ÜBERSICHTSARBEITEN Die OPD-KJ-Achse „Struktur“ als Instrument zur Konzeptualisierung der klinischen Vorgehensweise in der Körpertherapie Sigrun Bünger und Iris Kepper Summary The Use of the Axis „Structure“ of the OPD-CA as a Helpful Instrument for the Concept of Body Psychotherapy in Clinical Treatment Body psychotherapy is an important part of a multimodal approach in clinical treatment for many psychiatric disorders. The ICD-10 is not helpful for finding the appropriate kind of body psychotherapy among many different kinds in a psychodynamic orientated approach because the phenomenological categories of this instrument don’t aim on the structure of the personality underlying the psychic disorder. In this article we suggest a concept of a development- and structure based body psychotherapy which refers to the axis “structure” of the OPD-CA. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62/2013, 311-326 Keywords OPD-CA – psychodynamic diagnostic – body psychotherapy Zusammenfassung Körpertherapie ist bei vielen psychischen Störungen integraler Bestandteil eines multimodalen Behandlungskonzepts in der Klinik. Bei der Entscheidung, welche Art von Körpertherapie für den jeweiligen Patienten die geeignetste ist, erweist sich die phänomenologisch-deskriptive Kategorisierung der ICD-10 in einem psychodynamisch ausgerichteten Behandlungskonzept als nicht hilfreich, da die der Störung zugrunde liegende psychische Struktur des Patienten in ihr keine Berücksichtigung findet. Im vorliegenden Beitrag wird das Konzept der entwicklungs- und strukturbezogenen Körpertherapie auf der Basis der Strukturdiagnostik nach OPD-KJ bei Kindern und Jugendlichen vorgestellt und anhand von Beispielen aus der Praxis erläutert. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 312 S. Bünger, I. Kepper Schlagwörter OPD-KJ – psychodynamische Diagnostik – Körpertherapie 1 Hintergrund In der klinischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen kommt der Körpertherapie bei vielen psychischen Störungen eine wesentliche Bedeutung in einem multimodalen Behandlungskonzept zu. Dabei steht ein breites Spektrum von körpertherapeutischen Methoden zur Verfügung, deren verschiedene Konzeptionen von Bewegungs- bzw. Körpertherapie sich zwischen übenden Therapien, die sich auf die defizitäre körperliche Funktion beziehen, einerseits (z. B. Krankengymnastik/Physiotherapie) und konflikt- oder strukturzentrierten psychodynamischen Methoden wie z. B. der konzentrativen Bewegungstherapie (Schnurnberger, 1994) andererseits bewegen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind in Tabelle 1 in Anlehnung an Röhricht (2000) exemplarisch einige häufig angewandte Verfahren zusammengestellt. Er unterscheidet in beziehungsorientierte Verfahren, wahrnehmungsorientierte Verfahren, bewegungs-/ handlungsorientierte Verfahren sowie affekt-/energieorientierte Verfahren. Tabelle 1: Systematisierung unterschiedlicher Körperpsychotherapieverfahren in Abhängigkeit vom Ausmaß der psychischen Mobilisierung entwicklungsorientiert funktional-übungszentriert Bewegungs-/handlungsorientiert Tai-Chi Yoga Wahrnehmungsorientiert Feldenkrais Focusing konfliktorientiert-aufdeckend Beziehungsorientiert Funktionelle Entspannung Analytische Körperpsychotherapie Psychodrama Affekt-/energieorientiert Rolfing Shiatsu Bioenergetische Analyse Biodynamische Psychotherapie Core-Energetik Biosynthese Tanztherapie Bewegungstherapie Konzentrative Bewegungstherapie Hakomi Nach psychodynamischem Krankheitsverständnis ist die Entwicklung der psychischen Struktur mit ihren Selbst- und Objektrepräsentanzen, ihren Ich-Funktionen und ihren Abwehrformationen in hohem Maße von den primären, körperlich vermittelten Beziehungserfahrungen des Kindes abhängig. Die Einbeziehung des Körpers in eine psychodynamisch orientierte Psychotherapie kann vor diesem Hintergrund aber nur dann sinnvoll und hilfreich sein, wenn sie das psychische Entwicklungsniveau des Patienten berücksichtigt und in Abhängigkeit vom Niveau Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 Die OPD-KJ-Achse „Struktur“ und Körpertherapie 313 der psychischen Struktur entsprechende Modifizierungen des therapeutischen Angebots insbesondere hinsichtlich der therapeutischen Beziehungsgestaltung und der Methode vorgenommen werden. Da die ICD-10 eine deskriptiv-phänomenologische Kategorisierung vornimmt, die keine Rückschlüsse auf das psychische Strukturniveau, auf dem die jeweilige Symptomatik des Patienten anzusiedeln ist, im Sinne der OPD-KJ zulässt, scheint eine Zuordnung von Indikationen für bestimmte Körpertherapiemethoden zu den Diagnosegruppen der ICD-10 nicht sinnvoll. Die hier dargestellte Konzeptualisierung körperbezogener Phänomene auf der Grundlage der Strukturachse der OPD-KJ, die das jeweilige Strukturniveau des Patienten berücksichtigt, soll eine Voraussetzung schaffen, körpertherapeutische Ansätze, Behandlungsschwerpunkte und therapeutischer Haltungen genauer zu differenzieren hinsichtlich ihrer Indikationsstellung und Wirkungsweise. 