Die systemische Theorie der Medizin

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Kapitel 2
Die systemische Theorie der Medizin
Nach der hypothetischen Klärung der Vernetzung des Kraniomandibulären Systems im Fasziensystem in Kapitel 1 stellen sich dem Praktiker durch das gemeinsame Auftreten von Kieferanomalien und Körperfehlhaltungen die Fragen nach der
Ätiologie und Pathogenese dieser Phänomene:
Fragestellungen
• Wie entstehen Form- und Funktionsstörungen allgemein?
• Wie entstehen myofasziale Schmerzen?
Zur Beantwortung dieser Fragen beschreiben wir in diesem Kapitel die systemische
Theorie der Medizin. Sie ist ein hypothetisches Denkmodell zur allgemeinen Klärung der Ätiologie und Pathogenese chronischer Erkrankungen.
Erst dann wenden wir uns in Kapitel 3 und 4 der speziellen Ätiologie und Pathogenese von Kieferanomalien und Körperfehlhaltungen bzw. von Muskel- und Gelenkschmerzen innerhalb und außerhalb des Kraniomandibulären Systems zu:
Kapitel 3 und 4
• Wie entstehen Kieferanomalien und Zahnfehlstellungen (= Formstörungen des
Kraniomandibulären Systems) und Funktionsstörungen des Kraniomandibulären
Systems?
• Wie entstehen Körperfehlhaltungen (= Formstörungen des Stütz- und Bewegungsapparats) und Beweglichkeitseinschränkungen (= Funktionsstörungen des
Stütz- und Bewegungsapparats)?
• Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Kieferanomalien, Zahnfehlstellungen und Kraniomandibulären Funktionsstörungen auf der einen Seite und Körperfehlhaltungen und Beweglichkeitseinschränkungen auf der anderen Seite?
Die systemische Theorie der Medizin entsteht durch die Anwendung der Theorie dynamischer Systeme auf die Medizin. Die Theorie dynamischer Systeme ist
eine Synopsis aus modernen Disziplinen der Naturwissenschaften: (Bio-)Kybernetik, Chaostheorie, Synergetik, nicht-lineare Thermodynamik, (Bio-)Semiotik usw.
Sie dient der Beschreibung der Systemwirklichkeit der Welt und ermöglicht den
Umgang mit komplexen mikro- und makrokosmischen Systemen.
Theorie
dynamischer
Systeme
38
Kapitel 2
Systemwirklichkeit
Der Mensch ist ein offenes, hochkomplexes, sich selbst organisierendes und regulierendes biologisches System. Systemwissenschaftler schätzen die Komplexität des
biologischen Systems „Mensch“ auf 1015 Freiheitsgrade.
akute
Erkrankungen
chronische
Erkrankungen
Wechselwirkungen
Theorie
dynamischer
Systeme
System­beschreibung
Mit linearen, reduktionistischen Denkmodellen und technomorphen Herangehensweisen nach dem Kausalitätsprinzip ist eine solche Komplexität unmöglich
beherrschbar. Nur in zeitlich und lokal begrenzten Systemzuständen können lineare
Beziehungen von Ursache und Wirkung identifiziert und entsprechend behandelt
werden. Bei akuten Erkrankungen ist dies der Fall. Meist kann die akute Erkrankung
sogar auf nur eine Ursache und nur eine Wirkung reduziert werden. Dann stellen
lokal begrenzte, die Ursache eliminierende und technomorphe Maßnahmen Form
und Funktion des betroffenen Systems weitgehend wieder her. Das liegt daran, dass
auch bei offenen, nicht-linearen Systemen über einen kurzen Zeitraum und lokal
begrenzt die Rahmenbedingungen annähernd konstant bleiben und sich die Systeme nahezu linear verhalten.
