ÜBERSICHTSARBEITEN

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ÜBERSICHTSARBEITEN
Die OPD-KJ-Achse „Struktur“ als Instrument
zur Konzeptualisierung der klinischen Vorgehensweise
in der Körpertherapie
Sigrun Bünger und Iris Kepper
Summary
The Use of the Axis „Structure“ of the OPD-CA as a Helpful Instrument for the Concept of Body
Psychotherapy in Clinical Treatment
Body psychotherapy is an important part of a multimodal approach in clinical treatment for
many psychiatric disorders. The ICD-10 is not helpful for finding the appropriate kind of
body psychotherapy among many different kinds in a psychodynamic orientated approach
because the phenomenological categories of this instrument don’t aim on the structure of the
personality underlying the psychic disorder. In this article we suggest a concept of a development- and structure based body psychotherapy which refers to the axis “structure” of the
OPD-CA.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62/2013, 311-326
Keywords
OPD-CA – psychodynamic diagnostic – body psychotherapy
Zusammenfassung
Körpertherapie ist bei vielen psychischen Störungen integraler Bestandteil eines multimodalen Behandlungskonzepts in der Klinik. Bei der Entscheidung, welche Art von Körpertherapie
für den jeweiligen Patienten die geeignetste ist, erweist sich die phänomenologisch-deskriptive Kategorisierung der ICD-10 in einem psychodynamisch ausgerichteten Behandlungskonzept als nicht hilfreich, da die der Störung zugrunde liegende psychische Struktur des
Patienten in ihr keine Berücksichtigung findet. Im vorliegenden Beitrag wird das Konzept der
entwicklungs- und strukturbezogenen Körpertherapie auf der Basis der Strukturdiagnostik
nach OPD-KJ bei Kindern und Jugendlichen vorgestellt und anhand von Beispielen aus der
Praxis erläutert.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013
312 S. Bünger, I. Kepper
Schlagwörter
OPD-KJ – psychodynamische Diagnostik – Körpertherapie
1
Hintergrund
In der klinischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen kommt der Körpertherapie bei vielen psychischen Störungen eine wesentliche Bedeutung in einem
multimodalen Behandlungskonzept zu. Dabei steht ein breites Spektrum von körpertherapeutischen Methoden zur Verfügung, deren verschiedene Konzeptionen
von Bewegungs- bzw. Körpertherapie sich zwischen übenden Therapien, die sich
auf die defizitäre körperliche Funktion beziehen, einerseits (z. B. Krankengymnastik/Physiotherapie) und konflikt- oder strukturzentrierten psychodynamischen
Methoden wie z. B. der konzentrativen Bewegungstherapie (Schnurnberger, 1994)
andererseits bewegen.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind in Tabelle 1 in Anlehnung an Röhricht (2000)
exemplarisch einige häufig angewandte Verfahren zusammengestellt. Er unterscheidet
in beziehungsorientierte Verfahren, wahrnehmungsorientierte Verfahren, bewegungs-/
handlungsorientierte Verfahren sowie affekt-/energieorientierte Verfahren.
Tabelle 1: Systematisierung unterschiedlicher Körperpsychotherapieverfahren in Abhängigkeit vom
Ausmaß der psychischen Mobilisierung
entwicklungsorientiert
funktional-übungszentriert
Bewegungs-/handlungsorientiert Tai-Chi
Yoga
Wahrnehmungsorientiert
Feldenkrais
Focusing
konfliktorientiert-aufdeckend
Beziehungsorientiert
Funktionelle Entspannung
Analytische Körperpsychotherapie
Psychodrama
Affekt-/energieorientiert
Rolfing
Shiatsu
Bioenergetische Analyse
Biodynamische Psychotherapie
Core-Energetik
Biosynthese
Tanztherapie
Bewegungstherapie
Konzentrative Bewegungstherapie
Hakomi
Nach psychodynamischem Krankheitsverständnis ist die Entwicklung der psychischen Struktur mit ihren Selbst- und Objektrepräsentanzen, ihren Ich-Funktionen und ihren Abwehrformationen in hohem Maße von den primären, körperlich vermittelten Beziehungserfahrungen des Kindes abhängig. Die Einbeziehung
des Körpers in eine psychodynamisch orientierte Psychotherapie kann vor diesem
Hintergrund aber nur dann sinnvoll und hilfreich sein, wenn sie das psychische
Entwicklungsniveau des Patienten berücksichtigt und in Abhängigkeit vom Niveau
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Die OPD-KJ-Achse „Struktur“ und Körpertherapie 313
der psychischen Struktur entsprechende Modifizierungen des therapeutischen Angebots insbesondere hinsichtlich der therapeutischen Beziehungsgestaltung und der
Methode vorgenommen werden.
Da die ICD-10 eine deskriptiv-phänomenologische Kategorisierung vornimmt, die
keine Rückschlüsse auf das psychische Strukturniveau, auf dem die jeweilige Symptomatik des Patienten anzusiedeln ist, im Sinne der OPD-KJ zulässt, scheint eine Zuordnung von Indikationen für bestimmte Körpertherapiemethoden zu den Diagnosegruppen der ICD-10 nicht sinnvoll.
Die hier dargestellte Konzeptualisierung körperbezogener Phänomene auf der
Grundlage der Strukturachse der OPD-KJ, die das jeweilige Strukturniveau des Patienten berücksichtigt, soll eine Voraussetzung schaffen, körpertherapeutische Ansätze,
Behandlungsschwerpunkte und therapeutischer Haltungen genauer zu differenzieren
hinsichtlich ihrer Indikationsstellung und Wirkungsweise.