2 Bedeutung des Körpers und seiner Entwicklung für die Bildung der psychischen Struktur Anhand der Integration zahlreicher Befunde aus unterschiedlichen Forschungsfeldern der Neurowissenschaften (psychologischer und biologischer) stellt Schore (2009) in seinen Büchern zur Affektregulation und Organisation des Selbst dar, dass eine intrinsisch psychobiologische Natur der körperlich basierten Phänomene den affektiven Prozessen, die den Kern des Selbst zu bilden scheinen, zugrunde liegt. Er beschreibt die rechte Hemisphäre als die Hirnregion der Verarbeitung nonverbaler Affekte auf einer nicht sprachlichen, unbewussten Ebene (Wexler, Warrenburg, Schwartz, Janer, 1992), die bei der reziproken Interaktion im frühen Regulationssystem zwischen Säugling und primärer Betreuungsperson eine wesentliche Rolle spielt (Taylor, 1987). Diese frühen Interaktionen zwischen Kind und primärer Bezugsperson spielen sich zum ganz wesentlichen Teil an der Körperoberfläche – der Haut, mit Gestik und Mimik und begleitet von paralinguistischen Signalen – ab. Das bedeutet, dass die die psychische Struktur prägende Entwicklung und Ausgestaltung des Bindungssystems von Kindern, das auch als Grundlage zum Erlangen von Mentalisierungsfertigkeit (Lieberman, 2007) sehr bedeutsam ist, zum ganz wesentlichen Teil über den Körper vermittelt wird. Zur Erlangung von Mentalisierungsfähigkeit – der Fähigkeit, mentale und emotionale Zustände des Selbst und des Anderen, die das Handeln auf beiden Seiten beeinflussen können, aus unterschiedlichen verbalen und nonverbalen Quellen, aus Gestik und Mimik sowie der eigenen Sensorik zu erschließen – bedarf es immer einer Bindungsfigur, mit der das Kind in Beziehung treten kann. Die Qualität dieser frühen Beziehungserfahrungen hat nach Fonagy (Fonagy u. Luyten, 2011) einen grundlegenden Einfluss darauf, wie rasch und kompetent ein Kind diese Fähigkeiten entwickelt. Je reicher und vielgestaltiger dieser Kontakt zur Bindungsperson ist, umso vielfältiger werden auch die Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 314 S. Bünger, I. Kepper inneren Repräsentationen mentaler Zustände sein, die im Laufe der Entwicklung einem Kind und später dem Jugendlichen zur Verfügung stehen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Kinder, die in ihren frühen Bindungspersonen keine adäquaten, mentalisierungsfördernde Objekte finden, in der Entwicklung ihrer psychischen Struktur erheblich beeinträchtigt sind und unter Umständen psychische Störungen entwickeln. Sie gehen mit deutlich schlechteren Voraussetzungen in die äußerst sensible und störanfällige Entwicklungsphase der Pubertät bzw. Adoleszenz. Diese Phase ist laut Fonagy (Fonagy u. Luyten, 2011) gekennzeichnet durch die entwicklungsphysiologische Inhomogenität von Reifungsprozessen in den verschiedenen Hirnregionen (der orbitofrontale Cortex als steuernde Instanz reift später als das Limbische System, in dem u. a. die Triebimpulse geortet werden) und dem hormongesteuerten Hinzutreten von Psychosexualität in der frühen Adoleszenz, so dass die bereits entwickelten Mentalisierungsfähigkeiten bei Jugendlichen passager entwicklungsphasentypisch wieder abnehmen. Die Jugendlichen können normale Ereignisse und Erfahrungen des Lebens weniger mentalisieren, vielmehr werden sie in Form von körperlichen Zuständen z. B. innerer Anspannung, Erregung oder Unruhe repräsentiert. Fonagy und Luyten weisen in ihrer Arbeit auf zahlreiche Studien aus den Bereichen der Neurobiologie und Verhaltensbeobachtung hin, die die Bindungstheorie und die Theory of Mind, also die Mentalisierungsfertigkeiten bzw. deren Beeinträchtigungen, als plausible Erklärungsmodelle für psychische Störungen, die insbesondere in der vulnerablen Phase der Adoleszenz auftreten, belegen. Bezogen auf das psychische Strukturniveau regredieren die Jugendlichen partiell und vorübergehend auf eine Stufe geringerer Integration. Sowohl bei Kindern als auch bei Jugendlichen mit psychischen Störungen muss sinnvollerweise eine mentalisierungsfördernde Körperspychotherapie auf dem Strukturniveau ansetzen, das bislang erreicht oder auf das regrediert worden ist (Streeck-Fischer, 2006). 2.1 Wahrnehmungsphysiologische Entwicklungsgrundlagen von Körperbild und Körperschema Die Wahrnehmungen über die Körpersinne sind so genannte „nah erfahrbare“ Erlebnisse. Diese Reize erreichen Kinder und Jugendliche unmittelbar, d. h. sie müssen nicht erst über kognitive Wege vermittelt werden. In diesem Sinne bilden die Körperwahrnehmungen die ersten stabilen Grundlagen für die Entwicklung einer situationsgerechten Handlungsfähigkeit (Beckmann-Neuhaus, 1993), die von Bielefeld (1986) als Praxie bezeichnet wird. Als Körperschema fasst Röhricht die perzeptiven, physiologisch präformierten und zentralnervös verankerten, konstitutionell variierten und konstant durch die afferentsensorischen Einflüsse modifizierten Teilaspekte des Körpererlebens zusammen, das die Grundlage für die Lokalisation des Körpers und die Steuerung der Motorik im Raum (Röhricht et al., 2005) bildet. Körperperzeption definiert er als die intero- und exterozeptive Wahrnehmung der physischen Realität, die für die autonomen, d. h. unterhalb des Bewusstseins