Chemische Austauschreaktionen und

Werbung
Nicht im Handel
Sonderabdruck aus 60. Jahrgang, Heft 10, 1959
OSTERREICHISC'HE CHEMIKE'R-ZEITUNG
Schriftleiter: Dr. A. Siegel
Springer-Verlag in Wien
Alle Rechte vorbehalten
Cbemische Austauschreaktionen und dynamischer Zustand
Von E. Broda, Wien
Aus dem 1. Chemischen Institut der Universität Wien
Mit Hilfe markie1·te1· Atome kann de?' Austausch von Atomen und Atomg1'uppen zwischen Molekülen verfolgt we1·den.
Dieser Austausch erfolgt auch in unbelebten, isolie1'ten Systemen. Auße1'dem we1'den markierte Atome in de1' Biochemie
zum Nachweis des dynamischen Zustandes herangezogen. Dabei wird die Geschwindigkeit des Übergangs von Atomen
(meist Kohlenstoffatomen) zwischen Molekülen gemessen, die in einem kompensie1·ten Abbau-Aufbau- Ve?'hältnis stehen.
Es wird gezeigt, daß ein dynamische1' Zustand einen K1'eisp1'ozeß erforde1·t, und daher auch' nicht in einem isolierten
System ablaufen kann. Solche Kreisp1'Ozesse sind für die lebende Mate1'ie kennzeichnend, können abe1' in einfacher
Form auch lcünstlich nalisiert we1·den.
(Eingegangen am 6. April 1959)
Der Nachweis des chemischen Austausches mit Isotopen
Seitdem radioaktive und stabile Isotope verfügbar
wurden, konnten Versuche über den Austausch von
Atomen und Atomgruppen zwischen Molekülen verschiedener Art angestellt werden. Hevesy zeigte
bereits im Jahre 1915, daß Bleiionen zwischen Bleichlorid und Bleinitrat ausgetauscht werden l . Der
Versuch ist denkbar einfach: Mit Radioblei (Thorium B)
markiertes Bleinitrat wurde mit inaktivem Bleichlorid
in gemeinsame Lösung gebracht, dann wurde das
Bleichlorid durch Kristallisation abgeschieden und
schließlich wurde nachgewiesen, daß nunmehr das
Blei in Nitrat un.d in Chlorid gleiche spezifische
Radioaktivität (Alüivität je Masseneinheit) aufwies.
Einige Jahre später wurde gezeigt, daß ein analoger
Austausch zwischen Bleiionen , (Bleichlorid) und
kovalent gebundenen Bleiatomen (Bleitetraphenyl)
in der gemeinsamen Lösung in Pyridin nicht stattfindet 2 • In der Folge, besonders auch nach der Entdeckung des Deuteriums, nach der Entwicklung
günstiger Verfahren zur Isotopentrennung und nach
der Entdeckung der künstlichen Radioaktivität,
wurde die Untersuchung des Austausches zu einer
leistungsfähigen Methode der Prüfung von Reaktionsmechanismen, von Bindungszuständen und chemischen
Strukturen ausgebaut (s . 3-7).
Als besonders durchsichtiges Beispiel eines chemischen Austausches sei der von Wasserstoffatomen
zwischen Wasser und Wasserstoffgas genannt; seine
Geschwindigkeit kann unter Einsatz von schwerem
Wasserstoff oder von radioaktivem Tritium gemessen
werden. Es findet also die Reaktion
*HH
HHO ~ HH
*HHO
statt. (Markierte Atome - oder Moleküle - sollen
+
1
+
G. Hevesy und E. Rona, Z. physik. Chem. 89,
303 (1915).
2 G. Hevesy und L. Zeehmeister, Bel'. dtseh. ehem.
Ges. 53, 410 (1920).
3 M. Haissinsky und R . Daudel, BuH. soe. chim.
France 552 (1947).
4 A. C. Wahl und N. A. Bonner, Radioaetivity
Applied to Chemistry .. New York. 1951.
:; R. R. Edward, Ann. Rev. Nuel. Sei. 1, 301 (1952).
6 G. Friedl ander und J. W. Kennedy, Nuelear
and Radiochemistry. New York. 1955.
7 M.
Haissinsky, La ehimie nucleaire et ses
applieations. Paris. 1957.
stets durch einen Stern bezeichnet werden.) In diesem
Fall liegt die Aktivierungsenergie für die Austauschreaktion so hoch, daß sie bei Zimmertemperatur nicht
mit merklicher Geschwindigkeit verläuft. Wohl aber
kann die Einstellung des . Gleichgewichts bei dieser
Reaktion durch geeignete Katalysatoren, wie Platin.8 ,
beschleunigt werden. Hingegen wird Wasserstoff
zwischen Wasser und Säuren oder Alkoholen schon
ohne Katalysator schnell ausgetauscht. Der chemische
Austausch kann auch statt einzelner Atome ganze
Atomgruppen, etwa sauerstoffhaltige Kationen vom
Typ des Uranylions oder Anionen von der Art des
Nitrations ergreifen.
Katalysatoren für den chemischen Austausch
können auch aus lebender Substanz gewonnen werden.
So wird der Austausch der Wasserstoffatome zwischen
Wasserstoffgas und Wasser durcl? Extrakte von
Clostridium butyricum9 oder von Colibakterien lo
katalysiert, wobei Hydrogenasen den wirksamen
Bestandteil der Extrakte bilden. Es ist zweckmäßig,
bei der Definition des chemischen Austausches
allgemein nur auf das Endel;g~bnis und nicht auf
den Mechanismus der Reaktion Rücksicht zu nehmen,
da über die Art der Beteiligling des Katalysators an
einer Reaktion ohnehin zumeist wenig bekannt ist.
Übrigens soll im folgenden, wenn von Enzymen die
Rede ist, stets angenommen werden, daß auch die
notwendigen Kofaktoren anwesend sind.
Schließlich empfiehlt es sich, in einen erweiterten
Begriff des chemischen Austausches auch Vorgänge
einzubeziehen, bei denen das markierte Atom überhaupt nicht das Molekül wechselt, sondern dieses
Molekül eine .Isomerisierung erfährt. (Das Fehlen des
Molekülwechsels kann im Prinzip durch Doppelmarkierung nachgewiesen werden.) Z. B. wandelt
sich Glukose-I -Phosphat (Cori-Ester) in Anwesenheit
des Enzyms Phosphoglukomutase und des Koenzyms
Glukose-l,6-Diphosphat teilweise in Glukose-6-Phosphat (Robison-Ester) um . Auch wenn die beiden
Ester im Gleichgewicht stehen, katalysiert das Enzym
die Isomerisierung, die in diesem Fall natürlich nach
8
J. Horiuti und M. Polanyi, Nature 132, 819
(1933).