2
Bedeutung des Körpers und seiner Entwicklung für die Bildung der
psychischen Struktur
Anhand der Integration zahlreicher Befunde aus unterschiedlichen Forschungsfeldern der Neurowissenschaften (psychologischer und biologischer) stellt Schore
(2009) in seinen Büchern zur Affektregulation und Organisation des Selbst dar, dass
eine intrinsisch psychobiologische Natur der körperlich basierten Phänomene den
affektiven Prozessen, die den Kern des Selbst zu bilden scheinen, zugrunde liegt. Er
beschreibt die rechte Hemisphäre als die Hirnregion der Verarbeitung nonverbaler
Affekte auf einer nicht sprachlichen, unbewussten Ebene (Wexler, Warrenburg,
Schwartz, Janer, 1992), die bei der reziproken Interaktion im frühen Regulationssystem zwischen Säugling und primärer Betreuungsperson eine wesentliche Rolle
spielt (Taylor, 1987). Diese frühen Interaktionen zwischen Kind und primärer Bezugsperson spielen sich zum ganz wesentlichen Teil an der Körperoberfläche – der
Haut, mit Gestik und Mimik und begleitet von paralinguistischen Signalen – ab. Das
bedeutet, dass die die psychische Struktur prägende Entwicklung und Ausgestaltung
des Bindungssystems von Kindern, das auch als Grundlage zum Erlangen von Mentalisierungsfertigkeit (Lieberman, 2007) sehr bedeutsam ist, zum ganz wesentlichen
Teil über den Körper vermittelt wird.
Zur Erlangung von Mentalisierungsfähigkeit – der Fähigkeit, mentale und emotionale
Zustände des Selbst und des Anderen, die das Handeln auf beiden Seiten beeinflussen
können, aus unterschiedlichen verbalen und nonverbalen Quellen, aus Gestik und Mimik sowie der eigenen Sensorik zu erschließen – bedarf es immer einer Bindungsfigur,
mit der das Kind in Beziehung treten kann. Die Qualität dieser frühen Beziehungserfahrungen hat nach Fonagy (Fonagy u. Luyten, 2011) einen grundlegenden Einfluss
darauf, wie rasch und kompetent ein Kind diese Fähigkeiten entwickelt. Je reicher und
vielgestaltiger dieser Kontakt zur Bindungsperson ist, umso vielfältiger werden auch die
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inneren Repräsentationen mentaler Zustände sein, die im Laufe der Entwicklung einem
Kind und später dem Jugendlichen zur Verfügung stehen. Im Umkehrschluss bedeutet
dies, dass Kinder, die in ihren frühen Bindungspersonen keine adäquaten, mentalisierungsfördernde Objekte finden, in der Entwicklung ihrer psychischen Struktur erheblich beeinträchtigt sind und unter Umständen psychische Störungen entwickeln. Sie gehen mit deutlich schlechteren Voraussetzungen in die äußerst sensible und störanfällige
Entwicklungsphase der Pubertät bzw. Adoleszenz. Diese Phase ist laut Fonagy (Fonagy
u. Luyten, 2011) gekennzeichnet durch die entwicklungsphysiologische Inhomogenität
von Reifungsprozessen in den verschiedenen Hirnregionen (der orbitofrontale Cortex
als steuernde Instanz reift später als das Limbische System, in dem u. a. die Triebimpulse geortet werden) und dem hormongesteuerten Hinzutreten von Psychosexualität
in der frühen Adoleszenz, so dass die bereits entwickelten Mentalisierungsfähigkeiten
bei Jugendlichen passager entwicklungsphasentypisch wieder abnehmen. Die Jugendlichen können normale Ereignisse und Erfahrungen des Lebens weniger mentalisieren,
vielmehr werden sie in Form von körperlichen Zuständen z. B. innerer Anspannung, Erregung oder Unruhe repräsentiert. Fonagy und Luyten weisen in ihrer Arbeit auf zahlreiche Studien aus den Bereichen der Neurobiologie und Verhaltensbeobachtung hin,
die die Bindungstheorie und die Theory of Mind, also die Mentalisierungsfertigkeiten
bzw. deren Beeinträchtigungen, als plausible Erklärungsmodelle für psychische Störungen, die insbesondere in der vulnerablen Phase der Adoleszenz auftreten, belegen.
Bezogen auf das psychische Strukturniveau regredieren die Jugendlichen partiell und
vorübergehend auf eine Stufe geringerer Integration. Sowohl bei Kindern als auch bei
Jugendlichen mit psychischen Störungen muss sinnvollerweise eine mentalisierungsfördernde Körperspychotherapie auf dem Strukturniveau ansetzen, das bislang erreicht
oder auf das regrediert worden ist (Streeck-Fischer, 2006).
2.1 Wahrnehmungsphysiologische Entwicklungsgrundlagen von Körperbild
und Körperschema
Die Wahrnehmungen über die Körpersinne sind so genannte „nah erfahrbare“ Erlebnisse. Diese Reize erreichen Kinder und Jugendliche unmittelbar, d. h. sie müssen
nicht erst über kognitive Wege vermittelt werden. In diesem Sinne bilden die Körperwahrnehmungen die ersten stabilen Grundlagen für die Entwicklung einer situationsgerechten Handlungsfähigkeit (Beckmann-Neuhaus, 1993), die von Bielefeld
(1986) als Praxie bezeichnet wird.