operierenden Automatismen und Reaktionsweisen verPrax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 Die OPD-KJ-Achse „Struktur“ und Körpertherapie 315 antwortlich ist. Als Körperbild bezeichnet er jene Teilaspekte des Körpererlebens, die sich erfahrungsabhängig individuell in enger Relation zur Sprachentwicklung kognitiv generiert und ausdifferenziert haben. Letzteres umfasst das formale Wissen, die Phantasien, Gedanken, Einstellungen und Bewertungen, wie sie sprachlich repräsentiert und symbolisiert werden, mit den jeweiligen interpretativen und motivationalen Bedeutungszuschreibungen. Diese drei Teilaspekte des Körpererlebens sind für die psychische Entwicklung des Menschen von grundlegender Bedeutung (Aucouturier, 2006; Eliot, 2003; Ayres, 1979). Tabelle 2 gibt einen Überblick über das Zusammenwirken der unterschiedlichen Wahrnehmungsbereiche und der sensorischen Integrationsprozesse, die zur Entwicklung von Körperschema und Körperbild führen. Tabelle 2: Übersicht der Entwicklung der sensorischen Integration nach Kepper (1999) Taktile Wahrnehmung (Tastempfinden) Lokalisation und Diskriminierung von Berührungsreizen Empfindung des Körpers in seiner Ausdehnung mit seinen Grenzen Körperliche Grundlage für enge Gefühlsbindung Kinästhetisch-propriozeptive Wahrnehmung (Bewegungsanpassung) Muskelspannung Vestibuläre Wahrnehmung (Gleichgewichtsempfinden) Gelenkstellung Haltungssicherung durch Gleichgewicht und Balance Körperraumlage Lageveränderung Aufrichtung gegen die Schwerkraft Abhängig von einer ausreichenden und adäquaten Stimulation, Modulation und Informationsverarbeitung Körpererfahrung Körperschema Körperbild Körperkenntnis Körperbewusstsein Körperausdehnung Körperausgrenzung Körperorientierung Körpereinstellung Praxie Treten in diesem Entwicklungsprozess Beeinträchtigungen auf, kann das sowohl bei Kindern als auch bei Jugendlichen zu Störungen im Bereich der sensorischen Integration mit ihren gravierenden Folgen für die Selbstregulation oder die Lern- und Leistungsmöglichkeiten führen. Darüber hinaus erfahren diese Bereiche in der Pubertät und Adoleszenz eine Labilisierung und Umgestaltung durch die körperlichen Veränderungen und die sexuelle Reifung mit oft emotional verunsichernden Zuständen. Dies hat eine Bedrohung der bislang erworbenen Kompetenzen, des Identitätserlebens und des narzisstischen Gleichgewichts zur Folge und kann zu einer Desorientierung auf körperlicher und seelischer Ebene führen (Günter, 2002). Die Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 316 S. Bünger, I. Kepper Integration der (früh-)kindlich erworbenen Körperschemata sowie der neuen Körpererfahrungen zu einer eigenen körperlichen, sexuellen und seelischen Identität ist im weiteren Entwicklungsverlauf wesentliche Aufgabe der Adoleszenz, die in der körpertherapeutischen Arbeit besondere Berücksichtigung finden muss. 2.2 Körpertherapeutische Diagnostik Die Gesamtheit aller physischen und psychischen Erfahrungen mit dem Körper im Verlaufe der individuellen Entwicklung bezeichnet Bielefeld (1986) mit dem Oberbegriff „Körpererfahrung“. Diese ist demzufolge mit der persönlichen Lebensgeschichte eng verknüpft und mit ganz spezifischen Gefühlen und Wertungen verbunden, so dass sie immer wieder neue Modulationen erfahren kann. Aus diesem Grund ist die Basis einer dezidierten körpertherapeutischen Diagnostik die fragebogengestützte (Elternfragebogen zur Verhaltensbeobachtung der sensomotorischen Entwicklung) gezielte Anamnese der körperlichen Entwicklung. Darüber hinaus sollten spezielle Untersuchungsverfahren sowie Fragebögen zum Einsatz kommen. Mit den in Tabelle 3 dargestellten Instrumenten sollten folgende grundlegende Bereiche erfasst werden: Tabelle 3: Körpertherapeutische Diagnostik Körpertherapeutische Diagnostik Gezielte Anamnese der körperlichen Entwicklung (Kepper: Elternfragebogen zur Verhaltensbeobachtung der sensomotorischen Entwicklung) Untersuchungsinstrumente Physische Ebene/Körpersche- Ayres (1979): Southern California Sensory Integration Test ma/Körperperzeption Hamster, Langner, Mayer (1980): Tübinger Luria-Christensen – Neuropsychologische Untersuchungsreihe, TÜKI/TÜLUC Psychische Ebene/Körperbild Deusinger (1998): Frankfurter Körperkonzept Skalen FKKS • Physische Ebene/Körperschema/Körperperzeption. Diese Ebene umfasst zum einen die über Sinnesreize vermittelte Informationsaufnahme, also die sensorische Wahrnehmungsfähigkeit und Modulation der verschiedenen Sinnessysteme, zum anderen die Informationsverarbeitung, also die daraus resultierenden Vorstellungen und Kenntnisse über Körperausdehnung und Körperorientierung (Bielefeld, 1986). Hier bietet Jean Ayres’ Konzept der sensorischen Integration ein umfassendes Diagnostik-Instrumentarium, mit dem die sensomotorischen Funktionen der visuellen Perzeption, der somatosensorischen Rezeption und der motorischen Leistungen erfasst werden (Ayres, Southern California Sensory Integration Test, 1979). Mit der Tübinger-Luria-Christensen neuropsychologischen Untersuchungsreihe TÜLUC können die sensorisch-perzeptive, die motorisch-psychomotorische, die psycholinguistische Dimension sowie die der Konzeptbildung untersucht werden, die Auskunft über die Körperschemata des Patienten geben. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 Die OPD-KJ-Achse „Struktur“ und Körpertherapie 317 • Psychische Ebene/Körperbild. Die psychische Ebene umfasst das affektive Erleben des eigenen Körpers: Gefühle, Einstellung und Überzeugungen zum eigenen Körper, die in ihrer Summe das Körperbewusstsein bilden (Bielefeld, 1986). Diese Ebene kann z. B. mit den Frankfurter Körperkonzept Skalen FKKS (Deusinger, 1998), einem Selbsterhebungsinstrument, in neun Dimensionen (Gesundheit und körperliches Befinden – Pflege, äußere Erscheinung, Beachtung und Funktionsfähigkeit – Körperliche Effizienz – Körperkontakt – Sexualität – Selbstakzeptanz des Körpers – Akzeptanz des Körpers durch Andere – Aspekte der körperlichen Erscheinung – Dissimilatorische Körperprozesse) erfasst werden. Das Zusammenwirken dieser beiden Ebenen ergibt den sensomotorischen Prozess. Er beinhaltet eine Erweiterung der sensomotorischen Funktion durch Verknüpfung von körperlich wahrgenommenem Reiz mit der subjektiv dazu empfundenen Emotion, sodass sich ein individuelles Körperkonzept entwickelt. Ist in diesem Prozess eine der beteiligten Komponenten beeinträchtigt, etwa auf der neurophysiologischen Ebene oder der emotionalen Ebene z. B. durch traumatische Erfahrungen, hat das u. U. gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung des Körperbildes bzw. Körperschema des Betroffenen, wie es beispielsweise von Patienten mit Essstörungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen bekannt ist. 3 Entwicklungs- und strukturbezogene Körperpsychotherapie Ausgehend von Rudolfs Entwurf der fokusbezogenen psychodynamischen Psychotherapie (Rudolf u. Grande, 2006), in der sich der Behandlungsfokus, das Setting und die therapeutische Haltung am Störungstyp (Konflikttyp, Strukturtyp oder gemischter Typ) des Patienten orientiert, sind in Tabelle 4 (folgende Seite) in einem Überblick die unterschiedlichen psychischen Strukturniveaus und die daraus resultierenden Schwerpunkte in der Körperpsychotherapie zusammengefasst. 3.1 Desintegriertes Strukturniveau Patienten auf desintegriertem Strukturniveau sind stark auffällig. Sie zeigen auf sensorischer Ebene eine erhebliche Beeinträchtigung der Fähigkeit, von außen auf sie einwirkende Reize abzuschirmen oder zu filtern, so als hätten sie keine „schützende Haut“. Die Perzeption innerer und äußerer Zustände kann kaum oder gar nicht unterschieden werden, innen ist gleich außen und umgekehrt. Sie sind körperbezogen von existenziellen oder paranoiden Ängsten, Ohnmachtsgefühlen und Ängsten vor Auflösung oder Zerfall bedroht und versuchen, das extrem vulnerable körperliche Selbst, d. h. ihre Körpergrenzen durch Erstarrung in Gestik und Mimik sowie stereotype Bewegungsabläufe zu schützen, um so Sicherheit herzustellen. Auf psychischer Ebene reagieren sie oft mit paranoiden Inhalten. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 OPD: desintegriert bis geringe OPD: gering bis mäßig integriert Struktur Niedriges Strukturniveau Borderline-Niveau Symptome und Erstarrung oder monotone/ste- Selbstbeschädigung mit Verletreotype Bewegungsabläufe zur zung der körperlichen Grenzen EntwicklungsSicherung des Selbst (Selbstver- (Haut, Belastungsgrenzen). störungen auf der körperlichen gewisserung), der eigenen Kör- Störung der räumlichen und pergrenzen und der Abwehr zeitlichen Orientierung. Ebene und der des Körpererle- von Überschwemmung durch Abwehrhaltung als Schutz existenzielle oder paranoide vor Überwältigung und drobens Ängste. Erleben von Ohnmacht hendem Identitätsverlust. und Ausgeliefertsein Ungenügende Nähe-DistanzRegulation Körpertherapeu- Symptome als selbstreparative Arbeit an Grenzziehung und Selbstregulation. Wahrnehtische SchwerMaßnahme verstehen. Ichmung und Sicherung der punkte/Ziele Stützung i. S. von Arbeit an Begrenzungen des eigenen realitätsgerechter Wahrnehmung. Sicherung von Grenzen Körpers und des Raumes. Beziehung zwischen Körper und zwischen innen und außen, übend, handlungsorientiert, auf Raum. Sicherung von (eigenen) Selbstbestimmung achten Räumen. Suche nach ausreichend Schutz vor und Distanz zum Gegenüber Strukturniveau OPD: gut integriert Reifes, neurotisches Strukturniveau Funktionelle Störungen. Furcht Konversionssymptome. Funktionelle Störungen. Körper vor Entwertung und Mangelhaftigkeit des eigenen Körpers, ist Austragungsort eines innerpsychischen Konfliktes. mit der Konsequenz des LieAbwehr unangenehmer Imbesverlustes und der Einsamkeit. Erleben von Abhängigkeit pulse (aggressiv, libidinös) zur Vermeidung von Schuld- und vom Körper mit Verleugnung körperlicher Bedingtheiten und Schamaffekten Versuch der Kontrolle über den Körper Arbeit an Affektwahrnehmung Konfliktzentriertes Arbeiten und -differenzierung auf körperlicher Ebene. Verknüpfung von Affekt und individueller Körpererfahrung. Abgrenzung und Unterscheidung vom Gegenüber (Selbst-Objekt-Differenzierung). Arbeit am Körperbild und Ermöglichung von Neubewertungen durch Ausbau von körperlichen Ressourcen und Interessen. Entwicklung