ANHANG WISSENSCHAFTLICHE SCHLUSSFOLGERUNGEN UND BEGRÜNDUNG DER EMA FÜR DIE VERSAGUNG Wissenschaftliche Schlussfolgerungen Zusammenfassung der wissenschaftlichen Beurteilung von Movectro • Qualität Die Qualität von Movectro ist angemessen dokumentiert. Prinzipiell wurden zufriedenstellende chemisch-pharmazeutische Angaben für die Erteilung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen gemacht. Es finden sich keine nennenswerten Abweichungen von den EU- und ICH-Anforderungen. • Nicht klinische Angaben Die nicht klinischen Eigenschaften von Cladribin sind angemessen dokumentiert und erfüllen die Anforderungen zur Stützung des Antrags. • Wirksamkeit Die Wirksamkeit von Cladribin bei rezidivierend-remittierender (schubförmiger) Multipler Sklerose (RRMS) wurde in einer einzelnen zulassungsrelevanten Studie – einer doppelblinden, placebokontrollierten Multicenterstudie der Phase III (CLARITY) – sowie in einer unterstützenden doppelblinden, placebokontrollierten Einzelzentrumstudie der Phase II (Scripps-C) bewertet. Im Rahmen der Scripps-C-Studie wurde eine kumulative Gesamtdosis von 2,1 mg/kg als parenterale Formulierung (subkutan verabreicht) untersucht, während in der CLARITY-Studie eine orale Formulierung (Tabletten) in einer kumulativen Dosis von 3,5 mg/kg und 5,25 mg/kg angewendet wurde. Es wurden keine Dosisfindungsstudien bei der Population der vorgesehenen Zielindikation und mit der vorgesehenen oralen Formulierung durchgeführt. Primäres Ziel der Phase-III-Studie war es, die qualifizierende Schubrate nach 96 Wochen für Cladribin, verabreicht in kumulativen Dosierungen von 3,5 mg/kg und 5,25 mg/kg, im Vergleich zu Placebo zu bewerten. Die Zeit bis zur Progression der Behinderung, ein klinisch hochrelevanter sekundärer Endpunkt dieser Studie, wurde anhand einer nachhaltigen Veränderung des EDSS-Wertes über drei Monate ermittelt. Bezüglich der primären Analysen wurde für Cladribin 3,5 mg/kg und 5,25 mg/kg für alle Endpunkte eine statistisch signifikante Verbesserung nachgewiesen. Allerdings zeigte die niedrigere Dosis im Vergleich zu der höheren Dosis bei den meisten Parametern eine vergleichbare oder sogar eine bessere klinisch relevante Wirkung. Der primäre Endpunkt, die qualifizierende Schubrate nach 96 Wochen, verringerte sich bei beiden Verum-Gruppen im Vergleich zu Placebo in statistisch signifikantem Umfang (p<0,001). In Bezug auf die Zeit bis zur Progression der Behinderung erreichten die Analysen in der Gesamtpopulation gegenüber Placebo statistische Signifikanz. Die klinische Bedeutung der absoluten Wirkung auf die Progression der Behinderung ist jedoch zweifelhaft. Gemäß der CHMP-Leitlinie zur klinischen Untersuchung von Arzneimitteln zur Behandlung von Multipler Sklerose (CPMP/EWP/561/98 Rev. 1) ist der wichtigste Parameter bei einem krankheitsmodifizierenden Arzneimittel zur Behandlung von MS die Akkumulation von Behinderung, und die Schubrate kann nicht als Surrogatparameter für die Krankheitsprogression herangezogen werden. Ausgehend von den Baseline-Merkmalen der CLARITY-Studie bestand die eingeschlossene Studienpopulation aus RRMS-Patienten mit eher leichten Einschränkungen und geringer Krankheitsaktivität. Die Ergebnisse zur Wirksamkeit werden für eine Population mit geringem Risiko als eher unbedeutend eingestuft. Der CHMP ersuchte den Antragsteller, eine eingeschränkte Zielpopulation mit hoher Krankheitsaktivität zu definieren, bei der das ungünstige Sicherheitsprofil als eher vertretbar betrachtet werden könne. Daher schlug der Antragsteller die folgende Indikation bei einer eingeschränkten Zielpopulation vor: MOVECTRO ist als krankheitsmodifizierende Behandlung bei rezidivierend-remittierender Multipler Sklerose (MS) bei folgenden Patienten angezeigt: - Patienten mit hoher Krankheitsaktivität und/oder dem Risiko einer Krankheitsprogression, definiert als zwei oder mehr Schübe im Vorjahr und sowie mindestens eine Gadolinium-anreichernde T1-Läsion oder - Patienten, die eine Therapie mit Beta-Interferon oder Glatirameracetat nicht vertragen. Lediglich 41 Patienten in der Placebo-Gruppe