Chronische Systemzustände bzw. Erkrankungen dagegen entwickeln sich über längere
Zeit und betreffen immer mehrere Teilsysteme. Im Laufe der Zeit sammeln sich bei
chronischen Zuständen viele verschiedene Belastungen an. Außerdem sind sie stark
von den jeweiligen Rahmenbedingungen im Umfeld des betroffenen Systems abhängig. Chronische Zustände können mit linearen Denkmodellen und Herangehensweisen nicht beherrscht werden. Sie entwickeln sich unvorhersehbar und können nicht
beliebig kontrolliert werden. Diese Eigenschaften chronischer Zustände liegen daran,
dass die verschiedenen Variablen und Teilsysteme des biologischen Systems „Mensch“
miteinander in Wechselwirkungen treten. Außerdem bestehen Wechselwirkungen
des Gesamtsystems mit beigeordneten und übergeordneten äußeren Systemen. Das
biologische System „Mensch“ ist nach außen offen. Viel Erfolg versprechender als
lineare, kausale und reduktionistische Vorgehensweisen ist deshalb bei chronischen
Erkrankungen die Anwendung der Theorie dynamischer Systeme. Darunter verstehen
wir – wie gesagt – eine Synopsis der Theorien und Denkmodelle von (Bio-)Kybernetik,
Chaostheorie, Synergetik, nicht-linearer Thermodynamik, (Bio-)Semiotik usw. Die
Theorie dynamischer Systeme wird aktuell in Natur- und Geisteswissenschaften zum
ergebnisorientierten Umgang mit offenen, komplexen, sich selbst organisierenden
Systemen eingesetzt. Wir wenden sie hier auf die Medizin an.
Aus der Perspektive der Theorie dynamischer Systeme besteht der Mensch aus
vielen miteinander vernetzten Teilsystemen (Abbildung 2-1). Wesentliche Teilsysteme sind ausschließlich mit der Aufnahme, der Aufbereitung, der Verteilung und
der Ausscheidung von Materie und Energie beschäftigt: „Geordnete“ Materie und
Energie werden in Form von Sauerstoff, Nahrung und Licht über die Lungen, den
Magen-Darm-Trakt und die Haut aufgenommen. Das Herz-Kreislauf-System verteilt
Materie und Energie im ganzen System. „Ungeordnete“ Materie und Energie werden
über den Darm, die Nieren und die Blase sowie über die Haut ausgeschieden.
Die systemische Theorie der Medizin
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Abb. 2-1: Das biologische System „Mensch“
Dieser ständige Durchfluss von Materie und Energie ist eine grundlegende Eigenschaft und Voraussetzung für die Entstehung von Ordnung in komplexen und
eigentlich chaotischen Systemen. Die Ordnung manifestiert sich als rhythmisches
und damit dynamisches Gleichgewicht des Materie- und Energieflusses. Das System ist umso geordneter, je weiter das dynamische Fließgleichgewicht von einem
statischen Gleichgewichtszustand entfernt ist. Statische Gleichgewichtszustände
mit gleichmäßiger Verteilung der Energie stellen sich entsprechend den Regeln der
linearen Thermodynamik in geschlossenen Systemen ein. Diesen Systemen wird von
außen weder Materie noch Energie zugeführt. Offene Systeme dagegen ordnen
sich bei einer bestimmten Zufuhr von Materie und Energie selbst. Ein dynamisches
Fließgleichgewicht stellt sich ein. In der Theorie dynamischer Systeme wird dieser Vorgang als Selbstorganisation eines Systems bezeichnet: Aus Chaos entsteht
Ordnung. Zu den Systemen, in denen nach den Regeln der nicht-linearen Thermo­
dynamik bei Zufuhr einer bestimmten Qualität und Quantität von Materie und
Energie Ordnung durch Selbstorganisation entsteht, gehören auch biologische Systeme. Anders ausgedrückt: Die Differenz zwischen dem Ordnungsgrad aufgenommener und ausgeschiedener Materie und Energie wird zum Aufbau von Ordnung
im biologischen System benutzt.