eigener Pläne und Erleben von Selbstwirksamkeit Mittleres Strukturniveau OPD: mäßig integriert Tabelle 4: Systematik der Entwicklungs- und Strukturbezogenen Körpertherapie (nach (Fegert, Streeck-Fischer, Freyberger, 2009) 318 S. Bünger, I. Kepper Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 Haltung und Aufgaben des Körpertherapeuten Therapeut ist kompetenter Begleiter, gibt Anleitung, achtet auf Sicherung des Rahmens, ausreichend Grenzziehung und Distanz. Keine Interpretationen oder Deutungen, Arbeit im Hier und Jetzt Therapeut stellt sich auf der Basis sicherer Grenzziehungen zwischen sich und dem Patienten (Selbst und Objekt) als Interaktionspartner zur Verfügung und ermöglicht dem Patienten, den eigenen Körper in seinen Dimensionen, Potentialen und Begrenzungen zu erfahren und zu achten sowie körperliche Zustände zu verstehen und zu regulieren. Therapeut stellt Hilf-Ich-Funktion zur Verfügung, indem er durch Verbalisierung Verknüpfungen von Affekten und individueller Körpererfahrung herstellt und sie so dem Patienten zugänglich macht. Vor dem Hintergrund sicherer Selbst-Objekt-Grenzen ist der Therapeut ein Gegenüber, mit dem in der Interaktion Beziehungserfahrungen von Passivität, Aktivität, Sich-nehmenkönnen, Berühren, Gehaltenwerden und Loslassen-können möglich sind Die OPD-KJ-Achse „Struktur“ und Körpertherapie 319 Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 320 S. Bünger, I. Kepper Bei diesen Patienten dienen die Symptome also als selbstreparative Maßnahme, die nicht therapeutisch bekämpft werden dürfen. Sie müssen in ihrer Stütz- und Sicherungsfunktion zunächst einmal anerkannt werden. Der (Therapie-)Rahmen/Raum muss überschaubar gestaltet sein und ausreichend Platz für die nötige Distanz bieten. Dabei ist die Arbeit an einer realitätsbezogenen Wahrnehmung mit festen, klar umgrenzten Materialien von großer Bedeutung. Es geht darum, auf einer motorischen Ebene Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln und zu stärken. Der Therapeut nimmt dabei die Rolle des achtsamen Gestalters ein. Er gibt Anleitung und trägt Sorge für die Verlässlichkeit des Rahmens. Jegliche interpretierenden oder konfliktdeutenden Interventionen sollten unterbleiben, da sie vom Patienten als Grenzverletzung erlebt werden und so Angst auslösen können. Für den Therapeuten sind in der Interaktion mit dem Patienten mitunter beängstigende Gegenübertragungsgefühle spürbar, die er als Signal für den inneren Zustand des Patienten verstehen muss, um dann nach Wegen der Sicherung zu suchen – Sicherung des Selbst und des Objekts. 3.1.1 Fallbeispiel Eine 16-jährige Jugendliche kam wegen einer seit langem bestehenden Zwangsstörung auf psychosenahem Niveau in stationäre Behandlung, nachdem eine ambulante psychodynamisch orientierte Psychotherapie mit überwiegend Ich-stützenden Interventionen keine Besserung erbracht hatte. Im Erstkontakt wirkte die Jugendliche sehr angestrengt und erschöpft. Durch weitschweifige und detailgenaue Schilderung ihrer Zwangssymptomatik suchte sie scheinbar Kontrolle über die Situation und sich selbst zu erlangen. Bei der körpertherapeutischen Diagnostik stellte sich heraus, dass neben einer sensorischen Integrationsstörung eine erhebliche Verunsicherung in der Zuordnung und Benennung einzelner Körperteile vorlag. Die Lage/Haltung des eigenen Körpers im Raum sowie seine Orientierung und Ausrichtung an den äußeren Bedingungen bereiteten der Jugendlichen ebenfalls Schwierigkeiten, die sich auch auf die Planung und Durchführung kleiner Handlungsabläufe (z. B. Apfel schälen) auswirkten. In der Körpertherapie wurde schnell deutlich, dass z. B. taktile Wahrnehmungsübungen zur Förderung der sensorischen Integration zu einer Verschärfung der Verunsicherung im körperlichen Erleben bis hin zu paranoiden Befürchtungen (körperlichem Verfall, Fragmentierung) führten. Erst durch das stetige, fast monotone Wiederholen einer für die Jugendliche überschaubaren Bewegungsform (hin- und herrollen eines Pezziballs zwischen der Jugendlichen und der Therapeutin) fand sie ausreichend Schutz vor der drohenden psychotischen Dekompensation. So gewann die Jugendliche zunehmend an Sicherheit, um sich in kleinen Schritten an die Erprobung neuer Entwicklungsspielräume zu wagen und eine Bewegungslust zu entwickeln. Dabei erlebte sie zunächst auf rein körperlicher Ebene einen Zuwachs an Bewegungskompetenzen und Selbstregulationsmöglichkeiten (z. B. Dosierung von Kraft und Energie), was sie ermutigte, ihre Fähigkeiten weiter auszubauen und Frustrationen auszuhalten. Die Therapeutin stand Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 Die OPD-KJ-Achse „Struktur“ und Körpertherapie 321 der Jugendlichen dabei als ein sicherndes, Orientierung bietendes, mit ihr übendes aber nicht interpretierendes oder wertendes Objekt zur Verfügung. 