Als Körperschema fasst Röhricht die perzeptiven, physiologisch präformierten und
zentralnervös verankerten, konstitutionell variierten und konstant durch die afferentsensorischen Einflüsse modifizierten Teilaspekte des Körpererlebens zusammen, das
die Grundlage für die Lokalisation des Körpers und die Steuerung der Motorik im
Raum (Röhricht et al., 2005) bildet. Körperperzeption definiert er als die intero- und
exterozeptive Wahrnehmung der physischen Realität, die für die autonomen, d. h.
unterhalb des Bewusstseins operierenden Automatismen und Reaktionsweisen verPrax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034
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antwortlich ist. Als Körperbild bezeichnet er jene Teilaspekte des Körpererlebens, die
sich erfahrungsabhängig individuell in enger Relation zur Sprachentwicklung kognitiv generiert und ausdifferenziert haben. Letzteres umfasst das formale Wissen, die
Phantasien, Gedanken, Einstellungen und Bewertungen, wie sie sprachlich repräsentiert und symbolisiert werden, mit den jeweiligen interpretativen und motivationalen
Bedeutungszuschreibungen. Diese drei Teilaspekte des Körpererlebens sind für die
psychische Entwicklung des Menschen von grundlegender Bedeutung (Aucouturier,
2006; Eliot, 2003; Ayres, 1979). Tabelle 2 gibt einen Überblick über das Zusammenwirken der unterschiedlichen Wahrnehmungsbereiche und der sensorischen Integrationsprozesse, die zur Entwicklung von Körperschema und Körperbild führen.
Tabelle 2: Übersicht der Entwicklung der sensorischen Integration nach Kepper (1999)
Taktile Wahrnehmung
(Tastempfinden)
Lokalisation und Diskriminierung von Berührungsreizen
Empfindung des Körpers in
seiner Ausdehnung mit seinen
Grenzen
Körperliche Grundlage für enge
Gefühlsbindung
Kinästhetisch-propriozeptive
Wahrnehmung
(Bewegungsanpassung)
Muskelspannung
Vestibuläre Wahrnehmung
(Gleichgewichtsempfinden)
Gelenkstellung
Haltungssicherung durch
Gleichgewicht und Balance
Körperraumlage
Lageveränderung
Aufrichtung gegen die
Schwerkraft
Abhängig von einer
ausreichenden und adäquaten
Stimulation, Modulation und
Informationsverarbeitung
Körpererfahrung
Körperschema
Körperbild
Körperkenntnis
Körperbewusstsein
Körperausdehnung
Körperausgrenzung
Körperorientierung
Körpereinstellung
Praxie
Treten in diesem Entwicklungsprozess Beeinträchtigungen auf, kann das sowohl bei
Kindern als auch bei Jugendlichen zu Störungen im Bereich der sensorischen Integration mit ihren gravierenden Folgen für die Selbstregulation oder die Lern- und
Leistungsmöglichkeiten führen. Darüber hinaus erfahren diese Bereiche in der Pubertät und Adoleszenz eine Labilisierung und Umgestaltung durch die körperlichen
Veränderungen und die sexuelle Reifung mit oft emotional verunsichernden Zuständen. Dies hat eine Bedrohung der bislang erworbenen Kompetenzen, des Identitätserlebens und des narzisstischen Gleichgewichts zur Folge und kann zu einer
Desorientierung auf körperlicher und seelischer Ebene führen (Günter, 2002). Die
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Integration der (früh-)kindlich erworbenen Körperschemata sowie der neuen Körpererfahrungen zu einer eigenen körperlichen, sexuellen und seelischen Identität
ist im weiteren Entwicklungsverlauf wesentliche Aufgabe der Adoleszenz, die in der
körpertherapeutischen Arbeit besondere Berücksichtigung finden muss.
2.2 Körpertherapeutische Diagnostik
Die Gesamtheit aller physischen und psychischen Erfahrungen mit dem Körper im
Verlaufe der individuellen Entwicklung bezeichnet Bielefeld (1986) mit dem Oberbegriff „Körpererfahrung“. Diese ist demzufolge mit der persönlichen Lebensgeschichte eng verknüpft und mit ganz spezifischen Gefühlen und Wertungen verbunden, so dass sie immer wieder neue Modulationen erfahren kann.
Aus diesem Grund ist die Basis einer dezidierten körpertherapeutischen Diagnostik
die fragebogengestützte (Elternfragebogen zur Verhaltensbeobachtung der sensomotorischen Entwicklung) gezielte Anamnese der körperlichen Entwicklung. Darüber hinaus
sollten spezielle Untersuchungsverfahren sowie Fragebögen zum Einsatz kommen.
Mit den in Tabelle 3 dargestellten Instrumenten sollten folgende grundlegende Bereiche erfasst werden:
Tabelle 3: Körpertherapeutische Diagnostik
Körpertherapeutische Diagnostik
Gezielte Anamnese der körperlichen Entwicklung
(Kepper: Elternfragebogen zur Verhaltensbeobachtung der sensomotorischen Entwicklung)
Untersuchungsinstrumente
Physische Ebene/Körpersche- Ayres (1979): Southern California Sensory Integration Test
ma/Körperperzeption
Hamster, Langner, Mayer (1980): Tübinger Luria-Christensen –
Neuropsychologische Untersuchungsreihe, TÜKI/TÜLUC
Psychische Ebene/Körperbild Deusinger (1998): Frankfurter Körperkonzept Skalen FKKS
• Physische Ebene/Körperschema/Körperperzeption. Diese Ebene umfasst zum einen die über Sinnesreize vermittelte Informationsaufnahme, also die sensorische
Wahrnehmungsfähigkeit und Modulation der verschiedenen Sinnessysteme, zum
anderen die Informationsverarbeitung, also die daraus resultierenden Vorstellungen
und Kenntnisse über Körperausdehnung und Körperorientierung (Bielefeld, 1986).