9
H. Gest und H . D. Peck, J. Baeteriol. 70, 326
(1955).
10
H. Aebi und E. Frei, Helv. Chim. Aeta 40, 1695.
(1957).
278
E. Broda: Chemische Austauschreaktionen und dynamischer Zustand
beiden Richtungen mit gleicher Geschwindigkeit
erfolgt. Daher wird Radiokohlenstoff oder -phosphor,
der ursprünglich nur in einem Ester enthalten war,
zum Schluß gleichmäßig über beide Ester verteilt
sein l l . Man wird also mit Hilfe der Isotope experimen.tell feststellen, daß Kohlenstoff bzw. Phosphor
zwischen den beiden Verbindungen ausgetauscht
wurde.
Der Austauschbegriff in der Biologie
Der Begriff des Austausches wurde später auch
auf die Biochemie übertragen. Die Untersuchungen
Hevesys zeigten, daß mineralische Bestandteile des
Tierkörpers häufig austauschfähig sind. So tauschen
das Kalzium und der Phosphor der Knochen gegen
"neues" Kalzium bzw. "neuen" Phosphor aus, die
dem Tier zugeführt werden, auch wenn die Menge
an Kalziumphosphat im Skelett sich nicht ändert;
wenn also das neue Kalzium radioaktiv ist, wird
allmählich das gesamte Skelett radioaktiv. Ältere
Vorstellungen, denen zufolge strikt zwischen einem
"endogenen" und einem "exogenen" Stoffwechsel
unterschieden werden könne, indem neu zugeführte
Elemente (etwa Kalzium) nur dann resorbiert werden
sollen, wenn der Körper ihrer bedarf, haben sich damit
als unrichtig erwiesen. Vielmehr findet ein ständiger
Abbau und Aufbau von Mineralsubstanz statt, wobei
die beiden Prozesse im stationären Zustand des Tierkörpers einander die Waage halten. Dieser Vorgang
wurde von Hevesy als "biologische Rekristallisation"
bezeichnet12 ; er ergreift keineswegs nur die Oberfläche
der Mineralsubstanz .
.
Austausch wurde auch an Ionen studiert, die in
Körperflüssigkeiten gelöst sind. So sind Natriumionen in menschlichen Muskelzellen und in roten
Blutkörperchen sowie auch (in größerer Konzentration) in der umspülenden extrazellulären Flüssigkeit enthalten. Nach Zufuhr radioaktiven Natriums
zur letzteren nimmt das intrazelluläre Natrium in
wenigen Minuten die gleiche spezifische Aktivität
(Aktivität pro Gewichtseinheit) wie das extrazelluläre
Natrium an. Die trennende Membran ist also keineswegs für Natrium undurchlässig 12 • Quer durch
Membranen dieser Art findet in vivo ein regel' Austausch von Ionen statt, und zwar handelt es sich
dabei nicht nur 1I.m einen einfachen Diffusionsvorgang.
Darauf wird später zurückgekommen.
Der Biochemiker hat durch Isotopenexperimente
nachgewiesen, daß auch die meisten organischen
Verbindungen des Tierkörpers sich in ständigem Fluß,
dem sogenannten "dynamischen Zustand", befinden.
Dabei müssen offenbar, wenn im erwachsenen Tier
ein stationärer Zustand bestehen soll, die Ortsveränderungen durch gegenläufige Veränderungen und
auch der Abbau durch den Aufbau kompensiert
werden. SoschreibtSchoenheimer 13 : "AlleBestandteile der lebenden Substanz, ob funktionell oder
strukturell, ob von einfachem oder kompliziertem
11 E. W. Suthel'land, M. Cohn, T. Z. Postel'nak
und C. F. Col'i, J. Bio!. Chem. 180, 1285 (1949).
12 Siehe z. B. G. Hevesy, Radioactive Indicatol's.
New York. 1'948.
13 R. Schoenheimer, The Dynamic State of Body
Constituents. Cambl'idge (Mass.). 1942.
Österrelchische
Chemiker-Zeitung
Aufbau, befinden sich in einem stationären Zustand
raschen Flusses."
Beispielsweise erscheinen markierte Fettsäuren oder
Aminosäuren, die an Versuchstiere verabreicht werden,
alsbald in den Fetten bzw. Eiweißkörpern, auch wenn
der gesamte Fett- bzw. Eiweißgehalt des Tieres keiner
Änderung unterliegt. Die markierten Fettsäure- bzw.
Aminosäurereste ersetzen demnach gleichartige unmarkierte Reste, die sich schon vorher im Organismus
befanden. Man stellt also mit Hilfe von Austauschversuchen mit markierten Atomen fest, ob eine
bestimmte Verbindung in einem Organismus oder in
einem bestimmten Organ am dynamischen Zustand
teilnimmt.
Der Zweck der gegenwärtigen Darlegungen ist
nun der Hinweis, daß dieser "biologische Austausch"
mit dem vorher · beschriebenen "chemischen Austausch" nicht identisch ist, daß sich vielmehr eine
scharfe Grenze zwischen den beiden Klassen von
Erscheinungen ziehen läßt, wenn sie zweckmäßig
definiert werden. Diese Abgrenzung ist für das
Verständnis der Lebensvorgänge wesentlich. Freilich
kommt die Grenze dem Experimentator insofern
nicht leicht zum Bewußtsein, als die Versuchsmethoden zum Nachweis des biologischen Austausches
denen zum Nachweis des chemischen Austausches
ähnlich sind und weil die Ergebnisse auch oft etwas.
sorglos formuliert werden. Deshalb sei nun an Hand
von günstig gewählten Beispielen präzisiert, worin
der tiefgreifende Unterschied besteht.
