KRiG - Verlag Ferdinand Schöningh

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KRIEG IN DER GESCHICHTE
(KRiG)
KRIEG IN DER GESCHICHTE
(KRiG)
HERAUSGEGEBEN VON
STIG FÖRSTER · BERNHARD R. KROENER · BERND WEGNER · MICHAEL WERNER
BAND 83
MILITÄRSEELSORGE UNTER DEM HAKENKREUZ
FERDINAND SCHÖNINGH
Martin Röw
Militärseelsorge unter dem
Hakenkreuz
Die katholische Feldpastoral 1939–1945
FERDINAND SCHÖNINGH
Der Autor:
Martin Röw, Dr. phil., geboren 1981 in Magdeburg; Studium der Geschichts- und
Politikwissenschaft an der Universität Magdeburg und University of Auckland,
Neuseeland, Promotion auf Grundlage der vorliegenden Arbeit 2012 am Max-Weber-Kolleg in Erfurt; seit 2013 für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig.
Titelbild:
Katholischer Feldgottesdienst an der Ostfront 1941, ullstein – Süddeutsche Zeitung
Photo/Scherl
Reihensignet: Collage unter Verwendung eines Photos von John Heartfield.
© The Heartfield Community of Heirs/VG Bild-Kunst, Bonn 1998.
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und alterungsbeständigem Papier 嘷
∞ ISO 9706
© 2014 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
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Umschlaggestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany.
Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn
ISBN 978-3-506-77848-2
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1. Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3. Methoden und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.1. Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.2. Perspektiven und Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.3. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.4. Quellenkritische Prologomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Katholisches Milieu, Kirchenkampf, Krieg. Katholizismus
im »Dritten Reich« zwischen Anpassung und Resistenz . . . . . . . . .
2.1. Das katholische Milieu zwischen den Weltkriegen.
Strukturen und Charakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2. Der nationalsozialistische Kirchenkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3. Kirche und Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.1. Kriegstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.2. September 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.3. »Gottloser Bolschewismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Katholische Seelsorge im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1. Strukturen und Akteure – Militärseelsorge im
Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.1. Militärseelsorge – eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.2. Struktur und Wesen der Militärseelsorge . . . . . . . . . . . .
3.1.3. Die Leitung der Wehrmachtseelsorge . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.4. Die Wehrmachtpfarrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.5. Nationalsozialismus und Wehrmachtseelsorge . . . . . . .
3.1.6. Abwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2. Wehrmacht – Der Seelsorger im Spannungsfeld Militär . . . . . .
3.2.1. Die Wehrmacht als »Säule des Regimes« . . . . . . . . . . . .
3.2.2. Militärische Seelsorgekonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3. Als Priester im Militär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.4. Offiziere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.5. »Wehrgeistige Führung« in der Wehrmacht . . . . . . . . . .
3.2.6. Das Zusammenspiel mit dem evangelischen
Kollegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
6
3.3. Seelsorge im Krieg – Pflichten, Möglichkeiten und Grenzen . .
3.3.1. Gottesdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.2. Verwundete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.3. Gefallene und Gefangene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.4. Devianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4. Mentalität – Selbstverständnis und Geisteshaltung . . . . . . . . . .
3.4.1. Ambivalenz und Sinnstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4.2. Pflicht und Ohnmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4.3. Distanz und Affinität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5. Kommunikation und Interaktion – der Pfarrer und
sein Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.1. Religion als Deutungs- und Steuerungsmacht . . . . . . . .
3.5.2. Status und Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.3. Soldat und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.4. Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.5. Gemeinschaft im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.6. Land und Leute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.7. Freizeit im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.6. Kriegserfahrung – Geistliche im Einsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.6.1. Dienststellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.6.2. Verschiedene Standorte, verschiedene Kriege? . . . . . . . .
3.6.3. Krieg im Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.6.4. Kriegspfarrer im Einsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.6.5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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173
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4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
Danksagung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
VORWORT ZUR REIHE
»Der Krieg ist nichts als die Fortsetzung der politischen Bestrebungen mit
veränderten Mitteln. [...] Durch diesen Grundsatz wird die ganze Kriegsgeschichte verständlich, ohne ihn ist alles voll der größten Absurdität.« Mit
diesen Sätzen umriss Carl von Clausewitz im Jahre 1827 sein Verständnis vom
Krieg als historisches Phänomen. Er wandte sich damit gegen die zu seiner Zeit
und leider auch später weit verbreitete Auffassung, wonach die Geschichte der
Kriege in erster Linie aus militärischen Operationen, aus Logistik, Gefechten
und Schlachten, aus den Prinzipien von Strategie und Taktik bestünde. Für
Clausewitz war Krieg hingegen immer und zu jeder Zeit ein Ausfluss der Politik, die ihn hervorbrachte. Krieg kann demnach nur aus den jeweiligen politischen Verhältnissen heraus verstanden werden, besitzt er doch allenfalls eine
eigene Grammatik, niemals jedoch eine eigene Logik.
Dieser Einschätzung des Verhältnisses von Krieg und Politik fühlt sich Krieg
in der Geschichte grundsätzlich verpflichtet. Die Herausgeber legen also Wert
darauf, bei der Untersuchung der Geschichte der Kriege den Blickwinkel nicht
durch eine sogenannte militärimmanente Betrachtungsweise verengen zu lassen. Doch hat seit den Zeiten Clausewitz’ der Begriff des Politischen eine erhebliche Ausweitung erfahren. Die moderne Historiographie beschäftigt sich
nicht mehr nur mit Außen- und mit Innenpolitik, sondern auch mit der Geschichte von Gesellschaft, Wirtschaft und Technik, mit Kultur- und Mentalitätsgeschichte und, nicht zuletzt, mit der Geschichte der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. All die diesen unterschiedlichen Gebieten eigenen
Aspekte haben die Geschichte der Kriege maßgeblich mitbestimmt. Die moderne historiographische Beschäftigung mit dem Phänomen Krieg kann deshalb nicht umhin, sich die methodologische Vielfalt der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft zunutze zu machen. In diesem Sinne ist Krieg in der
Geschichte offen für die unterschiedlichsten Ansätze in der Auseinandersetzung mit dem historischen Sujet.
Diese methodologische Offenheit bedeutet jedoch auch, dass Krieg im engeren Sinne nicht das alleinige Thema der Reihe sein kann. Die Vorbereitung
und nachträgliche »Verarbeitung« von Kriegen gehören genauso dazu wie der
gesamte Komplex von Militär und Gesellschaft. Von der Mentalitäts- und
Kulturgeschichte militärischer Gewaltanwendung bis hin zur Alltagsgeschichte von Soldaten und Zivilpersonen sollen alle Bereiche einer modernen Militärgeschichte zu Wort kommen. Krieg in der Geschichte beinhaltet demnach
auch Militär und Gesellschaft im Frieden.
Geschichte in unserem Verständnis umfasst den gesamten Bereich vergangener Realität, soweit sie sich mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft erfassen lässt. In diesem Sinne ist Krieg in der Geschichte (abgekürzte Zitierweise: KRiG) grundsätzlich für Studien zu allen historischen Epochen offen, vom
Altertum bis unmittelbar an den Rand der Gegenwart. Darüber hinaus ist
Geschichte für uns nicht nur die vergangene Realität des sogenannten Abend-
8
Vorwort zur Reihe
landes. Krieg in der Geschichte bezieht sich deshalb auf Vorgänge und Zusammenhänge in allen historischen Epochen und auf allen Kontinenten. In dieser
methodologischen und thematischen Offenheit hoffen wir den spezifischen
Charakter unserer Reihe zu gewinnen.
Stig Förster
Bernhard R. Kroener
Bernd Wegner
Michael Werner
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS DER ARCHIVE
(SIGLEN)
ABA
AEB
AEK
AES
AKMB
BA
BA-MA
BAF
BAH
BAM
DAB
DAG
DAL
DAW
EBAP
MSPT
SR
UAF
Archiv des Bistums Augsburg
Archiv des Erzbistums Bamberg
Archiv des Erzbistums Köln
Archiv der Erzdiözese Salzburg
Archiv des Katholischen Militärbischofs Berlin
Bundesarchiv
Bundesarchiv-Militärarchiv
Bistumsarchiv Fulda
Bistumsarchiv Hildesheim
Bistumsarchiv Münster
Diözesanarchiv Berlin
Diözesanarchiv Graz
Diözesanarchiv Limburg
Diözesanarchiv Würzburg
Erzbistumsarchiv Paderborn
Museumsstiftung Post und Telekommunikation
Sammlung Heinz Rahe (Privatmanuskript, Hamburg)
Universitätsarchiv Freiburg
FORMALIA
Sämtliche den Akten entnommenen und in der Arbeit verwendeten Namen
der Seelsorger wurden unabhängig vom Todesdatum anonymisiert. Die Namen von Personen, die innerhalb der Zitate verwendet werden, wurden durch
Auslassungen anonymisiert. Bei Archivquellenangaben des AKMB wurde darauf geachtet, dass bei umfangreichen Sammelordnern der »Sammlung Werthmann« im Zusammenhang mit Tätigkeits- und Seelsorgeberichten die Verfasser
angegeben wurden. Bei den Personalakten des AKMB oder des Bundesarchivs
wurde darauf verzichtet, da die Tätigkeits- und Seelsorgeberichte hier klar
zuzuordnen sind. Die vereinzelt vorkommenden Hervorhebungen in den Zitaten sind von den jeweiligen Verfassern vorgenommen worden. Eigene Hervorhebungen wurden als solche gekennzeichnet. Abkürzungen, die nicht
selbsterklärend sind, wurden aufgelöst. Auf orthographische und grammatikalische Fehler in den Zitaten wird mit [sic] hingewiesen. (Kommafehler sind
davon ausgenommen.) Ein [sic!] kennzeichnet Aussagen und Formulierungen
der zitierten Autoren, die besondere Beachtung verdient haben.
»MILITÄRSEELSORGE UNTER DEM
HAKENKREUZ. DIE KATHOLISCHE
FELDPASTORAL 1939-1945«
»Ohne Gottesglauben können die Menschen nicht sein. Der Soldat, der drei
Tage im Trommelfeuer liegt, braucht einen religiösen Halt.«
(Reichskanzler Adolf Hitler, 1936)1
»Ein schöner, milder Wintertag – doch am Horizont brennen wieder Dörfer.
Die Dissonanzen des Krieges!«
(Wehrmachtpfarrer Obmann, 1943)2
»Und morgen ist Sonntag. Er wird wohl wieder viel Arbeit mit sich bringen!
Doch werde ich mit aller Gewalt versuchen, für den Gottesdienst am Nachmittag frei zu kommen. Mehr als sonst haben wir ja in diesen Wochen
unseren Meister nötig, unsere ›große Liebe‹, die uns den rechten Weg weisen
muß!«
(Soldat Peter W., 1943)3
1
2
3
Zitiert nach: APOLD, HANS: Feldbischof Franz Justus Rarkowski im Spiegel seiner Hirtenbriefe.
