Von der Fragestellung zur Untersuchung 19 Entscheidung für eine bestimmte Operationalisierung ist letztlich immer eine normative Entscheidung, die wie die Wahl der Variablen den Raum möglicher Ergebnisse einer Untersuchung definiert. 1.3 Von Daten zu Erkenntnissen Empirische Untersuchungen werden durchgeführt, um bestimmte Fragen zu klären – letztendlich dienen sie also dem Erkenntnisgewinn. Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der (wissenschaftlichen) Erkenntnis über die Welt werden im Rahmen der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie thematisiert. Dabei werden Fragen diskutiert wie etwa: Was können wir Menschen im Prinzip über die Welt herausfinden? In welcher Beziehung steht unser Wissen über die Welt zu den Dingen in der Welt? Kommen wir zu „gesicherten“ Erkenntnissen und, wenn ja, wie? Nach welchen Regeln und Prinzipien „funktioniert“ Wissenschaft? Wissenschaftsund Erkenntnistheorie In Bezug auf diese Frage werden eine ganze Reihe unterschiedlicher Grundpositionen diskutiert. Manche gehen bereits auf die „alten Griechen“ zurück, zum Beispiel auf Platon (427–347 vor Christus) und Aristoteles (384–322 vor Christus). Zwei wichtige Paare werden im Folgenden charakterisiert, in der Kürze zwangsläufig stark vereinfacht und plakativ (vgl. Westermann, 2000). Grundpositionen Nach der Position des Realismus gibt es eine von uns unabhängige Wirklichkeit, die wir durch Wahrnehmung erkennen können. „Die Dinge sind genau so, wie sie uns erscheinen“, würde man als naiver Realist sagen; ein kritischer Realist ließe zumindest die genaue Beziehung zwischen Wirklichkeit und menschlichem Denken offen. Der Idealismus hingegen vertritt die Position, dass die Wirklichkeit nicht unabhängig von der geistigen Welt ist: „Alle Dinge, auch materielle, werden durch nicht-materielle Ideen zur Existenz gebracht.“ Realismus vs. Idealismus Gemäß dem Empirismus leiten Sinneserfahrungen den Erkenntnisprozess und sind wichtigste Erkenntnisquelle. Der Erkenntnisgewinn erfolgt induktiv, das heißt, es wird von beobachteten Einzelphänomenen auf allgemeine Regeln geschlossen. Bekannte Vertreter des klassischen Empirismus sind John Locke (1632–1704) Empirismus vs. Rationalismus © 2016 Hogrefe Verlag, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Sieghard Beller; Empirisch forschen lernen. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. 20 Paradigmen der Psychologie Der Behaviorismus setzte, als Gegenbewegung zum introspektiven Vorgehen der phänomenologischen Psychologie, allein auf beobachtbares Verhalten. Mit der Kognitiven Wende rückten ab den 1950er Jahren dann wieder mentale Phänomene ins Zentrum des Interesses. Das jeweilige Paradigma bestimmte so Fragestellungen und Forschungsmethoden. Kapitel 1 und David Hume (1711–1776). Die Gegenposition, der Rationalismus, betont, dass das Denken den Erkenntnisprozess leitet. Ideen regen Untersuchungen an, bestimmen ihren Zuschnitt und werden anhand von Beobachtungen „überprüft“. Als Begründer des klassischen Rationalismus gilt René Descartes (1596–1650); ein weiterer bekannter Vertreter ist Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Der wichtigste neuzeitliche Vertreter und Begründer des so genannten kritischen Rationalismus ist der britisch-österreichische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Sir Karl Popper (1902–1994), dem die Englische Königin 1965 für sein Lebenswerk den Adelstitel verliehen hat. Ein wichtiges Prinzip bei Popper ist, Theorien zu prüfen, indem man sie zu falsifizieren versucht. Thomas Kuhn (1922– 1996) hingegen stellte fest, dass Forschung diesem Prinzip nicht streng folgt. Fortschritt ergibt sich eher durch „Revolution“, wenn ein Forschungsparadigma durch ein neues abgelöst wird. Weitere Positionen Einige weitere wichtige Positionen seien zumindest noch kurz erwähnt: Konstruktivisten betonen, dass Erkenntnis nicht absolut ist, sondern eine individuelle beziehungsweise