Biologischer Austausch und dynamischer Zustand
Zunächst sei an einem Beispiel aus dem Bereich
des Mineralstoffwechsels ein Merkmal des biologischen
Austausches aufgezeigt, das dem chemischen Austausch
fremd ist. Oben wurde erwähnt, daß Natrium durch
gewisse körpereigene Membranen hindurch rasch
ausgetauscht wird. Man könnte also erwarten, daß
auch etwa von vornherein vorhandene Konzentrationsdifferenzen zwischen den durch die Membran getrennten Räumen schnell ausgeglichen werden. Das
ist aber nicht der Fall, sondern die Konzentration
(genauer: thermodynamische Alüivität) des Natriums
ist im Blutplasma dauernd mindestens um eine Größenordnung höher als im intrazellulären Raum des
Muskels.
Die merkwürdige Erschein1l.ng des "aktiven Transports" gewährleistet die Aufrechterhaltung der
Konzentrationsgefälle entgegen der ausgleichend
wirkenden spontanen Diffusion. Die Ionen werden
durch "Ionenpumpen" quer durch die Membranen
transportiert. Am Qesten untersucht ist der aktive
Transport des Natriums durch die Froschhaut, die
sogar entgegen einem hundertfachen Konzentrationsverhältnis wirkt14 . Hier folgen die negativen Gegenionen (Chlor) dem Natrium "passiv", indem sie durch
das erzeugte Potentialgefälle nachgezogen werden.
Dafür können, wie die genauere Uhtersuchung zeigt,
Donnan-Gleichgewichte nicht verantwortlich gemacht
werden.
14 Siehe H. Ussing, Adv. Enzymology 13,21 (1952);
Genfel' Atomenergiekonferenz 1955, Bericht 908.
'--.
C.-
Jg.60, Heft 10
Oktober 1959
E. Broda : Chemische Austauschreaktionen und dynamischer Zustand
279
Beim aktiven Transport von Mineralstoffen tritt Lysins im Protein durch aktives Lysin, also wieder
die Besonderheit des lebenden Systems besonders in einem Austausch:
klar und auffällig in Erscheinung; doch sind leider
R 1 - Lys - R 2 + ':'Lys ~ R 1 - .*Lys - ~2 + Lys.
über die Wirkungsweise der Ionenpumpe Einzelheiten
Der wohlbekannte Mechanismus des glykolytischen
bisher n icht mit Sicherheit bekannt. Noch weniger
erforscht ist der oben kurz erwähnte Transport von Abbaus der Glukose ist kompliziert und erfordert
12 En~yme. Da der Aufbauweg mit dem Abbauweg
Mineralstoffen, etwa des Kalziums, zu den verschiedenen Teilen des Skeletts, wo sie in unlöslicher Form nicht in allen Stufen übereinstimmt, wie alsbald
abgelagert werden. Daher seien die Besonderheiten diskutiert werden soll, muß ein System, wenn es zu
des biologischen Austausches lieber an Hand von ·Abbau und Aufbau - also zum dynamischen Zust and
- befähigt sein soll, sogar noch eine größere Zahl
Vorgängen analysiert, an denen organische Vervon Enzymen enthalten 16 • Über die Enzyme, die
bindungen explizit beteiligt sind.
den
dynamischen Zustand der Proteine vermitteln,
Als erstes derartiges Beispiel sei die Milchsäuregärung angeführt. In jedem Tier-(und auch Pflanzen-) ist trotz vieler Bemühungen weniger bekannt als über
jene Enzyme, die für den Energiehaushalt verantwortKörper laufen die Reaktionen der Glykolysereihe ab,
lich
sind; darüber sollen· weiter unten einige Wort e
durch die ein Molekül Glukose (G) letzten Endes in
zwei Moleküle Milchsäure (L) gespalten wird (Milch- gesagt werden.
Beim biologischen Austausch besteht in der Praxis
säuregärung). Wenn nun dem Tier über einen hinkeine
Gewähr dafür, daß das Gleichgewicht wirklich
reichend langen Zeitraum fortlaufend ' radioaktive
von beiden Seiten her erreicht werden kann. Au ch ,
(und zwar der Einfachheit halber an allen 6 Kohlenstoffatomen gleichmäßig markiede) Glukose ver- dies ist eine Folge der Kompliziertheit der reagierenden
Systeme. So kann Milchsäure im Organismus stat t
abreicht wird, muß der Kohlenstoff der Milchsäure
schließlich die gleiche spezifische Aldivität wie der aus (markierter) Glukose auch aus (unmarkiertem )
Kohlenstoff der Glukose aufweisen, soweit die Milch- Alanin, und anderseits Glukose statt aus (markierter)
Milchsäure auch aus (unmarkierter) Fruktose entsäure der Glukose entstammt.
.
Nun werden aber, wie wir betont haben, im stehen. Eine solche Bildung aus unmarkierten Vordynamischen Zustand die biologischen Abbauprozesse 'stufen führt natürlich zu eirrer Verdünnung des
Isotops im Reaktionsprodukt. Doch ist dies grunddurch gegenläufige Aufbauprozesse kompensiert.
Wenn also dem Tier ständig radioaktive Milchsäure sätzlich ohne Belang, da man sich unter günstigen
zugeführt wird, muß die Glukose schließlich ebensoviel Umständen im Gedanlcenexperiment oder au chpraktisch-experimentell "reinen" Systemen, in den en
Radiokohlenstoff je Grammatom Kohlenstoff enthalten wie die Milchsäure, soweit die Glukose der keine Nebenreaktionen ablaufen, beliebig annähern
kann.
Milchsäure entstammt. Formell kann man die beschriebenen Reaktionen durch die einfache Gleichung
Chemische Umwandlungen
in isolierten austauschenden Systemen
2 *L ~ *G
2L
G
+
+
beschreiben. Diese Gleichung trägt also der experimentell festgestellten Tatsache Rechnung, daß innerhalb der lebenden Substanz der Kohlenstoff zwischen
der Glukose und der Milchsäure Platz wechselt.
Der Biochemiker ~agt in seiner Laborsprache und
au ch in seinen Veröffentlichungen, daß der Kohlenstoff zwischen Glukose und Milchsäure ausgetauscht
wird. Dabei brauchen sich die koexistierenden
Mengen an Glukose und Milchsäure im System gar
nicht zu ändern, da die markierten Stoffe in
unwägbar kleinen Mengen zugeführt werden können .