Zur Problematik der katholischen Militärseelsorge im Dritten Reich. Sonderdruck aus Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde des Ermlands 39 (1978), S. 93
DAB V/184, Tagebuch III, Eintrag vom 13.12.1943
MSPT, 3-2002-7401, Briefe an Verlobte Trude vom 31.7.1943
1. EINFÜHRUNG
1.1. KONZEPTION
In den deutschen Streitkräften waren von 1939 bis 1945 mehrere hundert katholische Seelsorger als Feldgeistliche eingesetzt. Sie wirkten als Vertreter ihrer
Konfession an der Front und in den besetzten Gebieten. Als Wehrmachtseelsorger zeichneten sie für die religiöse Betreuung der deutschen Soldaten verantwortlich. Sie taten dies vor dem Hintergrund einer unübersehbaren Konfliktstellung zwischen der katholischen Kirche in Deutschland und dem
nationalsozialistischen Regime. In Anbetracht der auf Verdrängung zielenden
Religionspolitik der Nationalsozialisten im Zuge des Kirchenkampfes in den
dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts stellt sich die Frage, wie sehr die
katholischen Seelsorger der Wehrmacht in einem Spannungsverhältnis zwischen kirchlichem Auftrag und nationalsozialistischer Verdrängungspolitik
standen. Oder wie es Heinrich Missalla ausdrückt:
»Mehr noch als andere Christen lebte ein Wehrmachtsseelsorger in einem nur
schwer zu ertragenden Zwiespalt, denn er musste das Kreuz und zugleich das
Hakenkreuz auf seiner Uniform tragen. Und es dürfte kaum jemanden gegeben
haben, der diese einander widersprechenden Zeichen allein dadurch miteinander
versöhnt sah, dass sie auf der einen Uniform angebracht waren.«1
Von dieser hypothetischen Prämisse geht die Arbeit aus. In modernen Kriegen
ist der Einsatz von Religion nur in einer komplexen Verschränkung mit Nationalstaat und Gesellschaft zu denken. Das heißt, die katholischen Priester waren
und blieben Angehörige des nationalsozialistischen Deutschlands. Dieses Faktum muss mit all seinen Implikationen mitgedacht werden. Ist davon auszugehen, dass die traditionelle Auffassung von einer »unpolitischen« Seelsorge am
einzelnen Soldaten den Dienst vieler Wehrmachtgeistlicher motivierte? War der
Antrieb vieler Pfarrer der einfache Wunsch, die jungen Katholiken im Krieg nicht
allein zu lassen?2 Muss nicht die Frage aufgeworfen werden, wie sehr es ihnen
vor dem Hintergrund der wenig verhohlenen Drohung verschiedener NS-Funktionäre, sich der »Pfaffen« nach dem »Endsieg« anzunehmen,3 möglich war, eine
solche »unpolitische« Einstellung zu bewahren? Ein Sieg der Wehrmacht in
1
2
3
MISSALLA, HEINRICH: Für Gott, Führer und Vaterland. Die Verstrickung der katholischen Seelsorge in Hitlers Krieg, München 1999, S. 56
Vgl. LEMHÖFER, LUDWIG: Zur tapferen Pflichterfüllung gerufen. Die Katholiken in Adolf Hitlers
Krieg, in: KRINGELS-KEMEN, MONIKA; LEMHÖFER, LUDWIG (HRSG.): Katholische Kirche und
NS-Staat. Aus der Vergangenheit lernen?, Frankfurt a. M. 1981, S. 92
Vgl. EDER, MANFRED: Wenn das »Tausendjährige Reich« mehr als ein dutzendjähriges gewesen
wäre…: Nationalsozialistische Pläne und Visionen zu Kirche und Religion für die Zeit nach
dem »Endsieg«, in: Saeculum 56 (2005), 1, S. 139-168
12
1. Einführung
Hitlers Krieg konnte nach heutigen Erkenntnissen kein Sieg der katholischen
Geistlichen sein. Dennoch wurde die Verpflichtung, Deutschland in Form des
Kriegseinsatzes zu dienen, zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt. Dieser scheinbar
widersprüchliche Befund stellt den Ausgangspunkt der Untersuchung dar.
Die Arbeit versteht sich als eine umfassende Struktur- und Erfahrungsgeschichte der katholischen Militärseelsorge. Ausgehend von einer einführenden
Kontextualisierung, die ihr Hauptaugenmerk auf die Haltung der katholischen
Kirche zum Krieg richtet, wird die Institution Feldseelsorge systematisch untersucht. Dabei wird die Erfahrungsebene der Geistlichen eingebettet in die
strukturelle Analyse der Institution Wehrmachtseelsorge und ihres Einsatzes
im Zweiten Weltkrieg. Es wird differenziert herausgearbeitet, welche Strukturmerkmale die Einrichtung Wehrmachtseelsorge in den Jahren 1939 bis 1945
aufwies. Dies schließt neben der internen Organisationsstruktur sowie den
Rekrutierungsmechanismen das Verhältnis zur Politik ebenso mit ein wie die
Frage, in welcher Weise die Wehrmachtsseelsorge in die Streitkräfte eingebunden war. Damit verbunden ist die Frage danach, wie viel Distanz und Eigenständigkeit die Feldseelsorge sich angesichts der nationalsozialistischen
Verdrängungspolitik gegenüber den Kirchen und des militärischen Gestaltungswillens bewahren konnte. Es ist angezeigt zu fragen, ob und wie sehr sich
eine militärisch eingebundene Seelsorge nicht zwangsläufig – zumal in einer
totalitären Diktatur – der aktuellen politischen Situation, militärischen Wehrkonzepten oder sogar einer Kriegsideologie unterwerfen musste.4
Des Weiteren wird zu klären sein, wie die Wehrmachtseelsorge vom Militär
selbst wie auch von den nationalsozialistischen Stellen beurteilt wurde. Untersucht wird, inwieweit dem nationalsozialistischen Regime daran gelegen war,
den Einfluss katholischer Geistlicher auf die Soldaten zu mindern oder jene im
Sinne des Regimes zu instrumentalisieren. Haben die Nationalsozialisten in
der Seelsorge ein willfähriges Instrument oder lediglich ein »notwendiges
Übel« zur Erhaltung der Truppenmoral gesehen? Wie weit verbreitet war die
Akzeptanz der geistlichen Betreuung als ganz selbstverständliche, unabdingbare Institution im traditionell-konservativen Offizierskorps der Wehrmacht?
Muss man nicht annehmen, dass in dem Maße, wie die nationalsozialistischideologische Durchdringung der Wehrmacht zunahm, indifferente bis ablehnende Einstellungen an Einfluss gewannen, die es dem NS-Regime erleichterten, die Feldpastoral einzuschränken und letztlich zu marginalisieren?
Die Arbeit bietet darüber hinaus eine dichte Rekonstruktion des Dienstalltags
der Geistlichen. In einer Untersuchung der Lebens- und Alltagswelt der Geistlichen im Einsatz wird gezeigt, wie sich der Dienst der Geistlichen gestaltete und
mit welchen Problemen die Seelsorge im Einsatz konfrontiert war. Für die Darstellung des Dienstalltags sollen folgende Fragen aufgeworfen werden: Welche
Aufgaben übernahmen die Seelsorger und mit welchem Selbstanspruch füllten
sie ihren Dienst aus? Wo lagen die Schwerpunkte ihrer alltäglichen Tätigkeit und
4
Vgl. BRANDT, HANS-JÜRGEN: Zwischen Weltflucht und Anpassung. Zur Geschichte der Militärseelsorge und ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg, in: KATHOLISCHES MILITÄRBISCHOFSAMT (HRSG.): Mensch,
was wollt ihr denen sagen? – Katholische Feldseelsorger im Zweiten Weltkrieg, Augsburg 1991, S. 8
1.1. Konzeption
13
in welchem Maße unterschied sich die Soldatenpastoral von der zivilen Seelsorge? Kamen Geistliche direkt mit Krieg, also mit Kampfhandlungen und verwundeten oder sterbenden Soldaten in Berührung? Entscheidend für die Kriegserfahrung der Geistlichen waren ihre Verwendung, ihr Dienstposten sowie ihr
Einsatzgebiet. Die Arbeit zeigt, in welchen Einheiten die Pfarrer Verwendung
fanden: Neben den zahlreichen Divisionen wurden Seelsorger auch in Kriegslazaretten, Militärstandorten und der Marine eingesetzt. Ihr jeweiliger Dienstalltag
ist sehr unterschiedlich zu beschreiben. Es wird danach gefragt, wie sich die
spezifischen Kriegserfahrungen auf den Alltag und das Selbstverständnis auswirkten. Mit welchen Belastungen sahen sich die Geistlichen selbst konfrontiert?
Wie begegnete man der Zivilbevölkerung und stieß man auf Kriegsverbrechen?
Gab es signifikante Unterschiede zwischen dem Dienst an der West- und der
Ostfront? Inwieweit, so wird zu fragen sein, änderten sich Konzeption und
Praxis der Kriegsseelsorge insbesondere vor dem Hintergrund der Besatzungserfahrung im Westen und der Erfahrung des Vernichtungskrieges im Osten?
Nennenswerte Aufmerksamkeit wird dem Problemfeld der Mentalitäten
gewidmet. Im Bemühen, das Selbstverständnis der katholischen Priester und
ihre Geisteshaltung zu beleuchten, wird mentalen Dispositionen auf den
Grund gegangen. Es wird gezeigt, welche Aspekte des Lebens im Vorfeld des
Krieges als prägend erfahren worden waren und mit welchem sozialen und
kulturellen Rüstzeug die katholischen Seelsorger den Dienst antraten. Es gilt
zu klären, ob der postulierte Widerspruch zwischen nationalsozialistischer
Bedrängung und Dienst in den Streitkräften des NS-Regimes von den Geistlichen wahrgenommen wurde. Zugespitzt mündet dieser Aspekt in die Frage
nach der Nähe oder der Distanz der Seelsorger zum Regime und seiner Ideologie. Ist es angezeigt, von den gespannten Beziehungen zwischen der Amtskirche und der Reichsregierung a priori eine distanzierte Haltung der Geistlichen im Seelsorgedienst abzuleiten? Woher bezogen sie die Motivation für
ihren Einsatz, wie gingen sie mit (Selbst-)Zweifeln und Friedenssehnsucht um?
Den Aspekt der Verarbeitung der Kriegserfahrung, der Kriegsdeutung und der
daraus abgeleiteten Sinnstiftung zu betrachten, heißt, die deutende Aneignung
der Kriegswirklichkeit durch die Betroffenen in den Fokus zu nehmen. Es wird
darauf abgezielt, Verhaltensweisen der Priester zu verstehen und deutlich zu
machen, wie sie versuchten, einem verbrecherischen Krieg Sinn abzuringen.
Die Geistlichen standen als kirchliche Funktionsträger vor einer doppelten
Herausforderung. Sie mussten nicht bloß Antworten in Hinblick auf die eigene
Motivation und Sinngebung finden und eine spezifische Kriegsethik für sich
und für den eigenen Stand entwickeln. Es oblag ihnen auch, spezifische Funktionen für die Gläubigen auszufüllen, im Zuge derer sie verschiedene Rollen
übernehmen mussten. Ein Feldseelsorger war Aktant von Ritualen, Theologe
und moralischer Erzieher und gleichzeitig auch Prediger, der Deutungsangebote für das Geschehen lieferte.5 Ausgehend davon richtet die Arbeit das Augen5
Vgl. HOLZEM, ANDREAS: Religion und Kriegserfahrungen. Christentum und Judentum des Westens in der Neuzeit, in: SCHILD, GEORG; SCHINDLING, ANTON (HRSG.): Kriegserfahrungen – Krieg
und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung, Paderborn 2009, S. 43
14
1. Einführung
merk darauf, welche Funktion Religion im sozialen und politischen Wirkungszusammenhang in der konkreten historischen Situation, einer Kriegssituation,
erfüllte. Was bedeutete es, wenn Geistliche verschiedene Rollen für die gläubigen Soldaten im Kriegsgeschehen einzunehmen hatten? Es wird zu klären sein,
wie die Priester dem Soldaten gegenüber traten, welche Aspekte und Subtexte
im Zuge der Pastoral betont wurden6 und nicht zuletzt welche Deutungsangebote die Pfarrer gleichsam »ins Feld führten«. Kann man von geistlicher Kriegsmobilisierung sprechen?7
Mit der Hinwendung zu diesen Fragenkomplexen nimmt sich die Arbeit
eines bestehenden Desiderats an und leistet so einen wertvollen Beitrag zur
Kirchengeschichte des Zweiten Weltkrieges. Um dies zu veranschaulichen,
wird sich ein kompakter Literaturbericht anschließen.