Die Ordnung im System in Form eines dynamischen und rhythmischen Fließgleichgewichts wird durch Selbstregulation aufrechterhalten. Dazu dienen spezialisierte
dynamisches
Fließgleichgewicht
Selbstorganisation
Selbstregulation
40
Kapitel 2
Regulationssysteme
Teilsysteme: die so genannten Regulationssysteme. Sie regulieren die Irritationen,
die durch innere Wechselwirkungen der Teilsysteme untereinander und durch
äußere Wechselwirkungen mit bei- und übergeordneten Systemen entstehen. Die
grundlegenden und phylogenetisch ältesten Regulationsprozesse finden im interstitiellen und versorgenden Bindegewebe statt (siehe Kapitel 1). Weitere wichtige
Regulationssysteme sind das spezifische Immunsystem, das sensomotorische System, der emotionale Anteil der Psyche, das vegetative Nervensystem und das Hormonsystem.
Form und Funktion
Form und Funktion des biologischen Systems „Mensch“ sind abhängig von seiner Fähigkeit zur Selbstorganisation und Selbstregulation: Wenn das System seine
Funktionen der Selbstorganisation und Selbstregulation erfüllt, bleibt die Ordnung
im System erhalten. Sind die Selbstorganisation und Selbstregulation dagegen
gestört oder überlastet, entsteht Unordnung im System. Wir definieren also aus der
Sicht der Theorie dynamischer Systeme den Begriff „Krankheit“ als vorübergehende
(akute) oder dauerhafte (chronische) Unordnung im System. Aus der gleichen Perspektive beschreibt die „Systemische Ätiologie“, wodurch Unordnung im System
entsteht. Die „Systemische Pathogenese“ erklärt, wie Unordnung entsteht und aufrecht erhalten bleibt.
Definition
„Krankheit“
Systemische
Ätiologie und
Pathogenese
Irritationen
drei Kategorien
von Irritationen
In der Terminologie der Theorie dynamischer Systeme sind die inneren Wechselwirkungen der Teilsysteme untereinander und die äußeren Wechselwirkungen mit beiund übergeordneten Systemen Irritationen des dynamischen und rhythmischen
Fließgleichgewichts und damit Störungen der Ordnung im System „Mensch“. Wir
teilen diese Irritationen bzw. Störungen in drei Kategorien ein: strukturelle, prozessuale und informative Irritationen.
strukturelle
Irritationen
Strukturelle Irritationen sind mechanische Störungen, bei denen Kräfte einwirken und ausreguliert werden müssen: zum Beispiel Verletzungen, Fehlbelastungen
(sowohl im Sinne von Überbelastungen als auch von Unterforderungen), morphologisch-degenerative Veränderungen.
prozessuale
Irritationen
Prozessuale Irritationen stören biochemische und physiologische Abläufe: zum Beispiel Belastungen durch chemische Stoffe aus der Umwelt (Toxine, Allergene), biologische Belastungen durch Bakterien, Viren oder Pilze, Ernährungsfehler, Stoffwechseldysfunktionen, genetische Störungen. Die so gestörten biochemischen und
physiologischen Abläufe wirken dann ihrerseits als prozessuale Irritationen auf
andere Abläufe, mit denen sie gekoppelt sind.
informative
Irritationen
Informative Irritationen entstehen bei psychoemotionalen und psychomentalen
Vorgängen wie Erleben (Wahrnehmen und Fühlen), Denken, Erinnern und Phantasieren. Heutzutage gehören auch Irritationen durch technisch-physikalische Felder
in die Kategorie der informativen Irritationen.
Die systemische Theorie der Medizin
41
Aus Gründen der Praktikabilität verwenden wir in der täglichen Praxis die Einteilung von Irritationen nach van Assche in vier Kategorien [1]: mechanische, (bio)chemische, psychische und physikalische/physiologische Irritationen. Die Begriffe
„Irritationen“, „Belastungen“ und „Störfaktoren“ bzw. „Störfelder“ verwenden
wir synonym. In Abbildung 2-2 sind einige Irritationen der vier Kategorien aufgelistet. Diese Aufzählung ist bei weitem nicht vollständig. Die möglichen Wechselwirkungen innerhalb und außerhalb des biologischen Systems „Mensch“ sind
unzählig.