Hier bietet Jean Ayres’ Konzept der sensorischen Integration ein umfassendes Diagnostik-Instrumentarium, mit dem die sensomotorischen Funktionen der visuellen
Perzeption, der somatosensorischen Rezeption und der motorischen Leistungen
erfasst werden (Ayres, Southern California Sensory Integration Test, 1979). Mit
der Tübinger-Luria-Christensen neuropsychologischen Untersuchungsreihe TÜLUC können die sensorisch-perzeptive, die motorisch-psychomotorische, die psycholinguistische Dimension sowie die der Konzeptbildung untersucht werden, die
Auskunft über die Körperschemata des Patienten geben.
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• Psychische Ebene/Körperbild. Die psychische Ebene umfasst das affektive Erleben
des eigenen Körpers: Gefühle, Einstellung und Überzeugungen zum eigenen Körper, die in ihrer Summe das Körperbewusstsein bilden (Bielefeld, 1986). Diese Ebene kann z. B. mit den Frankfurter Körperkonzept Skalen FKKS (Deusinger, 1998),
einem Selbsterhebungsinstrument, in neun Dimensionen (Gesundheit und körperliches Befinden – Pflege, äußere Erscheinung, Beachtung und Funktionsfähigkeit –
Körperliche Effizienz – Körperkontakt – Sexualität – Selbstakzeptanz des Körpers
– Akzeptanz des Körpers durch Andere – Aspekte der körperlichen Erscheinung
– Dissimilatorische Körperprozesse) erfasst werden.
Das Zusammenwirken dieser beiden Ebenen ergibt den sensomotorischen Prozess.
Er beinhaltet eine Erweiterung der sensomotorischen Funktion durch Verknüpfung
von körperlich wahrgenommenem Reiz mit der subjektiv dazu empfundenen Emotion, sodass sich ein individuelles Körperkonzept entwickelt. Ist in diesem Prozess
eine der beteiligten Komponenten beeinträchtigt, etwa auf der neurophysiologischen
Ebene oder der emotionalen Ebene z. B. durch traumatische Erfahrungen, hat das
u. U. gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung des Körperbildes bzw. Körperschema des Betroffenen, wie es beispielsweise von Patienten mit Essstörungen oder
posttraumatischen Belastungsstörungen bekannt ist.
3
Entwicklungs- und strukturbezogene Körperpsychotherapie
Ausgehend von Rudolfs Entwurf der fokusbezogenen psychodynamischen Psychotherapie (Rudolf u. Grande, 2006), in der sich der Behandlungsfokus, das Setting
und die therapeutische Haltung am Störungstyp (Konflikttyp, Strukturtyp oder gemischter Typ) des Patienten orientiert, sind in Tabelle 4 (folgende Seite) in einem
Überblick die unterschiedlichen psychischen Strukturniveaus und die daraus resultierenden Schwerpunkte in der Körperpsychotherapie zusammengefasst.
3.1 Desintegriertes Strukturniveau
Patienten auf desintegriertem Strukturniveau sind stark auffällig. Sie zeigen auf
sensorischer Ebene eine erhebliche Beeinträchtigung der Fähigkeit, von außen auf
sie einwirkende Reize abzuschirmen oder zu filtern, so als hätten sie keine „schützende Haut“. Die Perzeption innerer und äußerer Zustände kann kaum oder gar
nicht unterschieden werden, innen ist gleich außen und umgekehrt. Sie sind körperbezogen von existenziellen oder paranoiden Ängsten, Ohnmachtsgefühlen und
Ängsten vor Auflösung oder Zerfall bedroht und versuchen, das extrem vulnerable
körperliche Selbst, d. h. ihre Körpergrenzen durch Erstarrung in Gestik und Mimik
sowie stereotype Bewegungsabläufe zu schützen, um so Sicherheit herzustellen. Auf
psychischer Ebene reagieren sie oft mit paranoiden Inhalten.
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OPD: desintegriert bis geringe OPD: gering bis mäßig integriert
Struktur
Niedriges Strukturniveau
Borderline-Niveau
Symptome und Erstarrung oder monotone/ste- Selbstbeschädigung mit Verletreotype Bewegungsabläufe zur zung der körperlichen Grenzen
EntwicklungsSicherung des Selbst (Selbstver- (Haut, Belastungsgrenzen).
störungen auf
der körperlichen gewisserung), der eigenen Kör- Störung der räumlichen und
pergrenzen und der Abwehr
zeitlichen Orientierung.
Ebene und der
des Körpererle- von Überschwemmung durch Abwehrhaltung als Schutz
existenzielle oder paranoide
vor Überwältigung und drobens
Ängste. Erleben von Ohnmacht hendem Identitätsverlust.
und Ausgeliefertsein
Ungenügende Nähe-DistanzRegulation
Körpertherapeu- Symptome als selbstreparative Arbeit an Grenzziehung und
Selbstregulation. Wahrnehtische SchwerMaßnahme verstehen. Ichmung und Sicherung der
punkte/Ziele
Stützung i. S. von Arbeit an
Begrenzungen des eigenen
realitätsgerechter Wahrnehmung. Sicherung von Grenzen Körpers und des Raumes. Beziehung zwischen Körper und
zwischen innen und außen,
übend, handlungsorientiert, auf Raum. Sicherung von (eigenen)
Selbstbestimmung achten
Räumen. Suche nach ausreichend Schutz vor und Distanz
zum Gegenüber
Strukturniveau
OPD: gut integriert
Reifes, neurotisches
Strukturniveau
Funktionelle Störungen. Furcht Konversionssymptome. Funktionelle Störungen. Körper
vor Entwertung und Mangelhaftigkeit des eigenen Körpers, ist Austragungsort eines
innerpsychischen Konfliktes.