1.2. FORSCHUNGSSTAND
Der Krieg erlebt derzeit eine Konjunktur in der Geschichtswissenschaft. Ein
Schwerpunkt ist dabei Erfahrungs- und Sozialgeschichte. Dies belegt die Menge einschlägiger Publikationen,8 Veröffentlichungsreihen9 und SFBs.10 Doch
6
7
8
9
10
Die Arbeit wird jedoch nicht den theologischen Wert der Arbeit der Pfarrer bewerten. Es wird
nicht versucht, aus einer theologischen Perspektive Gottesdienste oder Predigtthemen einzuschätzen. Diese Fragen sollen der theologischen Forschung überlassen werden. Jene hat sich
bereits mehrfach mit Kriegstheologie auseinandergesetzt, die Predigten der Kriegspfarrer des
Zweiten Weltkrieges jedoch bisher unbearbeitet gelassen.
Vgl. LEUGERS, ANTONIA: Jesuiten in Hitlers Wehrmacht. Kriegslegitimation und Kriegserfahrung, Paderborn 2009, S. 25
Eine Auswahl der letzten Jahre: Vgl. BUSCHMANN, NIKOLAUS; CARL, HORST (HRSG.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis
zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001; RASS, CHRISTOPH, »Menschenmaterial«: Deutsche
Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939-1945, Paderborn 2003;
VOSSLER, FRANK: Propaganda in die eigene Truppe: Die Truppenbetreuung in der Wehrmacht
1939-1945, Paderborn 2005; EPKENHANS, MICHAEL; FÖRSTER, STIG; HAGEMANN, KAREN (HRSG.):
Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen, Paderborn 2006; KÜHNE, THOMAS: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006; LEUGERS, ANTONIA: Jesuiten in
Hitlers Wehrmacht. Kriegslegitimation und Kriegserfahrung, Paderborn 2009; SCHILD, GEORG;
SCHINDLING, ANTON (HRSG.): Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue
Horizonte der Forschung, Paderborn 2009; BRENDLE, FRANZ; SCHINDLING, ANTON (HRSG.):
Geistliche im Krieg, Münster 2009; HERRMANN, ULRICH; MÜLLER, ROLF-DIETER (HRSG.): Junge
Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen als Lebenserfahrungen, Weinheim 2010;
MÜHLHÄUSER, REGINA: Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher
Soldaten in der Sowjetunion 1941-1945, Hamburg 2010; JASPER, ANDREAS: Zweierlei Weltkriege?
Kriegserfahrung deutscher Soldaten in Ost und West 1939 bis 1945, Paderborn 2011
Vgl. etwa die Reihe »Krieg in der Geschichte« (KriG) im Schöningh Verlag
An dieser Stelle sei exemplarisch verwiesen auf den Sonderforschungsbereich 437 »Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit« der Universität Tübingen, der vor allem mit
1.2. Forschungsstand
15
schließen sich die Lücken in Hinsicht auf eine Kirchengeschichte während des
Krieges nur langsam. Lange bildete das Jahr 1933 den Fluchtpunkt der Kirchenzeitgeschichtsforschung. Die Kriegsjahre 1939 bis 1945, die im Zentrum des
vorliegenden Forschungsvorhabens stehen, und ihre Bedeutung für die deutschen Katholiken fanden trotz zahlreicher Untersuchungen zur Kirche im
»Dritten Reich«11 und zum Kirchenkampf in der Forschung bislang nur begrenzt Beachtung. Seit rund einem Jahrzehnt jedoch verschiebt sich der Fokus
immer mehr auf die Kriegszeit, sodass man heute mit einiger Berechtigung von
einem Forschungsfeld »Kirche im Krieg« sprechen kann. Inzwischen ist es
communis opinio der Forschung, dass neue Aspekte ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden müssen. Es geht verstärkt um »das Verhalten von Personen, Gruppen, Institutionen in der mobilisierten deutschen Kriegsgesellschaft,
um Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die dabei wirksam wurden, und um
das Ausloten von Handlungsspielräumen.«12 Zur Jahrtausendwende bedauerte Heinrich Missalla in seiner Studie »Für Gott, Führer und Vaterland. Die
Verstrickung der katholischen Seelsorge in Hitlers Krieg«, dass, wenn es um
die Erforschung des Verhaltens von Katholiken im Zweiten Weltkrieg geht,
eine allgemeine Zurückhaltung herrsche. Ihm erschien dies rätselhaft, da es sich
doch um »ein außerordentlich wichtiges und zugleich hochinteressantes Forschungsthema« handele.13 Seine Hoffnung war:
»Das Kriegs-Kapitel der jüngeren Vergangenheit der katholischen Kirche in
Deutschland harrt jedenfalls noch der Bearbeitung. Vielleicht können junge Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnen […] unbefangener an dieses Problem herangehen als Angehörige der älteren Generation, die möglicherweise auch durch die
Verletzungen und Traumata aus jenen Jahren gehindert sind, sich unvoreingenommen mit dieser Frage auseinander zu setzen.«14
Dies schließt die Militärseelsorge ein. Im Jahr 2004 griff schließlich ein Symposion das Thema »Kirchen im Krieg« auf. Der in der Folge herausgegebene
Sammelband zeigt die Desiderate auf, derer es sich anzunehmen gilt.15 Die
damalige Leiterin des Archivs des Katholischen Militärbischofs (AKMB), Monica Sinderhauf, brachte es in ihrem Beitrag auf den Punkt: »Gemengelagen
und Handlungsspielräume der katholischen Militärseelsorge auch im Spiegel
11
12
13
14
15
seinen theoretischen Grundlegungen wesentliche Vorarbeiten für die weitere Forschung geschaffen hat.
Wesentlich für die Erforschung des Feldes Kirche im »Dritten Reich« zeichnete die der Kirche
nahe stehende Kommission für Zeitgeschichte in Bonn mit ihren Veröffentlichungen verantwortlich, die seit ihrer Gründung 1962 in zwei Publikationsreihen (A: Quelleneditionen und B:
Forschungen) bis zum heutigen Tage über 150 Arbeiten zur zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung veröffentlicht hat.
HOCKERTS, HANS GÜNTER: Brennpunkte, Perspektiven, Desiderata zeitgeschichtlicher Katholizismusforschung, in: HUMMEL, KARL-JOSEPH (HRSG.): Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen, Deutungen, Fragen. Eine Zwischenbilanz, Paderborn 2004, S. 238
Vgl. MISSALLA, Für Gott, Führer und Vaterland, S. 14
ebd., S. 17
Vgl. HUMMEL, KARL-JOSEPH; KÖSTERS, CHRISTOPH (HRSG.): Kirchen im Krieg. Europa 1939-1945,
Paderborn 2007, hier vor allem: SINDERHAUF, MONICA: Katholische Wehrmachtseelsorge im
Krieg. Quellen und Forschungen zu Franz Justus Rarkowski und Georg Werthmann, S. 265-292
16
1. Einführung
der Erfahrungsgeschichte weiter auszuleuchten, bleibt eine wichtige Aufgabe
künftiger Erforschung der Militärseelsorge im Zweiten Weltkrieg.«16 Diese
Forderungen möchte sich die Arbeit zueigen machen.
Grundlegende Studien Manfred Messerschmidts, Georg Mays sowie Johannes Güsgens’ haben im Laufe der 1960er, 70er und 80er Jahre wichtige Pionierarbeit in der Erforschung der Wehrmachtsseelsorge geleistet.17 Während sich
Messerschmidt insbesondere mit der Militärseelsorgepolitik des Regimes, vulgo mit der staatlichen Perspektive auseinandersetzt, arbeitet sich Georg May
an der kirchenrechtlichen Frage der Interkonfessionalität, also den Feldern der
Begegnung katholischer und protestantischer Konfession ab. Johannes Güsgens Verdienst war es schließlich, Genese und Strukturen der Militärseelsorge
im frühen »Dritten Reich« zu untersuchen. Ein auffälliges Manko seiner Studie
blieb jedoch das gänzliche Fehlen einer Betrachtung der Kriegsjahre. Güsgen
selbst räumte indirekt ein, dass der von ihm gewählte Titel insofern in die Irre
führt, als dass die Kriegsjahre außen vor bleiben.18 Dem bereits erwähnten
Heinrich Missalla ist es zu verdanken, dass eine Studie zur »Kirchlichen
Kriegshilfe«19 ebenso vorliegt wie eine kritische Einschätzung der Person des
katholischen Feldbischofs. Missalla hat durch seine kritischen Denkanstöße
viel zur Bestellung dieses historischen Forschungsfeldes beigetragen.20 Daneben hat vor allem Hans-Jürgen Brandt bedeutende Beiträge zur Erhellung der
Geschichte der Militärseelsorge beigesteuert.21 Letzterer hat sich nicht nur mit
16
17
18
19
20
21
Ebd., S. 291
Vgl. MESSERSCHMIDT, MANFRED: Zur Militärseelsorgepolitik im Zweiten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 5 (1969), S. 37-85; MAY, GEORG: Interkonfessionalismus in der
deutschen Militärseelsorge von 1933-1945, Amsterdam 1978; GÜSGEN, JOHANNES: Die katholische Militärseelsorge in Deutschland zwischen 1920 und 1945. Ihre Entwicklung in der Reichswehr der Weimarer Republik und der Wehrmacht des nationalsozialistischen Deutschlands
unter besonderer Berücksichtigung ihrer Rolle bei den Reichskonkordatsverhandlungen, Köln
1989. Schließlich mit leicht verändertem Fokus: GÜSGEN, JOHANNES: Die Bedeutung der Katholischen Militärseelsorge in Deutschland von 1933-1945, in: MÜLLER, ROLF-DIETER; VOLKMANN,
HANS-ERICH (HRSG.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999
»Die Arbeit der katholischen Militärseelsorge im zweiten Weltkrieg konnte im Rahmen dieser
Arbeit nicht ausführlich dargestellt werden und muß wegen ihres Umfangs einer weiteren
Forschung vorbehalten bleiben.« GÜSGEN, Die katholische Militärseelsorge, S. 450, Anmerkung
157
Zur Bedeutung der »Kirchlichen Kriegshilfe« für die Militärseelsorge siehe Kapitel 3.3.1.
Vgl. MISSALLA, HEINRICH: Für Volk und Vaterland. Die Kirchliche Kriegshilfe im Zweiten
Weltkrieg, Königsstein 1978; MISSALLA, HEINRICH: Wie der Krieg zur Schule Gottes wurde.