und 50 Patienten in der Gruppe unter Cladribin 3,5 mg/kg erfüllten die Kriterien eine Patientengruppe mit hoher Krankheitsaktivität. Bei dieser kleinen Population ließen sich statistisch signifikante und klinisch relevante Ergebnisse für den primären Endpunkt, die jährliche Schubrate, nachweisen: Die jährliche qualifizierende Schubrate betrug für die Behandlungsgruppe unter Cladribin 3,5 mg/kg 0,22 und für die Placebo-Gruppe 0,67 (p<0,001). Für Seite 2/9 die Zeit bis zur Progression der Behinderung konnte keine statistische Signifikanz nachgewiesen werden. Es wird festgestellt, dass diese Subgruppe mit hoher Krankheitsaktivität unter Umständen einen erheblichen Anteil von Patienten umfasst, die bei Baseline noch nicht mit einem krankheitsmodifizierenden Arzneimittel behandelt worden waren und bei denen eine vergleichbare Wirkung mit zugelassenen krankheitsmodifizierenden Arzneimitteln hätte erzielt werden können. Bezüglich der Patienten, die eine Behandlung mit Beta-Interferon oder Glatirameracetat nicht vertrugen, war nur ein geringer Anteil – rund 30 % in beiden Behandlungsgruppen – mit krankheitsmodifizierenden Arzneimitteln vorbehandelt worden. Patienten, die im Vorfeld auf eine Behandlung mit zwei oder mehr krankheitsmodifizierenden Arzneimitteln in Bezug auf die Wirksamkeit nicht angesprochen hatten, wurden von der Studie ausgeschlossen. Letztlich wurden lediglich 44 Patienten, die krankheitsmodifizierende Arzneimittel nicht vertragen hatten, in die Placebo-Gruppe und 45 entsprechende Patienten in die Gruppe unter der aktiven Behandlung mit 3,5 mg/kg eingeschlossen, wobei die Dauer der Vorbehandlung ca. 19 Monate betrug. Darüber hinaus kann es sich bei Patienten, die Beta-Interferone/Glatirameracetat nicht vertragen, u. U. um Patienten mit einer leichten Form von RRMS bzw. nicht hoher Krankheitsaktivität handeln, bei denen die Vorteile von Cladribin gegenüber den Risiken nicht überwiegen und die eine Behandlung mit Cladribin nicht unbedingt benötigen. Aus diesem Grunde kann eine Indikation für Patienten, die eine Behandlung mit krankheitsmodifizierenden Arzneimitteln nicht vertragen haben, nicht angemessen gerechtfertigt werden. Aus Gründen der Sicherheit schlug der Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen ein stringenteres Behandlungsschema vor, bei dem ausschließlich Patienten mit normaler Lymphozytenzahl bzw. mit einer Lymphozytopenie nicht schlechter als CTCAE-Grad 1 für eine wiederholte Behandlung mit Cladribin in Frage kämen. Die Subpopulation der CLARITY-Studie, die diese Kriterien erfüllt, umfasste 263 mit Cladribin und 374 mit Placebo behandelte Patienten, d. h. 61,2 % der „ursprünglich mit niedrig dosiertem Cladribin behandelten Patienten“ sowie 86 % der „ursprünglich mit niedrig dosiertem Placebo behandelten Patienten“ wurden in diese Subpopulation eingeschlossen. Die Ergebnisse bezüglich der Wirksamkeit in dieser Subpopulation waren in Bezug auf alle wesentlichen klinischen Befunde und MRT-Outcomes mit denjenigen der Gesamtpopulation der Studie vergleichbar. Des Weiteren waren die Ergebnisse bezüglich der Wirksamkeit im Allgemeinen bei allen Patienten mit hoher Krankheitsaktivität mit und ohne überarbeitete Leitlinien für eine Wiederholungsbehandlung konsistent. Allerdings stammen diese Post-hoc-Analysen von einer einzelnen zulassungsrelevanten Studie. Weiterhin ist zu bedenken, dass im Rahmen der CLARITYStudie eine erneute Behandlung zu einem feststehenden, im Vorfeld festgelegten Termin eingeleitet wurde und dass das neu vorgeschlagene flexible Behandlungsschema, bei dem die Patienten einen neuen Cladribin-Zyklus nach Maßgabe der Lymphozytenzahl beginnen, bislang nicht formal bewertet wurde. Zusammengefasst stammen die Wirksamkeitsdaten für die beantragten Subpopulationen aus Subgruppenanalysen und weisen eine mangelnde Aussagekraft auf. Die optimal Dosis und das überarbeitete Behandlungsschema mit strengeren Kriterien für eine wiederholte Behandlung wurden für die Zielpopulation nicht in geeigneter Weise untersucht. Schließlich ist die Indikation bei Patienten, die