist es sonnig.» Am 8. August lief Kapitän Yutian mit dem Frachter «Yong Sheng» in der chinesischen Hafenstadt Dalian aus. Als er das Gelbe Meer hinter sich hatte, drehte er nicht wie sonst nach Süden. Stattdessen umfuhr er die koreanische Halbinsel, folgte der russischen Küste, immer weiter nach Nordosten, bis er endlich die Beringstrasse erreichte. Am Montag, 26. August, um 23 Uhr 30 passierte er Kap Deschnjow. Hier beginnt die Nordostpassage. Seit das Polareis schmilzt, gilt die gefürchtete Route durch die Arktis als Alternative zum Suezkanal. Ein Schleichweg für die globalen Güterströme. Erstmals schipperten vor vier Jahren zwei Kähne einer deutschen Reederei heil durch die eisige Passage. Sie sparten dabei viel Zeit und Geld. Der Durchbruch schien geschafft. Danach wurde es wieder still im hohen Norden, doch die Abkürzung wird tatsächlich genutzt. Die russische Behörde erteilte in diesem Jahr bereits 534 Bewilligungen für Teilstücke. Vorgestern Freitag befanden sich 67 Schiffe irgendwo zwischen Beringstrasse und Barentssee. Im Sommer 2010 durchfuhren 4 Schiffe die komplette Nordostpassage. In diesem Jahr waren es bis jetzt 31. Eines davon war die «Yong Sheng». Kapitän Yutian steuerte sie zunächst durch die Tschuktschensee und die Untiefen der DmitriLaptew-Strasse. In der Ostsibirischen See tauchten Eisbrocken auf. In diesem Abschnitt fuhr der russische Eisbrecher «50 Let Pobedy» voraus, atomgetrieben und mit 159 Metern fast gleich lang wie die «Yong Sheng». Dort oben kann man dem Klimawandel zuschauen. Nördlich des asiatischen Kontinents öffnete sich in Küstennähe im Juli 2005 erstmals eine Rinne, mit Treibeis durchsetzt, aber durchgängig schiffbar. Inzwischen wiederholt sich der Vorgang jeden Sommer. Der Korridor wird jedes Mal breiter, die Zeitspanne länger. D. LOBUSOV / MARINETRAFFIC 29 Nordostpassage verkürzt die Reise von Asien nach Europa Wichtigste Transportrouten zu Wasser und auf dem Land Die erste Karawane soll um das Jahr 100 vor Christus über die Seidenstrasse von China bis ans Mittelmeer gereist sein und benötigte angeblich dafür drei bis vier Jahre. Ab Ende des 15. Jahrhunderts wurden die Waren per Schiff über das Kap der Guten Hoffnung transportiert. Seit der Eröffnung 1869 dominiert der Suezkanal die Güterströme zwischen Asien und Europa. Wegen des Klimawandels eröffnet sich nun mit der Nordostpassage eine weitere Alternative. Nordpolarmeer Rotterdam, Niederlande Dalian, China Nordpazifik Die Nordostpassage (rot) kann von Juli bis Mitte November befahren werden. Die Route über den Suezkanal (blau) ist das ganze Jahr geöffnet. Indischer Ozean Alternative Tansportrouten Nordostpassage Gewinnt derzeit als kommerzielle Route an Bedeutung, weil sie viel kürzer ist. Nordwestpassage Derzeit nur von Forschungsschiffen befahren. Könnte langfristig eisfrei und damit schiffbar werden. Transsibirische Eisenbahn Die schnellste Verbindung von Asien nach Europa. Wird derzeit stark ausgebaut. Rotterdam, Niederlande Nordamerika Magellan-Strasse/Kap-Hoorn-Route Das Kap und auch die Abkürzung haben seit der Eröffnung des Panamakanals massiv an Bedeutung verloren. Dalian, China Euro Europa r Panamakanal-Route 1914 eröffnet, rund 14 000 Durchfahrten pro Jahr. Südamerika Asien Peking Afrika Suezkanal-Route Mit über 17 000 Durchfahrten die mit Abstand wichtigste Verbindung zwischen Asien und Europa. Australien Kap-der-Guten-Hoffnung-Route Schiffe, die für den Suezkanal zu gross sind oder Gebühren sparen wollen, nehmen diesen Umweg. Transportdauer im Vergleich 20 200 km Suezkanal-Route: 48 Tage 15 100 km Nordostpassage: 33 Tage 10 200 km Transsibirische Eisenbahn: 15 Tage Kürzlich meldete ein hoher Beamter nach Moskau, man könne bald während sechs Monaten im Jahr fahren. Derzeit sind es knapp fünf, von Juli bis Ende November. Auch auf den neusten Satellitenbildern zeigt sich die Passage praktisch eisfrei. Nur bei der Inselgruppe Sewernaja Semlja, etwa in der Mitte