Hitlers Feldbischof Rarkowski – eine notwendige Erinnerung, Oberursel 1997; MISSALLA, Für
Gott, Führer und Vaterland
BRANDT, HANS-JÜRGEN (HRSG.): …und auch Soldaten fragten: zu Aufgabe und Problematik der
Militärseelsorge in drei Generationen, Paderborn 1992; BRANDT, HANS JÜRGEN (HRSG.): Priester
in Uniform. Seelsorger, Ordensleute und Theologen als Soldaten im Zweiten Weltkrieg, Augsburg 1994; BRANDT, HANS-JÜRGEN: Die Katholische Militärseelsorge und Kleriker als Sanitätssoldaten in der groß-deutschen Wehrmacht 1939-1945, in: HIEROLD, ALFRED EGID; NAGEL,
ERNST JOSEF (HRSG.): Kirchlicher Auftrag und politische Friedensgestaltung. Festschrift für
Ernst Niemann, Stuttgart 1995; BRANDT, HANS-JÜRGEN: Glaube – Tapferkeit – Klugheit. Porträt
des ersten Militärgeneralvikars Georg Werthmann, in: NABBEFELD, JÜRGEN (HRSG.): »Meinen
Frieden gebe ich Euch«. Aufgaben und Alltag der Katholischen Militärseelsorge, Köln 1999;
BRANDT, HANS JÜRGEN: Was sucht Religion bei den Soldaten? Zur geistlichen Traditionspflege
1.2. Forschungsstand
17
zahlreichen Aufsätzen zu Wesen und Struktur der Feldseelsorge hervorgetan.
Brandt konnte auch in Zusammenarbeit mit dem Archiv des Katholischen
Militärbischofs auf Grundlage von Interviews mit katholischen Seelsorgern
deren Erinnerungen sichern.22 Im Rahmen des SFB 437 »Kriegserfahrungen
– Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit« der Universität Tübingen erschienen
in den letzten Jahren mehrere wertvolle, anschlussfähige Untersuchungen. So
hat Antonia Leugers für die Sondergruppe der Jesuiten vor kurzem eine aufschlussreiche Studie vorgelegt und Franz Brendle zeichnete für einen Sammelband über den Kriegsdienst Geistlicher im historischen Längsschnitt verantwortlich.23 Wichtige neuere Beiträge sind auch der anglo-amerikanischen
Forschung zu entnehmen. Es gab unter anderem von Doris Bergen und Kevin
Spicer einige erfolgreiche Versuche, sich dem Problemfeld zwischen katholischer Kirche und ideologischem Krieg zu nähern.24
Die vorliegende Arbeit möchte an bereits erschlossene Felder des Untersuchungsgegenstandes andocken, diese aber nicht bloß um einige neue Aspekte
22
23
24
im Militär, in: BRANDT, HANS-JÜRGEN; HÄGER, PETER (HRSG.): Biographisches Lexikon der
Katholischen Militärseelsorge Deutschlands, Paderborn 2002
Vgl. KATHOLISCHES MILITÄRBISCHOFSAMT (HRSG.): Mensch, was wollt ihr denen sagen? – Katholische Feldseelsorger im Zweiten Weltkrieg, Augsburg 1991
Vgl. BRENDLE, SCHINDLING, Geistliche im Krieg, LEUGERS, Jesuiten. Vgl. auch HOLZEM, ANDREAS (HRSG.): Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens, Paderborn 2009
Vgl. BERGEN, DORIS L.: German military chaplains in World War II and the dilemmas of legitimacy, in: Church History. Studies in Christianity and culture 70 (2001), 2, S. 232-247; BERGEN,
DORIS L.: Between God and Hitler. German military chaplains and the crimes of the Third Reich,
in: BARTOV, OMAR; MACK, PHYLLIS (HRSG.): In gods name. Genocide and religion in the twentieth
century, New York 2001; SPICER, KEVIN P.: To serve god or Hitler. Nazi priests, a preliminary
discussion, in: MAXWELL, ELISABETH; ROTH, JOHN K. (HRSG.): Remembering the future. The
Holocaust in an age of genocide, Houndsmills 2001; SPICER, KEVIN P.: »Braune Priester« im
Dritten Reich am Beispiel der Diözese Berlin, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 287-320;
BERGEN, DORIS L.: German military chaplains in World War II and the dilemmas of legitimacy,
in: BERGEN, DORIS L. (HRSG.): The sword of the Lord: Military chaplains from the first to the
twenty-first century, Notre Dame 2004; zuletzt SPICER, KEVIN P.: Hitler’s Priests. Catholic
Clergy and National Socialism, DeKalb Illinois 2008. Erst kurz vor Abgabe der Dissertation
stieß der Autor auf eine junge amerikanische Forscherin, die 2009 bei Omar Bartov über den
Einsatz von katholischen Priestern und Theologiestudenten in der Wehrmacht promovierte.
Ihre Dissertation »Negotiating the Cross and the Swastika: Catholic Priests and Seminarians as
German Soldiers, 1935-1945« liegt bislang nicht gedruckt vor. Ihre durchaus kompakt zu nennende Studie streift einige der hier behandelten Themen. Ihre Dissertation vernachlässigt jedoch
die eigentliche pastorale Praxis weitgehend und lässt die Strukturen der Feldseelsorge außen
vor. Sie thematisiert zudem mit der Einbeziehung der Geistlichen im Sanitätsdienst und der
Theologiestudenten eine viel größere und heterogenere Gruppe als nur die der Angehörigen der
Militärseelsorge. Der Wehrmachtseelsorge selbst wird mit rund 50 Seiten nur wenig Raum gewidmet. Ihre Ergebnisse können jedoch helfen, den Dienst der Feldgeistlichen in Relation zu
den Erfahrungen anderer katholischer Geistlicher in der Wehrmacht zu setzen. Vgl. FAULKNER,
LAUREN N.: »Negotiating the Cross and the Swastika: Catholic Priests and Seminarians as
German Soldiers, 1935-1945«, Brown University, Providence, Rhode Island 2009 unter: http://
repository.library.brown.edu:8080/fedora/objects/bdr:103/datastreams/PDF/content. Aufschlussreich war zuletzt ihr Artikel über die Rolle des Antibolschewismus in der Wehrmachtseelsorge. Vgl. FAULKNER, LAUREN N.: Against Bolshevism: Georg Werthmann and the Role of
Ideology in the Catholic Military Chaplaincy, 1939-1945, in: Contemporary European History
19 (2010), 1, S. 1-16
18
1. Einführung
erweitern, sondern auch versuchen, scheinbar bekannte Befunde von einer
anderen Perspektive zu betrachten und neue (Quer-)Verbindungen herzustellen. Die bisherigen Forschungen und Publikationen haben es versäumt, zwischen den Ebenen der rechtlichen Grundlagen sowie strukturellen Verfasstheit
der Institution Militärseelsorge auf der einen Seite und der individuellen (Erinnerungs-)Ebene auf der anderen Seite zu vermitteln. Während man institutionengeschichtlich an Strukturen und offiziellen Verlautbarungen ausgerichtet blieb, konnte es der erzählten Erinnerungsgeschichte nicht gelingen, über
die bloße narrative Darstellung der Rückprojizierung von Erlebnissen und
Deutungen hinauszukommen.25 Während also festgestellt werden kann, dass
der Referenzrahmen der katholischen Feldseelsorge zwar in groben Zügen
bekannt ist und auch retrospektive Deutungen der Kriegszeit vorhanden sind,
kommt man andererseits nicht umhin festzustellen, dass der kriegerlebende
Pfarrer aus historischer Perspektive ein unerforschtes Subjekt ist. Das stimmt
nachdenklich, führt man sich vor Augen, dass es schließlich der Krieg war, in
welchem Exponenten der katholischen Kirche unmittelbar mit dem Endziel
nationalsozialistischer Politik in Berührung kamen: der territorialen Expansion und dem ideologischen Vernichtungskrieg im Osten Europas. Nur wenige
Pfarrer haben sich in der Nachkriegszeit ausführlich geäußert – zum Teil sehr
verkürzt unter Außerachtlassung zahlreicher Aspekte, zum Teil in romantisierender Weise, gleichsam der Wirklichkeit entrückt.26 So wertvoll es ist, zu
zeigen, wie die Akteure zehn, zwanzig oder fünfzig Jahre später ihre Erfahrungen aus der Erinnerung heraus kommunizierten, so naheliegend und auch
reizvoll muss es dem Historiker erscheinen, auf Quellen zurückzugreifen, die
Aussagen aus der Zeit zwischen 1939 und 1945 und nicht über die Zeit beinhalten. Die Arbeit wird in dieser Hinsicht neue Wege beschreiten, um die
konstatierte terra incognita zu erschließen. Bereits der Feldgeneralvikar und
spätere erste Generalvikar der Bundeswehr, Georg Werthmann, hatte die Absicht, das von ihm gesicherte Aktenmaterial zu sichten und zu systematisieren,
um schließlich eine »Geschichte der Feldseelsorge« herauszugeben. Es blieb
bei der Absicht zu diesem Vorhaben enormen Umfanges.27 Die vorliegende
Arbeit verfolgt den Anspruch, Jahrzehnte nach Werthmanns Überlegungen
das von ihm gesammelte Material zu erschließen und historiographisch aufzubereiten.
Die Dissertation betreibt konfessionell getrennte Geschichte. Sie betrachtet
Geschichte jedoch nicht von einem konfessionell voreingenommenen Standpunkt aus. Hierarchische Systeme wie die Kirchen neigen nach Hubert Wolf
zu Denk- und Diskussionsverboten. Kirchennahen Historikern, die sich mit
Kirchen und ihren Mitgliedern beschäftigen, fällt es mitunter schwer, fehlerhaftes oder kritikwürdiges Verhalten (vor allem ihrer Amtsträger) zu benen25
26
27
Die in Form von Interviews geronnen Erinnerungen der ehemaligen Kriegspfarrer lassen vielmehr Aussagen über das Jahr 1990 zu als über das Jahr 1940. Die aufgezeichneten Interviews
mit den Seelsorgern legen eher Identitäts- und Meinungsbildungsprozesse vorangegangener
Jahre frei.