Beta-Interferon oder Glatirameracetat nicht vertragen, nicht vertretbar, da diese Population Patienten mit leichter bis mittelschwerer Krankheitsaktivität beinhalten kann. • Sicherheitsaspekte Der Anteil der Patienten mit schwerer und protrahierter Lymphozytopenie (Toxizität 3. oder 4. Grades) an der CLARITY-Studienpopulation insgesamt war, insbesondere in der Gruppe mit hoher Dosierung, groß. Unter denjenigen Patienten, die eine Lymphozytopenie 3. oder 4. Grades entwickelten, normalisierte sich die absolute Lymphozytenzahl nur bei rund 50 % der Betroffenen wieder auf Grad 0 oder 1. Die Systemorganklasse mit den meisten unerwünschten Ereignissen war die Klasse „Infektionen und parasitäre Erkrankungen“, und es wurde gezeigt, dass die Entwicklung einer Lymphozytopenie 3. oder 4. Grades mit dem erhöhten Risiko von Komplikationen bei Infektionskrankheiten einhergeht. Die Dosis 5,25 mg/kg trug unverhältnismäßig stark zur Häufigkeit der Entwicklung einer Lymphozytopenie 3. oder 4. Grades bei. Daher wird eine Rücknahme dieser Dosis durch den Antragsteller unterstützt. Aus dem derzeitigen klinischen Entwicklungsprogramm bei MS gehen keine Daten über eine vollständige Normalisierung der Lymphozytopenie und Neutropenie hervor. Aus Daten für Cladribin bei Haarzellenleukämie ist bekannt, dass eine vollständige Normalisierung der T- und B-Lymphozyten bis zu zwei Jahre in Anspruch nehmen kann. Die Sicherheitsdaten für die Subpopulation, die die strengeren Kriterien für eine wiederholte Behandlung erfüllte, nach denen nur Patienten mit normaler Seite 3/9 Lymphozytenzahl bzw. mit einer Lymphozytopenie nicht schlechter als CTCAE-Grad 1 für eine wiederholte Behandlung mit Cladribin in Frage kommen, lassen auf eine weniger starke Immunsuppression schließen. Allerdings wurde die Sicherheit des veränderten Behandlungsschemas bei Patienten mit hoher Krankheitsaktivität – einer nur kleinen Subpopulation in der CLARITY-Studie – nicht ausreichend nachgewiesen. Die unverhältnismäßig hohe Anzahl maligner Ereignisse in den Cladribin-Gruppen im Vergleich zu Placebo während des gesamten klinischen Studienprogramms gibt ebenfalls erheblichen Anlass zur Sorge. Im gesamten klinischen Studienprogramm wurden in den Cladribin-Therapiearmen 22 maligne Ereignisse im Gegensatz zu zwei Ereignissen im Placebo-Arm berichtet. In der CLARITY-Studie wurden bei den Patienten unter Cladribin vier Malignitäten gegenüber keinen Malignitäten in der PlaceboGruppe beobachtet. Darüber hinaus wurden nach Beendigung der Studie zwei Fälle bei CladribinPatienten (Blasenkarzinom und Choriokarzinom) gegenüber einem Fall in der Placebo-Gruppe berichtet. Mit zunehmender Exposition und Dauer könnte ein noch höheres Malignitätsrisiko zu erwarten sein. Das relative Malignitätsrisiko scheint in allen Studien bei Patienten mit CladribinExposition um das Fünffache erhöht, wenn auch mit einem breiten Konfidenzintervall (CI) (95-%-CI 0,67 – 38,43). Nicht klinische Daten lassen auf kein Risiko für Kanzerogenität schließen. Die Genotoxizitätsdaten und die pharmakologischen Eigenschaften (Alkylierung, Beeinträchtigung der Immunüberwachung) von Cladribin erfordern jedoch äußerste Vorsicht. Eine Immundefizienz kann das Risiko für die Entwicklung maligner Erkrankungen erhöhen. Dies gilt insbesondere für Tumoren, die mit viralen Antigenen assoziiert sind, z. B. Karzinome des Urogenitaltrakts (z. B. HPV), Kaposi-Sarkom, BZell-Lymphom (Humanes Herpesvirus 8, EBV). Ferner ist darauf hinzuweisen, dass sekundäre Malignitäten eine häufige Nebenwirkung bei der Behandlung der Haarzellenleukämie mit Litak (Cladribin s.c.) darstellen, aber bei Patienten mit Haarzellenleukämie ebenso per se zu erwarten sind. Da keine Dosisfindungsstudie durchgeführt wurde, könnte es noch eine niedrigere kumulative Dosis geben, die bei der Population mit hoher Krankheitsaktivität ausreichend wirksam ist und dabei ein besseres Sicherheitsprofil aufweist. Zusammengefasst haben sich schwerwiegende Bedenken in Bezug auf die Sicherheit, insbesondere die erhöhte Anzahl maligner Ereignisse im Rahmen der klinischen Studien, ergeben. Mit