mit der Konsequenz des LieAbwehr unangenehmer Imbesverlustes und der Einsamkeit. Erleben von Abhängigkeit pulse (aggressiv, libidinös) zur
Vermeidung von Schuld- und
vom Körper mit Verleugnung
körperlicher Bedingtheiten und Schamaffekten
Versuch der Kontrolle über den
Körper
Arbeit an Affektwahrnehmung Konfliktzentriertes Arbeiten
und -differenzierung auf körperlicher Ebene. Verknüpfung
von Affekt und individueller
Körpererfahrung. Abgrenzung
und Unterscheidung vom
Gegenüber (Selbst-Objekt-Differenzierung). Arbeit am Körperbild und Ermöglichung von
Neubewertungen durch Ausbau
von körperlichen Ressourcen
und Interessen. Entwicklung
eigener Pläne und Erleben von
Selbstwirksamkeit
Mittleres Strukturniveau
OPD: mäßig integriert
Tabelle 4: Systematik der Entwicklungs- und Strukturbezogenen Körpertherapie (nach (Fegert, Streeck-Fischer, Freyberger, 2009)
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Haltung und
Aufgaben des
Körpertherapeuten
Therapeut ist kompetenter
Begleiter, gibt Anleitung, achtet
auf Sicherung des Rahmens,
ausreichend Grenzziehung und
Distanz. Keine Interpretationen
oder Deutungen, Arbeit im
Hier und Jetzt
Therapeut stellt sich auf der
Basis sicherer Grenzziehungen
zwischen sich und dem Patienten (Selbst und Objekt) als
Interaktionspartner zur Verfügung und ermöglicht dem
Patienten, den eigenen Körper
in seinen Dimensionen, Potentialen und Begrenzungen zu
erfahren und zu achten sowie
körperliche Zustände zu verstehen und zu regulieren.
Therapeut stellt Hilf-Ich-Funktion zur Verfügung, indem
er durch Verbalisierung Verknüpfungen von Affekten und
individueller Körpererfahrung
herstellt und sie so dem Patienten zugänglich macht.
Vor dem Hintergrund sicherer
Selbst-Objekt-Grenzen ist der
Therapeut ein Gegenüber, mit
dem in der Interaktion Beziehungserfahrungen von Passivität, Aktivität, Sich-nehmenkönnen, Berühren, Gehaltenwerden und Loslassen-können
möglich sind
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Bei diesen Patienten dienen die Symptome also als selbstreparative Maßnahme, die
nicht therapeutisch bekämpft werden dürfen. Sie müssen in ihrer Stütz- und Sicherungsfunktion zunächst einmal anerkannt werden. Der (Therapie-)Rahmen/Raum
muss überschaubar gestaltet sein und ausreichend Platz für die nötige Distanz bieten.
Dabei ist die Arbeit an einer realitätsbezogenen Wahrnehmung mit festen, klar umgrenzten Materialien von großer Bedeutung. Es geht darum, auf einer motorischen
Ebene Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln und zu stärken.
Der Therapeut nimmt dabei die Rolle des achtsamen Gestalters ein. Er gibt Anleitung
und trägt Sorge für die Verlässlichkeit des Rahmens. Jegliche interpretierenden oder
konfliktdeutenden Interventionen sollten unterbleiben, da sie vom Patienten als Grenzverletzung erlebt werden und so Angst auslösen können. Für den Therapeuten sind in
der Interaktion mit dem Patienten mitunter beängstigende Gegenübertragungsgefühle
spürbar, die er als Signal für den inneren Zustand des Patienten verstehen muss, um
dann nach Wegen der Sicherung zu suchen – Sicherung des Selbst und des Objekts.
3.1.1 Fallbeispiel
Eine 16-jährige Jugendliche kam wegen einer seit langem bestehenden Zwangsstörung auf psychosenahem Niveau in stationäre Behandlung, nachdem eine ambulante psychodynamisch orientierte Psychotherapie mit überwiegend Ich-stützenden
Interventionen keine Besserung erbracht hatte.
Im Erstkontakt wirkte die Jugendliche sehr angestrengt und erschöpft. Durch weitschweifige und detailgenaue Schilderung ihrer Zwangssymptomatik suchte sie scheinbar Kontrolle über die Situation und sich selbst zu erlangen.
Bei der körpertherapeutischen Diagnostik stellte sich heraus, dass neben einer sensorischen Integrationsstörung eine erhebliche Verunsicherung in der Zuordnung und
Benennung einzelner Körperteile vorlag. Die Lage/Haltung des eigenen Körpers im
Raum sowie seine Orientierung und Ausrichtung an den äußeren Bedingungen bereiteten der Jugendlichen ebenfalls Schwierigkeiten, die sich auch auf die Planung und
Durchführung kleiner Handlungsabläufe (z. B. Apfel schälen) auswirkten.