3.2 Gering bis mäßig integriertes Strukturniveau Auf der nächsthöheren Stufe, dem gering bis mäßig integrierten Strukturniveau, auf dem sich im Allgemeinen die Borderline-Persönlichkeitsstörungen befinden, sieht die Symptomatik anders aus. Hier machen die Patienten den eigenen Körper zum verfolgten und misshandelten Objekt und sind gleichzeitig selber in der Rolle des Verfolgers und Misshandlers – sie sind quasi Subjekt und Objekt in einem. Bei ihnen erleben wir Verletzungen der eigenen körperlichen Grenzen durch Selbstverletzungen (Schneiden, Brennen etc.) oder Überschreiten der eigenen körperlichen Belastungsgrenzen. In der sensomotorischen Untersuchung finden wir häufig einen Mangel an zeitlicher und räumlicher Orientierung, was sich z. B. auch in einer Beeinträchtigung der Nähe-Distanz-Regulation innerhalb eines Raumes in der Körpertherapie äußert. Diese Patienten erleben sich durch die Annäherung des Objektes/des Anderen von einem Verlust der eigenen Identität bedroht. Deshalb müssen sie ihr Gegenüber auf Abstand halten und sich durch Selbstbeschädigungen immer wieder ihrer/s Selbst vergewissern. Im Fokus des körpertherapeutischen Handelns steht bei diesen Patienten die Beziehung zwischen Körper und Raum, um darüber die eigene – körperliche – Identität, deren Ausmaß und Grenzen zu erfahren. Erst wenn das gelungen ist, kann das Objekt, also der Andere hinzukommen und vom Patienten selbst einen inneren Raum zugewiesen bekommen. Der Therapeut muss zunächst mit dem Patienten an der Sicherung von Grenzziehung und ausreichender Distanz, die der Patient immer wieder neu bestimmen kann, arbeiten. Er stellt sich als Partner zur Verfügung, der dem Patienten die Erfahrung des eigenen Körpers, seiner Dimensionen und seiner Begrenzungen durch Anregung und zurückhaltende Interaktion möglich macht. In einem weiteren Schritt geht es um das Verstehen und Regulieren körperlicher Zustände sowie um die Erfahrung des eigenen körperlichen Potenzials. 3.2.1 Fallbeispiel In der Erstbegegnung mit einer Jugendlichen mit dissoziativer Symptomatik, Selbstverletzungen und latenter Suizidalität verhielt sich die Jugendliche verschlossen und wenig zugänglich. Als Raum, in dem sie sich aufhalten wollte, entschied sie sich für die Hängematte, die wie ein Beutel von der Decke hing. Sie verschloss diesen mit Seilen und Klammern, so dass die Therapeutin keinen Einblick in ihren „Raum“ haben konnte. Über Körperwahrnehmungsübungen, die sich mit Fragen beschäftigten wie „wo spürst du den Druck der Hängematte am Körper“; „was verändert sich an deiner Befindlichkeit, wenn du die Hängematte um sich herum spürst“ und „wo sind diese Veränderungen Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 322 S. Bünger, I. Kepper im Körper wahrnehmbar“ bekam die Patientin zunehmend ein sichereres Gefühl für die eigenen Körperbegrenzungen. Schließlich sollte sie zum Vergleich die Hängematte kurzfristig verlassen, um wahrzunehmen, was sich verändert. Diese Behandlungssequenz wurde durch eine geleitete Imagination beendet, indem die Patientin das positive Gefühl von (Haut-)Grenzen in einer imaginären Schatzkiste sicher verwahrte. 3.3 Mäßig integriertes Strukturniveau Patienten auf einem psychisch mäßig integrierten Strukturniveau leiden vielfach unter funktionellen oder Somatisierungsstörungen. Sie fühlen sich durch diese eingeschränkt und in für sie unerträglicher Weise an ihren Körper gebunden und von ihm abhängig. Ihr Versuch, Kontrolle über ihn zu erlangen, kann zu zwanghaften Störungen oder zur Verleugnung der körperlichen Bedingtheiten führen. Sie erleben sich als mangelhaft ausgestattet, entwerten sich selber und projizieren diese Entwertung auf andere Menschen, deren Entwertung und Liebesverlust sie dann fürchten. Darüber geraten sie leicht in interpersonelle Konflikte. Bei diesen Patienten steht die Arbeit an der Affektwahrnehmung und -differenzierung – sowohl in Bezug auf das Selbst als auch auf den Anderen – als Basis für eine Begegnung mit dem Anderen ganz im Vordergrund. Sie müssen durch Erfahren lernen, dass sich auf der körperlichen Ebene ihre Selbstwahrnehmung von der durch Andere unterscheiden kann. Dazu ist es notwendig, den erlebten Affekt mit der individuellen Körpererfahrung in Verbindung zu bringen, um ein Verständnis für das körperliche Selbst zu erlangen. Auf dieser Grundlage ist es dann möglich, durch den Ausbau körperlicher Ressourcen und Interessen zu Neubewertungen des eigenen Körperbildes zu gelangen, was zu einem Erleben von mehr Selbstwirksamkeit führen kann. Dieser Prozess wird vom Therapeuten begleitet, indem er sich als Hilfs-Ich zur Verfügung stellt, d. h. seine eigene Wahrnehmung vom Patienten – körperlicher Zustand, Verhalten und wahrnehmbare Gefühle – und der Situation in Worte fasst und dieses als Kommentar dem Patienten anbietet, z. B. „könnte es sein, dass …“ oder „mir scheint, dass …“ usw. Dabei spielt die Verwendung des Konjunktivs eine wichtige Rolle, weil er dem Patienten Raum für die eigene Bewertung lässt und zum Nachdenken und -spüren anregt. So kann der Patient erkennen, dass der Therapeut ein Anderer ist, seine mitgeteilte Wahrnehmung vielleicht nicht hundertprozentig seinen eigenen Empfindungen entspricht und es Unterschiede oder auch ganz andere Betrachtungsweisen geben kann. Darüber in einen Dialog zu kommen – auch auf der Handlungsebene, quasi im Aus-handeln – ermöglicht dem Patienten, sich selbst und den Anderen als voneinander getrennt und mit jeweils eigenen Belangen, Affekten und Motiven wahrzunehmen. 