Ein klares Beispiel für den biologischen Austausch
von ganzen Atomgruppen bietet der schon oben kurz
erwähnte Eintritt von Aminosäureresten in Proteine 15 •
Beispielsweise kall)1 Serumalbumin selektiv an einer
bestimmten Aminosäure - etwa am Lysin - markiert
werden, indem man einem Versuchstier diese Aminosäure in markierter Form injiziert. Die radioaktive
Markierung kann am Kohlenstoff oder an fest gebundenem Wasserstoff erfolgen. Das Serumalbumin
unterliegt nämlich so wie jeder Serumeiweißkörper
dynamischem Ab - und Aufbau, und beim Aufbau
wird zum Teil statt des ge,,\öhnlichen Lysins Radiolysin eingebaut. Da die Konzentration des Albumins
im Serum konstant bleibt, besteht der schließlich
feststellbare Gesamteffekt in einem Ersatz inaktiven
Man kann die Beantwortung der Frage, ob in
bestimmten Fällen von "chemischem" Aust ausch
oder
"biologischem" Austausch
(dynamischem
Zustand) zu sprechen ist, gewiß nicht davon abhängen
lassen, ob die Reaktionen einfach oder kompliziert
ablaufen. Die Tatsachen allein, daß z. B. für den
biologischen Austausch von Kohlenstoff zwischen
Glukose und Milchsäure eine Vielzahl von Enzymen
erforderlich ist und daß Nebenreaktionen stattfinden, sind demnach ohne Belang. Wohl aber kann
zweckmäßig ein Kriterium verwendet werden, das
auf der Analyse der thermodynamischen Verhältnisse
beruht.
Die austauschenden chemischen Systeme, für die
im ersten Abschnitt Beispiele gegeben wurden,
können als isolierte Systeme im Sinne der Thermodynamik betrachtet werden. Die Möglichkeit d es
chemischen Austausches ist also nicht daran gebunden,
daß ein Transport von Energie oder Stoffen durch
die Begrenzung der Systeme stattfindet. Nun sei
die freie Energie solcher isolierter Systeme betrachtet .
Eine Möglichkeit ist, daß ein System in bezug auf die
möglichen "chemischen" Umwandlungen ein Minimum
der freien Energie erreicht hat. Dabei sei definitionsmäßig festgelegt, daß der Austausch isotoper Atome
zwischen Molekülen nicht als "chemische" Umwand-
1:; Siehe z. B . E. Broda, Radioaktive Isotope in der
B iochemie. Wien. 1958.
16 H. A. Krebs und H. L. Kornberg, Energy
Transformations in Living Matter. Berlin. 1957.
280
E. Broda: Chemische Austauschreaktionen und dynamischer Zustand
lung angesehen wird. Ein Minimum der so definierten
"chemischen freien Energie" - und zwar unabhängig
vom Mengenverhältnis H 2 /H 20 - liegt offenbar in
unserem System vor, das bloß aus Wasser, molekularem
Wasserstoff und einem unveränderlichen Katalysator
besteht. Ebenfalls befindet sich die wäßrige Lösung
der beiden Glukosephosphate im Minimum der
chemischen freien Energie, falls die Konzentrationen
dem Gleichgewicht entsprechen. Spontan ablaufende
chemische Reaktionen gibt es weder im einen noch
im anderen System. Wenn also in solchen Systemen
auch Isotope ausgetauscht werden können, so ist
doch ein Austausch nicht mit einer Änderung der
chemischen Zusammensetzung oder der chemischen
freien Energie verknüpft.
Manche andere isolierte Systeme weisen nicht den
Minimalwert der chemischen freien Energie auf.
Auch hier besteht die Möglichkeit chemischen Austausches, ohne daß das System dabei seinen Gehalt
an chemischer freier Energie ändert (metastabiles
System) . Ein Beispiel wäre der Austausch von Wasserstoff in einem System, das bloß aus einer wäßrigen
Lösung von Glukose und Milchsäure besteht. Wasserstoff würde demgemäß zwischen den Hydroxylgruppen
der beiden Verbindungen (sowie auch mit Wasser)
ausgetauscht, ohne daß sich aber die chemische
Zusammensetzung des metastabilen Systems - und
daher die chemische freie Energie ändert. In
Abwesenheit von Enzymen ist nämlich die Geschwindigkeit der möglichen Reaktionen, durch die
die chemische Zusammensetzung verändert würde insbesondere der Reaktion Glukose ~ 2 Milchsäure so gut wie null. Dies, obwohl die freie Reaktionsenergie so bedeutend ist, daß im Gleichgewicht neben
der gesamten Milchsäure in den Körpern der Menschheit nicht ein einziges Molekül Glukose bestehen
könnte.
In manchen anderen isolierten Systemen, die
ebenfalls zu Versuchsbeginn den Minimalgehalt an
chemischer freier Energie nicht erreicht haben, ändert
sich die freie Energie durch den Ablauf chemischer
Reaktionen. Ein Beispiel wäre eine wäßrige Lösung
von Glukose und Milchsäure, die außerdem die für
den Ablauf der Glykolyse notwendigen Enzyme
enthält; hier wandelt sich Glukose in Milchsäure um.
Ein anderes Beispiel wäre die Einstellung des chemischen Gleichgewichtes zwischen den genannten beiden
Glukosephosphaten in Anwesenheit des zuständigen
Enzyms in einer wäßrigen Lösung, in denen das
Gleichgewicht zwischen den beiden Isomeren anfangs
nicht besteht. Wenn in solchen Systemen Austausch
von Isotopen stattfindet (etwa Wasserstoff zwischen
Glukose und Milchsäure oder Phosphor zwischen den
Glukosephosphaten), so überlagert er sich der fortschreitenden chemischen Umwandlung.
In Zusammenfassung dieser Überlegungen kann also
gesagt werden, daß der chemische Austausch innerhalb thermodynamisch stabiler oder auch nicht
stabiler isolierter Systeme wirken kaim, wobei im
letzteren Fall entweder (wenn die chemische Reaktionsgeschwindigkeit hinreichend klein ist) keine merkliche
Änderung der chemischen Zusammensetzung erfolgt,
oder (wenn die Reaktionsgeschwindigkeit hinreichend
groß ist) 'eine Annäherung an das chemische Gleich-
Österreichische
Chemiker-Zeitung
gewicht und daher an das Minimum der chemischen
freien Energie stattfindet. Soweit also die chemische
Zusammensetzung in einem instabilen Zustand eines
isolierten Systems aufrecht bleibt, liegt dies an der
Kleinheit der Reaktionsgeschwindigkeiten; das System
ist dann metastabil und seine Zusammensetzung wird
"statisch" aufrechterhalten.