In der Körpertherapie wurde schnell deutlich, dass z. B. taktile Wahrnehmungsübungen zur Förderung der sensorischen Integration zu einer Verschärfung der Verunsicherung im körperlichen Erleben bis hin zu paranoiden Befürchtungen (körperlichem
Verfall, Fragmentierung) führten. Erst durch das stetige, fast monotone Wiederholen
einer für die Jugendliche überschaubaren Bewegungsform (hin- und herrollen eines
Pezziballs zwischen der Jugendlichen und der Therapeutin) fand sie ausreichend Schutz
vor der drohenden psychotischen Dekompensation. So gewann die Jugendliche zunehmend an Sicherheit, um sich in kleinen Schritten an die Erprobung neuer Entwicklungsspielräume zu wagen und eine Bewegungslust zu entwickeln. Dabei erlebte sie zunächst
auf rein körperlicher Ebene einen Zuwachs an Bewegungskompetenzen und Selbstregulationsmöglichkeiten (z. B. Dosierung von Kraft und Energie), was sie ermutigte, ihre
Fähigkeiten weiter auszubauen und Frustrationen auszuhalten. Die Therapeutin stand
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der Jugendlichen dabei als ein sicherndes, Orientierung bietendes, mit ihr übendes aber
nicht interpretierendes oder wertendes Objekt zur Verfügung.
3.2 Gering bis mäßig integriertes Strukturniveau
Auf der nächsthöheren Stufe, dem gering bis mäßig integrierten Strukturniveau, auf
dem sich im Allgemeinen die Borderline-Persönlichkeitsstörungen befinden, sieht
die Symptomatik anders aus. Hier machen die Patienten den eigenen Körper zum
verfolgten und misshandelten Objekt und sind gleichzeitig selber in der Rolle des
Verfolgers und Misshandlers – sie sind quasi Subjekt und Objekt in einem. Bei ihnen erleben wir Verletzungen der eigenen körperlichen Grenzen durch Selbstverletzungen (Schneiden, Brennen etc.) oder Überschreiten der eigenen körperlichen
Belastungsgrenzen. In der sensomotorischen Untersuchung finden wir häufig einen Mangel an zeitlicher und räumlicher Orientierung, was sich z. B. auch in einer Beeinträchtigung der Nähe-Distanz-Regulation innerhalb eines Raumes in der
Körpertherapie äußert. Diese Patienten erleben sich durch die Annäherung des
Objektes/des Anderen von einem Verlust der eigenen Identität bedroht. Deshalb
müssen sie ihr Gegenüber auf Abstand halten und sich durch Selbstbeschädigungen
immer wieder ihrer/s Selbst vergewissern.
Im Fokus des körpertherapeutischen Handelns steht bei diesen Patienten die Beziehung zwischen Körper und Raum, um darüber die eigene – körperliche – Identität,
deren Ausmaß und Grenzen zu erfahren. Erst wenn das gelungen ist, kann das Objekt,
also der Andere hinzukommen und vom Patienten selbst einen inneren Raum zugewiesen bekommen.
Der Therapeut muss zunächst mit dem Patienten an der Sicherung von Grenzziehung und ausreichender Distanz, die der Patient immer wieder neu bestimmen kann,
arbeiten. Er stellt sich als Partner zur Verfügung, der dem Patienten die Erfahrung des
eigenen Körpers, seiner Dimensionen und seiner Begrenzungen durch Anregung und
zurückhaltende Interaktion möglich macht. In einem weiteren Schritt geht es um das
Verstehen und Regulieren körperlicher Zustände sowie um die Erfahrung des eigenen
körperlichen Potenzials.
3.2.1 Fallbeispiel
In der Erstbegegnung mit einer Jugendlichen mit dissoziativer Symptomatik, Selbstverletzungen und latenter Suizidalität verhielt sich die Jugendliche verschlossen und wenig
zugänglich. Als Raum, in dem sie sich aufhalten wollte, entschied sie sich für die Hängematte, die wie ein Beutel von der Decke hing. Sie verschloss diesen mit Seilen und Klammern, so dass die Therapeutin keinen Einblick in ihren „Raum“ haben konnte. Über
Körperwahrnehmungsübungen, die sich mit Fragen beschäftigten wie „wo spürst du
den Druck der Hängematte am Körper“; „was verändert sich an deiner Befindlichkeit,
wenn du die Hängematte um sich herum spürst“ und „wo sind diese Veränderungen
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im Körper wahrnehmbar“ bekam die Patientin zunehmend ein sichereres Gefühl für
die eigenen Körperbegrenzungen. Schließlich sollte sie zum Vergleich die Hängematte
kurzfristig verlassen, um wahrzunehmen, was sich verändert. Diese Behandlungssequenz wurde durch eine geleitete Imagination beendet, indem die Patientin das positive
Gefühl von (Haut-)Grenzen in einer imaginären Schatzkiste sicher verwahrte.
3.3 Mäßig integriertes Strukturniveau
Patienten auf einem psychisch mäßig integrierten Strukturniveau leiden vielfach
unter funktionellen oder Somatisierungsstörungen. Sie fühlen sich durch diese eingeschränkt und in für sie unerträglicher Weise an ihren Körper gebunden und von
ihm abhängig. Ihr Versuch, Kontrolle über ihn zu erlangen, kann zu zwanghaften
Störungen oder zur Verleugnung der körperlichen Bedingtheiten führen. Sie erleben sich als mangelhaft ausgestattet, entwerten sich selber und projizieren diese
Entwertung auf andere Menschen, deren Entwertung und Liebesverlust sie dann
fürchten. Darüber geraten sie leicht in interpersonelle Konflikte.