Siehe hierzu Anmerkung 82
Vgl. SINDERHAUF, Katholische Wehrmachtseelsorge, S. 271
1.2. Forschungsstand
19
nen.28 Konfessionelle Ungebundenheit muss daher weniger als Manko, sondern viel eher als Vorteil angesehen werden. Die Gründe für eine konfessionell
gebundene Geschichte der Feldseelsorge sind zum einen forschungspragmatischer Natur. Für die katholische Feldseelsorge verfügt man über einen signifikant größeren Quellenbestand als beim evangelischen Pendant. Dazu kommt,
dass die Thematik von evangelischer Seite bereits bearbeitet wurde.29 Zu guter
Letzt wäre es vom Umfang wie auch methodisch ein nur schwer zu bewältigendes Mammutprojekt, die Militärseelsorge beider Konfessionen im Militär
gemeinsam zu bearbeiten. Zu groß wäre der Quellenfundus, zu groß die Gefahr
in Komparatistik abzugleiten. Ob eine gleichzeitige Bearbeitung weiterführen
würde, muss ohnehin fraglich erscheinen. Versuche einer konfessionsübergreifenden Geschichte der Kirchen wurden bislang häufig als wenig überzeugend
wahrgenommen.30
Ein anderer Grund für die konfessionelle Trennung beruht auf einer grundsätzlichen Unterscheidung beider christlicher Großkirchen und ihres Verhaltens während der Zeit des »Dritten Reiches«. Methodisch wäre es eine schwierige Aufgabe, die unterschiedlichen historischen, theologischen und
geistesgeschichtlichen Ausgangspositionen beider Großkirchen angemessen in
den Blick zu nehmen und zu vermitteln. Die beiden christlichen Kirchen bezogen unterschiedliche Positionen gegenüber dem Nationalsozialismus. In der
Tendenz verhielt sich die evangelische Kirche, deren Vertreter aus historischen
Gründen der konservativen politischen Rechten nahestanden, der nationalsozialistischen Bewegung gegenüber offener als katholische Funktionsträger.31
Für eine konfessionelle Trennung spricht also die spezifisch katholische Ausgangsposition, die sich von der Situation des Mehrheitsprotestantismus signifikant unterschied. Am Beispiel der Pfalz konnte etwa Thomas Fandel zeigen,
dass die politische Nähe der protestantischen Pfarrer zum Nationalsozialismus
28
29
30
31
Vgl. WOLF, HUBERT: Reichskonkordat für Ermächtigungsgesetz? Zur Historisierung der Scholder-Repgen-Kontroverse über das Verhältnis des Vatikans zum Nationalsozialismus, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), 2, S. 199f. Ein gutes Beispiel für diese These bieten
verschiedene Beiträge etwa die von Karl Joseph Hummel und Heinz Hürten in: KÖSTERS,
CHRISTOPH: Die katholische Kirche im Dritten Reich. Eine Einführung, Freiburg i. Br. 2011
Für die evangelischen Militärseelsorger hat Dieter Beese in den 90er Jahren eine Studie vorgelegt
und die Diskussion vorerst zu einem Abschluss gebracht. Vgl. BEESE, DIETER: Seelsorger in
Uniform. Evangelische Militärseelsorge im Zweiten Weltkrieg, Hannover 1995 sowie BEESE,
DIETER: Kirche im Krieg. Evangelische Wehrmachtpfarrer und die Kriegsführung der deutschen
Wehrmacht, in: MÜLLER, ROLF-DIETER; VOLKMANN, HANS-ERICH (HRSG.): Die Wehrmacht.
Mythos und Realität, München 1999
Vgl. TISCHNER, WOLFGANG: Vom Milieu zur Kultur? Katholizismusforschung und Kulturgeschichtsschreibung, in: IGNESTI, GUISEPPE; KRETSCHMANN, CARSTEN; PYTA, WOLFRAM (HRSG.):
Die Herausforderung der Diktaturen. Katholizismus in Deutschland und Italien 1918-1943/45,
Tübingen 2008, S. 213
Vgl. HÜRTEN, HEINZ: Die Kirchenpolitik des »Dritten Reiches«, in: LUKS, LEONID (HRSG.): Das
Christentum und die totalitären Herausforderungen des 20. Jahrhunderts. Rußland, Deutschland, Italien und Polen im Vergleich, Köln 2002, S. 219 Auch wenn Hürtens Ansicht stark von
seiner konfessionellen Sichtweise geprägt ist, ist der Tendenz seiner Einschätzung zuzustimmen.
Dass – wie er postuliert – nicht alle katholischen Bischöfe vor dem Nationalsozialismus warnten und einige zum Teil mit Ideologie und Zielen der Bewegung beziehungsweise des Regimes
sympathisierten, wird zu zeigen sein.
1. Einführung
20
sowie das unterschiedliche Verständnis der gesellschaftlichen Rolle der Kirche
ein wesentlich geringeres Konfliktpotential zwischen den protestantischen
Pfarrern und dem Nationalsozialismus barg. 32 Die Geschichte der Kirche im
»kurzen 20. Jahrhundert«33 ist immer auch eine Form der Vergangenheitsbewältigung. Kirchengeschichte hat ebenso eine gesellschaftliche Dimension wie
eine innerkirchliche. Dies hilft erklären, weswegen Kirchengeschichte in
Deutschland bisher konfessionell getrennt erfolgte.34 Vielleicht kann diese Arbeit dazu beitragen, den Weg für eine vergleichende Studie der beiden »Feldseelsorgen« zu bereiten.
1.3. METHODEN UND QUELLEN
1.3.1. METHODEN
Es ist inzwischen fester Bestandteil des Diskurses über Geschichte und Geschichtswissenschaft, dass Geschichte keinen festen Bestand an Fakten darstellt, sondern nur in vielfältigen Deutungen, Brechungen und Medialisierungen vorkommt. Sie gilt weniger als ein starres Gebilde, denn als ein formbares
Konstrukt.35 In einer Diltheyschen hermeneutischen Definition der Geisteswissenschaften als Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche
Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand haben, wird die Gesellschaft als die Welt
des Menschen begriffen, die, da man in sie hineingeboren wird, unsere Verstehensmöglichkeiten präjudiziert. Daraus ergibt sich die apriorische Setzung der
unaufhebbaren Eingebundenheit des Forschers in Formen und Wissen der
gegenwärtigen Gesellschaft. Diltheys Einsicht, dass das Material der Geschichtswissenschaft gezielten Überlieferungs- und Auswahlprozessen ebenso
unterworfen ist wie ungesteuerten Verlusten, muss zu der Schlussfolgerung
führen, dass jedes historische Erkennen und Erklären stets nur einen Ausschnitt möglicher Geschichte(n) und Deutungen von Geschichte ermöglicht.36
Es existieren Spielräume legitimer Argumentationen über ein und denselben
historischen Gegenstand. Der Spielraum entsteht vor dem Hintergrund kon32
33
34
35
36
Vgl. FANDEL, THOMAS: Konfessionalismus und Nationalsozialismus, in: BLASCHKE, OLAF
(HRSG.): Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: Ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, S. 331
Vgl. HOBSBAWM, ERIC: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München
1995
Vgl. KÖSTERS, CHRISTOPH: Katholiken im Dritten Reich: eine wissenschafts- und forschungsgeschichtliche Einführung, in: HUMMEL, KARL-JOSEPH; KISSENER, MICHAEL (HRSG.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn 2009, S. 37f.
Vgl. BREYER, THIEMO; CREUTZ, DANIEL: Einleitung, in: BREYER, THIEMO; CREUTZ, DANIEL
(HRSG.): Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen, Berlin 2010,
S. 1
Vgl. LESSING, HANS-ULRICH: Wilhelm Dilthey. Eine Einführung, Köln 2011, S. 42-47
1.3. Methoden und Quellen
21
stitutiver Prämissen: Jede historische Argumentation ist selektiv, das heißt es
findet eine Auswahl hinsichtlich der Merkmale ihrer Beschreibung, Erklärung
und Deutung statt. Komplexe historische Argumentationen sind sowohl in
ihrer Entstehung als auch ihrem Resultat äußeren Einflüssen ausgesetzt. Sie
können nicht unabhängig von der Stellung des Forschers im Referenzsystem
seiner Gegenwart, von gesamtgesellschaftlichen Dimensionen wie Praxis, Interessen und Wertvorstellungen gedacht werden. Besonders starken Einfluss
auf die Darstellung des Gegenstandes haben der Erfahrungshintergrund des
Forschers, der nicht nur das persönliche Engagement determiniert, sondern im
selben Maße auch bestimmt, welche Differenzierung von »Normalem« und
von Erklärungsbedürftigem vorgenommen, welche Erklärungsmuster angewandt und welche Aspekte betont werden.37 Ein gewisses Misstrauen sich
selbst gegenüber kann daher nicht schaden, auch wenn man mit hehren Zielen
sine ira et studio zu forschen bestrebt ist. Besonders bei einer Annäherung an
die narrativ vermittelte Erfahrungsebene muss eine professionelle Distanz zum
Thema gewahrt werden, denn nur sie verhindert, dass man Partei ergreift, sich
identifiziert oder auch einen Schreiber und seine Meinung ablehnt.38 Die Methodengebundenheit vorliegender Studie erklärt das benutzte Handwerkszeug
des Vorgehens und die Art der Annäherung an zu untersuchende Gegenstände.
Sie eröffnet mithin bestimmte Wege zur Erkenntnis und verschließt andere.39
Anknüpfend an methodische Errungenschaften einer Historischen Anthropologie im weiteren Sinne mitsamt ihrer Wiederentdeckung der Vielzahl »kleiner« Subjekte und ihres intentionalen Handelns, wird das Hauptaugenmerk
auf der Perspektive der handelnden Subjekte ruhen.40 Die Arbeit liegt damit
auf der Linie einer Entwicklung innerhalb der Geschichtswissenschaft, die sich
den Anspruch einer Hinwendung zu den Tiefendimensionen im (Kriegs-) Erleben auf die Fahne geschrieben hat. Sie fügt sich ein in den Trend zu erfahrungs- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen, denen daran gelegen
ist, »die historischen Strukturen und Prozesse mit der Nahperspektive historischer Akteure auf das Kriegsgeschehen zu konfrontieren«.41 Seit geraumer
Zeit rücken zunehmend Strukturen und Ursprünge von Deutungen, Wahrnehmungen und Orientierungsmustern historischer Subjekte in den Mittelpunkt
des Interesses. Denken, Fühlen und Handeln von Individuen stehen in einem
37
38
39
40
41
Vgl. KOCKA, JÜRGEN: Spielräume und ihre Grenzen. Angemessenheitskriterien historischer
Argumente, in: KOCKA, JÜRGEN: Arbeiten an der Geschichte. Gesellschaftlicher Wandel im 19.
und 20. Jahrhundert, Göttingen 2011, S. 40f.
Vgl. EPKENHANS, MICHAEL; FÖRSTER, STIG; HAGEMANN, KAREN: Einführung. Biographien und
Selbstzeugnisse in der Militärgeschichte, in: EPKENHANS, MICHAEL; FÖRSTER, STIG; HAGEMANN,
KAREN (HRSG.): Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen, Paderborn 2006, S. XI
Vgl. DANIEL, UTE: Quo vadis, Sozialgeschichte? Kleines Plädoyer für eine hermeneutische
Wende, in: SCHULZE, WINFRIED (HRSG.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikrohistorie. Eine
Diskussion, Göttingen 1994, S. 57
Vgl. REINHARD, WOLFGANG: Die Anthropologische Wende der Geschichtswissenschaft, in:
WAGNER, ANDREAS (HRSG.): Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie, Göttingen 2009, S. 82
NOWOSADKO, JUTTA: Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte, Tübingen 2002, S. 197
22
1. Einführung
dialektischen Verhältnis zu ihren Vorprägungen wie Schicht-, Religions- und
Weltanschauungszugehörigkeit.42 Die Arbeit ist bemüht, diesem Problem im
Zusammenspiel zwischen systematischer Untersuchung der Vorkriegsprägungen und analytischer Durchdringung von Kriegserfahrung und Kriegsdeutung
beizukommen.
Die Arbeit vermittelt zwischen mikro- und makrohistorischer Perspektive.