Praktische Einteilung
von Irritationen:
• mechanische
• (bio-)chemische
• psychische
• physikalische/
physiologische
Abb. 2-2: Vier Kategorien von äußeren und inneren Irritationen des biologischen
Systems „Mensch“ (Diese Listen sind nicht vollständig!)
Die störenden Wirkungen dieser Irritationen werden von den Regulationssystemen
durch negative Rückkopplungsprozesse gedämpft bzw. ausreguliert: Die Ordnung
wird wieder hergestellt. Deshalb können wir die Regulationssysteme auch als Regenerationssysteme bezeichnen. Regulations- und Regenerationsvorgänge finden in
jeder Sekunde unseres Lebens millionenfach statt, ohne dass sie uns bewusst werden. Manche Irritationen wirken jedoch so stark, dass die Symptome einer akuten
Erkrankung auftreten.
Regulation und
Regeneration
Zum Beispiel, wenn ein Grippe-Virus auf die Schleimhäute des Respirations­
systems trifft. Dann wird die Selbstregulation in Form unseres Immunsystems aktiv. Es entstehen die Symptome eines akuten grippalen Infekts. Sie sind
der Ausdruck der regulativen Prozesse. Die Viren werden „angegriffen“ und eliminiert. Nach einiger Zeit stellt ein funktionierendes Immunsystem die Ordnung
wieder her. Die Symptome klingen ab. Das ist der typische kausale und lineare
Ablauf einer akuten Erkrankung: Eine Krankheitsursache wirkt ein. Es entstehen
Regulation als akute
Erkrankung
42
Kapitel 2
am Einwirkungsort Symptome und strukturelle Schädigungen. Die Krankheitsursache wird durch Selbstregulation eliminiert. Die strukturellen Schädigungen werden durch Selbstorganisation (Regeneration) geheilt. Das System ist wieder symptomfrei und unversehrt.
chronische Irrita­
tionen (Synonyme:
chronische Stör­
faktoren, chroni­sche
Belastungen)
Adaptation
Kompensationsketten
Im Laufe eines Lebens begegnen einem Mensch jedoch immer wieder sehr intensive oder lang andauernde Irritationen. Eine solche Irritation kann die Regulationskapazität des betroffenen Teilsystems dauerhaft überfordern. Wir nennen diese
Irritationen chronische Irritationen oder chronische Störfaktoren oder chronische
Belastungen. Die Regulationssysteme vor Ort reagieren auf die Überlastung der
Regulationskapazität mit Anpassung (Adaptation). Doch auch die Adaptationskapazität des betroffenen Teilsystems wird sich mit der Zeit erschöpfen. Die Regulationssysteme reagieren dann mit Kompensation. Die Kompensation findet jedoch
nicht mehr am Ort der ursprünglichen Belastung statt, sondern in einem oder
mehreren benachbarten Teilsystemen. Eines oder mehrere Nachbarsysteme kompensieren die Belastung des irritierten und adaptierten Systems. Im Laufe der Zeit
erschöpft sich dessen Kompensationskapazität und weitere Teilsysteme müssen
kompensierend helfen. Es entstehen regelrechte Kompensationsketten. Auf eine
stark oder dauernd einwirkende Irritation reagieren unsere Regulationssysteme
also mit einem linearen Prozess von Regulationen, Adaptationen und Kompensationen.
Überschneidungen
linearer Kompensationsketten führen
zu komplexen,
nicht-linearen
Kompensations­
mustern!
Im Laufe eines Lebens entstehen viele solcher linearen Ketten regulativer, adaptativer und kompensatorischer Prozesse. Früher oder später muss es zur topografischen Überschneidung verschiedener Ketten kommen. Schon wenige Überschneidungen linearer Kompensationsketten führen zu komplexen, nicht linearen
Kompensationsmustern Sie bestimmen das weitere Verhalten des Gesamtsystems:
Hinzukommende Irritationen werden zwar weiterhin linear durch Regulation und
Adaptation am betroffenen Teilsystem beantwortet, aber die kompensatorischen
Auswirkungen auf das Gesamtsystem sind nicht-linear und unvorhersehbar. Die
jeweils vorliegenden Rahmenbedingungen (Kompensationsmuster) sind entscheidend für die Antwort des Gesamtsystems.