Bei diesen Patienten steht die Arbeit an der Affektwahrnehmung und -differenzierung – sowohl in Bezug auf das Selbst als auch auf den Anderen – als Basis für eine
Begegnung mit dem Anderen ganz im Vordergrund. Sie müssen durch Erfahren lernen,
dass sich auf der körperlichen Ebene ihre Selbstwahrnehmung von der durch Andere
unterscheiden kann. Dazu ist es notwendig, den erlebten Affekt mit der individuellen
Körpererfahrung in Verbindung zu bringen, um ein Verständnis für das körperliche
Selbst zu erlangen. Auf dieser Grundlage ist es dann möglich, durch den Ausbau körperlicher Ressourcen und Interessen zu Neubewertungen des eigenen Körperbildes zu
gelangen, was zu einem Erleben von mehr Selbstwirksamkeit führen kann. Dieser Prozess wird vom Therapeuten begleitet, indem er sich als Hilfs-Ich zur Verfügung stellt, d.
h. seine eigene Wahrnehmung vom Patienten – körperlicher Zustand, Verhalten und
wahrnehmbare Gefühle – und der Situation in Worte fasst und dieses als Kommentar
dem Patienten anbietet, z. B. „könnte es sein, dass …“ oder „mir scheint, dass …“ usw.
Dabei spielt die Verwendung des Konjunktivs eine wichtige Rolle, weil er dem Patienten
Raum für die eigene Bewertung lässt und zum Nachdenken und -spüren anregt. So kann
der Patient erkennen, dass der Therapeut ein Anderer ist, seine mitgeteilte Wahrnehmung vielleicht nicht hundertprozentig seinen eigenen Empfindungen entspricht und es
Unterschiede oder auch ganz andere Betrachtungsweisen geben kann. Darüber in einen
Dialog zu kommen – auch auf der Handlungsebene, quasi im Aus-handeln – ermöglicht
dem Patienten, sich selbst und den Anderen als voneinander getrennt und mit jeweils
eigenen Belangen, Affekten und Motiven wahrzunehmen.
3.3.1 Fallbeispiel
Ein Junge, der sich auf Grund sensomotorischer Beeinträchtigungen als körperlich
ungeschickt und mangelhaft ausgestattet erlebte, hatte eine sehr geringe FrustratiPrax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034
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onstoleranz. Er geriet immer wieder in Konflikte mit Gleichaltrigen und Erwachsenen. Auf befürchtete Entwertungen reagierte er mit unruhigem, impulsungesteuertem und teilweise fremdaggressiven Verhalten.
In der Körpertherapie konnte er es zunächst nicht ertragen, dass die Therapeutin
gemeinsam mit ihm etwas baute. Zu groß waren seine Ängste vor seiner eigenen Unzulänglichkeit, dem eigenen Versagen und der befürchteten Kritik, sodass er die Therapeutin quasi in die letzte Ecke des Raumes verbannte. Durch zunächst geduldiges
Beobachten und vorsichtiges Kommentieren der Therapeutin zeigte sie sich ihm als
wohlwollendes und wertschätzendes Objekt. Allmählich konnte er es zulassen, sie in
seinen (Bau-)Plan einzubeziehen und ihr eine eigene Rolle darin zu überlassen. Die
Erfahrung, das Eigene zu verfolgen, ohne dabei den Anderen zu übersehen/ignorieren
vermittelte ihm schließlich ein Gefühl von Selbstzufriedenheit, das zu mehr Ruhe im
Verhalten führte.
3.4 Gut integriertes Strukturniveau
Bei Patienten auf einem gut integrierten Strukturniveau finden wir teilweise ähnliche Störungen wie bei denen auf mittlerem: Neben den funktionellen Störungen
gibt es aber auch neurotische bzw. symptomneurotische Störungen wie z. B. Konversionsstörungen als Ausdruck innerpsychischer Konflikte, bei denen unangenehme
Impulse abgewehrt werden müssen, um Scham- oder Schuldgefühle zu vermeiden.
Der Therapeut kann sich also als ein Objekt präsentieren, mit dem der Patient eine
Beziehung entwickeln kann, in der sich die inneren Konflikte des Patienten als zentrale
Beziehungskonflikte in der Interaktion darstellen können. Auf der Ebene der KörperPsychotherapie entfalten sich die frühen Beziehungserfahrungen der Patienten häufig
in erster Linie an dem Thema Passivität versus Aktivität/Expansivität. Es geht also
um das passiv erdulden, hinnehmen oder sich versorgen lassen versus aktiv gestalten,
sich etwas nehmen, sich behaupten oder etwas geben können. Aber auch die anderen zentralen intrapsychischen Konflikte, die in der OPD-KJ auf der Achse „Konflikt“
operationalisiert sind (Versorgung/Autarkie, Unterwerfung/Kontrolle und ödipale
Konflikte) können sich im interpersonellen Raum in der Körper-Psychotherapie in
nicht-verbaler „Choreografie“ reinszenieren, so dass sie einer Bearbeitung in der therapeutischen Beziehung zugänglich sind.
3.4.1 Fallbeispiel
Ein für sein Alter zu kleiner, im Alltag überangepasster Junge war in psychotherapeutischer Behandlung, weil er sich weigerte zu essen. Er galt als hochbegabt und
sagte über sich selbst: „mein Körper hat ja nie so gut funktioniert und alle fanden es
toll, wie schlau ich bin“. Mit seinem jüngeren, körperlich überlegenen Bruder stand
er unterschwellig spürbar in stetiger Konkurrenz. In der körpertherapeutischen Diagnostik fanden sich sensomotorische Defizite mit erhöhter taktiler Sensitivität.
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In der Therapie weigerte er sich zunächst, überhaupt in Bewegung zu kommen.