Der in derartigen isolierten Systemen auftretende
chemische Austausch hat mit den Lebensvorgängen,
also dem spezifischen Gegenstand der Biologie, nichts
zu tun, und zwar auch dann nicht, wenn etwa teilnehmende Katalysatoren biogen sind.
Chemische Umwandlungen in belebten Systemen
J;n den belebten Systemen, die natürlich ihrem
Wesen nach keine isolierten Systeme sein können,
finden gleichfalls ständig chemische Austauschvorgänge
der beschrie.benen Art, beispielsweise ein Austausch
von Wasserstoff zwischen Hydroxylgruppen, statt.
Die lebende Substanz ist jedoch dadurch gekennzeichnet, daß in ihr außerdem die biologischen Austauschvorgänge stattfinden, für die oben Beispiele
(Austausch von Kohlenstoff bei der Glykolyse, von
markierten Aminosäureresten im Stoffwechsel der
Proteine) gegeben wurden. Diese Austauschvorgänge
laufen in thermodynamisch instabilen Systemen
ab, in denen die chemischen Reaktionsgeschwindigkeiten für eine Selbstzerstörung der Systeme ausreichen und die dennoch stationäre Zusammensetzung
haben. Die Größe der Reaktionsgeschwindigkeiten
ist durch die Anwesenheit der Enzyme bedingt.
Beispielsweise reicht die Konzentration der glykolytischen Enzyme in den Körperzellen hin, um die vorhandene Glukose innerhalb kürzester Zeit zu Milchsäure abzubauen. Der instabile Zustand verdankt
also seine fortdauernde Existenz nicht etwa einer
kinetischen Reaktionshemmung. Er wird demnach
nicht "statisch" - auf Grund von Metastabilität - '
aufrechterhalten.
Vielmeln- wird der instabile Zustand in den Lebewesen und ihren Organen "dynamisch" bewahrt.
Dies bedeutet, daß die spontan verlaufenden, also
den Gehalt an freier Energie vermindernden
("exergonischen") Prozesse - die wir nun der Einfachheit halber als Abbauprozesse bezeichnen wollen durch "endergonische" Prozesse kompensiert werden,
die die freie Energie vergrößern. Dabei ist eine
verlustlose Ausnützung der freien Energie, die bei
den ersteren Prozessen verfüg bar wird, für die letzteren
Prozesse in der Praxis gewiß nicht möglich.
Daher muß eine Nachlieferung freier Energie durch
unabhängige, spontan verlaufende Stoffwechselvorgänge erfolgen; Schrödinger hat in diesem
Sinne von einer Lieferung "negativer Entropie"
gesprochen 17 . Die Möglichkeit solcher Zufuhr freier
Energie, die praktisch in Form von Stoffen mit
hohem Gehalt an freier Energie geliefert wird, besteht
in den sogenannten offenen Systemen, denen sich
das Interesse der physilcalischen Chemie derzeit in
steigendem Maße zuwendet. Durch die Grenzflächen
offener Systeme können - im Gegensatz zu isolierten
Systemen - Stoffe und Energie ein- und austreten.
17
E. Schrödinger, What is Life? Cambridge. 1945 .
...,-
f
Jg. 60, Heft 10
Oktober 1959
281
E. Broda: Chemische Austauschreaktionen l.md dynamischer Zustand
Der wichtigste Stoffwechselvorgang, dessen biologischer Zweck die Lieferung freier Energie ist, ist
bekanntlich die Atmung, durch die organische Verbindungen bis zum Kohlendioxyd und zum Wasser
oxydiert werden. Sie erfolgt hauptsächlich auf dem
Weg über den von Kre bs gefundenen Zitronensäurezyklus. Die Atmung liefert akkumulierte und einsatzfähige freier Energie in Form des Gehaltes an freier
Energie im "energiereichen" Nukleotid Adenosin- ·
triphosphat (ATP). Das ATP kann dann dazu dienen,
den dynamischen Zustand Glukose ~ 2 Milchsäure besonders bei den höheren Lebewesen, die keine
, Milchsäure ausscheiden - in Gang zu halten. Doch
kann seinerseits wieder auch das im Zusammenhang
mit der Glykolyse gebildete ATP andere endergonische
AufbauprQzesse antreiben. Zwischen dem ATP verschiedener Herkunft wird im Gewebe nicht unterschieden, soweit es in einen "Pool" eintritt.
Der Mechanismus · der Reaktiollsumkehr
Die Aufbauprozesse können offenbar nicht in
einfacher Umkehrung der Abbauprozesse an Ort und
Stelle erfolgen. Die Richtung einer chemischen
Reaktion kann nur dann umgekehrt werden, wenn
die Bedingungen in geeigneter Weise abgeändert
werden. Daher kann unter den gleichen Bedingungen,
unter denen der Abbau spontan verläuft, Aufbau
durch einfache Umkehr nicht stattfinden·. Wohl aber
kann man sich einige Möglichlwiten vorstellen, wie
der Abbau durch drastische Veränderung der Bedingungen in Aufbau verkehrt werden kann. Die
belebte Substanz scheint vorwiegend zwei Verfahren
zu verwenden, nämlich 1. das Verfahren der Änderung
des Reaktionsortes und 2. das Verfahren der energiereichen Zwischenprodukte. Diese Verfahren ermöglichen den Ablauf von Kreisprozessen.
Die resultierende Richtung einer Reaktion A ~ B
läßt sich umkehren, wenn die am Reaktionsort
herrschenden Konzentrationen (genauer: thermodynamischen Aktivitäten) von A und/oder B (gegenläufig) hinreichend stark verändert werden. Grundsätzlich das gleiche gilt natürlich für kompliziertere
Reaktionen, etwa A
B ~0
D. Der Stoff D
kann dabei auch aus Wasserstoff- oder Hydroxylionen bestehen, so daß in solchen Fällen der PR-Wert
am Reaktionsort über die Richtung der Reaktion
mit entscheidet. Eine Kompensation einer Abbaureaktion kann also erfolgen, indem das Abbauprodukt
an einen "günstigeren" Reaktionsort verschoben
wird, wo dann spontan wieder ein Aufbau erfolgt.
Die beiden Reaktionsorte müssen, damit die Verschiedenheit der Bedingungen nicht durch Diffusion
zunichte gemacht wird, durch Phasengrenzflächen
voneinander getrennt sein.