Gefahr der
Chronifizierung
von Kompensa­
tionssymptomen
Früher oder später wird es auch dazu kommen, dass Teilsysteme durch mehrere
Kompensationsketten belastet sind. Schließlich wird die Kompensationskapazität
eines Teilsystems überlastet. Als Ausdruck dieser Überlastung entstehen dort Symptome. Diese Art von Symptomen nennen wir Kompensationssymptome. Sie haben
das Potenzial, unter bestimmten Bedingungen chronisch zu werden. Ein Beispiel
soll dies beschreiben:
Ein Beispiel
Nehmen wir an: Ein biologisches System „Mensch“ erleidet bei einem Autounfall ein starkes Schleudertrauma und diese strukturelle Irritation kann von der
primär belasteten Halswirbelsäule nicht vollständig ausreguliert werden. Die
Halswirbelsäule muss sich adaptieren und schränkt ihre Beweglichkeit ein. Die
Die systemische Theorie der Medizin
43
Brustwirbelsäule hilft kompensatorisch die Halswirbelsäule zu stabilisieren.
Die Lendenwirbelsäule kompensiert als nächstes Teilsystem und hilft, die Brustwirbelsäule und damit die Halswirbelsäule zu stabilisieren. Nach einiger Zeit
passiert eine Sportverletzung am Knie: Eine weitere strukturelle Irritation. Sie ist
so intensiv, dass sie nicht ausreguliert werden kann. Das Knie muss sich adaptieren.
Die Hüfte, das Becken und die Lendenwirbelsäule helfen. Zusätzlich sei der Darm
unseres Beispielpatienten durch eine Pilzinfektion belastet. Auch diese Irritation
belastet mechanisch und neurophysiologisch die Kompensationsfähigkeit der
Lendenwirbelsäule. Somit ist die Lendenwirbelsäule schon durch drei Kompensationsketten belastet. Diese Belastung kann so hoch werden, dass sich die Kompensationsfähigkeit der Lendenwirbelsäule erschöpft und dort Rückenschmerzen
entstehen.
Kompensationssymptome als Ausdruck der Überlastung der Kompen­
sationskapazität eines Teilsystems haben also keine einzelne Ursache
am Ort der Beschwerden. Vielmehr liegen viele verschiedene Belastungen (Irritationen) an unterschiedlichen und anatomisch entfernteren Teilsystemen vor. Das Kompensationssymptom zeigt also nicht den Ort der
ursprünglichen Belastungen an. Es führt den linear denkenden und handelnden Mediziner in die Irre: Er wird versuchen, das Kompensationssymptom am Ort seines Auftretens zu behandeln. Dieses Vorgehen führt nicht
nachhaltig zur Beschwerdefreiheit. Der Teufelskreis der Chronifizierung
beginnt.
Der Ort des Kompensationssymptoms ist nicht der
Ort zugrunde liegender Belastungen
„Das chronische
Symptom lügt!“
Im Beispiel der Rückenschmerzen sucht der Patient natürlich einen Orthopäden
auf. Wenn dieser Orthopäde nach einem linearen Krankheitsmodell handelt, untersucht und behandelt er am Ort der Beschwerden. Damit ist er vordergründig auch
erfolgreich. Aber schon nach kurzer Zeit treten die Beschwerden wieder auf. Der
Orthopäde hat zwar mit seiner Behandlung kurzfristig die Kompensationskapazität
der Lendenwirbelsäule erhöht, aber die zugrundeliegenden Belastungen der Halswirbelsäule, des Knies und des Darms sowie die entsprechenden Kompensationsketten nicht behandelt. Deshalb treten die Beschwerden wieder auf. Der Patient
geht wieder zum gleichen oder zu einem anderen Orthopäden. Das Spiel beginnt
von vorne. Die Beschwerden werden schließlich als chronisch, therapieresistent und
rezidivierend bezeichnet.