der Strecke, bleibt eine kleine Eisfläche. Kapitän Yutian erreichte Rotterdam am 10. September, nach 33 Tagen. Die Fahrt durch Suezkanal und Mittelmeer wäre sonniger gewesen, aber 15 Tage länger. Zeitgewinn: über 30 Prozent. Das ist viel, denn ein Frachter kostet mit Besatzung, Treibstoff und Zinsen mehrere zehntausend Dollar pro Tag. Die komplexen Gebühren für den Suezkanal lassen sich kaum berechnen, aber bei der «Yong Sheng» geht man von etwa 400 000 Dollar aus. Als der Suezkanal vor bald 144 Jahren eröffnet wurde, verkürzte sich die Strecke von Asien nach Europa ebenfalls um einen Drittel. Der Verkehr um das Kap der Guten Hoffnung brach ein. Doch die Geschichte wiederholt sich nicht. Niemand rechnet damit, dass der Güterstrom ab sofort durch die Arktis fliesst. Noch überwiegen die Nachteile. Denn auch wenn die Temperatur etwas steigt, bleibt es ein kalter, gefährlicher Weg. An einen Betrieb nach Fahrplan, wie ihn Containerschiffe kennen, ist auf Jahre hinaus nicht zu denken. Nach vielen gescheiterten Expeditionen gelang die Durchfahrt erst 1879. Sie ist bis heute ein Abenteuer. Unterwegs finden sich kaum moderne Häfen, die Systeme zur Navigation und Eiserkennung sind veraltet. Zur selben Zeit wie die «Yong Sheng» durchfuhr der Tanker «Nordvik» die Passage. In der Karasee rammte er eine Eisscholle und blieb stehen. Sechs Tage dauerte es, bis Hilfe kam. Im Kalten Krieg kreuzten in dieser Gegend allerlei Schiffe. U-Boote tauchten unter dem Eis und sicherten die Nordgrenze der sowjetischen Supermacht, aber auch Frachtverkehr gab es schon damals. Die Kähne, angeführt von Eisbrechern, transportierten die in der Tundra abgebauten Rohstoffe, etwa Nickel und Kupfer. Viele Häfen wurden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschlossen. Diese Woche kündigte Wladimir Putin an, man werde die Militärbasis auf den Neusibirischen Inseln wiedereröffnen, samt zugehörigem Flug- Das Eis schmilzt weiter. Je höher die Schiffe nach Norden ziehen können, desto mehr Zeit sparen sie. Die schnellste Route führt direkt über den Pol. platz. Der Präsident sagte: «Unsere Truppen sind dort 1993 abgezogen, aber jetzt ist es ein wichtiger Standort bei der Entwicklung der Nordostpassage.» Russland hat erkannt, welche Chance sich durch das Tauwetter in der Arktis bietet. Aber auch China interessiert sich für die Route, wie die Fahrt der «Yong Sheng» zeigt. Die staatliche Reederei Cosco inszenierte die ganze Mission, bis hin zum feierlichen Empfang für Kapitän Yutian in Rotterdam. Der Ausbau der Infrastruktur entlang der Passage gilt als wichtigste Voraussetzung dafür, dass die Verkehrsader genutzt wird. Zumindest im Westteil geht es voran. Dort liegen enorme Öl- und Gasvorkommen. Die Russen, aber auch Shell, Exxon Mobil und Co. investieren. Sie treiben die umstrittene Förderung in der Arktis voran – und sorgen damit für viel Betrieb im westlichen Streckenabschnitt. «Langfristig hat die Alternative zum Suezkanal durchaus Potenzial», sagt Patrick Leypoldt. Der Basler Verkehrsexperte hat vor vier Jahren ein Buch über die Nordostpassage veröffentlicht. Laut Leypoldt lässt sich auf- grund der Fahrzeiten und Kosten eine Scheitellinie ziehen: Für die südlich gelegenen Häfen bleibt der Suezkanal die bessere Wahl, von den nördlichen fährt man via Nordostpassage besser. Die Trennlinie verläuft von Hongkong über Indonesien zum australischen Melbourne. «Vor allem für Transporte von Japan, Nordchina und Südkorea nach Nordeuropa lohnt sich die Nordostpassage», sagt Leypoldt. Sein Ansatz ist interessant. Er trifft Annahmen, wo künftig produziert und wo konsumiert wird. Dadurch entsteht eine Weltkarte mit Gütern und Märkten. Diese kombiniert er mit den verschiedenen Routen und versucht dadurch, vorauszusehen, wie die Warenströme bis 2050 verlaufen werden. Zunächst fahren laut Leypoldt vor allem Versorgungsschiffe für die Öl- und Gasförderung sowie weiterhin kleinere Tanker und Rohstoff-Frachter durch