Als Reaktionsorte
kommen allgemein die intrazellulären Organellen
(Zellkerne, Mitochondrien, Mikrosomen usw.) und der
Zellsaft in Frage.
Ein mögliches Beispiel wäre die Reaktion 3-Phosphoglycerat ~ 2-Phosphoglycerat. Diese Reaktion bildet
(von links nach rechts) eine Teilreaktion der Glykolyse,
dürfte aber auch (von rechts nach links) einen Schritt
beim Aufbau der Glukose aus Milchsäure, also bei
der Umkehr der Glykolyse bilden. Die freie Reaktionsenergie unter Standardbedingungen beträgt nur etwa
+
+
+
1,06 Kilokalorien/MoP6, so daß schon kleine
Konzentrationsänderungen für eine Reaktionsumkehr
genügen. Natürlich wäre ein Mechanismus nötig,
durch den spezifisch nur das eine oder das andere
der beiden Isomeren durch die Phasengrenzfläche
transportiert und jenseits dieser Grenzfli;i.che angereichert wird. Die für die einzelnen Stadien des
Kreisprozesses notwendige Arbeitsleistung kann in
ähnlicher Weise wie beim Reaktionskasten von
Van t'Hoff berechnet werden.
Der zweite Mechanismus zur Reaktionsumkehr
besteht darin, daß das Abbauprodukt B zunächst unter Verwendung zugeführter freier Energie - in
ein Zwischenprodukt Z mit einem so hohen Gehalt
an freier Energie umgewandelt wird, daß er sogar
noch jenen des "gewünschten" Aufbauproduktes A
übertrifft. Dann kann der Zwischenstoff Z spontan
in das Aufbauprodukt A übergehen. Natürlich werden
alle diese Reaktionen durch spezifische Enzyme
katalysiert sein. Die Umkehrung von Reaktionen,
deren Gleichgewichte besonders stark auf einer Seite
liegen, dürfte vorwiegend nach diesem zweiten Prinzip
zu erreichen sein.
So liefert die Reaktion Phosphoenol-Brenztraubensäure (PBTS) ~ Brenztraubensäure (BTS) im Rahmen
der Glykolyse nutzbare freie Energie in Form von
ATP gemäß PBTS
ADJ? - > BTS
ATP. Der
Standardwert der freien Reaktionsenergie für PR = 7
ist - 6,1 Kilokalorien, also dem Absolutwert nach
sehr groß. Zur Umkehr wird die Brenztraubensäure
in Leber zunächst in Äpfelsäure (ÄS) und dann in
Oxalessigsäure (OES) umgewandelt16 , 18. Die Oxalessigsäure - schon selbst ziemlich reich an freier
Energie - wird dann durch das energiereiche N ukleotid
ITP (Inosintriphosphat) unter Abspaltung von 00 2
in PBTS verwandelt. Als energiereichster Zwischenstoff wäre eine hypothetische, intermediär auftretende
Verbindung von OES und ITP zu betrachten. Für
den Ablauf des Kreisprozesses ist die Zufuhr von
ITP, ADP, DPN (Diphosphopyridin-Nukleotid) und
TPNH 2 (reduziertem Triphosphopyridin-Nukleotid)
sowie die Abfuhr von ATP, IDP (Inosindiphosphat),
DPNH 2 (reduziertem Diphosphopyridin-Nukleotid)
und TPN (Triphosphopyridin-Nukleotid) erforderlich.
Vermutlich werden diese Stoffe durch Grenzflächen zubzw. abgeführt, und das System besteht aus mehreren
rä,umlichen Abteilungen.
+ I'l'P - IDP
OES
Glukose ...... PBTS <
- co,
t + DPN
+ ADP I
+
-ATP
.j,
Milchsäme ... BTS
+
+ TPNR 2 + co,
-TPN
l
-DPNH •
ÄS
Ein anderes, viel untersuchtes, allerdings in noch
geringerem Maße geklärtes Beispiel einer Reaktionsumkehr über Zwischenstoffe ist jenes der.schon mehrfach erwähnten Proteinsynthese. Hier wird zuerst
aus der freien Aminosäure und ATP mit Hilfe spezifischer Enzyme als energiereiches Zwischenprodukt
ein gemischtes Anhydrid der Aminosäure mit Adenyl18 Siehe
aber H. H. Hiatt, M. Goldstein, J.
Lareen und B. L. Horecker, J. Bio!. Chem. 231, 303
(1958).
I
282
E. Broda: Chemische Austauschreaktionen lmd dynamischer Zustand
säure (Adenosinmonophosphat AMP) gebildet und
dabei P yrophosphat freigesetzt. Aus den Anhydriden
H 2N "
-/
CH· COOH
+ ATP + H.O
"
->
R
->
/
NH 2
.
+
Aden yl' R ibosyl-HP0 2-O-CO . CH"
+ H 4 P 20?
R
entstehen dann Peptide und Proteine. Die Schließung
der p eptidischen Bindungen erfolgt wahrscheinlich
an Matrizen aus Ribonukleinsäure, also an einem
anderen Ort als jenem, wo proteolytische Enzyme
wirksam sin d.
/ E s scheint, daß auch die " einfache " Veränderung
des R eaktionsortes, die aktiven Transport erfordert,
mindest ens in vielen Fällen unter Beteiligung energiereicher Nukleotide verläuft1 9 ; diese bilden offenbar
intermediär schwer faßbare energiereiche Verbindungen mit den transportierten Substanzen. Im ganzen
ist demnach zweifelhaft, ob nicht letzten Endes die
beiden Mechanismen zur Reaktionsumkehr 7,usammenfallen und damit zur Aufrechterhaltung des dynamischen Zustandes .
In Zusammenfassung dieses Teiles ist also zu sagen,
daß der biologische Austausch im Gegensatz zum
chemischen Austausch stets das Resultat eines wohldefinierten Kreisprozesses ist, wobei die endergonen
T eilreaktionen unter Mitwirkung freier Energie von
außen angetrieben werden. Die biologischen Austauschvorgänge können demnach nicht in isolierten, sondern
nur in offenen Systemen ablaufen. Für sich betrachtet,
lassen die einzelnen Teilreaktionen natürlich nicht
erk ennen, daß sie bei Lebensprozessen eine Rolle
spielen ; für die lebende Substanz kelillzeichnend ist
erst die kettenmäßige Aufeinanderfolge der Teilreaktionen und ihre dynamische Kompensation.