zunehmender Exposition und Dauer könnte ein noch höheres Malignitätsrisiko zu erwarten sein. In Bezug auf die strengeren Kriterien für eine wiederholte Behandlung lassen die Daten auf eine geringe Größenordnung der Immunsuppression schließen. Allerdings wurde die Sicherheit des veränderten Behandlungsschemas bei Patienten mit hoher Krankheitsaktivität – einer nur kleinen Subpopulation in der CLARITY-Studie – nicht ausreichend nachgewiesen. Beurteilung der Voraussetzungen für die Erteilung einer bedingten Zulassung • Standpunkt des Antragstellers Rezidivierend-remittierende (schubförmige) Multiple Sklerose ist eine schwerwiegende, zu Invalidität führende Erkrankung. Es gibt eine erhebliche medizinische Versorgungslücke in Bezug auf Arzneimittel mit vereinfachtem Dosierungsschema, verbesserter Verabreichungsart und neuartigem Wirkmechanismus zur Verbesserung der Wirksamkeit und Compliance unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines vertretbaren Sicherheitsprofils. Dies rechtfertigt eine sofortige Verfügbarkeit von Cladribin. Die Daten zeigen eine statistisch signifikante und klinisch bedeutsame Wirkung auf alle primären und sekundären Endpunkte in der RRMS-Gesamtpopulation der CLARITY-Studie. Die Ergebnisse bleiben auch bei der Untersuchung von Patienten-Subgruppen mit hoher Krankheitsaktivität klinisch relevant und sind mindestens vergleichbar mit denjenigen Ergebnissen, die für derzeit zugelassene krankheitsmodifizierende Arzneimittel dokumentiert sind. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse eine statistisch signifikante und medizinisch bedeutsame Behandlungswirkung auf schubbezogene Outcomes sowie sämtliche ausschlaggebenden MRT-Befunde für die Subgruppe von Patienten, die eine Vorbehandlung mit Beta-Interferon oder Glatirameracetat nicht vertrugen. In Bezug auf die Sicherheit gelten Lymphozytopenie, Infektionen und Malignitäten als nachgewiesene oder potenzielle Risiken. Der Antragsteller geht jedoch davon aus, dass der Nutzen von Cladribin unter Anwendung gezielter Risikominimierungsmaßnahmen gegenüber den Risiken überwiegt. Der Antragsteller schlug die Durchführung einer neuen klinischen Studie mit einem aktiven Vergleichspräparat vor, um die Wirksamkeit und Sicherheit von Movectro bei hoher Krankheitsaktivität – definiert als zwei Schübe pro Jahr und eine Gd-anreichernde Läsion bei Studieneintritt – eingehender zu klären. Seite 4/9 Zurzeit sind die Optionen für RRMS-Patienten mit hoher Krankheitsaktivität sowie für Patienten, die die aktuellen injizierbaren Therapien nicht vertragen, äußerst beschränkt. Die derzeitigen Behandlungsmöglichkeiten, insbesondere für Patienten mit hoher Krankheitsaktivität, weisen schwerwiegende, potenziell tödliche Nebenwirkungen auf, so dass Patienten mit hoher Krankheitsaktivität keine Behandlungsalternativen zur Verfügung stehen. Daher hält es der Antragsteller für wichtig, Patienten, die eine Behandlungsalternative benötigen, den Zugang zu Movectro sofort zu ermöglichen. • Standpunkt des CHMP: Alle vier in Artikel 4 der Verordnung (EG) Nr. 507/2006 der Kommission genannten Voraussetzungen müssen erfüllt sein, d. h.: 1. Durch das Arzneimittel kann eine medizinische Versorgungslücke geschlossen werden, 2. der Antragsteller ist voraussichtlich in der Lage, die umfassenden klinischen Daten nachzuliefern, 3. das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Arzneimittels ist positiv und 4. der Nutzen für die öffentliche Gesundheit, den die sofortige Verfügbarkeit des Arzneimittels auf dem Markt mit sich bringt, überwiegt die Gefahr aufgrund noch fehlender zusätzlicher Daten. - Schließung einer medizinischen Versorgungslücke und Nutzen für die öffentliche Gesundheit, den die sofortige Verfügbarkeit des Arzneimittels auf dem Markt mit sich bringt: In der Verordnung (EG) Nr. 507/2006 über die bedingte Zulassung von Humanarzneimitteln wird der Nutzen für die öffentliche Gesundheit durch die sofortige Bereitstellung eines Arzneimittels auf dem Markt zur Schließung einer Versorgungslücke anerkannt. Nach der Verordnung wird eine „medizinische Versorgungslücke“ als Erkrankung definiert, für die „kein zufriedenstellendes Mittel zur Diagnose, Vorbeugung oder Behandlung in der Gemeinschaft zugelassen ist oder, selbst wenn dies der Fall ist, das betreffende Arzneimittel einen bedeutenden therapeutischen Nutzen für die von dieser Erkrankung betroffenen Patienten mit sich bringt“. Der CHMP räumt ein, dass für die beantragten Populationen kein allgemein zugelassenes krankheitsmodifizierendes Arzneimittel zur oralen Anwendung zur Verfügung steht. Es gebe jedoch sehr wohl zugelassene therapeutische Alternativen. Es ist strittig, ob die orale Verabreichungsart von Movectro per se einen bedeutenden therapeutischen Vorteil gegenüber anderen zugelassenen Therapien darstellt, und es liegen keine Daten über einen Vergleich zwischen Movectro und anderen zugelassenen krankheitsmodifizierenden Arzneimitteln vor. Darüber hinaus haben sich im Zusammenhang mit Movectro schwerwiegende Sicherheitsbedenken ergeben, und es liegen keine geeigneten Untersuchungen über die optimale Dosis sowie über das überarbeitete Behandlungsschema mit strengeren Kriterien für eine wiederholte Behandlung für die Zielpopulation vor. Daher vertritt der CHMP nicht die Auffassung, dass der potenzielle Nutzen für die öffentliche Gesundheit durch eine sofortige Verfügbarkeit des betreffenden Arzneimittels auf dem Markt gegenüber der Gefahr aufgrund noch fehlender zusätzlicher Daten überwiegt. - Positives Nutzen-Risiko-Verhältnis und zusätzliche umfassende klinische Daten: In der Verordnung (EG) Nr. 507/2006 über die bedingte Zulassung von Humanarzneimitteln heißt es: „Auch wenn eine bedingte Zulassung auf weniger umfangreichen Daten beruhen kann, sollte das in Artikel 1 Nummer 28a der Richtlinie 2001/83/EG definierte Nutzen-Risiko-Verhältnis dennoch positiv sein“. Der CHMP nahm das laufende klinische Programm und die vom Antragsteller für den Fall der Erteilung einer bedingten Zulassung vorgeschlagene neue Studie zur Kenntnis. Dennoch gelangte der CHMP zu dem Schluss, dass das Nutzen-Risiko-Verhältnis für Movectro bei der beantragten Indikation zum aktuellen Zeitpunkt ungünstig ist. Insgesamt wurden nicht alle Kriterien für die Erteilung einer bedingten Zulassung erfüllt. ERNEUTE PRÜFUNG Am 23. September 2010 gelangte der CHMP zu dem Schluss, dass Movectro für die folgende Indikation nicht genehmigungsfähig ist: MOVECTRO ist als krankheitsmodifizierende Behandlung bei rezidivierend-remittierender Multipler Sklerose (MS) bei folgenden Patienten angezeigt: Seite 5/9 • Patienten mit hoher Krankheitsaktivität und/oder dem Risiko einer Krankheitsprogression, definiert als zwei oder mehr Schübe im Vorjahr und sowie mindestens eine Gadoliniumanreichernde T1-Läsion oder • Patienten, die eine Therapie mit Beta-Interferon oder Glatirameracetat nicht vertragen. Die Entscheidung wurde wie folgt begründet: • Es haben sich schwerwiegende Bedenken in Bezug auf die Sicherheit ergeben, insbesondere im Hinblick auf die im Rahmen der klinischen Studien beobachtete erhöhte Anzahl maligner Ereignisse. Mit zunehmender Exposition und Dauer könnte ein noch höheres Malignitätsrisiko zu erwarten sein. Die Wirksamkeitsdaten bei der Zielpopulation mit hoher Krankheitsaktivität stammen von einer kleinen Subpopulation der klinischen Studie und sind nicht aussagekräftig genug, um gegenüber den Sicherheitsbedenken zu überwiegen. Daher wird das Nutzen-RisikoVerhältnis gemäß Artikel 12 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 nicht als günstig bewertet. • Die optimale Dosis sowie das überarbeitete Behandlungsschema mit strengeren Kriterien für eine wiederholte Behandlung wurden für die Zielpopulation nicht in geeigneter Weise untersucht. Dies wirft vor allem angesichts des beobachteten Deckeneffekts in der Gesamtpopulation der Studie, der fraglichen dosisabhängigen Wirkung in der kleinen Patientenpopulation mit hoher Krankheitsaktivität sowie des dosisabhängigen Sicherheitsprofils Bedenken auf. • Die Indikation bei Patienten, die Beta-Interferon oder Glatirameracetat nicht vertragen, wird ebenfalls als nicht