die Nordostpassage. Doch danach steigen die Volumen: «Die Route kann für Massengüter oder auch Maschinenteile genutzt werden, die kälteunempfindlich sind und nicht auf den Tag genau ankommen müssen.» Seefahrt Barents suchte den Weg nach Osten Barents’ Schiff friert im August 1596 fest. Weil die Kap-Routen um Südafrika und Südamerika von Portugal und Spanien kontrolliert werden, beginnt man im 16. Jahrhundert im Norden nach anderen Routen nach China und Indien zu suchen. Die Engländer hoffen auf die Nordwestpassage. Etliche Forscher bleiben mit ihren Booten stecken und müssen überwintern. Viele erfrieren oder verhungern. Der Niederländer Willem Barents versucht es dagegen in Richtung Osten. Auch er kommt nicht weit. Auf der Insel Nowaja Semlja hält er mit seiner Mannschaft einen Winter durch. Aus Teilen ihres Schiffs bauen sie eine Schutzhütte. Als das Eis ihr Schiff auch im Frühling nicht freigibt, versuchen sie mit zwei kleineren Booten zu entkommen. Die meisten überleben, aber Barents stirbt im Juni 1597 im Alter von 47 Jahren. Bis die Nordostpassage gelingt, dauert es nochmals fast 300 Jahre. Der Schwede Adolf Erik Nordenskjöld muss ebenfalls überwintern, erreicht aber im September 1879 schliesslich Japan. Die erste Durchfahrt ohne Überwinterung erfolgt 1932 mit einem russischen Eisbrecher. Im Sommer 2007 waren Nordost- und Nordwestpassage erstmals zugleich eisfrei. (dme.) Der Klimawandel hilft. Mit jedem Grad wird die Passage attraktiver, weil man weniger Eisbrecher benötigt und auch die Versicherungsprämien sinken. Schrumpft die Eisfläche weiter, werden die Kapitäne noch höher gegen Norden halten, denn je näher die Route am Pol verläuft, desto grösser ist der Zeitgewinn. Sobald sich die eisfreie Rinne nicht mehr auf das seichte Küstengebiet beschränkt, können zudem grössere Frachter eingesetzt werden. «Auch für Containerschiffe kann die Nordostpassage eine Alternative sein. Aber davon sind wir noch weit entfernt», sagt Leypoldt. Die Waren suchen sich immer ihren Weg. Und zwar den günstigsten. Ändert sich ein Faktor im System, passen sich die Transporteure an. Steigt der Ölpreis besonders hoch, fahren die Schiffe plötzlich langsamer, um Diesel zu sparen. Ist der Treibstoff hingegen sehr billig, nehmen sie den Umweg um Afrika in Kauf und meiden den teuren Suezkanal. Auch die Piraten vor der Küste Somalias sorgten vorübergehend dafür, dass die alte KapRoute wieder mehr genutzt wurde. Wenn die Bedingungen stimmen, wählen die Logistikprofis sogar den Landweg. Die Kosten sind mit rund 1000 Dollar je Container höher als die 600 Dollar auf einem Schiff. Aber es geht viel schneller. Im August schaffte ein Güterzug die Strecke von China nach Deutschland in der neuen Rekordzeit von 15 Tagen. Das schlägt nur Luftfracht. BMW schickt seit 2011 täglich einen Zug voller Fahrzeugteile auf den Weg von Leipzig nach Shenyang. Trotz neuer Konkurrenz bleibt der Suezkanal die dominierende Route. 95 Prozent der Waren kommen über den Seeweg von Asien nach Europa, der Grossteil davon durch den Kanal. Deshalb hält die Weltwirtschaft den Atem an, wenn das Nadelöhr bedroht ist, zuletzt vor zwei Wochen nach einem gescheiterten Terroranschlag. Doch selbst als Ägypten im Revolutionschaos versank, blieb der Kanal immer offen. Einzig nach dem Sechstagekrieg 1967 war er für längere Zeit gesperrt. Aber was wäre, wenn doch, fragt Verkehrsexperte Leypoldt: «Läuft ein Schiff wie die ‹Costa Concordia› im Suezkanal auf Grund, müsste sich der Welthandel plötzlich neu organisieren. Ein solches Ereignis könnte den Verkehr über die Nordostpassage stark beschleunigen.» NZZ am Sonntag 22. September 2013 Die CO2-Emissionen sind höher als jemals zuvor. Doch die globalen Temperaturen steigen seit 15 Jahren nicht mehr. Wie sich das Klima weiterentwickelt, verrät der Bericht des Weltklimarats, der am kommenden Freitag veröffentlicht wird. Von Andreas Hirstein Klimawandel macht einePause DARRELL GULIN / GETTY