Möglichkeiten zum experimentellen Aufbau
kreisreag'ierender Systeme
Wenn au ch der Austausch auf Grund geregelter
bisher nur an belebten Systemen beobachtet wurde, besteht doch grundsätzlich die Möglich. k eit, offene Systeme im Modell aufzubauen, in
denen solche Kreisprozesse ablaufen.
Ein möglichst einfiwhes Beispiel eines Kreisprozesses
- der nur zwei Glieder einschließt - bietet der
Abbau und Aufbau von Fruktose-l,6-Phosphat
(F-l ,6-P) im Rahmen der Glykolyse und ihrer Umkehr,
wobei m erkwürdigerweise der excrgone (Abbau-)
Schritt eine Teilreaktion des Glukoseaufbaus, der
endergone (Aufbau -)Schritt eine Teilreaktion des
Glukoseabbaus ist1 6 . Eine spezifische Phosphatase
sp altet aus dem F -l,6-P ein Molekül anorganisches
Phosphat ab und liefert dabei Fruktose-6 -Phosphat
(F-6-P) ; dies ist eine Reaktion, deren Gleichgewicht
I~reispro zesse
F-l,6 -P
+ AT}'
-ADP
1/1
"
"I-p
/
F,6-P
1 9 W . Bart l ey, R. E. Davies wld H. A. Krebs ,
P roc . R oy. Soc. London, Sero B 142, 187 (1954).
Österreichische
Chemiker-Zeitung
weit auf Seite der Hydrolyse liegt. Die gegenläufige
Reaktion, also der Aufbau von F -l,6-P unter Mitwirkung von ATP, wird durch Phosphofruktokinase
katalysiert und weist eine freie Reaktionsenergie von
- 4,2 kcal auf. Der hohe Absolutwert rührt natürlich
daher, daß das energiereiche ATP an der Reaktion
teilnimmt.
In der Natur wird dieser erhl'lbliche Verbrauch
von ATP bei einer Teih'eaktion des glykolytischen
Abbaus durch ATP-Gewinn bei anderen Teilreaktionen
überkompensiert, so 'daß die Glykolyse in Richtung
des Abbaus im ganzen nutzbare freie Energie in
Form von ATP zu liefern imstande ist - was ja ihr
biologischer Hauptzweck ist.
In einer gemeinsamen Lösung von F -l,6-P und
F-6 -P muß in Anwesenheit von Phosphofr]lktokinase
und ATP aus F-6-P das F-l,6-P entstehen, während
in Anwesenheit der Phosphatase nur die umgekehrte
Reaktion abläuft. Eine Koexistenz beider Fruktoseester ist nur möglich, wenn entweder gar kein Enzym
vorhanden ist, das System also metastabil ist, oder
aber wenn ' beide Enzyme sowie ATP in geeigneten
Mengen gleichzeitig vorhanden. sind, also der Kreisprozeß stattfindet. Die "statische Koexistenz" kann
es auch im isolierten System, die "dynamische
Koexistenz", also einen stationären Zustand, wegen
der Notwendigkeit der Zufuhr von ATP und der
Abfuhr von ADP und P nur im offenen System geben.
Die Geschwindigkeit des Kreisprozesses kann durch
Verfolgung des biologischen Austausches nach anfänglicher Markierung entweder des F -6-P oder des
F -l,6 -P Z. B. am Kohlenstoff gemessen werden. Im
stationären Zustand müssen die beiden Geschwindigkeiten gleich sein. Eine analoge Notwendigkeit
der gleichzeitigen Anwesenheit zweier verschiedener
Enzyme würde beim chemischen Austausch zwischen
koexistierenden Verbindungen etwa Cori-Ester
und Robison-Ester - natürlich nicht bestehen.
Noch eindrucksvoller wäre natürlich der Nachweis
des Kreisprozesses beim Aufbau von PhosphoenolBrenztraubensäure aus Brenztraubensäure, weil hier
der Ring nicht 2, sondern 5 Glieder umfaßt, der
Radiokohlenstoff also der Reihe nach in alle 5 Glieder
eintritt. Zu diesein System müßten ITP, ADP,
DPN und TPNH 2 zugetropft werden, während ATP,
IDP, DPNH 2 und TPN abzuführen wären. Ein
weiteres Beispiel wäre der Aufbau von Hexosen aus
CO 2 und H 2 unter Mitwirkung von ATP und unter
katalytischer Beteiligung der Glieder des reduktiven
Pentosephosphatzyklus 20 . Doch ist nicht sicher, ob
hier homogene Systeme genügen. Nur ein homogenes
System kann aber derzeit - wenn auch unter Zusatz
biogener Katalysatoren - voll synthetisch aufgebaut
werden.
.
\
Schlußbemerkung über den dynamischen Zustand
In den letzten Jahren sind auf Grund bestimmter
Experimente mit markierten Atomen von Hogness,
Cohn und Monod 21 Zweifel daran ausgesprochen
worden, ob in Bakterien wirldich ein dynamischer
20 E. Racker, Nature 175,249 (1955) ; Arch. Bioch em.
Biophys. 69, 300 (1957).
21 D. S. Hogness, M. Cohn und J. Monod, Biochim.
Biophys. Acta 16, 99 (1955).
Jg.60, H eft 10
Oktober 1959
E. Broda : Chemische Austauschreaktionen emd dynamischer Zustand
Zustand von Proteinen besteht. Davon ausgehend,
wurde von den gleichen Autoren sogar der Verdacht
ausgedrückt, der dynamische Zustand der Proteine
könne in vielzelligen Lebewesen dadurch vorgetäuscht
sein, daß Zellen untergehen und durch neue Zellen
ersetzt werden. Mit dieser Auffassung nähert man sich
also wieder den älteren Anschauungen, denen zufolge
die Synthese von Eiweiß im erwachsenen höheren
Tier nur dem Ersatz sezernierten oder abgenützten
Eiweißes dienen solle.
Zur Überprüfung dieser Auffassung wurden zahl·reiche weitere Untersuchungen mit markierten Atomen
angestellt. Es scheint gegenwärtig, daß der Neuaufbau
von Protein in Mikroorganismen, die sich in der
logarithmischen Wachstumsphase befinden, tatsächlich so stark gegenüber dem A)Jbau vorwiegt, daß der
Begriff des dynamischen Zustandes in solchen Systemen
einigermaßen an Bedeutung verliert. Auch an den
Nukleinsäuren der Mikroorganismen wurden analoge
Beobachtungen gemacht. Jedoch wurde bei Mikro organismen im Ruhezustand Kompensation des
Proteinaufbaus durch Abbau festgestellt 21,., Zlb. Insbesondere dürfte bei den höheren Tieren der Begriff
des dynamischen Zustandes wenigstens .in bezug auf
viele Eiweißkörper, in bezug auf die Ribonukleinsäure und auch auf die Kohlehydrate und auf die
Fette seine Bedeutung behalten15 , 22.