vertretbar beurteilt, da diese Population Patienten mit leichter bis mittelschwerer Krankheitsaktivität beinhalten kann und Cladribin aufgrund der derzeitigen Sicherheitsbedenken bei dieser Patientengruppe nicht angewendet werden sollte. • Die folgenden Kriterien für die Erteilung einer bedingten Zulassung wurden nicht erfüllt: o Das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist ungünstig; o die Schließung einer medizinischen Versorgungslücke wurde nicht hinlänglich nachgewiesen. Der Nutzen für die öffentliche Gesundheit, den die sofortige Verfügbarkeit des Arzneimittels auf dem Markt mit sich bringt, überwiegt nicht die Gefahr aufgrund noch fehlender zusätzlicher Daten. Der Antragsteller legte detaillierte Gründe für die erneute Prüfung der Begründung für eine Versagung vor. Der CHMP beurteilte sämtliche vom Antragsteller schriftlich und in einer mündlichen Erörterung vorgebrachten detaillierten Gründe für eine erneute Prüfung und Argumente und berücksichtigte die Ansichten der wissenschaftlichen Beratungsgruppe für Neurologie. Die vom Antragsteller zuletzt beantragte beschränkte Indikation lautet wie folgt: Movectro ist angezeigt als krankheitsmodifizierende Monotherapie bei hochaktiver rezidivierendremittierender Multipler Sklerose (MS) für die folgenden erwachsenen Patientengruppen: - Patienten mit hoher Krankheitsaktivität, definiert durch zwei oder mehr zu Invalidität führende Schübe im Vorjahr sowie mindestens eine Gadolinium-anreichernde T1-Läsion oder mindestens neun hyperintense T2-Läsionen oder - Patienten, die trotz mindestens einjähriger Behandlung mit krankheitsmodifizierenden Arzneimitteln eine persistierende Krankheitsaktivität aufweisen, definiert durch einen oder mehr Schübe im Vorjahr unter der Behandlung sowie mindestens eine Gadolinium-anreichernde T1-Läsion oder mindestens neun hyperintense T2-Läsionen. Der CHMP stimmte darin überein, dass die Wirksamkeit von Cladribin 3,5 mg/kg in Bezug auf die jährliche Schubrate, den Anteil der schubfreien Patienten und eine Reihe von MRT-Variablen für beide Subpopulationen derjenigen von Placebo statistisch signifikant überlegen war. Die Unterschiede beurteilt der CHMP als klinisch bedeutsam aber geringfügig. Die Unterschiede im Hinblick auf invaliditätsbezogene Endpunkte im Vergleich zu Placebo fielen zugunsten von Cladribin aus, erreichten Seite 6/9 eine statistische Signifikanz jedoch nur für die Subpopulation mit hoher Krankheitsaktivität. Der CHMP stellte bezüglich der Wirksamkeitsdatenbank gewisse Einschränkungen fest, die sich auf die Interpretation der Ergebnisse zur Wirksamkeit auswirken. In Anbetracht dessen, dass die Population den Behauptungen zufolge eine hohe (oder persistierende) Krankheitsaktivität aufweist, legen die Analysen der Wirksamkeitsdaten bei Placebo-behandelten Patienten nahe, dass die in die Studie eingeschlossene Population möglicherweise eher leicht betroffen ist und eine niedrige Progressionsrate aufweist. Darüber hinaus hatte die Mehrheit der Patienten in der CLARITY-Studie (ca. 70 %) vor der Randomisierung keine krankheitsmodifizierenden Arzneimittel angewendet. Es bleibt unklar, ob nicht sogar bei Patienten mit hoher Krankheitsaktivität dieselbe Wirkung mit krankheitsmodifizierenden First-Line-Therapien hätte erzielt werden können, vor allem, da kein aktives Vergleichspräparat in den Studien herangezogen wurde. Im Rahmen seiner Argumente für eine erneute Überprüfung legte der Antragsteller eine aktualisierte, umfassende Beurteilung maligner Ereignisse als eigenständige Sicherheitsprüfung vor, die die Bewertung aller bis zum 5. November 2010 vorliegenden Daten, unabhängig von Quelle oder Studiendesign, beinhaltete. Übergreifend räumt der Antragsteller einen zahlenmäßigen Unterschied zwischen der Anzahl der Malignitäten bei Patienten unter Cladribin und der entsprechenden Anzahl in den Placebo-Gruppen ein. Bis zum 5. November 2010 wurden insgesamt 33 maligne Ereignisse aus allen klinischen Studien bei Patienten unter Cladribin berichtet; zwei Ereignisse wurden bei Patienten berichtet, die Placebo erhielten. Weiterhin argumentierte der Antragsteller, ein Vergleich sei nur dann möglich, wenn er anhand von Daten aus der placebokontrollierten Phase der drei Studien erfolge. Jede vergleichende Analyse nach dieser Phase müsse Unterschiede bezüglich der Patientenzahl, der Gesamtexposition und der Follow-up-Dauer berücksichtigen. Der Antragsteller war der Auffassung, dass die vorliegenden Daten einen kausalen Zusammenhang zwischen der Behandlung von MSPatienten mit Cladribin und dem Malignitätsrisiko nicht stützen. Er gelangte zu dem Schluss, dass eine Beurteilung der verfügbaren Daten in Bezug auf maligne Ereignisse keine eindeutigen Ergebnisse liefert und dass die Anzahl der berichteten Fälle nicht ausreicht, um das Risiko exakt einzuschätzen. Weiterhin schlug der Antragsteller vor, die Langzeitsicherheit von oralem Cladribin (Tabletten) anhand von Anwendungsbeobachtungen sowie von zwei Follow-up-Studien zur Sicherheit zu überwachen. Der Antragsteller räumte ein, dass eine profunde und persistierende Lymphozytopenie ein unerwünschtes Ereignis darstellt, das unmittelbar mit dem Wirkmechanismus von Cladribin in Zusammenhang steht. In der CLARITY-Studie wurde ein vermehrtes Auftreten von Lymphozytopenie unter der höheren Dosis berichtet. Die Häufigkeit von infektiösen unerwünschten Ereignissen und von Herpesvirus-Infektionen stieg mit dem Schweregrad der Lymphozytopenie. Um die Entwicklung einer hochgradigen oder persistierenden Lymphozytopenie und ihrer klinischen Manifestationen zu minimieren, schlug der Antragsteller Leitlinien für eine wiederholte Behandlung vor. Der Antragsteller beurteilte die Auswirkung der Leitlinien für eine wiederholte Behandlung als Risikominimierungsmaßnahme sowie deren Einfluss auf die Wirksamkeit. Laut der Schlussfolgerung des Antragstellers haben die Leitlinien für eine wiederholte Behandlung einen messbaren Effekt auf die Minimierung des Patientenrisikos für eine schwere Lymphozytopenie und ihre klinischen Manifestationen. Gleichzeitig bleibe die Wirksamkeit der Cladribin-Tabletten bei der Patientenpopulation nach Einführung dieser Behandlungsleitlinien unverändert. Der CHMP bewertete die Schlussfolgerungen des Antragstellers in Bezug auf maligne Ereignisse als verfrüht. Es besteht mit dem Antragsteller Einigkeit darüber, dass eine Extrapolation von und ein Vergleich mit Populationen von Krebspatienten im Hinblick auf das Krebsrisiko bei MS-Patienten mit Vorsicht zu interpretieren sind. In den Cladribin-Studien bei MS zeigte sich jedoch aufgrund einer unverhältnismäßig hohen Anzahl maligner Ereignisse bei Patienten unter Cladribin im Vergleich zu nicht exponierten Patienten, für die es keine zufriedenstellende Erklärung gibt, ein potenzielles Signal für ein erhöhtes Krebsrisiko. Cladribin ist ein zytotoxischer Wirkstoff, der in die DNA-Synthese/-Reparatur eingreift. Die profunde und persistierende Lymphozytopenie stellt die beabsichtigte Wirkung dar. Diese verminderte Immunüberwachung geht mit einem Risiko für opportunistische Infektionen und maligne Ereignisse einher. Angesichts der großen Zahl der in einer beschränkten Sicherheitsdatenbank registrierten Ereignisse, die in einem kontrollierten klinischen Umfeld beobachtet wurden, sowie des Wirkmechanismus von Cladribin ist ein kausaler Zusammenhang nicht unwahrscheinlich. Der Ausschluss der hohen Dosis beschränkt in Kombination mit den strengeren Leitlinien für eine wiederholte Behandlung übereinstimmend das Risiko einer Lymphozytopenie, aber das potenzielle Malignitätsrisiko besteht weiter fort. Daher bleiben schwerwiegende Sicherheitsbedenken bezüglich der Langzeitsicherheit weiterhin bestehen. Seite 7/9 Es wurden keine weiteren zufriedenstellenden Daten in Bezug auf die Auswahl der Dosis vorgelegt. Es wurden keine geeigneten Dosisfindungsstudien bei der vorgesehenen RRMS-Zielpopulation und mit der vorgesehenen oralen Formulierung durchgeführt. Simulationen sind mit Vorsicht zu interpretieren und haben offenkundig nicht dieselbe Beweiskraft wie eine ordnungsgemäße klinische Dosisfindungsstudie. Das untere Ende der Dosis-Wirkungs-Kurve wurde