IMAGES Seite 66 Wechseljahre Fernsehsignale Männer leiden unter Die Zukunft des Östrogenmangel 69 Antennen-TV 70 EOS 70D im Test Eine Kamera mit Doppelblick 70 Blasenschwäche Ein Tabu, trotz guten Therapien 71 66 F ür manche Wissenschafter ist es wie Olympia – ein Ereignis, für das man hart arbeitet und das nur alle paar Jahre stattfindet: Am kommenden Freitag publiziert der Weltklimarat IPCC einen Bericht, in dem das 1988 gegründete Uno-Gremium den Stand der Klimawissenschaft zusammenfasst. Im März und April kommenden Jahres folgen weitere Dokumente, die sich den wirtschaftlichen und ökologischen Folgen der globalen Erwärmung und ihrer Vermeidung widmen werden, bevor dann in etwa einem Jahr ein Synthesebericht erscheint. Es wird der fünfte in der Geschichte des IPCC sein. Die grösste Beachtung wird auch bei der jetzt bevorstehenden Publikationsrunde der erste Teilbericht von kommender Woche finden. Er liefert die für die Klimapolitik wichtigen Zahlen: Wie wird sich die globale Durchschnittstemperatur verändern, wie weit der Meeresspiegel ansteigen, und wie häufig werden Hitzewellen, Wirbelstürme, Dürreperioden und Hochwasser den Planeten heimsuchen? Zeile für Zeile Eine Kurzzusammenfassung für Politiker soll diese Fragen beantworten. Dieses wenige Seiten umfassende Kondensat aus 9200 berücksichtigten Studien wird derzeit bei einem Treffen von Wissenschaftern und Vertretern aus 195 Ländern in Stockholm verabschiedet. «Zeile für Zeile werden wir über dieses Dokument diskutieren bis Konsens herrscht», sagt Thomas Stocker, Professor an der Universität Bern und einer der beiden Vorsitzenden der zuständigen Arbeitsgruppe des IPCC. Wissenschafter und Politiker werden so lange über Adjektive und Satzzeichen streiten, bis alle zustimmen können – vom Klimaforscher aus der Schweiz bis zum Regierungsvertreter aus Peking. Was im neuen Bericht stehen wird, ist offiziell zwar noch geheim. Die Nachrichtenagentur Reuters, die «New York Times» und die Wissenschaftszeitschrift «Nature» haben aber bereits Auszüge und Daten aus noch nicht endgültigen Textversionen veröffentlicht. Vom definitiven Bericht unterscheiden sie sich höchstens in Details. Demnach halten es die Wissenschafter jetzt für äusserst wahrscheinlich («extremely likely»), dass die Klimaerwärmung hauptsächlich durch den Menschen verursacht wird. In Zahlen beträgt die Wahrscheinlich- Wissen Klimawandel keit mindestens 95 Prozent, ein Wert der 2007 noch mit 90 Prozent und 2001 mit 66 Prozent angegeben wurde. Eine deutliche Korrektur nach oben gibt es beim Meeresspiegel, der laut «Nature» bis im Jahr 2100 um 28 bis 97 Zentimeter ansteigen könnte. Im vorherigen Bericht aus dem Jahr 2007 betrug diese Spanne noch 18 bis 59 Zentimeter. Wegen zu grosser Unsicherheiten hatten die Wissenschafter damals das dynamische Verhalten der grönländischen und antarktischen Gletscher noch nicht berücksichtigt. Bessere, auch satellitengestützte Beobachtungsdaten und Fortschritte in Computersimulationen ermöglichen es nun, auch diese gigantischen Eisströme zu berücksichtigen, was zwangsläufig zu höheren Prognosewerten führt. Grundlegend neue Erkenntnisse bringt der Bericht nicht. Diskussionen auslösen wird daher ein Thema, das vielen Klimaforschern ungelegen kommt: Seit Beginn der Industrialisierung sind die globalen Durchschnittstemperaturen um 0,8 Grad gestiegen. Doch seit etwa 15 Jahren stagniert die Klimaerwärmung (vgl. Interview auf dieser Doppelseite). Obwohl die Emissionen von CO2 rekordhohe Werte erreichen und die Konzentration des Treibhausgases heute um 41 Prozent über seinem vorindustriellen Wert liegt, weichen gemessene und von den Klimamodellen der Forscher prognostizierte Temperaturen immer stärker voneinander ab (vgl. Grafik rechts). Noch liegt die Diskrepanz im tolerierbaren Bereich – kürzere Phasen mit konstanten oder gar rückläufigen Temperaturen sind im Verlauf einer langfristigen Klimaerwärmung normal. Wenn der derzeitige