Man wird nun geradezu zur Vermutung geführt,
daß die Entwicklung der Lebewesen von den Einzellern zu den höheren Vielzellern - zwischen deren
Geweben Arbeitsteilung herrscht - den Ausbau des
dynamischen Zustandes erfordert hat. Während die
Lebensfunktionen der Einzeller im Kampf ums Dasein
auf Schnelligkeit der Vermehrung gerichtet sind
und dem längeren Überleben des Individuums
geringere Bedeutung zukommt, trifft bei den höheren
Tieren das Umgekehrte ZU 23 . Die für das Überleben
in verschiedenartigen Bedingungen notwendige Anpassungsfähigkeit ist nun gewiß leichter für einen
Organismus gegeben, der sich nicht in einem statischen,
sondern in einem dynamischen Zustand befindet.
Die Bedeutung des Unterganges und des Ersatzes
von Zellen beim Einbau markierter Atome in die
Komponenten des Tierkörpers soll dabei gar nicht
geleugnet werden. Man kann aber gerade den ständig
stattfindenden Abbau und Aufbau von Zellen zum
dyn~mischen Zustand in Beziehung setzen.
Beim
biologischen Austausch erfolgt ein Ersatz auf der
Ebene der Moleküle. Es wäre vielleicht nicht abwegig,
in den "physiologischen" Ersatzvorgängen auf zellulärer Ebene nicht einen Widerspruch zum "biochemischen" Ersatzvorgang, sondern im Gegenteil
sogar seine Potenzierung zu erblicken. Aurh die physiologischen Ersatzvorgänge werden geregelte Kreisprozesse erfordern.
Da viele der Komponenten der lebenden Substanz
an dem einen oder anderen Kreisprozeß teilnehmen,
J. Mandelstam, Biochem. J . G9, 110 (1958).
H. H a 1 vor s 0 n, Biochim. Biophys. Acta. 27, 255,
267 (1958).
22 Sieh e V. G. Allfr ey, A . E . Mirsl~y und H. Stern,
Adv. Enzymol. lG, 411 (1955) .
23 Siehe
auch H. Eagle, Bac'teriol. Rev.22, 217
(1958).
21a
21 b
283
befinden sich diese Stoffe sowohl durch chemische
Umwandlungen als auch durch örtliche Verschiebungen in einem Zustand gerichteten Flusses. Unter
diesen Umständen ist möglich, daß ein synthetischer
Aufbau selbst der einfachsten Zelle erfordern würde,
daß man nicht nur den Atomen und Molekülen den
richtigen Platz anweist, sondern sie auch in den
richtigen Bewegungszustand in bezug aufeinander
versetzt; offenbar wird dadurch die Lösung der
Aufgabe in außerordentlichem Maße erschwert. Man
kann den Sachverhalt unter Benützung der Terminologie der statistischen Mechanik dadurch ausdrücken,
daß der Bereich der lebenden Zelle im r-Raum nicht
nur in bezug auf die Konfigurationen, sondern auch in
bezug auf die Impulse der Atome richtig getroffen
werden muß, wenn die Zelle funktionieren soll. Für
die Viren würde dies allerdings nicht gelten.
Die Viren sind extrem degenerierte Strukturen
mit Ursprung in lebender Substanz. Sie zeigen außer halb des lebenden Wirtes, soweit bisher bekannt,
überhaupt keinen Stofhvechsel. Dies geht besonders
scharf aus Experimenten mit Radiokohlenstoff hervor,
die am Tabakmosaikvirus in Abwesenheit lebendEll'
Zellen angestellt wurden 24 ,25. 4\.ußerhalb des Wirtes
sind die Viren demnach nicht dynamisch stabil,
sondern bloß statisch stabil (metastabil). Im F ehlen
eines eigenen Stoffwechsels und eines dynamischen
Zustandes liegt das stärkste Argument dafür, den
Viren den Charakter von Lebewesen abzusprechen.
Beispielsweise unterliegt kristallisiertes TomatenZwergwuchs- (bushy stunt) Virus in vitro ebenso wenig
irgendwelchen Umwandlungen wie irgendein anderes
reines Nucleoprotein und ist in. dieser Hinsicht nicht
von letzterem zu unterscheiden .
Ein dynamischer Zustand der Viren außerhalb des
Wirtes kann auch gar nicht erwartet werden , da den
Viren - von besonders gelagerten .t\.usna hmsfällen
abgesehen, wie sie etwa bei den Penetrationsenzymen
der Bakteriophagen oder des Grippevirus bestehen eine Ausrüstung mit Enzymen fehlt. Die Viren nehmen
am dynamischen Zustand erst dann teil, wenn sie in
die lebenden Wirtsz.ellen eingebaut sind 26 . E s wäre
übrigens nicht unmöglich, einen dynamischen Zustand
bei Viren zu finden, die sich zwar nicht innerhalb
einer lebenden Zelle, aber doch innerhalb eines Systems
befinden, das aus lebenden Zellen stammende
Organellen in geeigneter Kombin ation enthält.
Die Abgrenzung zwischen lebender und lebloser
Materie ist bis zu einem gewissen Grad eine Frage
der Definition. Doch scheint es zweckmäßig und
natürlich, für die Definition des Lebens gerade von
der Tatsache des dynamischen Zustandes, also des
geregelten Stoffwechsels über ein System von Kreis- .
prozessen auszugehen. Auf die Möglichkeiten und
Konsequenzen einer solchen Definition soll an
anderem Ort eingegangen werden.
24 E. Broda, G. Wüstinger und H. Schönfellinger, Naturwiss.43,...- 305 (1956).
25 M. L. Stephenson, K . V. Thimann und P. C.
Zamecnik, Arch. Biochem. Biophys. 65, 194 (1956).
26 H. Schönfe llin ger und E . Broda, Mh. Chem. 83,
837 (1952).
Printed in Aust ri a
Zugehörige Unterlagen
Herunterladen