Sie will das Strukturelle, Allgemeine in der konkreten Ausformung zeigen. Das
heißt, der Fokus bleibt letztlich auf die Akteure gerichtet. Aus der Beschreibung
von alltäglichen Einzelfällen und individuell greifbaren Phänomenen sollen ohne
abstrakte theoretische Überhöhung der Sachverhalte verallgemeinerbare Aussagen zur Praxis der Feldseelsorge getroffen werden. Die Darstellung der Feldseelsorge über exemplarische Einzelfälle bietet die Möglichkeit, Strukturen erzählend darzustellen. Dienstbar gemacht wird dabei der Begriff der Erfahrung: Es
werden erfahrungsnahe Begriffe in einem Forschungsansatz verwendet, der die
Waage halten soll zwischen phänomenologischem Verstehen und soziokulturellem Erklären. Kriegserfahrung wird hier in Anlehnung an den Tübinger Sonderforschungsbereich 437 als Praxis während der Kriege und in sedimentierter Form
als Sinnstiftungs- und Deutungsmuster verstanden.43 Der Begriff »Erfahrung«
wurde an anderer Stelle auch als »gelungene Auslegungen oder Interpretationen
von aktiven und passiven Erlebnissen« beschrieben.44 Geschehnisse werden insofern erfahren, als dass die erlebenden Akteure Geschehendes noch während
des Erlebens mit Bedeutung ausstatten. Diese Sinngebung ist bei ausreichender
Quellenlage (ganz im Gegensatz zu Geschehensabläufen, da hierfür niemals eine
ausreichende Datenmenge vorhanden ist) für den Historiker rekonstruierbar.45
Sinngebung wird als conditio sine qua non vorausgesetzt:
»Ohne die Annahme erfahrungskonstitutiver historischer Sinnbildungsprozesse
diesseits der aktiven Sinnstiftung, die ein menschliches Erzählbedürfnis überhaupt
erst hervorrufen und also auch den jeweiligen konkreten Spielraum narrativer
Formung von Geschichtserkenntnis präformieren können, lässt sich der Eigenheit
historischer Erzählungen und ihrer spezifischen Referentialität geschichtstheoretisch nicht beikommen.«46
Eine Erfahrungsgeschichte setzt unterschiedliche Ebenen des menschlichen
Daseins wie die verhaltensmäßigen, emotionalen, kognitiven, institutionellen
und diskursiven in Beziehung zueinander.47 Wissenssoziologisch fundiert
42
43
44
45
46
47
Vgl. BUSCHMANN, NIKOLAUS; CARL, HORST: Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges.
Forschung, Theorie, Fragestellung, in: BUSCHMANN, NIKOLAUS; CARL, HORST (HRSG.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution
bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001, S. 14
Vgl. Forschungsprogramm des SFB, unter http://www.uni-tuebingen.de/SFB437/F.htm
Vgl. LATZEL, KLAUS: Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische
Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 56 (1997), S. 14
Vgl. FLAIG, EGON: Erleichterte Erkenntnis. Wie man narratistisch den realen Ballast abwirft und
die Wissenschaft loskriegt, in: BREYER, THIEMO; CREUTZ, DANIEL (HRSG.): Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen, Berlin 2010, S. 83
BREYER, CREUTZ, Einleitung, S. 5
Vgl. KÜHNE, Kameradschaft, S. 15
1.3. Methoden und Quellen
23
nimmt der Erfahrungsbegriff »die Bedeutung von Welt- und Gesellschaftsbildern ernst, wenn er in den Handlungen und Äußerungen der historischen
Akteure deren Wahrnehmungs- und Deutungs- und Sinnstiftungsprozesse als
Bestandteil der sozialen Wirklichkeit untersucht«.48 Wirklichkeit, und damit
auch Kriegswirklichkeit, ist gesellschaftlich konstruiert. Als permanenter Aneignungs- und Verarbeitungsprozess von sozialen und kulturellen Strukturen
wird sie vor allem über Kommunikation, Wahrnehmung, Deutung und Handeln abgeglichen und verflochten. Individuelle Erfahrung birgt demnach »eine
gesellschaftliche Dimension, denn Sprache, Institutionen und Traditionen liefern die soziokulturell objektivierten Rahmenbedingungen, die der subjektiv
erfahrenen Wirklichkeit vorgelagert sind und auf sie zurückwirken«.49 Menschen kommunizieren über Erfahrungen, korrigieren ihre Sichtweise im Licht
der Erfahrungen anderer und überlagern vorhandene Erinnerungsstrukturen
durch neue erworbene. Erfahrung ist also kein spezifischer Ausdruck individualistischen Erlebens, sondern immer kontext- und situationsgebunden. Erfahren und Verstehen basiert auf einem kulturell und historisch bedingten
Deutungshintergrund. Nur im Rahmen dieses Wissensinventars werden Erlebnisse zu Erfahrungen zusammengefügt.50 Es wäre jedoch verfehlt, hier von
gleichsam »verfälschten Erfahrungsbeständen« zu sprechen, da Erfahrungen
niemals unmittelbar und authentisch sind. Erfahrung greift in ihrer Sinnstiftungsfunktion auf kulturelles Wissen zurück, um Erlebnisse zu verarbeiten.
Dabei hat das Erleben wiederum prägenden Einfluss auf das kulturelle Gedächtnis.51 Man wird dem Phänomen viel eher gerecht, spricht man von einer
Erweiterung und Rekombination bereits vorhandener Erfahrungen.52 Damit
wird deutlich: Erfahrung und Erinnerung sind keineswegs kongruent. Der
speichernden Erinnerung kann es nicht gelingen, das Erlebte später so abzubilden, wie es erfahren wurde. Bedeutungen verschieben und überlagern sich
in der Erinnerung, Details werden bewertet, aufgewertet und entwertet.
Schließlich wird persönliche Erinnerung erst durch eine Inbeziehungsetzung
zum kollektiven Gedächtnis beziehbar auf das, was unter »Geschichte« verstanden wird. Bei diesem Prozess spielen Erinnerungs- und Deutungselemente eine Rolle, die nicht vom Individuum herrühren, da es diese zwar kennt, aber
nicht selbst erfahren oder hergestellt hat. Damit geht die Einsicht einher, dass
48
49
50
51
52
LIPP, ANNE: Diskurs und Praxis. Militärgeschichte als Kulturgeschichte, in: KÜHNE, THOMAS;
ZIEMANN, BENJAMIN (HRSG.): Was ist Militärgeschichte?, Paderborn 2000, S. 213
BUSCHMANN, CARL, Zugänge, S. 18
Vgl. PLANERT, UTE: Zwischen Alltag, Mentalität und Erinnerungskultur. Erfahrungsgeschichte
an der Schwelle zum nationalen Zeitalter, in: BUSCHMANN, NIKOLAUS; CARL, HORST (HRSG.): Die
Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001, S. 54
Bei der Verwendung des Begriffs des »kulturellen Gedächtnisses« erfolgt der Rückgriff auf die
Begriffsbestimmungen Jan Assmans nach seiner grundlegenden Studie: Vgl. ASSMANN, JAN: Das
kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2.
Aufl., München 1997
Vgl. BUSCHMANN, NIKOLAUS; REIMANN, ARIBERT: Die Konstruktion historischer Erfahrung.
Neue Wege zu einer Erfahrungsgeschichte des Krieges, in: BUSCHMANN, NIKOLAUS; CARL, HORST
(HRSG.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001, S. 262f.
24
1. Einführung
Geschichte sich im Einzelgedächtnis oder im Zuge kollektiver Erinnerungspraktiken auf Grundlage eingeschliffener Auslegungsmuster aktualisiert
wird.53
1.3.2. PERSPEKTIVE UND SCHWERPUNKTE
Die Schwerpunkte der Arbeit liegen erstens auf der Rekonstruktion des politischen und militärischen Referenzrahmens, zweitens auf der Beschreibung
und Deutung des Seelsorgedienstes sowie der Erlebnisse im Krieg. Drittens
wendet sich die Untersuchung dem Selbstbild und der Geisteshaltung der
Geistlichen zu. Die Arbeit ist bemüht, die Lebens- und Dienstauffassungen
und Verhaltensweisen der in der Wehrmacht eingesetzten Pfarrer zu untersuchen. Sie möchte extrapolieren, wie die Akteure sich in der Kriegssituation
selbst verorteten und ihre Erfahrungen reflektierten. Also: Wie wurde Krieg
erfahren, wie gedeutet? Dies schließt Fragen nach handlungsleitenden Prägungen der Pfarrer ein.
Zentrales Untersuchungsfeld sind die Mikrowelten des Individuums innerhalb der Referenzrahmen Politik und Militär. Anspruch ist es, durch eine
Analyse im kleinen Maßstab möglichst »authentisch« zu sein. Aufgrund der
Tatsache, dass es sich um eng definierte, begrenzte, und konkrete Mikrokosmen handelt, wird davon ausgegangen, Geschichtserfahrung personennah und
wenig abstrakt darstellen zu können. Durch eine intensive Analyse, durch
»dichte Beschreibung«54 äußerst kleiner Einheiten, nämlich der Individuen und
ihrer Erfahrungen, soll versucht werden, sich einem komplexen Gegenstand
wie der Feldseelsorge zu nähern. Übergreifende Strukturen, Kulturen und
Prozesse sollen dabei keineswegs außer Acht gelassen werden, schließlich ist
eine dichte Beschreibung nur erhellend, wenn sie auf andere, übergreifend
systematische Anhaltspunkte im Makromaßstab zurückgreifen kann. Sie muss
immer rückgebunden sein an Erkenntnisse, welche Mikrountersuchungen
nicht erbringen können. Mikroskopische Konzentration kommt nicht ohne
makroskopische Orientierung aus.55 Daher bedarf es der Analyse des militärischen und des politischen Referenzrahmens, in dem Feldseelsorge stattfand
und historische Subjekte agierten. Fokussiert auf die Analyse von individuellen
Mikrokosmen, erhebt die Arbeit nicht den Anspruch zu quantifizieren. Die
Quellenlage erlaubt es vielfach nicht, konkrete zahlenbasierte Aussagen zu
Teilaspekten des Untersuchungsgegenstandes zu machen. Quantitative Aussagen müssen gegenüber Tendenzen in den Hintergrund treten. Oftmals wird es
vorrangig darum gehen, die Bandbreite auszumessen, die sich innerhalb der
Kriegserfahrung und des Verhaltens der Seelsorger ausmachen lässt. In Anbe53
54
55
Vgl. FLAIG, Erleichterte Erkenntnis, S. 73f.; BREYER, CREUTZ, Einleitung, S. 1
In Anlehnung an: GEERTZ, CLIFFORD: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller
Systeme, Frankfurt 1983
Vgl. SOKOLL, THOMAS: Kulturanthropologie und Historische Sozialwissenschaft, in: MERGEL,
THOMAS; WELSKOPP, THOMAS (HRSG.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge
zur Theoriedebatte, München 1997, S. 265, REINHARD, Die Anthropologische Wende, S. 80
1.3. Methoden und Quellen
25
tracht der großen Zahl der Seelsorger wird bewusst auf eine biographische
Tiefe zugunsten verallgemeinerbarer Aussagen verzichtet. Dies schließt nicht
aus, dass im Zuge genereller Rahmenaussagen individuelle »Geschichten erzählt« werden können. Diese haben sich aus gutem Grund in den Quellen
erhalten, da sie oftmals Besonderheiten beschreiben, die wiederum Rückschlüsse auf die Regel zulassen. Die Arbeit changiert idealiter zwischen Systematik und Positivismus, zwischen Einmaligkeit und Allgemeingültigkeit.56 Der
möglichen Gefahr, dass sich Geschichte in Geschichten auflöst, wird begegnet
werden, indem immer wieder der Rückbezug gesucht wird zu übergeordneten
Zusammenhängen und Strukturen. Obschon dezidiert auf die Erfahrungsebene zugegriffen wird, werden Mikro- und Makroebene stets dialektisch zusammengedacht und das Ziel sowie die Notwendigkeit einer Zusammenhangserkenntnis zu keiner Zeit in Frage gestellt.