Trend jedoch weiter anhalten sollte, müssten die Klimamodelle in einigen Jahren korrigiert werden. Ein Gutes hat die verzögerte Entwicklung immerhin schon jetzt: Sie lässt der Menschheit 10 bis 20 Jahre mehr Zeit, um sich auf den Klimawandel einzustellen. Vorläufig aber spekulieren die Wissenschafter noch über die Ursachen der gegenwärtigen Temperaturentwicklung. Mög- Neuere Studien deuten auf einen etwas kleineren Klima-Effekt des Treibhausgases Kohlendioxid hin. NZZ am Sonntag 22. September 2013 licherweise haben die tiefen Ozeane in den letzten Jahren die fehlende Wärmeenergie aufgenommen. «Das wäre eine natürliche Schwankung, die auch innerhalb der Klimamodelle vorhergesagt wird», sagt Reto Knutti, Professor an der ETH Zürich, der für das Kapitel über langfristige Klimaänderungen des IPCC-Berichts verantwortlich zeichnet. «Das wäre typisch für das Wetterphänomen La-Niña, wie wir es seit zehn Jahren vermehrt erleben.» Ein anderer Faktor könnte die Sonne sein, die 2009 das Minimum ihres elfjährigen Zyklus erreicht hat. Auch Wasserdampf und Aerosole in der Atmosphäre – beispielsweise aus Vulkanausbrüchen – könnten eine kühlende Wirkung auf die Oberflächentemperaturen gehabt haben. Grössere Bandbreite Für die Forscher und vor allem für die Klimapolitik viel entscheidender wäre aber eine andere Erklärung, nämlich, dass die Treibhauswirkung von CO2 kleiner ist als bisher vermutet. Diese sogenannte Klimasensitivität gibt an, wie sich die Temperaturen bei einer Verdopplung von CO2 in der Atmosphäre verändern. Neuere Studien deuten auf einen etwas kleineren Effekt des Treibhausgases hin. Möglich erscheint auch, dass das Klimasystem der Erde einfach mehr Zeit braucht, um auf den erhöhten CO2-Gehalt zu reagieren. In diesem Fall müsste die langfristige Prognose nicht korrigiert werden, und es wäre nur mittelfristig mit einer weniger deutlichen Temperaturzunahme zu rechnen. Der neue IPCC-Bericht wird diese Fragen noch nicht beantworten können und für die Klimasensitivität eine grössere Bandbreite von Werten angeben als die Erhebung von 2007. Dieses Mal rechnen die Forscher mit einer Zunahme zwischen 1,5 und 4,5 Grad bei einer Verdoppelung von CO2 in der Atmosphäre – das gleiche Intervall wie schon in ihrem ersten Assessment im Jahr 1990. «Die verlangsamte Erwärmung ist ein höchst interessantes Thema, das wissenschaftlich noch nicht verstanden ist», sagt Thomas Stocker. In einem eigenen Kapitel wird sich der IPCC daher erstmals mit den kurzfristigen Folgen des Klimawandels befassen. Sie sind es auch, die für politische Entscheidungsträger – die den Bericht schliesslich in Auftrag gegeben haben – unmittelbar relevanter sind als die klimatischen Bedingungen im Jahr 2100 und darüber hinaus. «Wirmüssen zugeben: Wirhaben einProblem» Seit 15 Jahren steigen die globalen Temperaturen allen Modellen zum Trotz nicht mehr an, niemand weiss, warum. Daure der Stillstand der Erderwärmung noch 5 Jahre, werde er nervös, sagt der Klimaforscher Hans von Storch. Und er rät seinen Kollegen, selbstkritisch zu sein Malé, die Hauptstadt der Malediven, ist vom Anstieg des Meeresspiegels bedro NZZ am Sonntag: Die globale Erwärmung macht seit rund 15 Jahren Pause. Wir freuen uns darüber, und Sie? Hans von Storch: Das hat für mich keine persönliche Bedeutung. Mich interessiert diese Entwicklung aus rein professionellen Gründen. Dass die Temperaturen in der jüngsten Zeit trotz zunehmenden CO2-Emissionen kaum angestiegen sind, stellt in meinen Augen eine Überraschung dar – und für einen Klimaforscher eine schöne Herausforderung. Ich bin einfach mal gespannt, was da passieren wird. Die Mehrheit der Klimaforscher gibt sich allerdings besorgt. Wegen des Klimawandels oder weil ihre Modelle die gegenwärtige Entwicklung nicht sonderlich gut abgebildet haben? Die Sorgen sind berechtigt. Wenn wir uns all die möglichen Entwicklungen anschauen, welche die Klimamodelle für die Zukunft beschrieben haben, und