nicht ausreichend ausgewertet. In Anbetracht der schwerwiegenden Sicherheitsbedenken hätte ermittelt werden sollen, ob es eine niedrigere Dosis mit einem besseren Nutzen-Risiko-Verhältnis gibt. Schließlich untersuchte der CHMP im Rahmen der erneuten Überprüfung, ob der Antrag für Movectro die Voraussetzungen für eine bedingte Zulassung erfüllt. Inwieweit Movectro eine medizinische Versorgungslücke schließen würde, ist – wie unter Grund 1 herausgestellt – aufgrund der Einschränkungen bezüglich der Wirksamkeitsdaten sowie der schwerwiegenden Bedenken bezüglich der Langzeitsicherheit nicht ausreichend nachgewiesen. Nach Auffassung des CHMP sind die Wirksamkeitsdaten bei der begrenzten Population mit hoher oder persistierender Krankheitsaktivität trotz Behandlung mit krankheitsmodifizierenden Arzneimitteln nicht aussagekräftig genug, um gegenüber den Sicherheitsbedenken zu überwiegen. Daher wird das Nutzen-Risiko-Verhältnis nicht als günstig bewertet. Es stützt weder das Argument eines Nutzens für die öffentliche Gesundheit, den die sofortige Verfügbarkeit von Movectro auf dem Markt mit sich bringen würde, noch den Vorschlag des Antragstellers in dieser Phase, Daten über die Langzeitsicherheit von oralem Cladribin (Tabletten) durch Anwendungsbeobachtungen und zwei Follow-up-Studien zur Sicherheit zu erheben. Zusammengefasst bestätigte der CHMP, dass die Kriterien für eine Erteilung einer bedingten Zulassung nicht erfüllt werden. Schlussfolgerungen bezüglich der Gründe für eine erneute Prüfung Auf der Grundlage seiner Prüfung der Daten zur Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit überprüfte der CHMP sein erstes Gutachten und gelangte in seinem endgültigen Gutachten durch Mehrheitsentscheidung zu dem Schluss, dass das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Movectro bei der Behandlung von hochaktiver rezidivierend-remittierender Multiples Sklerose für die folgenden erwachsenen Patientengruppen: - Patienten mit hoher Krankheitsaktivität, definiert durch zwei oder mehr zu Invalidität führende Schübe im Vorjahr sowie mindestens eine Gadolinium-anreichernde T1-Läsion oder mindestens neun hyperintense T2-Läsionen oder - Patienten, die trotz mindestens einjähriger Behandlung mit krankheitsmodifizierenden Arzneimitteln eine persistierende Krankheitsaktivität aufweisen, definiert durch einen oder mehr Schübe im Vorjahr unter der Behandlung sowie mindestens eine Gadolinium-anreichernde T1-Läsion oder mindestens neun hyperintense T2-Läsionen ungünstig ist und dass der Antrag die Zulassungskriterien nicht erfüllt. Der CHMP empfahl die Versagung der bedingten Zulassung. Gründe für die Versagung In Erwägung der nachstehenden Gründe: - Es bestehen schwerwiegende Sicherheitsbedenken fort, insbesondere in Bezug auf die in klinischen Studien beobachtete höhere Anzahl maligner Ereignisse. Aus diesem Grunde bleiben schwerwiegende Sicherheitsbedenken bezüglich der Langzeitsicherheit bestehen. Die Wirksamkeitsdaten bei der begrenzten Population mit hoher oder persistierender Krankheitsaktivität trotz Behandlung mit krankheitsmodifizierenden Arzneimitteln sind nicht aussagekräftig genug, um gegenüber den Sicherheitsbedenken zu überwiegen. Daher wird das Nutzen-Risiko-Verhältnis nicht als günstig bewertet. - Das untere Ende der Dosis-Wirkungs-Kurve wurde nicht ausreichend ausgewertet. In Anbetracht der schwerwiegenden Sicherheitsbedenken hätte ermittelt werden sollen, ob es eine niedrigere Dosis mit einem besseren Nutzen-Risiko-Verhältnis gibt. - Die folgenden Kriterien für die Erteilung einer bedingten Zulassung wurden nicht erfüllt: • • Das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist positiv; die Schließung einer medizinischen Versorgungslücke wurde nicht hinlänglich nachgewiesen. Seite 8/9 • Daher überwiegt der Nutzen für die öffentliche Gesundheit, den die sofortige Verfügbarkeit des Arzneimittels auf dem Markt mit sich bringt, nicht die Gefahr aufgrund noch fehlender zusätzlicher Daten. Der CHMP bleibt bei seiner Position und empfiehlt die Versagung der bedingten Zulassung für Movectro. Seite 9/9