3.3.1 Fallbeispiel Ein Junge, der sich auf Grund sensomotorischer Beeinträchtigungen als körperlich ungeschickt und mangelhaft ausgestattet erlebte, hatte eine sehr geringe FrustratiPrax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 Die OPD-KJ-Achse „Struktur“ und Körpertherapie 323 onstoleranz. Er geriet immer wieder in Konflikte mit Gleichaltrigen und Erwachsenen. Auf befürchtete Entwertungen reagierte er mit unruhigem, impulsungesteuertem und teilweise fremdaggressiven Verhalten. In der Körpertherapie konnte er es zunächst nicht ertragen, dass die Therapeutin gemeinsam mit ihm etwas baute. Zu groß waren seine Ängste vor seiner eigenen Unzulänglichkeit, dem eigenen Versagen und der befürchteten Kritik, sodass er die Therapeutin quasi in die letzte Ecke des Raumes verbannte. Durch zunächst geduldiges Beobachten und vorsichtiges Kommentieren der Therapeutin zeigte sie sich ihm als wohlwollendes und wertschätzendes Objekt. Allmählich konnte er es zulassen, sie in seinen (Bau-)Plan einzubeziehen und ihr eine eigene Rolle darin zu überlassen. Die Erfahrung, das Eigene zu verfolgen, ohne dabei den Anderen zu übersehen/ignorieren vermittelte ihm schließlich ein Gefühl von Selbstzufriedenheit, das zu mehr Ruhe im Verhalten führte. 3.4 Gut integriertes Strukturniveau Bei Patienten auf einem gut integrierten Strukturniveau finden wir teilweise ähnliche Störungen wie bei denen auf mittlerem: Neben den funktionellen Störungen gibt es aber auch neurotische bzw. symptomneurotische Störungen wie z. B. Konversionsstörungen als Ausdruck innerpsychischer Konflikte, bei denen unangenehme Impulse abgewehrt werden müssen, um Scham- oder Schuldgefühle zu vermeiden. Der Therapeut kann sich also als ein Objekt präsentieren, mit dem der Patient eine Beziehung entwickeln kann, in der sich die inneren Konflikte des Patienten als zentrale Beziehungskonflikte in der Interaktion darstellen können. Auf der Ebene der KörperPsychotherapie entfalten sich die frühen Beziehungserfahrungen der Patienten häufig in erster Linie an dem Thema Passivität versus Aktivität/Expansivität. Es geht also um das passiv erdulden, hinnehmen oder sich versorgen lassen versus aktiv gestalten, sich etwas nehmen, sich behaupten oder etwas geben können. Aber auch die anderen zentralen intrapsychischen Konflikte, die in der OPD-KJ auf der Achse „Konflikt“ operationalisiert sind (Versorgung/Autarkie, Unterwerfung/Kontrolle und ödipale Konflikte) können sich im interpersonellen Raum in der Körper-Psychotherapie in nicht-verbaler „Choreografie“ reinszenieren, so dass sie einer Bearbeitung in der therapeutischen Beziehung zugänglich sind. 3.4.1 Fallbeispiel Ein für sein Alter zu kleiner, im Alltag überangepasster Junge war in psychotherapeutischer Behandlung, weil er sich weigerte zu essen. Er galt als hochbegabt und sagte über sich selbst: „mein Körper hat ja nie so gut funktioniert und alle fanden es toll, wie schlau ich bin“. Mit seinem jüngeren, körperlich überlegenen Bruder stand er unterschwellig spürbar in stetiger Konkurrenz. In der körpertherapeutischen Diagnostik fanden sich sensomotorische Defizite mit erhöhter taktiler Sensitivität. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 324 S. Bünger, I. Kepper In der Therapie weigerte er sich zunächst, überhaupt in Bewegung zu kommen. Er blieb auf dem Stuhl sitzen und forderte von der Therapeutin genaue Erklärungen, was er nun fühlen solle. In Bewegung zu kommen hätte bedeutet, die Kontrolle über sich bzw. seine Gefühle aufzugeben. So inszenierte er seinen inneren Konflikt: Anpassung und Unterordnung unter die Forderungen der Erwachsenen einerseits versus dem Andrängen aggressiver, expansiver Impulse andererseits. Diese ängstigten ihn offenbar so sehr, dass er befürchtete, die Liebe und Zuwendung des Objektes (der Mutter) zu verlieren, wenn er diesen Impulsen (Bewegungsspiel-)Raum geben würde. Die ersten Schritte in der Therapie erfolgten, indem die Therapeutin einen Kompromiss mit ihm einging. Er malte ein Körperbild und ließ sich darauf ein, verschiedensten Gefühlen im Zusammenhang mit seinem Körpererleben nachzuspüren, ihnen im Körper einen Platz zu zuordnen und sie dann in das Körperbild einzuzeichnen. Dabei war es ihm wichtig zu betonen, dass bei dieser Aufgabe der Kopf ja auch eine wichtige Rolle spielt. Als die Therapeutin aktiv ansprach, dass „Wut“ ein zentrales Thema für ihn sein könnte, konnte er das zunächst auf der kognitiven Ebene annehmen und verstehen, ohne allerdings affektiv mit dem Gefühl in Kontakt zu kommen. Er begann darüber zu sprechen, wie er versuchte, seine Wut ständig zu kontrollieren, weil er dieses Gefühl nicht leiden konnte. In den folgenden Stunden begann er, nicht nur seinen Mund beim Sprechen sondern auch sich selbst im Raum zu bewegen. Im gemeinsamen Ballspiel mit der Therapeutin beschäftigte er sich mit seinem insuffizienten Körpererleben und seinen damit zusammenhängenden Minderwertigkeitsgefühlen. Schließlich entdeckte er für sich das Klettern, bei dem er sich als effizient erleben konnte, was er sehr genoss und weiter ausbaute. 