mit dem vergleichen, was in den letzten 15 Jahren tatsächlich geschehen ist, dann stellen wir fest: Wir sind am untersten Ende der Szenarien in den Modellen. Die Menschen haben jüngst so viel Kohlendioxid in die Atmosphäre geblasen wie nie zuvor, warum sind denn die Temperaturen trotzdem nicht angestiegen? Das weiss ich nicht. Darauf eine Antwort geben zu wollen, ist nötig, aber noch zu früh. Es gibt verschiedene Erklärungsansätze, etwa dass im Pazifik verstärkt negative und deshalb abkühlende El-Niño-Ereignisse auftreten oder dass sich mehr Wärme im tieferen Ozean ansammelt. Das kann alles stimmen. Wenn eine einigermassen plausible Erklärung vorliegt, sollten wir jetzt aber nicht sagen: Das ist es. Vielmehr sollten wir alle denkbaren Hypothesen ordentlich abklären und gegeneinander abwägen. Sich kurzfristig auf eine Erklärung festzulegen, das ist blosse Abwehr kritischer Nachfragen. Wie lange darf der Stillstand der Erderwärmung noch anhalten, bis die Forscher sagen müssen: Wir haben ein grundlegendes Problem in unserem Verständnis des Klimawandels? Ich würde sagen fünf Jahre, dann werde ich definitiv nervös sein. Wenn das noch fünf Jahre so weitergeht, dann haben wir eine Entwicklung, die in unseren Modellszenarien überhaupt nicht vorkommt. Was bisher geschah, ist in den Szenarien noch ganz selten abgebildet: je nach Temperaturanstieg, den wir aus Beobachtungen ableiten, in weniger als 5 Prozent oder weniger als 2 Prozent der Fälle. Deshalb müssen wir Klimaforscher kritisch mit uns selbst sein. Wie geht die Klimawissenschaft mit dieser Herausforderung um? Ich habe den Eindruck, dass die eigentliche Klimaforschung darüber nicht sonderlich beunruhigt ist. In der Wissenschaft ist es gut und konstruktiv, dass man gelegentlich aus der Ruhe gebracht wird. Ich befürchte allerdings, dass manche Leute versuchen, Diskussionen zu verhindern, indem sie sagen: Das hat keine Bedeutung für uns, es ist weiterhin so, dass Klimapolitik unmittelbar aus Klimaforschung folgen soll. Klimamodelle werden stets komplexer, sie erfassen immer mehr Einflussfaktoren wie Bodenbeschaffenheit oder Vegetation, und trotzdem werden die Unsicherheiten eher grösser als kleiner – weshalb? Das muss so sein: Es sind immer mehr Komponenten dabei, und deshalb nehmen auch die Unsicherheiten zu. Wenn ich den Einfluss der Vegetation auf das Klima in ein Modell einbeziehe, wird die Unsicherheit zwangsläufig grösser, weil das Modell dann mehr Freiheitsgrade hat. Hinzu kommt, dass viele dynamische Prozesse im Gesamtsystem als statistisches Rauschen wirken. Dieses Rauschen löst dann ebenfalls langsame Veränderungen aus, die aber nicht von aussen angestossen werden – sozusagen: Rauch ohne Feuer. Wo bestehen die grössten Lücken in unserem Wissen um das Klimageschehen? Die grössten Sorgenkinder sind die Wolken. Man kann sie nicht im Detail in einem Modell darstellen und ihre Wechselwirkung mit der Sonnenstrahlung ist komplex: Wolken können kühlen oder wärmen – sie können alles Mögliche machen. Wenn Sie 2 Prozent mehr Wolken haben, ist die Wirkung auf die globale Mitteltemperatur erheblich. MOHAMeD ABDULLA SHAFeeg / geTTY iMAgeS 67 97 zentimeter Zwischen 28 und 97 Zentimeter könnte der Meeresspiegel bis im Jahr 2100 ansteigen. Unsicher bleibt vor allem das Verhalten der grossen Gletscherströme in Grönland und der Antarktis. 41 Prozent In der Atmosphäre der Erde befinden sich heute 41% mehr CO2 als vor der Industrialisierung – so viel wie seit 3 Millionen Jahren nicht mehr. 9200 Studien Der am kommenden Freitag erscheinende Klimabericht des Weltklimarats fasst die Ergebnisse von 9200 wissenschaftlichen Studien zusammen. Verlangsamte Erwärmung Gemessene und prognostizierte Durchschnittstemperaturen Abweichungen vom langjährigen Mittelwert 0,4° Temperaturmessungen Temperaturwerte aus Computersimulationen 0,2° 0° –0,2° –0,4° –0,6° –0,8° 1950 Der Mathematiker und Physiker Hans von Storch, 64, ist Direktor des Instituts