soziale Konstruktion von Wirklichkeit darstellt. Pragmatiker betonen den Nutzen wissenschaftlicher Erkenntnis für die praktische Anwendung, Konventionalisten betonen die oft stillschweigenden Regeln im Wissenschaftsbetrieb etwa darüber, was interessante Forschungsfragen oder angemessene Methoden sind, und radikale Skeptiker schließlich bezweifeln, dass der Mensch überhaupt zu gesicherten Erkenntnissen gelangen kann. Reflexion der eigenen Position Je nachdem, welche Position man selbst einnimmt, resultiert ein anderes wissenschaftliches Interesse und Vorgehen. Die Grundposition bestimmt wesentlich, welche Fragestellungen für interessant erachtet werden, wie man eine Fragestellung in eine konkrete Untersuchung umsetzt und welche Erkenntnisse über die Natur der untersuchten Gegenstände man aus den Ergebnissen gewinnen zu können glaubt. Personen, die selbst empirisch arbeiten, gehören definitiv nicht zu den Skeptikern, denn sie gehen davon aus, dass sie durch empirische Untersuchungen Antworten auf ihre Fragen erhalten können. Meist wird eine Mischung aus verschiedenen Positionen vertreten. Es wird davon ausgegangen, dass es eine vom Menschen unabhängige Realität gibt, in der manche Aspekte systematisch © 2016 Hogrefe Verlag, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Sieghard Beller; Empirisch forschen lernen. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Von der Fragestellung zur Untersuchung 21 zusammenhängen. Diese Zusammenhänge versucht man in Theorien zu fassen, sodass Ereignisse vorhersagbar werden und die Wirklichkeit aktiv verändert werden kann. Theorien sind symbolische Repräsentationen dieser Zusammenhänge – zum Beispiel in Form von mathematischen Formeln – und als solche sind sie vom Menschen konstruiert. Gebildet, geprüft und modifiziert werden sie in einem Wechselspiel von induktiven Prozessen wie der Generalisierung von Beobachtungen und deduktiven Prozessen wie der systematischen logischen Ableitung von Vorhersagen aus Theorien. Theorie Deduktion Hypothese Induktion Beobachtung 1.4 Der Ablauf einer Untersuchung Nachdem einige zentrale Begriffe nun geklärt sind, soll zum Schluss dieses Kapitels der allgemeine Ablauf einer empirischen Untersuchung schematisch dargestellt werden. Verbunden damit ist eine Übersicht über die nachfolgenden Kapitel. Empirische Untersuchungen bestehen aus einer systematischen Erhebung und Auswertung von Erfahrungsdaten. Dabei lassen sich grob die folgenden charakteristischen Schritte unterscheiden. Im Stadium der Vorbereitung einer Untersuchung sollte Klarheit darüber erzielt werden, welche Fragestellung genau untersucht werden soll. Gibt es bekannte Theorien zu dieser Frage? Liegen bereits Erkenntnisse aus anderen Untersuchungen vor, die man berücksichtigen muss? Hat man eine konkrete inhaltliche Hypothese? Darüber hinaus sind aber auch die Rahmenbedingungen zu klären, welche die praktische Umsetzung der Untersuchung betreffen: Wer ist der Auftraggeber? Wie sind Verantwortlichkeiten verteilt? Welche Finanzmittel stehen zur Verfügung? Wie werden Kooperationen realisiert? Wie sieht der zeitliche Rahmen aus? Oder auch: Wie dürfen potenzielle Ergebnisse verwertet werden? Allgemeine Vorbereitung Sind die allgemeinen Aspekte geklärt, geht es an die konkrete Planung. Die zentrale Frage lautet: Wie ist die Untersuchung zu gestalten, damit die Fragestellung überhaupt sinnvoll beantwortet werden kann? Hierzu sind eine Reihe ineinandergreifender Festlegungen notwendig, welche die Variablen, den so genannten Versuchsplan (oder das Versuchsdesign) und die Stichprobe betreffen. Spezifische Planung © 2016 Hogrefe Verlag, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Sieghard Beller; Empirisch forschen lernen. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. 