Leseprobe I

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Leseprobe I
Nachtfahrt
John Henning checkte die Aussendungen der Presseagenturen und
News-Streams auf seiner teiltransparenten Mediabrille. Die
Meldungen glichen jenen der letzten Tage. Die immer gleichen
Vorwürfe, dass die Entwicklung nicht früh genug erkannt worden
wäre und die eingeleiteten Gegenmaßnahmen viel zu spät kämen
um das Unheil noch abwenden zu können. Vera Rengshausen, die
Ministerin für Gesundheit und Innere Sicherheit, konnte an
keinem Mikrofon vorübergehen, ohne zu betonen, dass sie seit
Jahren vor einer Situation wie dieser gewarnt habe, mit ihren
Vorschlägen zur Vorbeugung nicht auf Gehör gestoßen zu sein.
Die
derzeitige
Lage
sei
eine
direkte
Folge
dieser
Versäumnisse. Die Wahrheit war, dass ihre Mahnungen damals wie
heute allein dazu dienten, ihre eigene Macht zu mehren. Vor
wenigen Wochen hatte sie sich noch damit gebrüstet, dass es
seit sieben Jahren keinen einzigen Fall mehr gegeben habe.
Heute wollte sie davon nichts mehr wissen und mimte die
besorgte Mahnerin auf die keiner hatte hören wollen.
Der Audi 8 EP rumpelte durch ein Schlagloch von der Größe
eines Mienenkraters.
„Können Sie nicht aufpassen Mann?“, fluchte Henning.
„Tut mir leid“, erwiderte der Fahrer rechtfertigend, „aber um
all den Löchern auszuweichen, bräuchten wir Flügel.“
Vor den kaputten Straßen hatte uns Rengshausen bestimmt auch
gewarnt, dachte Henning bitter. Er nahm die Brille ab und
wandte sich an den Kanzler neben sich.
„Nichts Besonderes. Nur das Übliche.“
Bernd
Degenharts
Reaktion
beschränkte
sich
auf
ein
angedeutetes
Nicken
und
das
nach
unten
Ziehen
seiner
Mundwinkel. Abwesend sah er aus dem Wagenfenster, während der
Kurfürstendamm an ihnen vorbei zog. Die meisten Läden hatten
dicht gemacht. Die Schaufenster waren eingeschlagen oder mit
Neongraffiti besprüht, die im Leuchtkegel der Autoscheinwerfer
in außerirdischen Farben erglühten. Gespenstern gleich liefen
die wenigen Menschen, die sich trotz der Medienkampagne noch
auf die Straßen wagten, durch die unwirkliche Szenerie.
Henning erwog, das Fenster zu öffnen. Wenigstens einen Spalt
breit, um den beißenden Geruch nach
Desinfektionsmittel aus
der Nase zu bekommen, der den Wagen durchdrang. Seufzend ließ
er es sein. Ein unnötiges Risiko erkannt zu werden, zumal sie
ohne Personenschutz unterwegs waren. Dann wären die Schleifen,
die sie durch die Stadt gefahren waren, um allfällige Schatten
© R.P. Poeschl
abzuschütteln, umsonst gewesen. Sie passierten das ehemalige
SONY Building. Auf den Glasflächen des verlassenen Gebäudes
prangte ein pittoresk anmutendes
OLED Plakat auf dem
„GESCHÄFTSFLÄCHE ZU VERMIETEN“ zu lesen stand.
„Vielleicht sollte man daraus ein Krankenhaus machen. Dann
wäre es wenigstens zu etwas nütze“, murmelte Degenhart.
Henning erwiderte nichts. Er wusste, dass Degenharts Bemerkung
nicht ernst gemeint war. Sie spiegelte nur die Verbitterung
des Kanzlers wider. Dazu hatte er allen Grund. Sie hatten ihn
zum Buhmann der Nation gemacht, dem die alleinige Schuld für
die Krise anzulasten war. Was für ein Bullshit. Henning wusste
aus erster Hand, dass dieser Mann der Aufgabe als Kanzler
aller CESU-Länder sein ganzes Leben unterordnete. Dabei hatte
er das Kanzleramt nie angestrebt. Seine wahre Berufung hatte
er immer in der Außenpolitik gesehen. Er betrachtete sich
selbst mehr als Diplomat, denn als Anführer. Deshalb hatte er
sich mit seiner Berufung zum Außenminister am Ziel seiner
Träume gewähnt. Nach dem überraschenden Tod der Kanzlerin vor
fünf Jahren hatte man ihn jedoch bedrängt, die führende
Position
in
der
Union
zu
übernehmen,
und
er
hatte
widerstrebend angenommen, obwohl ihm zu diesem Zeitpunkt
bereits bewusst gewesen war, dass man ihn nur deshalb
auserkoren hatte, weil er das kleinste gemeinsame Übel
verkörperte. Niemand hatte etwas gegen ihn vorbringen können,
weil
niemand
etwas
für
ihn
vorzubringen
hatte.
Die
Entscheidung für das Kanzleramt hatte er sich damals mit der
Vorstellung versüßt, sein Lebensziel auf diese Weise wohl am
besten verfolgen zu können. Er hatte sich geirrt. Sein Versuch
den Prozess für eine Wiedervereinigung der Europäischen Union
ins Laufen zu bringen, hatte in einem vollständigen Debakel
geendet. Seit dieser schweren Niederlage beschränkte sich sein
außenpolitisches Engagement darauf, die Interessen der CESU,
die sich aus den Gebieten der Altstaaten Deutschland,
Österreich, Polen, Tschechien, Slowenien und Kroatien formiert
hatten,
gegen
jene
der
anderen
Blöcke
zu
vertreten.
Erbittertster Widersacher der CESU war die Transatlantische
Allianz, der neben den USA, Großbritannien und die Niederlande
angehörten.
Gemeinsam
mit
dem
Nordblock,
der
aus
den
skandinavischen Ländern und Finnland hervorgegangen war, übte
der mächtige Staatenbund Druck auf die CESU aus, ihre
restriktive Importpolitik zugunsten größerer Handelsfreiheiten
aufzugeben, ohne jedoch eigene Schutzzölle in den Bereichen
abbauen zu wollen, die der CESU größere Chancen für Exporte in
© R.P. Poeschl
die Gebiete der Allianz eröffnet hätten. Ein besonderer Dorn
im Auge der TAA waren die guten Beziehungen, die die CESU zur
Osteuropäischen Konföderation unter der Führung Russlands
unterhielt. Vor wenigen Wochen erst hatte Degenhart einen
Vertrag
unterzeichnet,
demzufolge
die
CESU
zwanzig
Megakernkraftwerke
in
der
Osteuropäischen
Konföderation
errichtet und im Gegenzug, für fünfzehn Jahre gratis mit
Erdgas beliefert wird. Geschäfte dieses Zuschnitts, bei dem
sich zwei mächtige Blöcke gegenseitig unterstützten, ohne dass
ein einziger Cent den Besitzer wechselte, waren in den Augen
der
TAA
reines
Teufelswerk.
Die
Vereinigung
der
Mittelmeerländer,
ein
eher
loser
Staatenbund,
in
dem
Frankreich eine unausgesprochene Führungsrolle zukam, bemühte
sich dagegen um eine neutrale Position. Aufgrund ihrer
wirtschaftlichen Situation, die noch prekärer war als die im
restlichen Europa, waren sie auf das Wohlwollen beider
Kontrahenten angewiesen, wiewohl sie von der CESU in Wahrheit
deutlich mehr Unterstützung erfuhren als von der TAA.
Allerdings
verstand
es
die
TAA
besser,
aus
ihren
Hilfestellungen
außenpolitisches
Kapital
zu
schlagen.
Natürlich hätte Degenhart die Fragestellung, wem die Loyalität
der Mittelmeerländer am Ende galt, auch zuspitzen können.
Unzählige Male hatten seine Berater ihm nahegelegt, endlich
einmal mit den Muskeln zu spielen und Frankreich und seinen
Verbündeten ein wenig das Messer anzusetzen. Sie erkannten
darin
eine
günstige
Gelegenheit,
den
aufkeimenden
zentrifugalen Kräften innerhalb der CESU, die sich vorrangig
aus alten Nationalismen seiner Ursprungsländer speisten, etwas
entgegen zu setzen. Frei nach dem Motto des 19. und des 20.
Jahrhunderts,
wonach
innenpolitisch
Stabilisierung
durch
außenpolitische Konfrontation erlangt wird, wollten sie so
zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Degenhart hatte
derartige Empfehlungen jedoch stets in den Wind geschlagen und
auch sonst allen Verführungen, sich zum starken Mann in Europa
zu stilisieren, konsequent widerstanden. Er hätte es nicht mit
seinem
Gewissen
vereinbaren
können,
eine
Politik
zu
wiederholen, die Europa bereits mehrfach in den Abgrund
geführt hatte.
Ein plötzlicher Hustenanfall des Fahrers durchbrach die Stille
im Wagen. Degenhart und Henning sahen einander unwillkürlich
an.
„Keine Sorge“, sagte der Fahrer mit der Hand vor dem Mund,
„das sind nur die Zigaretten.“
© R.P. Poeschl
„Wissen Sie nicht, dass die Dinger verboten sind?“, zischte
Henning. Dann fuhr er die Glastrennwand hoch, um den Fond des
Fahrzeuges zu isolieren und wandte sich an Degenhart. „Wie
lange wird es dauern?“
„Ich weiß es nicht.“
„Ich hoffe wir können ihr vertrauen, wenn die Presse etwas…“,
„Sie ist eine alte Freundin“, unterbrach ihn Degenhart, und
fügte betont hinzu, „eine sehr gute Freundin.“
Sie näherten sich ihrem Ziel in Berlin-Lichterfelde. Die
Straßen waren ebenso sauber wie verwaist. Es war als hätte man
sie von allem menschlichen Unrat befreit, sogar von den
Menschen selbst. Die ehemals prächtigen Villen waren zu
Trutzburgen
geraten,
die
sich
hinter
stromführenden
Stahlgitterzäunen und Stacheldrahtverhauen verschanzten. Das
Anwesen der Barnungs machte dabei keine Ausnahme. Das
Einfahrtstor öffnete sich wie von Geisterhand als sich der
Regierungswagen ihm näherte. Am Ende der Rampe wurden sie
bereits erwartet. Eine zierliche, elegant gekleidete Frau um
die Fünfzig stand vor den Treppen zum Haupteingang des
Anwesens. Degenenhart stieg aus dem Wagen und begrüßten sie
mit fast zärtlicher Vertrautheit.
„Schön, dich zu sehen“, sagte sie mit einem melancholischen
Lächeln. Sie wirkte beinahe wie ein Kind neben dem stattlichen
Mann.
„Danke, dass du das tust, Maria“, erwiderte Degenhart.
„Lass uns reingehen.“ Sie deutete zur Tür. „Er ist schon da.“
© R.P. Poeschl
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