Fortsetzung
des Beispiels
Die Anwendung eines linearen Krankheitsmodells ist bei solchen Symptomen
nicht nachhaltig erfolgreich. Ein lineares Krankheitsmodell sucht am Ort der
Erkrankung nach der (einzigen) Ursache der Erkrankung. Bei akuten Erkrankungen
ist dieses Krankheitsmodell erfolgreich und indiziert. Bei chronischen Erkrankungen
versagt es. Chronische Erkrankungen sind multifaktoriell. Der Ort der Erkrankung
ist nicht der Ort der zugrunde liegenden Belastungen. Das systemische Krankheits-
Lineares
Krankheitsmodell
Chronifizierung von
Kompensationssymptomen
44
Kapitel 2
Kompensationssymptome können
nur entsprechend
des systemischen
Krankeitsmodells
Erfolg versprechend
untersucht und
behandelt werden
modell kann die zugrunde liegenden Zusammenhänge zwischen den vorliegenden
Irritationen und ihren jeweiligen Regulations-, Adaptations- und Kompensationsprozessen erklären und entsprechende Möglichkeiten des ärztlichen Denkens, Entscheidens und Handelns aufzeigen. So kann mit Hilfe des systemischen Krankheitsmodells die Chronifizierung von Kompensationssymptomen vermieden und mit
bereits chronifizierten Zuständen nachhaltig und Erfolg versprechend umgegangen
werden.
Systemisches
Krankheitsmodell
Pathohistologie
Mikrokontraktur
klinische Zeichen
von Mikro­kontrak­
turen: myofasziale
Verquellungen,
Verspannungen,
Verhärtungen
Beweglichkeits­
einschränkungen
Symptome und Befunde sind Ausdruck der Selbstorganisation des Systems
unter den aktuell bestehenden Rahmenbedingungen (inneren und äußeren
Wechselwirkungen sowie genetischen Rahmenbedingungen). Das Symptom
ist also nicht unser „Feind“, der „bekämpft“ werden muss. Vielmehr ist es das
„Alarmsignal“, das aufleuchtet und anzeigt, dass ungünstige Rahmenbedingungen vorliegen. Bei diesen Rahmenbedingungen muss die Therapie primär
ansetzen – und nicht beim Symptom.
Der maßgebliche Ort von Regulationen, Adaptationen und Kompensationen ist das
Bindegewebsorgan. Die Pathohistologie dieser drei Prozesse ist immer dieselbe. Sie
ist gut untersucht [2, 3]: Zuerst kommt es unter Einwirkung von Störfaktoren zu
einer Verschiebung der Elektrolyte. Das Milieu wird sauer (lokale Azidose). Die Viskosität des Gewebes nimmt zu. Mikrozyten (unspezifische Abwehr) und aus dem
Blut eingewanderte Lymphozyten schütten Zytokine aus. Die Kapillaren schließen sich. Es kommt zu einem Stau der Blutversorgung (Mikrozirkulationsstörung).
Der betroffene Gewebebereich wird nicht mehr versorgt. Elastische Fasern kontrahieren. Kollagene Fasern werden vermehrt eingebaut. Das Bindegewebe verliert
am Ort der Regulation, Adaptation oder Kompensation seine Fähigkeit der rhythmischen Extension und Kontraktion: Es bleibt in Dauerkontraktion und „erstarrt“.
Wir nennen dieses Ergebnis regulativer, adaptativer und kompensatorischer Vorgänge „Mikrokontraktur“ [4].
Klinisch äußern sich Mikrokontrakturen als tastbare Verquellungen, Verspannungen
und Verhärtungen in den zugänglichen Bereichen der muskuloskelattalen und viszeralen Faszienschicht. Diese „Myogelosen“ können mit oder ohne Belastungsschmerz vorkommen.