22 Kapitel 1 Kapitel 1 Fragestellung Kapitel 7 Kapitel 2 Ergebnisbericht Erhebungsmethoden Empirische Kapitel 6 Kapitel 3 Untersuchung Deskriptive Statistik Designs und Testverfahren Kapitel 5 Kapitel 4 Prinzip des Signifikanztests Stichprobenwahl Abbildung 1: Der Kreis der behandelten Themen reicht von der Entwicklung der Fragestellung bis zum Ergebnisbericht. Variablen bestimmen Im Hinblick auf die Variablen ist zu fragen: Welche sind überhaupt relevant (Selektionsproblem)? Soll die Auswirkung bestimmter unabhängiger Variablen geprüft werden? Sind Moderatorvariablen bekannt, die berücksichtigt werden müssen? Welche abhängigen Variablen sollen erhoben werden? Und wie sollen die Variablen operationalisiert werden? – In Kapitel 2 werden nach einer genaueren Besprechung des Begriffs der Messung eine Reihe grundlegender Erhebungsverfahren mit ihren Stärken und Schwächen vorgestellt: Kategoriensysteme zum Beispiel für die Verhaltensbeobachtung, Verfahren zur Erhebung von Einschätzungen, der Einsatz von Interviews und Fragebögen sowie psychologische Tests mit den Grundzügen der zugrunde liegenden Testtheorie. Versuchsplan entwerfen Bei der Vorbereitung einer Untersuchung muss man sich zudem für einen konkreten Versuchsplan entscheiden. Will man nur den aktuellen Status einzelner Merkmale beschreiben oder will man Hypo- © 2016 Hogrefe Verlag, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Sieghard Beller; Empirisch forschen lernen. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Von der Fragestellung zur Untersuchung 23 Freiheit der Forschung und soziale Verantwortung „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“ (Art. 5, Abs. 3, Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland). – Forschung soll frei sein, etwa frei von politischer Einflussnahme und Kontrolle. Diese Freiheit ist formell unbegrenzt und stellt einen Wert für sich dar; sie ist jedoch beschränkt, sofern Rechte anderer betroffen sind, und eng geknüpft an die soziale Verantwortung der Forscher. Diese haben natürlich andere Ziele und Interessen als die „Beforschten“ und die Gesellschaft. Dieses Spannungsfeld wird in ethischen Richtlinien reflektiert, die von Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) formuliert werden. Sie definieren „gute wissenschaftliche Praxis“ und helfen dabei, ethische Probleme frühzeitig zu erkennen und konfligierende Interessen gegeneinander abzuwägen. thesen über Zusammenhänge zwischen Merkmalen oder über die kausale Wirksamkeit einer unabhängigen Variablen prüfen? Das Vorgehen bei der ersten Art der Untersuchung wird in Kapitel 4 behandelt. Als Grundlage hypothesenprüfender Untersuchungen wird in Kapitel 5 das Prinzip des Signifikanztests vorgestellt. In Kapitel 6 folgen dann verschiedene Versuchsdesigns für diese Art von Untersuchungen. In diesem Zusammenhang werden auch Möglichkeiten vorgestellt, mit potenziellen Störvariablen umzugehen. Schließlich ist zu überlegen, welche Stichprobe von Personen untersucht werden soll. In den meisten Fällen wird man aus praktischen Gründen nur einen Bruchteil der Personen der eigentlichen Zielgruppe („Population“) untersuchen können. Wichtig ist deshalb, eine repräsentative Auswahl von Personen zu gewinnen. Welche Arten von Stichproben es gibt, wie man Repräsentativität gewährleistet und wie präzise Ergebnisse aus Stichprobenuntersuchungen sind, wird ebenfalls in Kapitel 4 besprochen. Stichprobe auswählen Nachdem die Untersuchung durchgeführt wurde und alle relevanten Variablen erhoben sind, müssen die Daten ausgewertet und in Bezug auf die Fragestellung interpretiert werden. Deskriptive Statistiken geben einen Überblick über die Merkmalsverteilungen in der Stichprobe. Wichtige statistische Kennwerte hierfür werden in Kapitel 3 eingeführt, wo außerdem Fehler und Fallen deskriptiver Statistiken besprochen werden. Kapitel 6 erklärt die Grundlagen einiger einfacher statistischer Tests. Daten analysieren © 2016 Hogrefe Verlag, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Sieghard Beller; Empirisch forschen lernen. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage.