Die Eurokrise aus multidisziplinärer Sicht Fritz W. Scharpf Institut für Europäische Integrationsforschung Universität Wien, 3. Dezember 2012 Eurokrise als Folge der Währungsunion • Währungsunion eliminiert nationale Makropolitik – Kompetenzen – Wechselkursrisiken – Zahlungsbilanz‐Zwänge • Aber: Euro‐Ökonomien bleiben heterogen • EZB‐Politik bezieht sich auf Euro‐Durchschnitt – One size fits none • Erzeugt „makroökonomische Ungleichgewichte“ – – – – Divergierende Nachfrage Divergierende Lohnstückkosten Divergierende Leistungsbilanzen Kompensierende Kapitalbilanzen Historisch: Modell Bundesbank • Wende zum Monetarismus 1973/74 – – – – Priorität der stabilitätsorientierten Geldpolitik Aber: bezogen auf das reale Wachstumspotenzial Anpassung Fiskalpolitik & Lohnpolitik Im Prinzip erfolgreich • EWS 1979‐1999 – Dominanz Bundesbank – Stabilitätspolitik für deutsche Wirtschaft Abwertung für Weichwährungsländer Forderung: Bundesbankmodell für die Eurozone Ökonomisch: ignorierte Makroökonomie • Unterschätzt: non‐optimal currency area • Dominant: Monetarismus & effiziente Märkte – Geldwertstabilität als hinreichende Bedingung – Einziges Problem: Inflationäre Staatsdefizite – Marktintegration wird Angleichung erzwingen • Aber: Märkte reagieren auf monetäre Impulse – Angleichung Nominalzinsen ungleiche Realzinsen – Zu hoch Rezession (D 2001‐2005) – Zu niedrig kreditfinanzierte Über‐Nachfrage (GIPSI) Konvergierende Nominalzinsen Long-Term Interest Rate 1999-2008 (nominal) 8 7 6 5 4 3 2 1 0 Germany Greece Ireland Italy Portugal Spain Divergierende Realzinsen Real Long-Term Interest Rates (10-Year-Government Bonds - Inflation) 10 8 6 4 2 0 ‐2 ‐4 Germany Greece Ireland Italy Portugal Spain Divergierende Wachstumsraten Real GDP Growth 1999-2008 10 8 6 4 2 0 ‐2 ‐4 Germany Greece Ireland Italy Portugal Spain Divergierende Lohnstückkosten Nominal Unit Labour Cost (Index 1999=100) 145 135 125 115 105 95 Germany Greece Ireland Italy Portugal Spain Divergierende Leistungsbilanzen Current Account (% of GDP) 10 5 0 ‐5 ‐10 ‐15 Germany Greece Ireland Italy Portugal Spain Divergierende Wettbewerbsfähigkeit Real Effective Exchange Rates (relative to EA-16 / deflator: ULC / Index 1999=100) 130 125 120 115 110 105 100 95 90 85 80 Germany Greece Ireland Italy Portugal Spain Aber: Staatsverschuldung sinkt oder bleibt stabil General Government Debt (% of GDP) 1999-2008 120 100 80 60 40 20 0 Germany Greece Ireland Italy Portugal Spain EWU 1999‐2008: Divergenz ignoriert • Märkte ignorierten Ungleichgewichte – Wegfall des Wechselkursrisikos – Wegfall der Zahlungsbilanz‐Restriktion – GIPSI‐Defizite durch private Kredite finanziert • EZB ignorierte Ungleichgewichte – Niedrige Inflation im Durchschnitt – Asset‐price inflation nicht ihr Problem • Kommission ignorierte Ungleichgewichte – Fixiert auf Regeln des Stabilitätspakts 2008: Internationale Finanzkrise • Weltweite Kreditverknappung • Bankenrettung • Steigende Staatsverschuldung • Staatskreditkrise in GIPSI‐Staaten • Drohende Staatsinsolvenz Eurokrise Eurorettung um jeden Preis – Rettungsfonds + EZB – Sparauflagen • Wirtschafts‐ und Sozialkrise • Verlorene Wettbewerbsfähigkeit Steigende Staatsverschuldung General government gross debt as a percentage of GDP 