Der Tonus betroffener Muskeln erhöht sich. Ein solcher Muskel wird hyperton, was
sich auf die Beweglichkeit des entsprechenden Gelenksystems auswirkt: Der Antagonist des hypertonen Muskels kann das Bewegungssystem nicht mehr an die
Grenze seiner physiologischen Beweglichkeit führen. Es kommt zu Beweglichkeitseinschränkungen (= Dysfunktionen). Diese sind der klinischen Untersuchung
leicht zugänglich. Beim Vorliegen einer Beweglichkeitseinschränkung und damit
einer pathologischen Bewegungsgrenze stellt sich das betroffene Bewegungs-
Die systemische Theorie der Medizin
45
system in einer neuen Neutralposition ein. Diese „Schonhaltung“ ist weg von der
pathologischen Bewegungsgrenze ausgerichtet.
In Abbildung 2-3 ist ein „normales Bewegungssystem“ schematisch dargestellt: Ein
Antagonistenpaar bewegt einen Knochen in einem Gelenk in entgegengesetzte
Richtungen. In beiden Bewegungsrichtungen ist die Bewegung physiologisch durch
die Kontraktionsgrenze des aktiven Muskels (= physiologische Bewegungsgrenze)
und durch die Dehnungsgrenze des Antagonisten und/oder des Gelenks begrenzt
(= anatomische Bewegungsgrenze).
„normales“
Bewegungssystem
Vermeidung
der Chronifizierung von Kompen­
sationssymptomen
Abb. 2-3: Physiologische und anatomische Bewegungsgrenzen eines
Bewegungssystems
Abbildung 2-4 zeigt ein Bewegungssystem mit pathologischer Bewegungsgrenze
am Beispiel von Flexion und Extension. Mikrokontrakturen in einem Muskel führen
zu einem Hypertonus. Sein Antagonist kann deshalb das Gelenk nicht mehr an seine
ursprüngliche physiologische Grenze heranführen. Es besteht in dieser Bewegungsrichtung eine pathologische Bewegungsgrenze. In Ruhestellung wird der hypertone
Muskel den Knochen in seine Richtung ziehen. Es entsteht eine „Schonhaltung“ als
neue Neutralposition weg von der pathologischen Bewegungsgrenze gerichtet.
Abb. 2-4: Beweglichkeitseinschränkung und „Schonhaltung“ weg von der
pathologischen Bewegungsgrenze
pathologische
Bewegungsgrenze
46
Kapitel 2
Beweglichkeitstest
und Inspektion der
Körperhaltung
Klinisch können Einschränkungen der Beweglichkeit durch Beweglichkeitstests
festgestellt werden. Schonhaltungen können als Symmetrieabweichungen von
Ruhestellungen erhoben werden (= Fehlhaltungen).
Zunächst sind Fehlhaltungen nur funktionell durch Mikrokontrakturen bzw. Muskelhypertonus verursacht. Auf Dauer baut sich allerdings das Bindegewebe des
betroffenen Bewegungssystems strukturell um: Die Fehlhaltung „verknöchert“. Die
Funktionsstörung wird zur Formstörung. Es kommt zur dauerhaften Körperfehlhaltung bzw. Kieferanomalie. In Kapitel 3 und 4 werden wir diese Hypothesen weiter
ausarbeiten.
myofasziale
Schmerzen
Ausgeprägte und lang bestehende Mikrokontrakturen können die periphere und
zentrale Nozizeption so belasten, dass spontane Schmerzen entstehen. Diese
Schmerzen strahlen von der Mikrokontraktur aus oder projizieren sich in eine andere
Region des Versorgungsgebietes der betroffenen Nerven. Sie werden als myofasziale Schmerzen bezeichnet [5]. Abbildung 2-5 zeigt beispielhaft die Schmerztopografie des myofaszialen Schmerzes des M. masseter: Die Schmerzen können entlang der drei Äste des Trigeminus ausstrahlen oder sich in die Zähne und in das
Kiefergelenk projizieren. Anhand solcher Schmerztopografien können betroffene
Muskeln identifiziert und entsprechende Mikrokontrakturen leicht aufgefunden
werden (siehe Kapitel 7).