Er blieb auf dem Stuhl sitzen und forderte von der Therapeutin genaue Erklärungen, was er nun fühlen solle. In Bewegung zu kommen hätte bedeutet, die
Kontrolle über sich bzw. seine Gefühle aufzugeben. So inszenierte er seinen inneren Konflikt: Anpassung und Unterordnung unter die Forderungen der Erwachsenen einerseits versus dem Andrängen aggressiver, expansiver Impulse andererseits. Diese ängstigten ihn offenbar so sehr, dass er befürchtete, die Liebe und
Zuwendung des Objektes (der Mutter) zu verlieren, wenn er diesen Impulsen (Bewegungsspiel-)Raum geben würde. Die ersten Schritte in der Therapie erfolgten,
indem die Therapeutin einen Kompromiss mit ihm einging. Er malte ein Körperbild und ließ sich darauf ein, verschiedensten Gefühlen im Zusammenhang mit
seinem Körpererleben nachzuspüren, ihnen im Körper einen Platz zu zuordnen
und sie dann in das Körperbild einzuzeichnen. Dabei war es ihm wichtig zu betonen, dass bei dieser Aufgabe der Kopf ja auch eine wichtige Rolle spielt. Als die
Therapeutin aktiv ansprach, dass „Wut“ ein zentrales Thema für ihn sein könnte,
konnte er das zunächst auf der kognitiven Ebene annehmen und verstehen, ohne
allerdings affektiv mit dem Gefühl in Kontakt zu kommen. Er begann darüber
zu sprechen, wie er versuchte, seine Wut ständig zu kontrollieren, weil er dieses
Gefühl nicht leiden konnte. In den folgenden Stunden begann er, nicht nur seinen
Mund beim Sprechen sondern auch sich selbst im Raum zu bewegen. Im gemeinsamen Ballspiel mit der Therapeutin beschäftigte er sich mit seinem insuffizienten
Körpererleben und seinen damit zusammenhängenden Minderwertigkeitsgefühlen. Schließlich entdeckte er für sich das Klettern, bei dem er sich als effizient
erleben konnte, was er sehr genoss und weiter ausbaute.
4
Zusammenfassung
Für eine Entwicklung und Mentalisierung fördernde Körpertherapie ist grundsätzlich die Beachtung des psychischen Strukturniveaus von entscheidender Bedeutung.
Patienten mit schweren Störungen der Persönlichkeitsstruktur (z. B. Psychosen,
Borderline-Störungen, komplexe Entwicklungsstörungen, posttraumatische Störungen) bedürfen eines stützenden, stabilisierenden Therapieangebots, das an den
basalen Ich-Fähigkeiten der Grenzziehung zwischen Subjekt und Objekt, der äußeren und der inneren Realität und dem Hier und Jetzt gegenüber dem Dort und
Damals, an der Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie den Selbstregulationsfähigkeiten ansetzt. Bei ihnen stehen funktional-übungszentrierte und bewegungs- und
handlungszentrierte Methoden im Vordergrund, da sie weniger Ich-belastend und
mobilisierend sind, während bei neurotisch strukturierten Patienten eher ein konfliktorientiert-aufdeckendes Vorgehen angezeigt ist.
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Die OPD-KJ-Achse „Struktur“ und Körpertherapie 325
Ausblick
Obwohl die Körpertherapie in der stationären Versorgung psychisch kranker Patienten in der Regel einen integralen Bestandteil des Gesamtbehandlungskonzeptes
darstellt, gibt es wenig durch Studien abgesichertes Wissen über Indikationsstellung,
Handhabung und Wirkungsweise.
In einem Konsensuspapier von Röhricht und Kollegen stellen die Autoren fest, dass
in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Dimension des Körpererlebens die
Beschreibungsebene gestörten Körpererlebens zunehmend Beachtung für die Entwicklung störungsspezifischer, phänomenorientierter Psychotherapie und zur Identifizierung spezifischer damit korrespondierender Outcome-Kriterien findet (Röhricht
et al., 2005).
Angesichts des weiten Spektrums und der Heterogenität angewandter körperpsychotherapeutischer Methoden scheint es sinnvoll, eine Systematik zu entwerfen, aus
der sich Indikationen, Behandlungsschwerpunkte und therapeutische Haltungen für
die Körperpsychotherapie ableiten lassen. Da die ICD-10 eine deskriptiv-phänomenologische Klassifizierung vornimmt, die jedoch keine Rückschlüsse auf das psychische
Strukturniveau zulässt, auf dem die jeweilige Symptomatik des Patienten anzusiedeln
ist, ist eine Zuordnung von Indikationen zu den Diagnosegruppen der ICD-10 nicht
sinnvoll (Streeck-Fischer, im Druck). Daher wurde mit der vorliegenden Arbeit eine
Strukturierung körperpsychotherapeutischer Phänomene, Behandlungsschwerpunkte
und therapeutische Haltungen auf der Grundlage der OPD-KJ vorgenommen, die das
jeweilige Strukturniveau des Patienten berücksichtigt. Sie soll ermöglichen – auch im
ambulanten Setting angewandt – Körpertherapien genauer zu differenzieren hinsichtlich ihres Ansatzes, Indikationsstellung und Wirkungsweise, so dass die Durchführung
z. B. kontrollierter Wirksamkeitsstudien erleichtert würde, wie sie Schreiber-Willnow
und Seidler (2005) fordern.
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Korrespondenzanschrift: Dr. Sigrun Bünger, Bunsenstrasse 9, 37073 Göttingen;
E-Mail: [email protected] oder Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn, 37124 Rosdorf;
E-Mail: [email protected]
Sigrun Bünger und Iris Kepper, Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn und in eigener Praxis in Göttingen
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034
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