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 1999 2000 2001 Germany 2002 2003 Greece * 2004 2005 Ireland 2006 Italy 2007 2008 Portugal 2009 2010 Spain 2011 2012 60% Debt 2013 Steigende Risikozinsen der GIPSI‐Länder Interest Rates of 10-Year Government Bonds (nominal) 20 15 10 5 0 Germany Greece Ireland Italy Portugal Spain Reaktion auf die Eurokrise: Kurzfristig • „Staatsinsolvenz Eurokrise EU‐Krise“ – Euro‐Rettung um jeden Preis – Rettungskredite statt Abwertung • Vermutete Ursache: GIPSI Staatsverschuldung Kredite mit Spar‐Auflagen & Troika‐Kontrollen • Zusätzlich: Arbeitsmarkt‐ & Sozialreformen – Ziel: Interne Abwertung durch Lohnsenkung • Bisheriger Effekt: Wirtschafts‐ & Sozialkrise Wirtschafts‐ und Sozialkrise der GIPSI‐Länder Unemployment Rates 25 20 15 10 5 0 Germany Greece Ireland Italy Portugal Spain Alternativen zum Euro‐Rettungsprogramm • Zurück zum Europäischen Währungssystem? – Politisch ausgeschlossen • Direkte monetäre Staatsfinanzierung? – Tabuisiert • Keynesiansche Wachstumsstrategie? – Wirkt nur nach interner Abwertung – Andernfalls steigt nur die Importnachfrage • Transfers zur Stabilisierung der Sozialsysteme? – Notwendig, aber Mezzogiorno? Ostdeutschland? Institutionelle Reformen des Eurosystems • Verzicht auf EWU‐Makropolitik – Geld‐ & Währungspolitik bleibt einheitlich – Mitgliedstaaten noch heterogener als 1999 – Fiskalpakt verbietet antizyklische Fiskalpolitik EU‐Kontrolle der nationalen Mikropolitik – „Sixpack“ gegen makroökonomische Ungleichgewichte – Scoreboard Empfehlungen Sanktionen – Kompetenzbereiche unbegrenzt – Ermessen der Kommission & reverse QMV im Rat Ökonomisch: Ist der Verzicht auf makroökonomische Steuerung plausibel? • Kann Detailsteuerung die Globalsteuerung ersetzen? • Kontrafaktisch 1999‐2008: – Wie hätten D und GIPSIl‐Länder die falschen monetären Impulse zu kompensieren können? – Beispiel Österreich? • Kognitiv: zentrale Detailsteuerung für 17 Ökonomien? – Hayek: „pretense of knowledge“ • Oder bleibt nur das Pauschalrezept „Mehr Markt“ ? • Aber: „der Markt“ kann monetäre Fehlanreize nicht korrigieren, sondern verstärkt sie. Rechtlich: Lehren aus der Eurokrise? • Nationale Wirtschaftspolitik war pragmatisch /diskretionär • EWU hat (einige) Maximen konstitutionalisiert – – – – Priorität der Geldwertstabilität Defizit‐ und Verschuldungsgrenzen No Bailout Keine monetäre Staatsfinanzierung • Basis: Maximen einer speziellen ökonomischen Theorie – Auf nationaler Ebene theoretisch kontrovers – Für Währungsunion ohne Erfahrung • In der Krise ignoriert; aber nach der Krise verschärft • Frage: Welche Regeln darf man konstitutionalisieren? Politisch: Legitimation des Euro‐Regimes? • • • • EU Normalpolitik: konsensual und indirekt legitimiert Eurorettung: kontrovers, braucht direkte Legitimation Output‐orientierte Legitimität zweifelhaft Nationale input‐orientierte Legitimation? – Euro‐Rettung: Zwang oder zentrale Vorgaben – Sixpack: Zwang oder zentrale Vorgaben • Europäische input‐orientierte Legitimation? – Nicht: intergouvernemental: – Politische Union und parlamentarische Demokratie?? • Stattdessen: autoritär‐technokratisches Regime – In der Hoffnung auf output‐orientierte Legitimation – Was folgt für Europa, wenn diese Hoffnung scheitert?