Um sich dem Erlebnishorizont historischer Akteure nähern zu können, ist
es mit Clifford Geertz notwendig, über den eigenen Vorstellungsrahmen hinaus zu denken, um ihre Vorstellungen und Erfahrungen nicht einfach nur in
eigene einzuordnen, sondern im Kontext ihrer eigenen Ideen über Person und
Gemeinschaft zu verorten.57 Geisteshaltungen und Handeln historischer Akteure hängen zusammen: Bedeutungen, die Menschen ihrer Welt und ihren
eigenen Handlungen in ihr geben, sollen als Teil ihres Lebens und ihrer Handlungen untersucht werden.58 Das Verhalten der Geistlichen, so die zugrunde
gelegte Annahme, erklärt sich nur unter Berücksichtigung vorherrschender
Mentalitäten. Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann sprechen von
Mentalitäten unter Bezugnahme auf Theodor Geiger als einer geistig-seelischen Disposition und einer »unmittelbare(n) Prägung des Menschen durch
seine soziale Lebenswelt und die von ihr ausstrahlenden, an ihr gemachten
Lebenserfahrungen«.59 Mentalitäten stehen in diesem Sinne für eine spezifische Ausrichtung des Denkens, Fühlens und Handelns. Man könnte sie bezeichnen als »Tendenzen und Dispositionen, bestimmte Situationen, die ein
Verhalten auslösen, in charakteristischer Weise zu deuten«.60 Ihre Bedeutung
wird sichtbar, vergegenwärtigt man sich, dass vorgeprägte Deutungsmuster
gleichsam Filter der individuellen und kollektiven Wahrnehmung sind. Sie
wirken sinndeutend und handlungsleitend. Eine Mentalitäts-Analyse kann
demnach Haltungen in der Auseinandersetzung mit der Welt und mithin
56
57
58
59
60
Vgl. POHLIG, MATTHIAS: Geschmack und Urteilskraft. Historiker und die Theorie, in: HACKE,
JENS; POHLIG, MATTHIAS (HRSG.): Theorie in der Geschichtswissenschaft. Einblicke in die Praxis
des historischen Forschens, Frankfurt a. M. 2008, S. 35
Vgl. GEERTZ, Dichte Beschreibung, S. 292ff.
Vgl. DANIEL, UTE: »Kultur« und »Gesellschaft«. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der
Sozialgeschichte, in: TSCHOPP, SILVIA SERENA (HRSG.): Kulturgeschichte, Stuttgart 2008, S. 189
BLASCHKE, OLAF; KUHLEMANN, FRANK-MICHAEL: Religion in Geschichte und Gesellschaft. Sozialhistorische Perspektiven für die vergleichende Erforschung religiöser Mentalitäten und Milieus, in: BLASCHKE, OLAF; KUHLEMANN, FRANK-MICHAEL (HRSG.): Religion im Kaiserreich.
Milieus, Mentalitäten, Krisen, Gütersloh 1996, S. 13f.
SELLIN, VOLKER: Mentalität und Mentalitätsgeschichte, in: Historische Zeitschrift 241 (1985), S.
588
26
1. Einführung
Grundlagen für Handeln offenlegen und so helfen, Verhaltensweisen zu erklären.61
Die mentale Struktur definiert den Verstehens- und Handlungsspielraum
eines Individuums oder Kollektivs. Erfahrungen und Sozialisation einer Person stellen ihr gewöhnlich einen Wissensvorrat zur Verfügung, mithilfe dessen
der Einzelne bestimmte Situationen bewältigt.62 Der Wissensvorrat korrespondiert mit den Vorprägungen eines Individuums, die sich aus seiner Schicht-,
Geschlechts-, Religions- und Weltanschauungszugehörigkeit ergeben. Dieser
Bindungen kann sich das Individuum nicht entledigen, geht man mit Geertz
im Sinne einer interpretativen Anthropologie davon aus, dass der Mensch in
einem selbst gesponnenen Bedeutungsgewebe weilt.63 Die Untersuchung will
die Gedanken, Einstellungen und Selbstverortungen einer bestimmten Personengruppe, nämlich der katholischen Seelsorger, in einer bestimmten Situation,
expressis verbis im Zweiten Weltkrieg, möglichst nah am Geschehen darstellen.
Es geht darum, »das Feld der Meinungsklimate, der sozialen Normen und
Axiome, der kollektiven Sinnwelten und Legitimationsmuster, der Maßstäbe
für ›richtiges‹ und ›falsches‹ Verhalten, kurz: der kollektiven subjektiven Wirklichkeit als entscheidende, kausale Voraussetzungen für gesellschaftliches wie
im Regelfall auch individuelles Handeln«64 im konkreten Fall zu untersuchen.65
In Fall der Wehrmachtseelsorger will die Untersuchung des Kriegsalltags auch
die Realität christlichen Lebens beleuchten. Es geht also nicht nur darum, das
alltägliche (Kriegs-)Erleben von Personen, sondern das geistlicher Personen zu
schildern. Katholische Pfarrer waren eine hochprofessionalisierte Gruppe. Sie
zeichnete sich durch einen hohen Grad an beruflicher beziehungsweise ständischer Organisation sowie durch eine eigene Berufsethik aus. Ihr Alltag war durch
die Tatsache, dass sie als Theologen in den Krieg zogen, ganz spezifisch geprägt
– und zwar nicht nur in ihren Dienstpflichten, bezüglich ihrer Stellung und ihrer
Wirkungsmöglichkeiten, sondern auch in der Alltagswahrnehmung. Als Gruppe mit einer spezifischen kohärenten Gruppenidentität waren die katholischen
Seelsorger mit anderen Wissens- und Weltanschauungsvorräten ausgestattet als
61
62
63
64
65
Vgl. HÜRTEN, HEINZ: Alltagsgeschichte und Mentalitätsgeschichte als Methoden der Kirchlichen
Zeitgeschichte. Randbemerkungen zu einem nicht gehaltenen Grundsatzreferat, in: Kirchliche
Zeitgeschichte 5 (1992), S. 29
Vgl. SELLIN, VOLKER: Mentalitäten in der Sozialgeschichte, in: SCHIEDER, WOLFGANG; SELLIN,
VOLKER (HRSG.): Sozialgeschichte in Deutschland Bd. 3, Göttingen 1987, S. 103
Vgl. SOKOLL, Kulturanthropologie und Historische Sozialwissenschaft, S. 262f. Ein für den
deutschen Katholizismus spezifischer Kulturbegriff lässt sich als Konstruktion von Wirklichkeit
im Sinne eines interreferentiellen Systems von Mentalitäten und Verhaltungs- und Organisationsformen verstehen, die helfen soll, die Innen- und Außenwelt einer Gruppe zu strukturieren.
Vgl. TISCHNER, Vom Milieu zur Kultur?, S. 220ff.
SCHULZE, HAGEN: Mentalitätsgeschichte – Chancen und Grenzen eines Paradigmas der französischen Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 36 (1985), S. 259
Ob es im Fall der katholischen Seelsorger angebracht ist, von einer kollektiven subjektiven
Wirklichkeit oder einem kollektiven Bewusstsein zu sprechen, das eventuell milieuspezifisch
ist, muss offen bleiben. Es ist durchaus denkbar, dass eine Art Gruppenbewusstsein bestand.
Möglich ist jedoch auch, dass der Oberfranke mit dem Münsteraner Geistlichen der Nachbardivision subjektiv viel weniger gemeinsam hatte, als die zusammen in einer Division dienenden
südwestdeutschen Seelsorger beider Konfessionen.
1.3. Methoden und Quellen
27
andere Kriegsteilnehmer. Identität stiftende kulturelle Faktoren wie gemeinsame
Werte und Normen, Deutungsmuster, Interaktions- und Kommunikationsformen sowie Handlungsweisen und Symbole spielten eine große Rolle für das
Selbstverständnis der katholischen Geistlichen als Gruppe. Es bedarf daher der
Rekonstruktion dieser Identitätsformierungen, um die Bedeutungen und Funktionsweisen der Gruppenidentität verfolgen zu können.66
Dass Begriffe wie »Milieu«, »Katholizismus« und »Kirche« ihre eigene Problematik besitzen und problematisiert werden (müssen), ist bekannt, ebenso,
dass auf diese nicht verzichtet werden kann. Einzelne Begriffe werden jeweils
bei ihrer ersten Nennung erklärt oder kontextualisiert, dem Milieu wird ein
eigener Abschnitt gewidmet. Bereits jetzt sollen die Begriffe »Katholizismus«
und »Kirche« voneinander geschieden werden. Was versteht man unter Kirche?
Hierzu Heinz Hürten: »Kirche ist freilich nicht allein Hort theologischer
Lehre und hierarchischer Führung, sondern auch Raum der in und mit ihr ohne
jede Distinktion durch Amt oder Weihe Lebenden, eben derer, die […] als
Katholiken bezeichnet werden.«67 Kirche ist ein durchaus vielschichtiges Phänomen. Die deutsche katholische Kirche, bestand 1933 aus einem Drittel der
Gesamtbevölkerung – also rund 21 Millionen Deutschen.68 Es gilt, innerhalb
der katholischen Kirche zwischen Gruppen, Ebenen und Einzelakteuren wie
Laien, Bischöfen, Verbänden und Theologen zu differenzieren. Kirche ist nicht
gleich Katholizismus, beide gehen nicht ineinander auf. Sie standen jedoch in
einem Abhängigkeitsverhältnis dergestalt, dass sich der Katholizismus unter
die Kirche unterwirft.69 Mit Urs Altermatt ist Katholizismus eine historische
Kategorie, eine gesellschaftliche Erscheinungsform des 19. und 20. Jahrhunderts. Seine Ausprägung steht in Beziehung zur Entwicklung der modernen
Gesellschaft. Im Katholizismus kam es zur Herausbildung von Strukturen,
welche die Kirche stützten und stets zu ihr in enger Beziehung standen, aber
nicht identisch mit Kirche waren. Der historische Katholizismus verfügte über
vier konstitutive Merkmale: Ein geschlossenes Deutungssystem, moderne Kirchenstrukturen, die Sakralisierung der neu gewonnenen Organisationsformen
und schließlich die feste Einbindung der Gläubigen in einen katholischen Kosmos – das Milieu.70
66
67
68
69
70
Vgl. LANDWEHR, ACHIM; STOCKHORST, STEFANIE: Einführung in die europäische Kulturgeschichte, Paderborn 2004, S. 194ff.
HÜRTEN, HEINZ: Die deutschen Katholiken und der 2. Weltkrieg, in: Militärseelsorge (Dokumentation) 39/40 (2001/2002), S. 321
Aus pragmatischen Gründen wird auf eine Differenzierung unter den Kirchen weitgehend
verzichtet. Dies soll jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass es im Grunde nur aus der
Binnenperspektive römisch-katholischer Ekklesiologie heraus möglich ist, von »der Kirche« zu
sprechen, da dies die Pluralität von Konfessionskirchen vernachlässigt. Für die Zwecke der
Arbeit erscheint die verkürzte Verwendung von Kirche jedoch gerade vor dem Hintergrund der
konfessionell getrennten Vorgehensweise als durchaus angemessen. Sollten Bezüge auf andere
Konfessionskirchen erfolgen, werden diese klar als solche ausgewiesen.
Vgl. BLASCHKE, OLAF: Die Kolonialisierung der Laienwelt. Priester als Milieumanager und die
Kanäle klerikaler Kuratel, in: BLASCHKE, OLAF; KUHLEMANN, FRANK-MICHAEL (HRSG.): Religion im Kaiserreich. Milieus, Mentalitäten, Krisen, Gütersloh 1996, S. 106
Vgl. ALTERMATT, URS: Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der
Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1989, S. 26f.