Abb. 2-5: Myofasziale Schmerzen des M. masseter (nach [5])
A
B
C
D
Die systemische Theorie der Medizin
47
Alle klinischen Zeichen von Mikrokontrakturen – Verquellungen, Verspannungen,
Verhärtungen, Beweglichkeitseinschränkungen, Fehlhaltungen und myofasziale
Schmerzen – werden wir bei der Befunderhebung berücksichtigen.
Symptome und Befunde sind Ausdruck der Selbstorganisation des Systems
unter den aktuell bestehenden Rahmenbedingungen (inneren und äußeren
Wechselwirkungen sowie genetischen Rahmenbedingungen). Das Symptom
ist also nicht unser „Feind“, der „bekämpft“ werden muss. Vielmehr ist es das
„Alarmsignal“, das aufleuchtet und anzeigt, dass ungünstige Rahmenbedingungen vorliegen. Bei diesen Rahmenbedingungen muss die Therapie primär
ansetzen – und nicht beim Symptom.
Zusammenfassung
Nun können wir die eingangs dieses Kapitels gestellten Fragen beantworten:
Das biologische System Mensch ist hochkomplex vernetzt. Innerhalb des Systems bestehen permanente und unzählige Wechselwirkungen der Teilsysteme
untereinander. Nach außen bestehen permanente und unzählige Wechselwirkungen des Systems mit bei- und übergeordneten Systemen (= Rahmenbedingungen).
Alle inneren und äußeren Wechselwirkungen bedeuten Irritationen (Störungen) der Ordnung im System. Spezialisierte Teilsysteme (Regulationssysteme) regulieren Irritationen und deren Wirkungen (Regeneration) und halten die Ordnung im System aufrecht. Dies kann mit Symptomen einer akuten
Erkrankung einhergehen.
Intensiv oder dauernd einwirkende Irritationen werden von den Regulationssystemen adaptiert und kompensiert. Bei Überlastung der Kompensationskapazität der Regulationssysteme entstehen am Ort der Überlastung die Symptome einer chronischen Erkrankung.
Der hauptsächliche Ort von Regulationen, Adaptationen und Kompensationen und damit der hauptsächliche Ort der Erkrankung ist das Bindegewebsorgan (synonym: Fasziensystem). Adaptationen und Kompensationen im Bindegewebe zeigen sich pathohistologisch als Mikrokontrakturen.
Die klinischen Zeichen von Mikrokontrakturen sind Verquellungen, Verspannungen und Verhärtungen, Beweglichkeitseinschränkungen, Fehlhaltungen,
Formveränderungen und myofasziale Schmerzen.
In diesem Kapitel habe ich weitgehend auf die wissenschaftlich korrekte Zitierung
von Quellen verzichtet: Viele meiner Überlegungen und Aussagen lassen sich nicht
mehr zu einer bestimmten Quelle zurückverfolgen. Die systemische Theorie der
Medizin entstand aufgrund eigener Erfahrungen im Umgang mit chronisch kranken Menschen und durch die Beschäftigung mit den nachfolgend angegebenen
Experten bzw. ihren Veröffentlichungen.
Wie entstehen
Form- und Funktionsstörungen
­allgemein?
Wie entstehen
myofasziale
Schmerzen?
48
Literatur
Kapitel 2
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Capra F. Lebensnetz. Ein neues Verständnis der lebendigen Welt. München: Scherz 1996
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Jantsch E. Die Selbstorganisation des Universums. München: Carl Hanser 2002
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M
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Randoll UG, Henning FF. Matrix-Rhythmus-Therapie für Zeitstrukturen und Prozesse. Seminarmanuskript
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Malik F. Strategie des Managements komplexer Systeme. Ein Beitrag zur Management-Kybernetik evolutionärer Systeme. 8., unveränderte Auflage, Bern: Haupt 2003
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