für Materialund Küstenforschung am Helmholtz-Zentrum im norddeutschen Geesthacht. Als Experte für Computermodelle, die den Verlauf des Klimas simulieren, hat er sich weltweit einen Namen gemacht. Gibt es weitere Fragezeichen? Problematisch sind auch die industriellen Schwebstoffe, die Aerosole. Wir können zum Beispiel nicht sagen, wie sich der Rückgang im Ausstoss von Aerosolen nach dem Zusammenbruch der zentraleuropäischen Industrie auf die Temperaturen im Ostseeraum ausgewirkt hat. Das ist eigentlich eine Schande. Was die Bedeutung der Sonne für das Klima angeht, könnte noch einiges mehr an Forschung reingehen. Schliesslich enthalten die Ozeanmodelle, die wir zur Darstellung des Klimageschehens verwenden, kein Wasser sondern eine Art Senf. Senf bewegt sich zäh und träge, Wasser hingegen ist ein hoch turbulentes Medium. Noch können unsere Ozeanmodelle keine Turbulenz im Ozean beschreiben, weil die Abmessungen, in denen diese Bewegungen stattfinden, zu kleinräumig sind. Hat die Klimaforschung die Bedeutung des Kohlendioxids als Klimatreiber überschätzt? Ich will das nicht ausschliessen. Dass die Temperaturen derzeit stagnieren, steht aber keineswegs im Widerspruch dazu, dass die Treibhausgase eine dominante Rolle spielen. Das Dumme ist nur, dass unsere Modelle die gegenwärtige Entwicklung nicht als Reaktion auf verändertes Treibhausgasvorkommen beschreiben können. Das kann ein unwahrscheinlicher Zufall sein, oder vielleicht stellen die Modelle die natürlichen Schwankungen des Klimas zu schwach dar. Es wäre aber auch denkbar, dass die Wirkung des CO2 auf die Temperaturen – die sogenannte Klimasensitivität – bisher überschätzt wurde. Möglicherweise ist ein weiterer Faktor wie die Sonne im Spiel, die in den Szenarien der Modelle gar nicht abgebildet ist. Ausser dem Zufall stellen alle diese Erklärungen keine besonders guten Nachrichten für die Klimaforschung dar. Deshalb müssen wir zunächst zugeben: Wir haben ein Problem und wissen noch nicht, woran es liegt. Steht die Vorstellung grundsätzlich auf dem Prüfstand, wonach in erster Linie der Mensch für den Anstieg der Temperaturen in den letzten Jahrzehnten verantwortlich ist? Für mich persönlich nicht. Ich bin davon überzeugt, dass der überwiegende Anteil der Erderwärmung menschengemacht ist. Dis- 1970 1980 1990 2000 2010 Quelle: «Nature» vom 29. 8. 2013 oht. Sie liegt nur einen Meter über dem Meeresspiegel. Hans von Storch 1960 kussionen um die Wirkung der Sonne oder das Ausmass der Klimasensitivität könnten zu gewissen Justierungen führen, aber am grundsätzlichen Einfluss des Menschen auf das Klima zweifle ich nicht. Wir sollten allerdings nicht vergessen, auch die politische und öffentliche Dynamik des Themas zu studieren. Woran denken Sie? Es geht darum, wie sich die Wissenschaft in einer demokratischen Gesellschaft bewegt. Was mich besonders stört, ist die angebliche Alternativlosigkeit von Klimapolitik, die von Wissenschaftern so propagiert wird. Diese treten als politische Akteure auf, ohne die politische Verantwortung zu übernehmen. Ich würde mir wünschen, dass der eine oder andere Klimaforscher-Kollege in Deutschland, aber auch der Schweiz seinen Kittel auszieht und in die Politik wechselt. Das ist kein gutes Zeugnis für Ihre Kollegen. Einige Klimaforscher sind zu Geiseln des Guten geworden. Sie stellen sich in den Dienst einer umfassenden Klimapolitik, der grossen Transformation, statt dass sie unbefangen sagen würden: Wir haben hier ein Problem mit dem Klimawandel, dem sich die Gesellschaft stellen muss. Das Risiko für die Autorität der Klimawissenschaft ist in dem Sinne erheblich, dass sie so enden könnte wie die Waldforschung: Es werden grosse Dramen erzählt und wilde Forderungen gestellt, und am Ende war dann nichts. Ob das in der Klimaforschung – oder auch in der Waldforschung – tatsächlich so ist, sei dahingestellt. Aber es wäre fatal, wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck entstünde, wir hätten zugunsten einer ideologischen Linie «Ich würde mir wünschen, dass der eine oder andere Klimaforscher-Kollege seinen Kittel auszieht und in die Politik wechselt.» alles Mögliche erzählt und die Unsicherheiten der Klimaforschung heruntergespielt. Politik niemanden. Die Diskussionen, an denen ich beteiligt war, waren harmlos. Sie haben vor zehn Jahren erklärt: «Wir müssen den Menschen die Angst vor der Klimaveränderung nehmen» und «Wir werden das schon wuppen». Sind Sie immer noch derselben Meinung? Meine Einschätzung ist heute nicht wesentlich anders. Wir werden das wuppen. Es ist eine ordentliche Herausforderung, der wir uns gegenübersehen. Aber wir müssen unsere Fähigkeiten, auch was Modernisierung und Innovation angeht, neu denken. Dem Vernehmen nach enthält der IPCC-Bericht wenig Neues, sondern konsolidiert mit einem gigantischen Aufwand das bestehende Wissen über den Klimawandel. Braucht es dieses Gremium überhaupt noch? Ich habe meine Zweifel, ob das wirklich was bringt. Das ist ein Uno-Geschäft, gesteuert von einer ziemlich dumpfen Bürokratie. Man denke an die Unfähigkeit, mit identifizierten Fehlern umzugehen. Welche Folgen des Klimawandels machen Ihnen wirklich Sorgen? In kürzerer Zeit keine, die Veränderungen bis 2030 können wir in den Griff kriegen. Die Perspektive, dass der Meeresspiegel später deutlich schneller und um über einen Meter ansteigen könnte, muss mich beunruhigen. Schwierig finde ich auch die Sache mit den Starkniederschlägen. Dass sich die Klimazonen zum Beispiel in Afrika verschieben könnten, macht mich ebenfalls nervös. Auf der andern Seite geschieht das alles vor dem Hintergrund einer menschlichen Entwicklung – technologischer, politischer und wirtschaftlicher Art. Da sind wir gefordert, neue Wege zu ersinnen, um mit diesen Problemen umzugehen. Der frühere Uno-Klimachef Yvo de Boer hat gesagt, der jüngste Report des Weltklimarats, der nächste Woche erscheint, werde «jeden zu Tode erschrecken». Muss das sein? Ich bin mir ziemlich sicher, dass der IPCCBericht der Arbeitsgruppe I über die wissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels niemanden zu Tode erschrecken, sondern ein ordentliches Stück Handwerk sein wird. Das war schon bei früheren Berichten so. Alle Fehler, die in Richtung Übertreibung gingen, geschahen beim Bericht der Arbeitsgruppe II über den Umgang mit dem Klimawandel. Dieser Bericht erscheint erst später. Manch ein Forscher fühlt sich bei der Arbeit im IPCC im «Sandwich zwischen Wissenschaft und Politik». Wie ist es Ihnen ergangen? Ich war dieses Mal nur am Rande dabei. Was ich gemacht habe, interessiert in der Wie könnte eine Klimaforschung im Dienste der Gesellschaft ohne IPCC aussehen? Lasst uns den IPCC auflösen zugunsten vieler regionaler Berichte und eines kleineren globalen Reports, der die regionalen Berichte teilweise zusammenfasst. Wichtig ist, dass die Berichte aus den regionalen wissenschaftlichen Gemeinschaften heraus entstehen. Warum sollte ein solcher Ansatz besser funktionieren? Das belege ich Ihnen gerne mit einem Beispiel. Ich bin an einer Art IPCC für den Ostseeraum beteiligt, dem BACC. Wir haben sehr viel regionale Kompetenz. Dadurch waren wir überhaupt erst in der Lage zu erkennen, dass die globalen Modelle den Klimawandel in der Ostsee nicht gut beschreiben. Ausserdem haben wir anders als der IPCC keine Politiker dabei. Diese kommen erst nach dem Erscheinen des Berichts dazu und nutzen dann unsere Einschätzungen für die Politikgestaltung. Wir brauchen viel mehr solcher Grass-Roots-IPCC. Interview: Patrick Imhasly Anzeige <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMDS3MAAAkN3xIw8AAAA=</wm> <wm>10CFWMsQrDMBBDv8jmqc75cr2xZAsZSncvpXP_f2qcrSCBQE_a97TK5cd2vLZnChYrN-QrKbMa9PSozVESxFm1u7qJVb788QVFbzAmU4hTQ70YM-A21ObDuNbU7_vzA34JhXKAAAAA</wm> Aktuelle Löhne für Ingenieure & Architekten CHF 95.– zzgl. Versandspesen · Bestellung: [email protected] · www.swissengineering.ch