4 Zusammenfassung Für eine Entwicklung und Mentalisierung fördernde Körpertherapie ist grundsätzlich die Beachtung des psychischen Strukturniveaus von entscheidender Bedeutung. Patienten mit schweren Störungen der Persönlichkeitsstruktur (z. B. Psychosen, Borderline-Störungen, komplexe Entwicklungsstörungen, posttraumatische Störungen) bedürfen eines stützenden, stabilisierenden Therapieangebots, das an den basalen Ich-Fähigkeiten der Grenzziehung zwischen Subjekt und Objekt, der äußeren und der inneren Realität und dem Hier und Jetzt gegenüber dem Dort und Damals, an der Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie den Selbstregulationsfähigkeiten ansetzt. Bei ihnen stehen funktional-übungszentrierte und bewegungs- und handlungszentrierte Methoden im Vordergrund, da sie weniger Ich-belastend und mobilisierend sind, während bei neurotisch strukturierten Patienten eher ein konfliktorientiert-aufdeckendes Vorgehen angezeigt ist. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 5 Die OPD-KJ-Achse „Struktur“ und Körpertherapie 325 Ausblick Obwohl die Körpertherapie in der stationären Versorgung psychisch kranker Patienten in der Regel einen integralen Bestandteil des Gesamtbehandlungskonzeptes darstellt, gibt es wenig durch Studien abgesichertes Wissen über Indikationsstellung, Handhabung und Wirkungsweise. In einem Konsensuspapier von Röhricht und Kollegen stellen die Autoren fest, dass in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Dimension des Körpererlebens die Beschreibungsebene gestörten Körpererlebens zunehmend Beachtung für die Entwicklung störungsspezifischer, phänomenorientierter Psychotherapie und zur Identifizierung spezifischer damit korrespondierender Outcome-Kriterien findet (Röhricht et al., 2005). Angesichts des weiten Spektrums und der Heterogenität angewandter körperpsychotherapeutischer Methoden scheint es sinnvoll, eine Systematik zu entwerfen, aus der sich Indikationen, Behandlungsschwerpunkte und therapeutische Haltungen für die Körperpsychotherapie ableiten lassen. Da die ICD-10 eine deskriptiv-phänomenologische Klassifizierung vornimmt, die jedoch keine Rückschlüsse auf das psychische Strukturniveau zulässt, auf dem die jeweilige Symptomatik des Patienten anzusiedeln ist, ist eine Zuordnung von Indikationen zu den Diagnosegruppen der ICD-10 nicht sinnvoll (Streeck-Fischer, im Druck). Daher wurde mit der vorliegenden Arbeit eine Strukturierung körperpsychotherapeutischer Phänomene, Behandlungsschwerpunkte und therapeutische Haltungen auf der Grundlage der OPD-KJ vorgenommen, die das jeweilige Strukturniveau des Patienten berücksichtigt. Sie soll ermöglichen – auch im ambulanten Setting angewandt – Körpertherapien genauer zu differenzieren hinsichtlich ihres Ansatzes, Indikationsstellung und Wirkungsweise, so dass die Durchführung z. B. kontrollierter Wirksamkeitsstudien erleichtert würde, wie sie Schreiber-Willnow und Seidler (2005) fordern. Literatur Aucouturier, B. (2006). Der Ansatz Aucouturier-Handlungsfantasmen und psychomaotorische Praxis. Bonn: proiecta. Ayres, J. A. (1979). Sensory Integration and the Child. Los Angeles: Western Psychological Services. Ayres, J. (1992). Bausteine der kindlichen Entwicklung. Heidelberg: Springer. Beckmann-Neuhaus, D. (1993). Mototherapie als Wahrnehmungsförderung in der Einzeltherapie von psychisch Kranken. In G. Hölter (Hrsg.), Mototherapie mit Erwachsenen. Schondorf: Hofmann. Bielefeld, J. (1986). Körpererfahrung. Grundlagen menschlichen Bewegungsverhaltens. Göttingen: Hogrefe. Deusinger, I. (1998). FKKS Frankfurter Körperkonzeptskalen. Göttingen: Hogrefe. Eliot, L. (2003). Was geht da drinnen vor? (4. Aufl.). Berlin: Berlin Verlag. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013 326 S. Bünger, I. Kepper Fegert, J. M., Streeck-Fischer, A., Freyberger, H. J. (2009). Adoleszenzpsychiatrie. Stuttgart: Schattauer. Fonagy, P., Luyten, P. (2011). Die Entwicklungspsychologischen Wurzeln der Borderline-Persönlichkeitsstörung in Kindheit und Adoleszenz: Ein Forschungsbericht unter dem Blickwinkel der Mentalisierungstheorie. Psyche – Z Psychoanal, 65, 900-952. Günter, M. (2002). Reifung, Ablösung und soziale Integration. Einige entwicklungspsychologische Aspekte des Kindersports. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 6, 298-312. Hamster, W. v., Langner, W., Mayer, K. (1980). Tübinger Luria-Christensen – Neuropsychologische Untersuchungsreihe. Göttingen: Hogrefe. Lieberman, M. D. (2007). Social cognitive neuroscience: A review of core processes. 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Korrespondenzanschrift: Dr. Sigrun Bünger, Bunsenstrasse 9, 37073 Göttingen; E-Mail: [email protected] oder Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn, 37124 Rosdorf; E-Mail: [email protected] Sigrun Bünger und Iris Kepper, Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn und in eigener Praxis in Göttingen Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 62: 311 – 326 (2013), ISSN 0032-7034 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2013