1. Einführung
28
Von den dargelegten Prämissen ausgehend, wird die Arbeit versuchen, die
Vielfalt des Kriegserlebens der Feldseelsorger zu greifen. Doch auch wenn die
Untersuchung der Feldseelsorge sich als umfassend versteht, möchte die Arbeit
weniger den großen Wurf erzielen als vielmehr versuchen, mit einem gezielten
Wurf kleiner Steine etwas in Bewegung bringen, um dann die konzentrisch
verlaufenden Kreise genau zu verfolgen. Georg Werthmann äußerte sich kurz
nach Kriegsende wie folgt über das Vorhaben, eine Geschichte der Feldseelsorge zu schreiben:
»Was es bedeutet, die Geschichte der Katholischen Feldseelsorge zu schreiben und
diese Welt zu erfassen, wurde mir klar, als ich ans Werk ging und versuchte, über
die Fülle des Gegenstandes Herr zu werden. Ueberall drängen sich die Gesichtspunkte, tauchen neue Fragestellungen auf […]. Diese Welt der Seelsorgearbeit an
den Fronten des Krieges ist von einem unübersehbarem Reichtum.«71
Diesen Reichtum zu erfassen, wird knapp siebzig Jahre nachdem Werthmanns
Worte Eingang in seine Notizen fanden, Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein.
1.3.3. QUELLEN
Um bis zur Erfahrungsebene durchzudringen, kann man auf persönliche Dokumente wie Tagebücher und Korrespondenzen zurückgreifen, die einem einen solchen Zugang gewähren: Allein die Auswertung persönlicher Dokumente ermöglicht es, über eine Untersuchung herkömmlichen Zuschnitts
hinauszugehen. Mithilfe der Analyse von Selbstzeugnissen der Pfarrer ist es
möglich, Kriegswahrnehmung, Alltagsverständnis, Selbstbild, Geisteshaltung
und Dienst der Seelsorger zu erforschen. Ziel ist es, verschiedene Formen des
priesterlichen Diskurses im und über den Krieg gewinnbringend zueinander
in Beziehung zu setzen. Die Untersuchung will eine differenzierte Analyse des
Sprechens und Denkens über das Kriegserlebnis leisten. Dabei soll das Sagbare vom Tabu abgegrenzt und Stilisierungen und Selbstverständnis herausgefiltert werden. Es kommt so offizielle Kriegstheologie mit individueller Kriegserfahrung und -deutung ins Gespräch.
Hauptanlaufstelle für die Recherchen war das Archiv des Katholischen Militärbischofs in Berlin. Der erst 2003 feinerschlossene Bestand »Sammlung
Werthmann« im Archiv des Katholischen Militärbischofs war von grundlegender Bedeutung für die Arbeit, da er die einzige derart weitreichende amtliche
Überlieferung zur Wehrmachtsseelsorge in so einer dichten Konzentration
bietet. Dazu kamen neben kleineren Beständen in den Abteilungen des Bundesarchivs in Berlin und Freiburg die Funde in den Diözesanarchiven Deutschlands und Österreichs, die vereinzelt Nachlässe von Wehrmachtpfarrern verwahren.72 Mithilfe eines umfangreichen Themenkatalogs war es möglich, das
71
72
AKMB-SW 1/A, Notiz Werthmanns vom 11.6.1945
Während sich fast alle Ordinariate dem Anliegen der Arbeit gegenüber offen zeigten und sie
mit Freigabe der Akten in ihren Diözesanarchiven unterstützten, verhinderten einige ohne
Angabe von Gründen die Einsichtnahme in Akten, die der Sperrfrist unterliegen. Über die
1.3. Methoden und Quellen
29
Erleben des Kriegsalltags systematisch zu erfassen. Auf Grundlage einer abstrahierenden Kategorienbildung konnten die Quellenfunde systematisiert,
bearbeitet, ausgewertet und aufbereitet werden. Vorrangig handelt es sich bei
den verwendeten Quellen um Personalunterlagen, Dienstberichte, briefliche
Korrespondenz, Notizkalender und Tagebücher, Memoiren, Referats- und Predigttexte sowie Notizen des Feldgeneralvikars.
Die verwendeten Personalunterlagen sind größtenteils Produkte alltäglicher
Verwaltungsakte. Nur vereinzelt erlauben etwa Sonderberichte beziehungsweise Unterlagen zu einer Strafsache Rückschlüsse auf die Person und ihre
Einstellung zum Dienst, etwa wenn es um Fälle von Trunkenheit, Homosexualität oder aber auch die so genannte »Wehrkraftzersetzung« ging. In diesen
Fällen können solche Akten helfen, Aussagen zu Dienstauffassung und -wahrnehmung zu treffen. Die Dienstberichte der in der Wehrmacht eingesetzten
Geistlichen waren zweigeteilt. Sie wurden unterschieden in Tätigkeits- und
Seelsorgeberichte (TB und SSB). Die Dienstberichte waren von den Kriegspfarrern pro Quartal anzufertigen und dem direkten Vorgesetzten, dem Oberpfarrer, zuzuschicken. Dieser leitete sie letztlich an die zentrale Dienststelle,
das Feldbischofsamt, in Berlin weiter. Eine Ausfertigung verblieb bei den
Wehrmachts-Dienststellen der Geistlichen. Die Tätigkeitsberichte wurden als
Arbeitsnachweis für die Dienstaufsicht verfasst. Um eine inhaltliche Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit ebenso wie eine Fokussierung auf wesentliche
Punkte zu gewährleisten, existierten Maßgaben, nach denen die Berichte anzufertigen waren. Die Berichte sollten nicht nur das Wirken der Seelsorger in
einem Quartal allgemein schildern, sondern numerisch Gottesdienste und weitere Amtshandlungen aufführen. Außerdem wurde erwartet, dass die Besuche
bei Einheiten ebenso aufgelistet wurden wie Kasernenstunden, Tätigkeiten im
Lazarett oder in der Gefangenseelsorge.73 In Form, Länge und Qualität differierten die Berichte stark. Die Entstehungsumstände hatten ebenso einen sig-
73
Bistumsarchive hinausgehende Quellenrecherchen wie im Fall des Russischen Staatlichen Militärarchivs endeten in einer Sackgasse, da dort zwar Akten zu einigen in Gefangenschaft geratenen Pfarrern lagern, diese aber nur dann eingesehen werden dürfen, wenn eine Vollmacht der
Angehörigen vorliegt. Diese Voraussetzung zu erfüllen, gestaltet sich im Fall katholischer Priester schwierig und hätte, wäre es überhaupt gelungen, Angehörige ausfindig zu machen, einen
nicht zu rechtfertigenden Aufwand bedeutet.
Ein typischer (wohlgemerkt kurzer) Abschnitt über Amtshandlungen in einem Quartalsbericht:
»Insgesamt fallen in diese Zeit folgende Amtshandlungen:
22 gottesdienstliche Veranstaltungen
24 Beerdigungen (46 Gefallene und Verstorbene)
11 Spendungen der hl. Sterbesakramente
69 Besuche der verschiedenen Krankenstationen
42 Besuche bei Einheiten, Stäben und Kommandanturen
3 Besuche in Wehrmacht-Strafanstalten
5 Bibelabende mit Priestersoldaten
Die Gottesdienste waren:
19 konfessionelle Sonntagsgottesdienste. […]
2 überkonfessionelle Feldgottesdienste […]
1 überkonfessionelle Feldgottesdienst mit anschließender hl. Messe für die katholischen Wehrmachtangehörigen.« AKMB-SW 724/III 12, TB vom 6.10.1942
30
1. Einführung
nifikanten Einfluss auf den Bericht wie Talent und Sorgfalt der jeweiligen
Pfarrer. Sie konnten knapp, nüchtern und sachlich formuliert sein.74 Es kam
aber auch vor, dass die Diktion mancher Pfarrer eher lebhaft war und sie ausführlich Stellung nahmen. Obwohl die Seelsorgeberichte keinesfalls ein umformuliertes Duplikat der Tätigkeitsberichte sein sollten, waren sie inhaltlich
bisweilen deckungsgleich mit Passagen des Tätigkeitsberichtes. Bei ihnen kam
es darauf an, die Dienstaufsicht und das Feldbischofsamt in geraffter Form
darüber aufzuklären, wie sich der Kontakt zum Kommandeur, zum Stab und
zu den einzelnen Truppenteilen gestaltete und welche Haltung diese gegenüber
der Feldseelsorge einnahmen. Ein weiterer wesentlicher Punkt war die Stimmung in der Truppe, vor allem in sittlich-religiöser Hinsicht, da die militärkirchlichen Vorgesetzten an Einschätzungen über die geistige Haltung der
Soldaten interessiert waren. Daneben waren die Pfarrer angehalten, Zeugnis
darüber abzulegen, inwieweit Verbindung zu den Seelsorgern der Nachbardienststellen bestand und wie sich das Miteinander mit dem evangelischen
Kollegen und den Geistlichen im Sanitätsdienst entwickelte.75 Schließlich wurde noch erfragt, wie es um die Versorgung mit kultischem und religiösem
Material bestellt war. Der Quellenwert dieser Dokumente erschließt sich aus
den vorgegebenen Themen. Die Berichte liefern relativ zuverlässig Informationen über den Dienst- und Seelsorgealltag. Sie waren bisweilen ein Forum für
Probleme und Ausnahmen von der postulierten Regel: dem reibungslosen
Dienst. Auch liefern sie wichtige Anhaltspunkte über die Klientel der Soldatenpastoral – die Truppe.
In der vorliegenden Arbeit wird auf einzelne private und dienstliche Briefe
zugegriffen. Es kommen keine Briefserien zum Einsatz. Ihrer Art nach sind
die erhaltenen Schreiben durchaus verschieden. So sind neben Briefen an die
Vorgesetzten im Amt des Katholischen Militärbischofs einige Feldpostbriefe
an die Angehörigen und Bekannten der Pfarrer überliefert. Sie sprechen naturgemäß verschiedene Sprachen und behandeln unterschiedliche Sachverhalte.
Zahl und Wert der meisten »Heimatbriefe« sind für die Arbeit verhältnismäßig
gering, da sie sich oft auf Privates beschränken und nur im Einzelfall vom Krieg
und dem Soldatendasein berichten. Anders verhält es sich mit Briefen an den
Feldgeneralvikar Georg Werthmann. Als »rechte Hand« des Feldbischofs war
Werthmann die vorrangige Bezugsperson der Wehrmachtgeistlichen, die häufig ein fast freundschaftliches oder väterliches Verhältnis zu den Feldseelsorgern pflegte. Nur so erklärt sich, dass sich manche Pfarrer auch mit Persönlichem an ihn wandten. An ihn gerichtete Briefe geben nicht nur Aufschluss über
Versetzungswünsche, Probleme und Klagen, sondern auch über persönliche
Ansichten und Erlebnisse im Krieg und Sorgen um die Heimat. Auch wurde
74
75
Mancher Pfarrer fasste sich überaus kurz und verwendete wenig Zeit auf die Anfertigung der
Berichte. Ein Geistlicher etwa hakte einige Punkte ab mit Formulierungen wie »Meine Erfahrungen waren dieselben wie bereits im vergangenem Quartal«. UAF, C 103/4, SSB vom 1.10.1942
AKMB-SW 1/A, Zusammenfassung der allen im Felde stehenden Wehrmachtgeistlichen und
Kriegspfarrern zu Beginn und während des Krieges erteilten besonderen kirchlichen Vollmachten unter Berücksichtigung der hierzu gegebenen kirchenrechtlichen, moraltheologischen und
pastoralen Weisungen (»Zusammenfassung«), Punkt 4
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